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Das Geheimnis glücklicher Töchter
Geborgenheit, Freiraum für Kreativität, aber auch feste Regeln: Das brauchen Mädchen, damit sie glückliche und selbstverantwortliche Erwachsene werden. Steve Biddulph beleuchtet alle Entwicklungsphasen und zeigt Erziehungsziele und Lösungen für die Probleme des Alltags auf. Offen und kämpferisch geht er auf aktuelle Gefahren ein wie Schönheitswahn, Essstörungen und Mobbing in der Schule. Ein warmherziger, verständnisvoller Begleiter für Eltern.
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Seitenzahl: 353
Steve Biddulph
Mädchen!
Wie sie selbstbewusst und glücklich werden
Aus dem Englischen von Andrea Kunstmann
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Die englische Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel
Raising Girl.Helping your daughter to grow up wise, warm and strong
bei HarperCollins Publishers Ltd.
Bildnachweis:
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Alle anderen Fotos mit freundlicher Genehmigung des Autors.
Deutsche Erstausgabe 11/2013
Copyright © 2013 by Steve Biddulph
Copyright © 2013 der deutschsprachigen Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Redaktion: Angelika Lieke
Umschlaggestaltung: Eisele Grafik-Design, München,
unter Verwendung einer Illustration von © Mascha Greune
Satz: C. Schaber Datentechnik, Wels
ISBN 978-3-641-12145-7V002
www.heyne.de
Inhalt
Ein Brief von Steve
Kaycee und Genevieve
Erster Teil
Die fünf Phasen im Leben eines Mädchens
1 Mädchen erziehen – ein erster Überblick
2 Der richtige Start ins Leben (Geburt bis 2. Lebensjahr)
3 Die Welt entdecken (2. bis 5. Lebensjahr)
4 Mit anderen zurechtkommen (5. bis 10. Lebensjahr)
5 Die eigene Seele finden (10. bis 14. Lebensjahr)
6 Vorbereitung aufs Erwachsensein (14. bis 18. Lebensjahr)
Zweiter Teil
Wirksame Abwehr – Wie man mit den fünf großen Gefahren umgeht
7 Zu früh zu sexy
8 Fiese Mädchen – Mobbing
9 Körper, Gewicht, Ernährung
10 Alkohol und andere Drogen
11 Mädchen und das Internet
Dritter Teil
Mädchen und ihre Eltern
12 Mädchen und ihre Mütter
13 Mädchen und ihre Väter
Was aus Kaycee wurde
Nachwort
Beitragende und Danksagung
Anmerkungen
Register
Ein Brief von Steve
Liebe Leserinnen und Leser,
bevor Sie sich in die Lektüre dieses Buches stürzen, sollen Sie etwas über mich erfahren, damit Sie sich auch den Menschen hinter den Worten vorstellen können. Viele Leute denken, dass ich Söhne habe, weil ich einige Jahre lang vorwiegend über Jungen schrieb und mich besonders für ihre Belange einsetzte.
Tatsächlich war unser erstes Kind ein Junge (inzwischen ist er erwachsen). Als Freunde uns fragten, was wir uns als nächstes Kind wünschten, sagte ich darauf immer, das sei mir egal, und das glaubte ich auch wirklich. Aber als unsere Tochter geboren wurde – durch Notkaiserschnitt, ich im Kreißsaal, verzweifelt bemüht, nicht in Ohnmacht zu fallen –, überwältigte mich die Freude. Ich konnte gar nicht fassen, wie glücklich ich war. Und dieses Glücksgefühl hat mich nie mehr verlassen.
Ich habe bisher nur aus einem Grund so viel über Jungen geschrieben: Sie befanden sich lange Zeit in einer großen Krise, und mein Berufsethos verlangt von mir, da einzugreifen, wo es am nötigsten ist. Den Mädchen ging es damals gut. Aber vor etwa fünf Jahren begann sich das zu ändern: Wir stellten fest, dass sich psychische Probleme bei Mädchen sehr plötzlich und auffallend häuften. Essstörungen und autoaggressives Verhalten, früher eher selten, kamen nun in jeder Schule, in jedem Stadtviertel vor. Schlimmer noch, auch ganz normale Durchschnittsmädchen schienen häufig in einem Maße gestresst und deprimiert, wie wir es vorher nie beobachtet haben.
Mädchen werden nicht mit einem Hass auf den eigenen Körper, nicht mit einer Wut auf das Leben geboren. Irgendetwas vergiftet ihr Denken und Fühlen. Es schien zu Beginn der Teenagerzeit hervorzubrechen, doch es nistete sich immer früher bei ihnen ein.
Die Reaktion darauf war eine weltweite Bewegung: Mädchenaktivisten, Mädchentherapeuten und Mädchenforscher wollten Eltern und Gesellschaft mobilisieren. Mit vielen von ihnen bin ich befreundet, und wir alle sahen die Notwendigkeit, mit einem einfachen Ratgeber für Eltern den Mädchen wieder in die Spur zu helfen. Diesen Ratgeber halten Sie in Händen.
Die Erziehung zu starken Mädchen beginnt früh. Wir müssen ihnen viel Liebe schenken und gegen das ankämpfen, was ihnen schadet. Wir müssen gute Entscheidungen treffen, denn die Welt behandelt Mädchen zurzeit nicht so, wie sie es verdienen, und sieht sie in erster Linie als Einnahmequelle. Aber das ist eigentlich nichts Neues: Mädchen mussten schon immer stark sein.
Die Kindheit ist für Mädchen eine Erkundungsreise, bei der sie das Wissen erwerben, das sie benötigen, um eine Frau zu werden. Und wir Eltern sind ihre Reiseführer. Wir brauchen dazu zuverlässige Wegweiser, gute Vorbilder und einen klaren Blick.
Egal, ob Ihre Tochter noch ein Baby oder schon ein Teenager ist: Ich hoffe, dieses Buch wird Sie motivieren, sich für eine bessere Welt für Ihr und alle Mädchen einzusetzen, und Ihnen helfen, Ihrer Tochter all die Liebe zu geben, die Sie im Herzen tragen.
Mit herzlichen Grüßen
Ihr Steve Biddulph
Kaycee und Genevieve
Ich möchte Ihnen zwei Mädchen vorstellen, Kaycee und Genevieve. Beide sind 17 Jahre alt und gehen in die zwölfte Klasse. Es sind großartige Kinder, freundlich und fröhlich. Sie hätten Freude daran, sich mit den beiden zu unterhalten.
Die zwei kennen sich seit der Kinderkrippe. Sie waren während der ganzen Grundschulzeit beste Freundinnen, und alle dachten, das würde immer so bleiben. Aber etwa zu der Zeit, als sie in die höhere Schule kamen, lief etwas schief zwischen ihnen. Der Grund dafür ist schwer zu benennen, ich glaube nicht einmal, dass die beiden selbst es könnten. Aber wenn sie sich heute auf dem Schulflur über den Weg laufen, befällt sie dieses unangenehme Gefühl, das man gegenüber Freunden empfindet, die keine mehr sind.
Die Wege von Kaycee und Genevieve sind in zwei gegensätzliche Richtungen verlaufen. Ich möchte ihre Geschichten erzählen, denn darin werden sowohl die aktuellen Gefahren als auch die Chancen für Mädchen sehr deutlich.
Kaycees Geschichte
Fangen wir mit Kaycee an. Auf den ersten Blick macht sie den Eindruck einer sehr erwachsenen 17-Jährigen. Sie ist sorgfältig geschminkt und trägt extrem trendige Kleidung, sie spricht schnell und mit klarer Stimme. So ein Selbstvertrauen bei einem Teenager könnte authentisch sein, aber wer sich mit Jugendlichen auskennt, wird sich eher fragen, ob Kaycee nicht »zu früh zu erwachsen« geworden ist. Und noch etwas fällt auf – es ist ihr Auftreten. Ihre Ausdrucksweise ist sehr abgeklärt, sie wirkt zynisch und hart. Für eine 17-Jährige scheint sie ziemlich wenig Spaß zu haben.
Als Kaycee 14 war, passierte etwas sehr Entscheidendes. Für eine Zeitungsschlagzeile würde es nicht taugen, aber es war bedeutsam genug, um ihrem Leben eine andere Richtung zu geben.
In der Mitte des neunten Schuljahres war Kaycee zur Geburtstagsfeier einer Klassenkameradin eingeladen. Die Eltern, bei denen die Party stattfand, hatten mehr Beaufsichtigung versprochen, als sie an dem Abend tatsächlich leisteten. Und die Party lief so, wie solche Partys eben laufen, wenn man 40 oder 50 Kids verschiedenen Alters mit viel Alkohol in einem Haus allein lässt: laut, chaotisch, unkontrolliert. Kaycee fand das sehr aufregend – besonders weil der 17-jährige Ciaran auch da war, ein Junge, den sie aus der Schule kannte, er war zwei Klassen über ihr. Kaycee und ihre Schulfreundinnen hatten ihn oft genug angehimmelt, weil er gut aussah und so cool wirkte. Aber heute war etwas anders: Er bemerkte sie.
Und es wurde erstaunlicherweise noch besser. Er setzte sich zu ihr, sie redeten und hatten ein paar Drinks, sie knutschten im Garten ein bisschen herum. Kaycee konnte ihr Glück kaum fassen (sie musste sich richtig zusammenreißen, es nicht sofort herumzusimsen). Nach einer Weile nahm Ciaran sie bei der Hand und zog sie in eines der Schlafzimmer in diesem tollen Haus, in dem anscheinend keine Erwachsenen anwesend waren. Sie hatten Sex.
Es ging alles schneller, als Kaycee sich ihre erste sexuelle Erfahrung vorgestellt hatte, und es war auch weniger liebevoll. Benommen vom Alkohol funktionierte ihr Hirn nicht so richtig. Trotzdem merkte sie, wie sich ihre Beglückung darüber, Ciarans ganze Aufmerksamkeit und Zuwendung zu haben, verschob – hin zu körperlichem Unbehagen und dem Gefühl, zu etwas gedrängt und gleichzeitig als Person nicht richtig gewürdigt zu werden. Als es vorüber war, und das ging schnell, bekam Ciaran gerade noch einen Kuss hin, bevor er sich die Kleidung richtete und hinausging. Als Kaycee sich wieder im Griff hatte und wieder hinunter zur Party ging, fühlte sie sich tief verunsichert. Dann entdeckte sie Ciaran, umringt von Freunden, die alle zu ihr herübersahen und grinsten. Ihr war sofort klar, dass er ihnen von seiner Eroberung erzählt hatte. Tränen brannten in ihrem Gesicht, sie floh schluchzend aus dem Haus in den Garten. Eine Freundin versuchte sie zu trösten, aber Kaycee wollte nicht erzählen, was passiert war.
Als sie in dieser Nacht nach Hause ging, war sie von einer Art eisiger Wut erfüllt. Nun hasste sie Ciaran und eine Zeit lang überhaupt alle Jungen. Kaycee war ein cleveres Mädchen, sie war immer schon sehr selbstständig gewesen, und ihre schwer beschäftigten Eltern schätzen ihre Unabhängigkeit. Sie erzählte niemandem, was passiert war. (Als ihre Eltern schließlich drei Jahre später bei einer Sitzung in der Familienberatung davon erfuhren, waren sie traurig und geschockt.) Doch wie viele Millionen Mädchen, die ihre ersten sexuellen Erfahrungen nicht genießen oder hinterher bereuen, verbarg Kaycee ihre Verletzungen und tat, als wäre nichts geschehen. Aber sie hatte sich verändert.
Waren ihr durch diese Erfahrung die Jungs verleidet? Überhaupt nicht. Es war vielmehr ihre Verwundbarkeit, das Gefühl benutzt zu werden, das sie verabscheute. Sie fing an, aus eigener Initiative und nach ihren Regeln mit Jungen zu schlafen. Sie wählte sie aus, und sie gab den Ton an. Als sie mit 17 zum ersten Mal mit einem Familienberater sprach, hatte sie bereits Sex mit sieben verschiedenen Jungen gehabt. Vielleicht waren es auch acht, denn in einer Nacht war sie vom Alkohol so benebelt gewesen, dass sie nicht mehr ganz sicher war.
Jetzt, in der zwölften Klasse, ist Kaycee halbwegs stabil, sie hat einen festen Freund. Aber sie hält nicht gerade viel von ihm und lässt durchblicken, dass sie ihn demnächst »abservieren« will.
Aus der Forschung (aber auch aus unserer eigenen Teenagerzeit) wissen wir, dass Kaycees Erfahrung nicht ungewöhnlich ist. Vielleicht, so könnte man argumentieren, sollten wir in Sachen Teenagersex nicht so verkrampft sein: Sollen die Heranwachsenden doch ihre eigenen Fehler machen und aus ihnen lernen. (Auch ein bequemes Argument für Eltern, die sich nicht so gerne engagieren wollen oder einfach zu viel zu tun haben, um sich näher mit ihren Kindern zu beschäftigen.) Aber bleiben wir bei unserer Geschichte …
Kaycees Leben lief zu diesem Zeitpunkt nicht so gut. Ihre Eltern suchten weniger wegen ihres Sexuallebens Beratung, von dem sie nur eine vage Vorstellung hatten und irgendwie auch gar nichts wissen wollten. Es ging ihnen vielmehr darum, dass Kaycees Alkoholkonsum außer Kontrolle geriet (sie war nun wirklich noch nicht in einem Alter, in dem man trinkt) und sie auf der teuren Privatschule zu scheitern drohte. Nach der Hälfte des zwölften Schuljahrs waren die Lehrer besorgt über ihre schlechten Noten und ihr häufiges Fehlen. Der Familie hatte man nahegelegt, sich bei diesen Problemen helfen zu lassen.
Als Kaycee mit ihren Eltern zur Beratung kam, schien sie sehr wütend darüber, dass man sie hergeschleppt hatte. Aber schon eine halbe Stunde später schüttete sie dank eines einfühlsamen Beraters ihr Herz aus.
Dass die Familie Hilfe gesucht hatte, nicht nur für Kaycee, sondern für alle zusammen, war ein mutiger Schritt und erwies sich tatsächlich als Wendepunkt. Am Ende des Buches werden wir auf Kaycee und ihre Eltern zurückkommen, um zu sehen, welche Lösungen sie gefunden haben.
Auffallende und plötzliche Veränderungen
Das Leben von Mädchen hat sich innerhalb der letzten zehn Jahre entscheidend gewandelt. Und dieser Wandel betrifft jede Altersstufe, vom Baby bis zum Teenager. Während die Mädchen auf ihrem Weg ins Erwachsenenleben noch immer die gleichen Wünsche und Träume haben wie wir früher, zwingt die Welt sie zu Veränderungen ganz anderen Ausmaßes. Vor allem beginnen diese Veränderungen für sie bereits zu einem viel früheren Zeitpunkt.
Diesen Schlüsselaspekt bei der aktuellen Situation junger Mädchen müssen wir vor Augen haben. Als Erste hat darauf Maggie Hamilton in ihrem Buch What’s happening to our girls? hingewiesen. Wenn wir unsere Töchter verstehen wollen, müssen wir uns bewusst sein, dass ihre Kindheit anders verläuft als unsere damals. Um es platt zu sagen, 14 ist das neue 18, zehn ist das neue 14. Das betrifft den Druck, der auf ihnen lastet, ihr Verhalten und wie sie entsprechend der Norm ihrer Peergroup zu handeln und zu sein haben. Und weil es uns nicht gelingt, sie davor zu schützen, sind wir dafür mitverantwortlich.
Wir – und damit meine ich uns alle, Eltern, Verwandte, Freunde und die Gesellschaft – bieten unseren jungen Mädchen nicht mehr die Unterstützung, die sie früher hatten. Wir widmen ihnen nicht mehr genug von unserer Zeit und Aufmerksamkeit oder erziehen sie nicht mehr sorgfältig genug.
Innerhalb der letzten zehn Jahre hat eine Meute gieriger Unternehmer festgestellt, dass Mädchen – insbesondere Mädchen kurz vor der Teenagerzeit – leichte Beute sind. Firmen entdeckten, dass man enormen Profit machen kann, indem man ihre Ängste ausbeutet (oder überhaupt erst welche erzeugt). Ängste, die den Zustand ihrer Haut betreffen, ihr Gewicht, ihre Bekleidung bis hin zu ihren Freundschaften, Ängste, die sie auch im Erwachsenenalter nicht mehr loslassen.
In Vorstandsetagen und Werbeagenturen, in Zeitschriften und anderen Medien begann die Schlacht um die Mädchen. Und sie wurde gewonnen. Wohin Mädchen heute auch schauen, übermittelt man ihnen die Botschaft, nicht gut genug zu sein. Man engt sie ein mit verkrampften und beschränkten Vorstellungen darüber, wie sie auszusehen, zu denken und sich zu verhalten haben. Nie zuvor wurden Mädchen so bombardiert mit Werbung für Diäten und Alkohol, den Diktaten der Mode und sogar mit Pornografie, die bis in die Zimmer der Teenager vordringt.
Die Folge ist, dass den Mädchen vier Jahre Ruhe und Entwicklungsmöglichkeiten verloren gegangen sind. Sie werden aus ihrer Kindheit vertrieben, bevor sie überhaupt zu Ende ist. In nie da gewesener Zahl landen Mädchen heute in Psychokliniken, Polizeistationen, Drogen- und Alkoholentzugsprogrammen.1
Wenn wir wachsam sind, können wir das verhindern. Teils durch unsere Liebe und Unterstützung, teils, indem wir ein anregendes Umfeld für sie schaffen, und teils, indem wir sie vor der Dummheit und Ausbeutung der Medien um sie herum schützen. Es gibt ein chinesisches Sprichwort, das ich besonders mag, es hat mir schon oft geholfen: »Du kannst nicht verhindern, dass Vögel des Kummers und der Sorge um dein Haupt kreisen, aber du kannst verhindern, dass sie ihre Nester in deinen Haaren bauen.« Wir können in dieser Welt leben, ohne alles schlucken zu müssen, was sie uns auftischt. Für uns und unsere Töchter können wir all die Erfahrungen bündeln, die uns stark, glücklich und lebendig machen. So wie Genevieve und ihre Eltern.
Genevieves Geschichte
Genevieve ist 17, wie Kaycee, und auch in der zwölften Klasse. Bei der ersten Begegnung scheint Genevieve ein bisschen nervös und scheu, aber sobald sie ihr Gegenüber etwas besser kennt, wird sie lockerer. Wenn sie erzählt, sprüht sie vor Ideen, gibt lustige Geschichten und interessante Sichtweisen zum Besten. Sie kann in einem Moment wie ein aufgeregtes Kind, im nächsten wie eine nachdenkliche junge Frau wirken, so wie es typisch ist für Mädchen an der Schwelle zum Erwachsenwerden. Sie hat nicht das toughe Äußere von Kaycee, aber das braucht sie vielleicht auch nicht. Ihre Geschichte ist eine andere.
Genevieve hat noch keinen Freund. Sie hätte gerne einen, aber sie ist vorsichtig, denn sie weiß, dass so eine junge Liebe nicht immer einfach ist. Außerdem findet sie Unterhaltungen mit gleichaltrigen Jungs frustrierend und anstrengend und freut sich darauf, an der Uni reifere, kommunikativere Jungen kennenzulernen.
Genevieves Schulfreundinnen sind ein aufgeschlossener, netter Haufen, nicht die Tonangeber, sondern die ruhigeren, natürlicheren Kinder. Sie sind füreinander da, und sie sorgen auch dafür, dass Neue oder solche, die mehr am Rand stehen, sich willkommen fühlen und einbezogen werden. Das macht sie zu einer großen, offenen Gruppe; dass sie vielleicht ein bisschen albern oder uncool wirken, ist ihnen ziemlich egal.
Mit 15 hatte Genevieve zum ersten Mal ein Date mit einem Jungen, und das war für sie ein sehr eindrückliches Erlebnis. Justin war so alt wie sie, sie lernten sich am Anfang des Schuljahres kennen. Sie sahen sich so oft wie möglich, gingen zusammen spazieren, hielten Händchen und führten intensive Gespräche. Justin war sexuell erfahrener als sie, und nach ein paar Monaten begann er, Genevieve zu drängen, »weiter zu gehen«, wenn sie allein waren. Er hatte schon Sex mit anderen Mädchen und wollte ihn auch mit Genevieve.
Genevieve hat ein sehr enges Verhältnis zu ihrer Mutter und bespricht üblicherweise alles in ihrem Leben mit ihr. Ihre Mutter sagte einmal scherzhaft, dass jede mit Justin verbrachte Stunde wiederum eine Stunde Reden mit ihr nach sich zog: darüber, was passiert war, was er gesagt hatte, was das wohl bedeutete, was sie geantwortet hatte, und so weiter. So wie viele Mädchen sich für diese detaillierte Nachbereitung mit ihren Freundinnen zusammensetzen, war Genevieve es gewohnt, auch ihre intimsten Gedanken mit ihrer Mutter zu teilen. Deshalb wurde auch dieses neue Problem Gegenstand ihrer Gespräche. Dadurch konnte ihre Mutter mit dem Druck, der in Sachen Sex auf ihrer Tochter lastete, umgehen und war in der Lage, ihr zu helfen.
Dankenswerterweise geriet Genevieves Mutter weder in Panik, noch versuchte sie, die Situation unter Kontrolle zu bekommen, in dem sie Genevieve sagte, was sie tun sollte. Sie erzählte mir später, dass sie den beiden gegebenenfalls die nötigen Grenzen gesetzt hätte hinsichtlich der Art und des Ortes ihrer Treffen. Schließlich waren sie weder im gesetzlich zulässigen Alter noch hatten sie die erforderliche Reife für Sex. Anders gesagt, sie hätte es nicht zugelassen, dass ihre unerfahrene Tochter in eine Situation gerät, die emotional und körperlich eine Gefahr für sie darstellen könnte. Zugleich aber unterstützte sie Genevieve in dem Wunsch, mit einem Jungen befreundet zu sein. Sie fuhr sie in die Stadt, damit sie mit Justin ins Kino gehen oder Freunde treffen konnte, oder holte ihn zu Besuchen zu ihnen nach Hause.
Genevieves bemerkenswert vernünftige Mutter hatte für die Fragen ihrer Tochter eine angemessene und zugleich fürsorgliche Antwort parat: Anstatt als erste Strategie gleich irgendwelche Regeln aufzustellen, half sie ihrer Tochter dabei, deren eigene Bedürfnisse zu erkunden. Was sagte ihr Gefühl? Was sagte ihr Körper? Wie könnte sie sich verhalten, damit es ihr auch auf lange Sicht gut damit ging?
Sie blieb ruhig und unaufgeregt und ließ ihrer Tochter Raum zum Nachdenken. Genevieves Mutter hatte die Gabe, intensiv zuzuhören, ohne Druck auszuüben, so hatte Genevieve ihre volle Aufmerksamkeit und konnte zugleich ohne Hemmung ihre Gedanken und Gefühle formulieren.
Genevieves Bauchgefühl war recht eindeutig: Sie mochte Justin wirklich, sie war gerne mit ihm zusammen, aber wenn er ihr körperlich zu nahe kam, fühlte sie sich eher unwohl und bedrängt. Sie wollte, dass die Beziehung stärker und fester würde, aber sie wollte sich dabei Zeit lassen. Ihre Mutter hörte zu, nickte und schilderte dann ihren eigenen Eindruck: »Es klingt so, als wärst du noch nicht bereit für Sex mit ihm, du willst nicht, dass es jetzt in diese Richtung geht.«
Genevieve bestätigte das, aber sie machte sich Gedanken, was passieren würde, wenn sie Justins Vorstöße immer wieder zurückweisen würde. Sie besprach mit ihrer Mutter, wie sie ihm ihre Gefühle und Bedürfnisse deutlich machen konnte.
In den folgenden Wochen führten Genevieve und Justin darüber eine Art Debatte. Im Prinzip begegnete er ihren Forderungen mit einem Ultimatum – es war so eine Art Kräftemessen. Justin kannte eine Menge Mädchen, die zwar nicht so interessant und außergewöhnlich wie Genevieve waren, dafür aber jederzeit bereit, mit ihm Sex zu haben, und schließlich macht er Schluss. Genevieve hatte gewusst, dass das passieren konnte, doch das änderte nichts an der Tatsache, dass sie sich furchtbar niedergeschlagen fühlte. Sie war ein sehr offenes, emotionales Mädchen, ihre Seele verfügte nicht über Abwehrmechanismen, und sie brauchte lange, um darüber hinwegzukommen. Aber sie kam darüber hinweg, und als Justin sich sechs Monate später meldete, um wieder mit ihr zusammenzukommen, erteilte sie ihm eine freundliche, aber klare Abfuhr. Sie hatte sich weiterentwickelt.
Realitätscheck
Als ich jung war, reiste ich gerne in ferne Länder, hielt mich in kleinen Dörfern auf Papua-Neuguinea oder den Slums von Kalkutta auf. Wenn ich nach Hause zurückkehrte, überraschte mich immer wieder eine bemerkenswerte Tatsache: Menschen in schwieriger Umgebung sind glücklicher. Das Leben dort war hart, aber die Einwohner waren dennoch gut gelaunt und herzlich zueinander. (Im Wohlstand und Überfluss schienen alle unglücklich.) Diese Erfahrung überzeugte mich: Wir sind dazu gemacht, glücklich zu sein, nicht deprimiert. Besonders nicht im Alter von 15 Jahren.
Ein Mädchen zu sein soll Freude machen, es bedeutet Spaß mit jüngeren und älteren Freunden, mit ersten Liebeserfahrungen, mit dem Beherrschen neuer Fähigkeiten. Aus den jugendlichen Dramen sollen Mädchen lernen und wachsen, aber nicht daran kaputt gehen.
Verglichen mit der aktuellen Lage wird klar, dass etwas komplett falsch läuft. Millionen von Eltern fragen sich, warum ihre Töchter so niedergeschlagen sind und was sie tun können, damit das Leben ihrer Kinder gelingt. Wie Sie sehen werden, können wir eine ganz Menge tun.
Erster Teil
Die fünf Phasenim Lebeneines Mädchens
Kapitel 1
Mädchen erziehen – ein erster Überblick
Molly hebt ein Spielzeugauto hoch und will es ihrer Freundin Jemima auf den Kopf schlagen. Auch wenn sie erst zwei ist, weiß sie, dass das nicht wirklich der Sinn einer Spielgruppe ist, und wirft einen schnellen Blick in Richtung ihrer Mutter, die sie dabei beobachtet. Die hat alles gesehen und signalisiert sehr eindringlich »Untersteh dich!«
Gaaanz langsam lässt Molly das Auto sinken und widmet sich wieder den Buntstiften. Jemima hat glücklicherweise von alldem nichts mitbekommen, sie summt vor sich hin und krallt sich den gelben Buntstift.
Die zehnjährige Elise sitzt vor ihrem Computer. Sie hat eben eine Nachricht erhalten, die eine ihrer Freundinnen gepostet hat. Es geht um eine Klassenkameradin, ein sehr scheues und unsicheres Mädchen, und der Text ist sehr gemein und geht unter die Gürtellinie. Elise kaut auf ihrer Lippe herum, bis sie feuerrot ist. Sie hasst das Geläster, aber was soll sie unternehmen, ohne sich selbst unbeliebt zu machen? Sie springt die Treppen hinunter, um mit ihrer Mutter darüber zu sprechen.
Die 15-jährige Samantha sitzt in einer Matheprüfung. Sie macht eine Pause, seufzt und zieht die Stirn in Falten. Sie ist schon fast fertig, obwohl noch viel Zeit bleibt. Wenn sie so weitermacht, wird sie die Erste in der Klasse sein. Sie mag Mathe und ist deshalb auch gut in dem Fach, aber so wird sie wohl als Streberin gelten, was äußerst uncool ist, besonders bei Jungs. Sie könnte ja jetzt aufhören und die letzten Aufgaben einfach nicht lösen. Quatsch, sagt sie zu sich selbst und macht sich kurz Sorgen, ob sie womöglich laut gesprochen hat. Aber niemand scheint etwas gemerkt zu haben. Dann macht sie die Matheprüfung zu Ende.
Ein Mädchen zu sein, kann wunderbar sein, für das Mädchen selbst und auch für seine Eltern, aber es gibt immer wieder problematische Phasen. In jeder dieser Phasen müssen Mädchen schwierige Entscheidungen treffen. Sie sind oft verwirrt und machen Fehler, aber sie lernen daraus und wachsen daran und werden so zu starken, fähigen Frauen.
Damit Sie als Eltern wissen, was Sie erwartet und was zu tun ist, sollen Sie in diesem Buch einen Wegweiser durch die Kindheit bekommen. Darin sind nicht nur die neuesten Erkenntnisse der Entwicklungspsychologie und Neurowissenschaften, der Familien- und Elternforschung eingeflossen, sondern auch die Erfahrungen von Müttern, Vätern und Lehrern in vielen Ländern. Ich traue Experten nur dann, wenn ihre Aussagen mit dem übereinstimmen, was mir mein Gefühl und der gesunde Menschenverstand sagen. Beides wiederum rührt von zahlreichen Gesprächen mit vielen Menschen her. Daraus entstand ein sehr detaillierter Wegweiser, mit dem man sich gut zurechtfinden kann.
Die fünf Phasen im Leben eines Mädchens
Auch wenn jedes Mädchen einzigartig ist, haben doch alle Mädchen den gleichen Weg ins Erwachsenenleben vor sich. Jungen und Mädchen aber unterscheiden sich sowohl hinsichtlich der Phasen, die sie durchmachen, als auch hinsichtlich des Alters, in dem sie in diese Phasen kommen. In den Kapiteln weiter hinten können Sie sich jeweils ausführlich mit dem Alter beschäftigen, in dem sich Ihre Tochter gerade befindet. Zuerst aber sollten Sie sich einen Überblick verschaffen.
Phase 1: Sicherheit – werde ich beschützt und geliebt? (Von der Geburt bis zum 2. Lebensjahr)
Bei keinem Lebewesen sind die Babys so hilflos und abhängig wie beim Menschen. Sie sind völlig schutzlos und wissen instinktiv, dass sie auf die Liebe der sie umgebenden Erwachsenen angewiesen sind, sonst bekommen sie nicht die nötige Zuwendung. Nahrung und Kleidung reichen nicht aus – denn dann könnten auch Maschinen ein Baby am Leben erhalten, aber es würde weder Intelligenz noch Empathie entwickeln und zu einem sehr seltsamen Wesen werden. Nur die Eltern, ihr Trost und ihre Zärtlichkeit, das Sprechen und Singen, das Kitzeln, In-den-Armen-Wiegen und ihre Liebe erwecken das Baby richtig zum Leben und vermitteln ihm, dass dieses Leben gut ist. Erst alles zusammen erfüllt die physischen und emotionalen Bedürfnisse des Kindes und vermittelt ihm das fundamentale Gefühl, beschützt und geliebt zu werden. Dieses Gefühl wird es immer in sich tragen.
Phase 2: Auf Entdeckungsreise – Ist die Welt ein lustiger und interessanter Ort? (2. bis 5. Lebensjahr)
In dieser Phase lernt ein Mädchen, der Welt um sie herum zu vertrauen und sich für sie zu interessieren; es entwickelt Intelligenz und Kreativität. Voraussetzung dafür ist das Gefühl der Sicherheit aus Phase 1: Wenn meine Bezugspersonen in der Nähe sind und auf mich aufpassen, kann ich entspannt das Spielzeug um mich herum erkunden, im Garten spielen, auf dem Rasen herumkrabbeln, mit Dreck und Gras und Blättern um mich werfen.
Kleinkinder, die sich nicht bei ihren Müttern geborgen fühlen, werden kaum wagen, etwas zu erkunden, denn ihre Angst, von Mutter oder Vater verlassen zu werden, ist zu groß.
In diesem Alter können Sie Ihrer Tochter beibringen zu malen, etwas zu bauen und zu basteln sowie Freude am Umgang mit Dingen, Tieren und Menschen zu entwickeln. Wenn die Bezugspersonen diese Dinge mitmachen, übertragen sich deren Begeisterung und Spaß auf das Kind. Sein Gehirn wird dadurch auf lebenslanges Lernen programmiert. Wenn Sie Ihrer Tochter beibringen, dass das Leben ein Abenteuer ist, wird sie ihr Leben lang alles Erstaunliche und Neue und jede Herausforderung als etwas Positives empfinden.
Phase 3: Sozialkompetenz – Wie komme ich mit anderen klar? (5. bis 10. Lebensjahr)
In dieser Phase können andere Kinder und Erwachsene, Mutter und Vater, Schwestern und Brüder durchaus mal schwierig sein, aber meistens sorgen sie für Vergnügen. Ihre Tochter findet nun heraus, dass man mehr Spaß hat, wenn man Dinge mit anderen teilt, mit ihnen kooperiert und mit ihnen zusammen spielt, als wenn man alles alleine tut. Vor dem dritten oder vierten Lebensjahr ist diese Einsicht praktisch unmöglich und selbst mit drei oder vier noch schwierig. Dass es selbst nicht das Zentrum des Universums ist, sondern dass andere Menschen auch Gefühle haben, lernt ein Kind zuerst von den Eltern, dann von anderen Leuten.
Durch die Grundschulzeit hindurch erwirbt Ihr Kind nach und nach eine sehr komplexe Fähigkeit: sich selbst einzuschätzen, aber auch die anderen Menschen, und ihnen mit Respekt zu begegnen. Auch das baut auf den früheren Phasen auf: Wer liebevoll, mit Vernunft, Empathie und Aufrichtigkeit erzogen wird, wird ein liebevoller, vernünftiger, empathischer und aufrichtiger Mensch werden.
Ihre Tochter wird feststellen, dass die meisten Menschen nett sind. Sie wird sie mögen und mit ihnen spielen wollen. Ihre Tochter wird jemand sein, der »mit Menschen kann«. Ihr ganzes Leben lang wird sie fähig sein, anderen Menschen freundlich und offen zu begegnen.
Phase 4: Die eigene Seele entdecken: Wie finde ich mich selbst? Was macht mich wirklich glücklich? (10. bis 14. Lebensjahr)
Mit Beginn der Pubertät entwickelt ein Mädchen ein viel stärkeres Gefühl für die eigene Identität, für ein eigenständiges und intimes Ich. Sie ist noch lange keine Frau, aber ein Kind ist sie auch nicht mehr. Wie bei einem Baum im Winter werden für später, für die Zeit der Blüte, Reserven angelegt. In diesen Jahren wird das Innenleben Ihrer Tochter, das, was sie als Individuum auszeichnet, immer stärker. Es ist eine Phase, in der sie Hilfe braucht beim Nachdenken darüber, wofür sie steht, was sie bewegt, was ihre Interessen und Leidenschaften sind. Es ist sehr oft diese Phase, in der es bei einem Mädchen sozusagen funkt: Sie entdeckt etwas, was sie mit großer Freude und einem festen Ziel vor Augen tut: ihre Möglichkeit, einen kreativen Beitrag in der Welt zu leisten, einen Lebenssinn.
Ein Mädchen, das durch ihr Tun und ihre Überzeugungen eine eigene Identität entwickelt, ist viel unabhängiger vom Bedürfnis nach Bestätigung, welches so viele andere umtreibt und sie langweilig und konformistisch werden lässt.
Eine Mädchenseele ist wie ein wildes Tier, clever, stark, aber zugleich auch argwöhnisch. Sie braucht Zeit und Ruhe, um sich zu entwickeln. Ein Mädchen, das seine Seele gefunden hat, ist gut gerüstet für die großen Fragen des Lebens: Welches ist die ihr gemäße Form der Zweierbeziehung, welcher der Beruf, der ihr gefällt, mit welchen Menschen will sie sich umgeben? Ein Mädchen, das seine Seele gefunden hat, kann sehr sanft sein, aber zugleich stahlhart, wenn es darum geht, sich gegen unzuverlässige Jungen oder falsche Freunde zu wehren. Sie wird loyal und stark sein und deshalb in der Lage, ihre Lieben und sich selbst zu schützen.
Phase 5: Der Schritt ins Erwachsenenalter – Wie übernehme ich Verantwortung für mein Leben? (14. bis 18. Lebensjahr)
Mit 18 ist Ihre Tochter eine erwachsene Frau, und dieser große Schritt muss schon ab 14 ernsthaft vorbereitet werden. Es geht vorwiegend um Praktisches: Wie geht man mit Geld um, wie fährt man Auto, wie teilt man seine Zeit ein, wie ernährt man sich gesund, wie zieht man sich an, achtet auf die eigene Gesundheit und Sicherheit? Es ist aber auch ein bedeutsamer Wechsel in der Haltung. Irgendwann zwischen dem 14. Lebensjahr und dem Erwachsenenalter braucht Ihre Tochter eine Art Schlüsselerlebnis, einen Initiationsritus, eine Erfahrung, vielleicht sogar eine schlechte – etwas, das ihr zeigt, dass sie nun in ihrem Leben selbst am Ruder ist, dass sie es nun im wahrsten Sinne des Wortes selbst in der Hand hat. Das ist eine beängstigende Erfahrung, aber beängstigend in einem positiven Sinne. Ihre Tochter wird ihre Balance finden, und die Zuwendung erfahrener Frauen kann ihr dabei helfen, Kindlichkeit und Leichtgläubigkeit abzulegen, Verantwortung zu übernehmen für die Konsequenzen ihres Tuns und ihr Leben eigenständig lebenswert zu gestalten. Auch wenn das Leben selbst dafür sorgen kann, ist es gefährlich und unberechenbar, diese Einsichten dem Zufall zu überlassen. Ihre Tochter könnte dabei zu Schaden kommen. Außerdem werden viele Menschen nie erwachsen, sind selbstbezogen, orientierungslos und unglücklich, geben immer den anderen die Schuld dafür und übernehmen nie Verantwortung.
Wenn wir unsere Mädchen aktiv und bewusst in ein sinnerfülltes Leben begleiten, werden sie zu beeindruckenden Frauen, die ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen und ihren eigenen Weg gehen.
Jede Phase stellt eine spezifische Frage
Ich hoffe, die einzelnen Phasen erscheinen Ihnen klar und verständlich. Bedenken Sie, dass alle Mädchen unterschiedlich sind und sich deshalb das Alter, in dem sie diese Phasen durchmachen, verschieben kann. Außerdem überschneiden sich die Phasen auch, denn die Natur arbeitet sehr effizient und erteilt die nächste Lektion häufig schon bevor die vorige beendet ist. Aber damit kommen Sie sicher zurecht.
Der Kernpunkt ist, dass Ihre Tochter aus jeder dieser Phasen eine Einstellung mitnimmt, die ihr entweder weiterhilft oder schadet. Stellen Sie sich einmal ein Mädchen vor, bei dem in allen fünf Phasen etwas schiefläuft. Dieses Mädchen würde folgende fünf Glaubensmuster mitnehmen:
1. Das Leben bietet keine Sicherheit und niemand liebt mich.
2. Neue Gedanken und Dinge machen mir Angst.
3. Menschen kann man nicht trauen, und es ist schwer, mit ihnen auszukommen.
4. Ich habe keinen Wert, ich bin ein Niemand.
5. Erwachsenwerden ist schrecklich anstrengend. Ich möchte nicht erwachsen werden. Ich habe keinen Einfluss und keine Wahl, was mit mir passiert. Dinge geschehen einfach.
Diese Glaubensmuster sind verdammt schädlich, aber jeder, der mit Mädchen zu tun hat, kennt sie. Alle Eltern, die ihre Töchter, deren Freundinnen oder andere Mädchen in der Umgebung beobachten, können sehen, welche Handlungen aus derartigen Einstellungen resultieren. Manche Mädchen schaffen es, manche nicht. Die Überzeugungen, die sie mitnehmen, sind einschneidend und lebensentscheidend.
Entwarnung für alle, die jetzt starr vor Angst sind: Glücklicherweise entstehen solche Überzeugungen nach und nach, indem viele Erfahrungen sich addieren. Also machen Sie sich keine Sorgen, bloß weil Sie nicht immer alles richtig machen. Jede Phase dauert mehrere Jahre, und wir haben immer viele Einflussmöglichkeiten.
Entscheidend ist, als Eltern nie aufzugeben. Wenn Sie Ihre Tochter lieben und sich immer wieder neu bemühen, werden Sie klarkommen. Und wenn Ihre Tochter einige Phasen schon hinter sich hat und Sie den Eindruck haben, die eine oder andere Botschaft ist bei ihr nicht angekommen, verzweifeln Sie nicht. Die richtigen Einstellungen können auch später noch erworben werden.
Wenn Sie gerade erst Eltern einer Tochter geworden sind, wegen der Sie dieses Buch lesen, dann haben Sie wirklich Glück. Aber Sie können die Dinge noch in jedem Alter in Ordnung bringen, wenn Sie nur ausreichend Zuwendung und Motivation aufbringen.
MÄDCHEN SIND ANDERS – UND SCHNELLER
Mädchen entwickeln sich schneller als Jungen, besonders, was die Leistungsfähigkeit ihres Gehirns betrifft. Das Östrogen, das ihr Körper bereits im Mutterleib produziert, lässt ihr Gehirn schneller wachsen, und bei ihrer Geburt sind sie den Jungen schon um einige Wochen voraus.2
Diesen Vorsprung bauen sie in den ersten fünf oder sechs Lebensjahren noch aus. Ganze Sätze zu sprechen, die Finger kontrolliert zu bewegen, besser zu zeichnen und zu schreiben, lernen Mädchen sechs bis zwölf Monate früher als Jungen. Mädchen haben weniger Trennungsängste als Jungen, wenn sie zur Kinderbetreuung gebracht werden, obwohl es auch hier individuelle Unterschiede von Kind zu Kind gibt.
Mädchen kommen etwa zwei Jahre früher in die Pubertät als Jungen, werden praktisch über Nacht zur Frau, während sich dieser Prozess bei den Jungen eher schleichend vollzieht.
Und Mädchen werden schneller erwachsen – bei ihnen ist die Entwicklung des Gehirns mehrere Jahre früher abgeschlossen als bei Jungen, bei denen das Anfang zwanzig der Fall ist. Es ist, als würde die Natur den Mädchen sagen: Du wirst besser mal schneller groß als die Konkurrenz, du wirst deinen Verstand dringend brauchen.
DENKEN SIE EINMAL ÜBER IHR EIGENES LEBEN NACH
Wenn Sie eine Frau sind, haben Sie bei der Erziehung Ihrer Tochter einen großen Vorteil: Sie waren auch mal ein Mädchen. Wenn Sie ein Mann sind, ist das etwas anderes, aber Töchter erwarten von ihren Vätern normalerweise auch nicht, dass sie Mütter sind. Väter spielen eine andere, aber ebenso wichtige Rolle.
Wenn Sie als Mutter dies lesen, denken Sie an Ihre eigene Kindheit zurück. (Als Vater lohnt sich das ebenso, auch wenn die einzelnen Phasen vermutlich ein bisschen anders verlaufen sind.)
Fühlten Sie sich als Baby sicher und geborgen? Waren Ihre Eltern in ihrem Leben angekommen und freuten sich über Sie?Wurden Sie ermutigt zu spielen und die Welt zu erkunden? Hatten Ihre Eltern Zeit und Lust, Sie zu motivieren und Ihnen zu zeigen, wie interessant das Leben für ein Kleinkind sein kann?Als Sie in die Schule gingen, haben Ihre Eltern Sie unterstützt und Ihnen gezeigt, wie man mit anderen Menschen umgeht? Konnten Ihre Eltern selbst gut mit anderen umgehen? Konnten sie ihre eigenen Interessen durchsetzen und zugleich die Bedürfnisse anderer respektieren?Fanden Ihre speziellen Interessen zu Beginn Ihrer Teenagerzeit Unterstützung, oder war Ihre Umgebung zu beschäftigt?Hatten Sie den Eindruck, in dieser Phase Ihre Seele zu finden, eine Verbindung zur Natur und zum Universum aufzubauen und daraus Stärke zu ziehen?Und empfanden Sie am Ende Ihrer Teenagerzeit den klaren Übergang zum Erwachsensein, indem Sie Ihr Leben selbst in die Hand nahmen, die Konsequenzen Ihres Handelns trugen, Ihre eigene Stärke spürten und Ziele hatten?Eine Menge Fragen, aber Sie werden schnell merken, wo bei Ihnen alles richtig und wo etwas falsch lief. Vielleicht hilft Ihnen das zu erkennen, was beim Umgang mit Ihrer Tochter wirklich wichtig ist.
Wie sich das Wissen über die fünf Phasen anwenden lässt
Gemäß dem Alter Ihrer Tochter hilft Ihnen die Einteilung in die Phasen zu überlegen, welche zentralen Fragen sich jetzt gerade stellen. (Aber überprüfen Sie das immer auch anhand Ihrer eigenen Eindrücke, statt sich von Büchern oder Theorien Ihr Handeln diktieren zu lassen. Wenn Ihr Bauchgefühl Ihnen sagt, dass Ihre Tochter jetzt genau in dieser Phase ist, obwohl sie vom Alter her vielleicht einer anderen Phase zugeordnet werden müsste, dann können Sie sie gezielt mit Erfahrungen und Anregungen unterstützen. Wie das geht, erfahren Sie in den folgenden Kapiteln.)
Diese Einteilung können Sie aber auch sozusagen therapeutisch anwenden, indem Sie überlegen, welche der Phasen Ihre Tochter aufgrund schwieriger Umstände vielleicht verpasst hat. Es liegt in der Natur des Menschen, Verpasstes nachzuholen, wenn wir es denn merken. So können zum Beispiel adoptierte Kinder mit schrecklichen Erfahrungen in der Vergangenheit bei ihren neuen Eltern nach und nach wieder Geborgenheit finden. Überbehütete, ängstliche Mädchen kann man dazu motivieren, mehr Mut an den Tag zu legen. Und Mädchen mit wenig Sozialkompetenz kann beigebracht werden, auf andere Menschen zuzugehen, und so weiter. Ziehen Sie in Betracht, dass Ihre Tochter zwar nach Jahren gemessen in einem bestimmten Alter ist, aber hinsichtlich ihrer Entwicklung vielleicht deutlich jünger, etwa weil sie aufgrund bestimmter Lebensumstände früher etwas verpasst hat.
GRÜNDE FÜR BESONDERE ANHÄNGLICHKEIT
Die zehnjährige Gemma ist sehr anhänglich und braucht ständig die Nähe und die Streicheleinheiten ihrer Mutter. Die findet das zuerst störend, aber dann fällt ihr ein, dass sie sehr gestresst und depressiv war, als Gemma noch ein Baby war. Ihr wird klar, dass Gemma, eigentlich in Phase 3, in die erste Phase ihres Lebens zurückfällt, die Werde-ich-beschützt-und-geliebt?-Phase. Sie beschließt, Gemma all die Zuneigung zu schenken, die sie zu brauchen scheint, und merkt, wie viel das bewirkt: In den folgenden Monaten wird ihre Tochter viel entspannter, selbstsicherer und unabhängiger.
UNTER STRESS ENTWICKELN WIR UNS ZURÜCK
Ein nützlicher Tipp: Immer wenn es in Familien zu besonderen Stresssituationen kommt, reagieren Kinder darauf, indem sie in eine frühere Phase zurückfallen. Eine selbstsichere Fünfjährige lutscht plötzlich wieder am Daumen und will in eine Kuscheldecke gewickelt werden. Eine 14-Jährige geht lieber mit ihren Eltern auf eine Grillparty als mit Gleichaltrigen. Oder eine 21-Jährige trifft keine eigenen Entscheidungen, sondern fragt ständig die Eltern, was sie tun soll.
In Stresssituationen fallen wir alle um eine oder zwei Entwicklungsphasen zurück: Denken Sie an Zeiten, wo Sie am liebsten gar nicht aufstehen würden oder keine anderen Menschen sehen wollen. Das ist manchmal ein ganz normales Verhalten. Im Allgemeinen gilt: Lassen Sie es zu, wenn sich Ihre Tochter auf diese Weise regeneriert und fängt. Kein Mensch kann pausenlos mit der Realität klarkommen. Erst wenn sie auch nach ein paar Tagen nicht wieder »erwachsener« wird, sollten Sie sich Sorgen machen. Dann muss sie vielleicht ein bisschen geschubst werden oder braucht Hilfe bei der Ursachenforschung.
Finden Sie auf jeden Fall heraus, was der Grund für ihre Gestresstheit ist, wenn es keinen offensichtlichen gibt. Vielleicht will sie mit Ihnen über etwas sprechen, was sie Überwindung kostet.
Tun Sie sich auch selbst etwas Gutes, sodass Ihre Tochter begreift, dass jeder Mensch Zuwendung und Ruhe braucht. Indem Sie das Stresslevel der ganzen Familie senken – durch Urlaub, einen freien Tag pro Woche und generell weniger Termindruck –, wird auch sie nicht so leicht überlastet. Ein gestresstes Kind ist oft ein Zeichen dafür, dass die ganze Familie mehr Ruhe braucht.
Kurz gefasst
Alle Mädchen durchlaufen fünf Phasen, um erwachsen zu werden.
Diese fünf Phasen vermitteln die fünf großen Lektionen des Lebens: sich geborgen fühlen, Neues entdecken, Beziehungen zu anderen Menschen aufbauen, die eigene Seele finden und das Leben selbst in die Hand nehmen. In allen Phasen braucht Ihre Tochter die Hilfe von kompetenten Erwachsenen.
Eltern, die sich mit diesen Entwicklungsphasen vertraut gemacht haben, können das Leben ihrer Tochter so gestalten, dass sie genau das bekommt, was sie braucht.
Ihre Tochter begibt sich auf eine Reise, und Sie sind auf diesem Weg Coachs, Beschützer, Verbündete. Diese Rolle zu übernehmen, ist wahrscheinlich das Beste, was Sie je tun werden.
Kapitel 2
Der richtige Start ins Leben
(Geburt bis 2. Lebensjahr)
Es ist früher Morgen, und die fünf Wochen alte Lucy liegt hellwach in ihrer Wiege neben dem Bett ihrer Eltern. Mama und Papa schlafen noch, Papa schnarcht sogar ein bisschen. Lucy beobachtet die tanzenden Schatten, die das Sonnenlicht an die Wand wirft. Manchmal rudert sie vor Begeisterung mit den Armen. Sie gibt leise, zufriedene Laute von sich, und ihr Kopf dreht sich in alle Richtungen, um all die kleinen Wunder um sich herum beobachten zu können.
Dann bekommt Lucy langsam Hunger und beginnt zu quengeln. Die Mutter wacht sofort auf. Das Schnarchen ihres Mannes hat sie die ganze Nacht hindurch nicht stören können. Aber die Evolution hat dafür gesorgt, dass ihre Ohren auf die Geräusche ihres Kindes sofort reagieren.
Schläfrig holt sie Lucy zu sich ins Bett und legt sie an ihre Brust. Lucy ist gar nicht erst dazu gekommen, sich zu ängstigen, und so ist sie glücklich und hellwach und sieht ihrer Mutter beim Trinken in die Augen. In diesem Alter können Babys nur bis zu einem Abstand von etwa 30 Zentimetern scharf sehen, also genau bis zu den Augen der Mutter, wenn sie beim Stillen an ihrer Brust liegen. Alles andere ist noch verschwommen. Ein Baby muss nicht mehr erkennen, als dass die Mutter glücklich und zufrieden ist, dann ist es auch entspannt.
Bald beginnt der Tag. Lucy wird mit ihrer Mutter oder ihrem Vater verschiedene Dinge unternehmen, zum Einkaufen oder zu Freunden mitgenommen werden, dabei oft die Windeln gewechselt bekommen und gestillt werden. Aber die meiste Zeit wird sie nur daliegen und schlafen. Gestillt werden und schlafen, ohne großes Drumherum, sind die zentralen Ereignisse des frühen Säuglingsalters. Und Lucys Gehirn wird dabei wachsen – allein im ersten Lebensjahr auf die zwei- bis dreifache Größe. Nie wieder danach wird sich ihr Gehirn so schnell und so gut entwickeln wie in diesen ersten Monaten. Die Liebe der Eltern, ihr Singen, Spielen und alles andere, was Eltern typischerweise so tun, werden diese Entwicklung unterstützen.
Wie ein Baby lernt, mit anderen zu kommunizieren
Wenn ihre Mutter im Haus beschäftigt ist oder am Computer sitzt und Lucy sich allein fühlt, fängt sie an, Geräusche zu machen, um die Aufmerksamkeit ihrer Mutter auf sich zu ziehen. Und ihre Mutter antwortet. Auch wenn Lucy im ersten Lebensjahr noch über keine Worte verfügt, wissen sie und ihre Mutter genau, was die andere meint. Eine Rohübersetzung ihrer Unterhaltung könnte etwa so lauten:
Lucy: Liebe Mama, bist du da?
Mama: Ja, bin ich.
Lucy: Bin ich immer noch das Wichtigste in deinem Leben?
Mama: Ja, bist du.
Baby: