Maggie Yellow Cloud - Brita Rose Billert - E-Book

Maggie Yellow Cloud E-Book

Brita Rose Billert

0,0

Beschreibung

Maggies Schwager wird ausgerechnet an dem Tag ermordet, als er mit ihrem Auto unterwegs war. Während die Polizei ermittelt, stürzt Maggie sich in ihre Arbeit im Hospital. Seit geraumer Zeit war der Ärztin der Notaufnahme aufgefallen, dass immer weniger Medikamente und Verbandsstoffe zur Verfügung stehen. Doktor Maggie Yellow Cloud geht dem rätselhaften Verschwinden nach und gerät dabei selbst in tödliche Gefahr.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 291

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Zur Autorin:

Brita Rose Billert wurde 1966 in Erfurt geboren und ist Fachschwester für Intensivmedizin und Beatmung, ein Umstand, der auch in ihren Romanen fachkundig zur Geltung kommt. Ihre knappe Freizeit verbringt sie mit ihrem Pferd beim Westernreiten durch das Kyffhäuserland in Thüringen. Sie hat durch ihre Reisen in die USA viele Freundschaften mit Native Indians in Utah, South Dakota und British Columbia geschlossen. Diese Tatsache, die Liebe zu den Pferden und ihrem Job inspirieren Sie zum Schreiben. Dreizehn Romane sind bereits publiziert. Autorenhomepage: www.brita-rose-billert.de

Die Welt ist voller Geheimnisse und Wunder, doch die wenigsten kannst du sehen.

Du kannst sie mit deinen Augen nicht sehen, sondern nur mit deinem Herzen.

Inhaltsverzeichnis

Vorspann

Kapitel 1 Cantemasice Mein - Herz ist schwer

Kapitel 2 Cante etan tawo yukcan kin u - Mit dem Herzen denken

Kapitel 3 Igmu Gleschka - gefleckte Katze

Kapitel 4 Paha to kin - Der Berg, der blau ist

Kapitel 5 Wacipi - Der Tanz

Kapitel 6 Macuwita - Mir ist kalt

Kapitel 7 Anpetu waste - Ein schöner Tag

Taku ociyaka wacin. Ich möchte dir etwas erzählen.

Vorspann

Die Sonne stand fast im Zenit über der staubigen Schotterstraße, die schnurgerade durch das hügelige Grasland führte. Die grüngelbe Prärie, blauer Himmel und die Staubpiste erstreckten sich so weit das Auge reichte. Der Wind spielte sanft mit den Gräsern.

Unheimliche Stille beherrschte das Land. Dort, wo der Himmel die Erde berührte, erschien jetzt ein schwarzer Punkt. Dieser kam schnell näher, während er eine immense Staubwolke hinter sich herzog. Der Punkt nahm die Gestalt eines Wagens an, der mit Höchstgeschwindigkeit heranpreschte. Schemenhaft tauchte in dessen Staubwolke ein zweiter Wagen auf. Es schien, als würden sie sich ein Rennen liefern.

Der junge Mann im vorderen Wagen fuhr sich mit dem linken Arm über die Stirn und wischte sich die lange, widerspenstige Haarsträhne weg, die ihm immer wieder über das Gesicht fiel. Sein Blick wechselte ständig zwischen der Straße und seinem Verfolger. Er konnte nicht genau einschätzen, wie dicht der fremde Wagen bereits hinter ihm war. In der Staubwolke, die sein Pontiac verursachte, war der nur schwer zu erkennen. Sein Fuß hatte das Gaspedal voll durchgetreten, aber mehr gab der alte Pontiac nicht her. Dieser Wagen, den er jetzt im Rückspiegel sah, war wie aus dem Nichts aufgetaucht und verfolgte ihn, ohne daraus einen Hehl zu machen.

Plötzlich rammte der Verfolger das Heck des Pontiac.

Mit einem dumpfer Schlag und einem unsanften Ruck geriet der alte Pontiac aus der Spur. Schweiß bedeckte schlagartig die Haut des Mannes, der Henry hieß, Henry Yellow Cloud. Pure Angst ließ seine Hände zittern, während er gegenlenkte, um den Wagen auf der Straße zu halten. Schließlich richtete er seinen angstvollen Blick nach hinten. Henry kannte den Verfolger nicht und er wusste nicht, weshalb der es auf ihn abgesehen hatte.

Dann blickte er wieder nach vorn auf die unbefestigte Straße. Wieder war ihm die Haarsträhne über sein Gesicht gefallen. Wieder wischte er sie weg und sah in den Rückspiegel.

Der Verfolger war schneller als er und rammte den Pontiac ein zweites Mal, nun seitlich am hinteren Kotflügel. Der Pontiac kam aus der Spur und geriet ins Schleudern. Mit festem Griff am Lenkrad steuerte Henry dagegen und brachte den Wagen wieder in die Spur.

Kalte Angst kroch in ihm hoch, schnürte ihm die Kehle zu, trieb ihm noch mehr Schweiß auf die Stirn. Sein Herz trommelte. Das Blut schoss durch die Halsschlagadern bis in den Schädel. Warum? Wieso? Er hatte niemandem etwas getan. Aufgeben wollte Henry nicht. Aber er wusste, wenn der Motor des alten Pontiac aufgab, würde er sterben. Das weite Grasland bot ihm kaum eine Chance auf Deckung. Als der fremde Wagen erneut Anlauf nahm, ihn von der Straße zu drängen, riss Henry das Lenkrad herum und fuhr in die Prärie. Sein Wagen hinterließ eine schwarze, schmierige Spur. Der Verfolger ließ sich nicht abschütteln. Der Motor des Pontiac drohte auszugehen und kämpfte sich schließlich mit röchelnden Geräuschen weiter vorwärts.

»Wenn ich wenigstens eine Waffe bei mir hätte!“

Die Gedanken schossen wirr durch Henrys Kopf und die Angst, die ihn begleitete, wuchs zur Panik, als der Motor seinen Geist schließlich ganz aufgab. Der alte Pontiac wurde langsamer und rollte aus.

Henry riss noch währenddessen die Fahrertür auf und sprang heraus. Er stolperte und fing sich wieder, rannte um sein Leben. Seine Hoffnung war der Graben, ein Riss in der Erde, nur ein paar Meter vor ihm. Als Henry jedoch absprang, spürte er plötzlich furchtbar brennende Schmerzen in seinem Rücken. Er stolperte, überschlug sich und rutschte ein Stück den Hang hinab in den Graben. Dann blieb sein Körper reglos liegen. Die widerspenstige Haarsträhne fiel über sein Gesicht. Ein sanfter Windhauch spielte mit ihr und trieb den Staub über ihn. Seine Augen waren gebrochen.

Kapitel 1 Cantemasice - Mein Herz ist schwer

Kath Yellow Cloud lag nun also im Indian Hospital, im Behandlungszimmer der Notaufnahme, im Ort Pine Ridge. Die Betten waren alle belegt und die junge, diensthabende Ärztin hatte in dieser Nacht alle Hände voll zu tun. Kath lag noch immer auf der Transportliege.

Das schwache Licht von nebenan schien durch die halboffene Tür auf ihr Gesicht. Sie hatte die Augen geschlossen. Die Platzwunde an der linken Augenbraue war frisch geklammert, das Gesicht war von Prellungen geschwollen und blau unterlaufen. Die Unterlippe war in der Mitte eingerissen. Nicht weiter schlimm. Kath hatte ihr Leben lang gelernt Schmerzen zu ertragen und sie hatte nie gejammert. Aber die Schmerzen in ihrem Herzen taten verdammt weh und quälten sie. Es schien, als schliefe sie, doch aus ihren Augenwinkeln rannen still, wie ein winziger Bach, heiße Tränen. Kath öffnete die Lider einen Spalt, als jemand sie sanft an der Schulter berührte.

Schwester Mary, eine stämmig gebaute Frau mit rundem Gesicht und grauen Strähnen im schwarzen Haar, arbeitete schon seit mehr als dreißig Jahren in diesem Hospital. Sie verstand die Menschen hier auch ohne Worte. Mary wusste genau, was in ihrer Freundin Kath vor sich ging. Mary lächelte sie zuversichtlich an. Kath lächelte schwach zurück.

»Wie geht es dir, Kath?«

»Es tut weh«, antwortet sie leise.

Mary nickte. »Er hätte dich fast tot geprügelt.«

Kath schwieg. Sie wollte nicht darüber reden. Mary Night Killer wusste, dass die Frauen, die von ihren betrunkenen Männern verprügelt worden waren, nicht darüber sprechen wollten. Nicht einmal Kath, die ihre Freundin war und das schon seit fast fünfzig Jahren.

»Möchtest du etwas trinken, Kath?«

»Ja«, antwortet sie leise.

Mary ging.

Kath schloss die Augen wieder. Sie weinte nicht mehr.

Die junge Ärztin war zum Umfallen müde. Es war drei Uhr morgens und endlich war Ruhe eingekehrt. Ihre Augen brannten. Die Luft hier drin erschien ihr zu stickig und viel zu warm. Sie entschied sich, vor die Tür zu gehen. Die Nachtluft würde sicher guttun. Alles war besser als die Luft hier drin. Langsam ging sie, an der Wand entlang, durch den Flur.

»Müde Maggie?«, fragte eine leise Stimme.

»Ich schlafe schon, Mary. Weck mich bitte nicht auf.«

Die Angesprochene lächelte schwach. »Ich gehe nur für einen Augenblick vor die Tür. Bin gleich zurück.«

Schwester Mary nickte. »Kath ist wach. Ich gebe ihr jetzt etwas zu trinken.«

»Wie geht es ihr?«

»Sie ist sehr tapfer .«

»Ich sehe gleich nach ihr.«

Die junge Ärztin, die Schwester Mary mit Maggie angesprochen hatte, trat zur Tür hinaus. Die Nachtluft war mild und erweckte ihre müden Sinne. Die Bluejeans gehörte zu ihrer ganz persönlichen Dienstkleidung und die karierte Bluse dazu ließ sie allenfalls als Rancherfrau durchgehen. Den weißen Kittel hatte Maggie im Behandlungszimmer hängen lassen. Ihr langes, schwarzes Haar lag im locker geflochtenem Zopf über ihren Rücken. Sie sah zum sternenklaren Himmel hinauf und schien einen Augenblick zu träumen, bevor sie umkehrte. Lautlos ging sie direkt zu Kath.

»Kath?«, fragte Maggie leise.

Sie wusste, dass Kath nicht schlafen konnte, auch wenn es so aussah. Sie konnte ja selbst kaum Ruhe finden.

Maggie liebte den Sohn von Kath, Robert Yellow Cloud.

Er war Maggies Mann. Aber er liebte seinen Job in Montana. Maggie verdrängte ihren Schmerz darüber und legte all ihre Liebe in Ihre Arbeit. Die Menschen hier in der Reservation brauchen mich!, hatte Maggie trotzig gesagt, als ihr Mann sie mit nach Montana nehmen wollte. Maggie lebte, wenn sie nicht im Hospital oder bei Mary blieb, bei Kath Yellow Cloud, ihrer Schwiegermutter, die sie wie ihre eigene Tochter liebte. In dem Haus der Familie Yellow Cloud lebte auch Kaths Mann, Maggies Schwiegervater Harry, der dem Alkohol zugetan war und die Wut über den Mord an seinem Sohn Henry blind an seiner Frau ausgelassen hatte. Und dann gab es noch den alten Ian Yellow Cloud, den alle Großvater nannten. Ihm gehörte das gelbe Haus.

Henry Yellow Cloud, Maggies Schwager, hatte man gestern Nachmittag mit drei Kugeln im Rücken, gefunden. Er hinterließ nun zwei Waisenkinder, die noch zur Schule gingen.

Schließlich öffnete Kath die Augen und blickte Maggie an. Maggie lächelte.

»Maggie. Schön, dass du da bist. Wie geht es dir?«

»Das wollte ich dich fragen. Mir geht es gut. Ich bin nur müde.«

»Mach dir keine Sorgen um mich.«

Maggie atmete tief durch. »Ich bin immer für dich da, Kath. Mir tut es auch weh.«

»Er kann nichts dafür.«

»Ich weiß. Die Kinder haben es auch schwer. Wie geht es Großvater Ian?«

»Er hofft auf eine gute Vision. Er hofft auf den Tag, an dem alles gut wird. Die Hoffnung hält uns am Leben.« Kath lächelte. »Ich will wieder nach Hause.«

»Heute bleibst du noch bei mir. Ich möchte dich mindestens einen ganzen Tag beobachten, damit ich ein Schädel-Hirn-Trauma ausschließen kann. Dann sehen wir weiter. Versuch ein wenig zu schlafen.«

Kath nickte schwach und schloss die Augen.

Heiß war es, wie am Tag zuvor, und still ringsum. Wieder strich der Wind übers Land und wiegte sanft das trockene Gras. Vereinzelte Baumgruppen spendeten Schatten.

Einige Häuser hatte die Wohlfahrt schon vor Jahren hier aufstellen lassen, die sich in den kaum zu erkennenden Farben noch unterschieden, aber nicht in ihrem Baustil.

Unwillkürlich, wie eine handvoll ausgeworfener Samenkörner, hatte man sie aufgestellt. Die Häuser waren weder hitzetauglich noch für die Kälte im Winter gewappnet, und ganz zu schweigen von ihrer Sturmtauglichkeit. Als vor einigen Jahren ein Wirbelsturm durch dieses Gebiet brauste, hatte er das wenige Hab und Gut der Menschen mit sich fortgerissen.

Vor einem gelben Haus, auf den drei Stufen zwischen der Holzveranda und dem Boden, saß ein Jugendlicher.

Mit einem Fuß im Staub, den anderen auf der Stufe, hatte er sich über seine Gitarre gebeugt. Die Turnschuhe waren ausgetreten und seine Jeans begann sich bereits an den Nähten zu lösen. Unten, an den Hosenbeinen, gab es keinen Saum mehr. Seine langen Haare hatte er locker auf dem Rücken zusammengebunden. Eine Haarsträhne war ihm herausgerutscht und hing seitlich vor seinem Gesicht. Es schien ihn nicht zu stören. Überhaupt schien er sich an nichts zu stören. Wie in seiner eigenen Welt, weit weg von hier, war er in sein Gitarrenspiel vertieft. Er zupfte sanft an den Saiten, sodass ein Hauch Wehmut darin lag. Lange tat er das, schon seit Stunden und lange hatte er kein Wort mehr geredet. Nun schlug er die Saiten kräftiger und wechselte rasch die Akkorde.

Es klang wie ein Protest, Wut und Anklage. Sein Blick starrte dabei ausdruckslos und leer auf seine Finger. Der Jugendliche schreckte zusammen, als ihn jemand kräftig an der Schulter packte. Ein letzter lauter Klang der Gitarre, dann hielt er inne. Langsam hob er seinen Blick zu dem alten Mann, der neben ihm stand. Tunkashila, Großvater Ian Yellow Cloud, richtete sich auf und setzte sich langsam neben seinen Urenkel. Lange schwieg er, bevor er schließlich sagte: »Micante masicelo. Es tut mir im Herzen weh.«

Der Junge rührte sich nicht.

»Ray, ich weiß, dass du fast ein Mann bist. Du bist stark und dein junges Herz ist genauso schwer wie mein altes.«

Ray, der dreizehnjährige Urenkel Ians, schwieg. Nach einer Weile sprach Großvater weiter.

»Ich habe mit dem Bruder deines Vaters gesprochen. Er wird uns helfen.«

Ray nickte. Da er wieder nichts entgegnete, sagte Ian Yellow Cloud schließlich: »Spiel etwas auf deiner Gitarre für mich. Ich höre zu.«

Ray spielte mit flinken Fingern, Töne, die klangen wie plätscherndes Wasser. Dann setzte Ian, leise mit seinem Gesang ein. Die Töne verflossen in Harmonie miteinander. Die Leidenschaft, mit der der Junge spielte, berührte das Herz des alten Mannes und ließ seine Stimme kräftiger werden. Dann setzte auch Ray mit seiner Stimme ein. Als das Lied ausklang, lächelte Ray den Großvater an. Das erste Mal lächelte er, seitdem sie Henry Yellow Cloud, seinen Vater, mit drei Kugeln im Rücken gefunden hatten. Ian lächelte zurück.

»Ich will wissen, warum er. Ich will wissen, wer«, sagte Ray leise mit erschreckend ruhigen Tonfall, der seiner Selbstbeherrschung alles abverlangte. »Ich will in seine Augen sehen.«

Großvater Ian richtete den Blick auf seinen Urenkel.

»Wenn die Zeit gekommen ist, Ray. Wenn sich unser Blick nicht mehr trübt, um das zu sehen, was wirklich gewesen ist.«

»Dann wünschte ich, mein Blick würde ihn töten.«

Ian atmete hörbar ein und aus. Aus seinem braunen Gesicht, in das sich sechsundsiebzig Jahre lang sowohl Sorgenfalten als auch Lachfalten gegraben hatten, blinzelten zuversichtlich seine Augen. Er holte eine kleine Pfeife hervor und begann sie zu stopfen.

»Morgen gehen wir wieder zur Schule. Ist besser so. Es ändert nichts, aber alles wird anders sein als vorher.«

»Eine weise Entscheidung, Ray.«

Der alte Mann entzündete seine Pfeife. Lange zog er daran und schwieg. Auch Ray hüllte sich in Schweigen.

Auf der Straße kam ein Wagen gefahren. Eine Staubwolke nach sich ziehend bog er ab und kam direkt auf die beiden zu. Der Polizeijeep stoppte. Ein großer, kräftiger Mann in Uniform und Igelfrisur stieg aus und spielte mit dem Schlüssel in der Hand.

»Hallo!«, grüßte er mit kräftiger Stimme.

»Hallo, Richard. Gibt es was Neues?«, fragte Ian.

»Leider nicht. Die Ermittlungen laufen auf Hochtouren.

Das FBI Wichtigtuerei untersucht alles nochmal. Die sind ab sofort zuständig. Ich muss mit Harry reden. Ist er da?«

Ian nickte. »Ja, er liegt drinnen und schläft seinen Rausch aus.«

Richard Sounding Side verzog die Mundwinkel und schüttelte missbilligend den Kopf. »Wenn er so weiter macht, werde ich ihn mitnehmen müssen.«

Ian schwieg.

Ray sah demonstrativ in die andere Richtung.

»Der Körper deines Enkelsohnes ist freigegeben«, sagte Richard schließlich und verabschiedete sich. Ian Yellow Clouds Blick folgte dem Jeep, bis die Staubwolke schließlich verschwand.

Kath wartete geduldig. Seit Stunden saß sie im Wartebereich vor der Notaufnahme. Die dreiundfünfzigjährige Frau wirkte müde und ihr Haar schien über Nacht noch einen Hauch grauer geworden zu sein. Sie hatte es, als Zeichen ihrer Trauer, kurz geschnitten. Da sie seit dem Tod ihres Sohnes nichts mehr gegessen hatte, schien es, als sei sie noch mehr abgemagert, als ihre ohnehin zierliche Gestalt verkraften konnte. Kath Yellow Clouds Blick ruhte auf dem Taschentuch, das sie in ihren Händen hielt. Sachen, die sie hätte packen müssen, hatte sie nicht bei sich. Maggie, ihre Schwiegertochter, die ihre Platzwunde versorgt hatte, war zufrieden und hatte ihr erlaubt nach Hause zu gehen. Es war Abend geworden.

Jemand würde sie abholen. Kath wusste das, auch wenn sie kein Auto mehr hatten. Schwester Mary kam ständig an ihrem Stuhl vorüber und lächelte immer freundlich.

Auch Kath lächelte.

Die untergehende Sonne begann bereits die Wolken am Horizont zu färben, als ein Dodge Pickup Truck direkt vor dem Eingang des Hospitals stoppte. Der junge Mann, der mit einem Satz heraussprang, ging direkt zur Tür der Notaufnahme und hinein. Er trug olivfarbene Ranger-kleidung. Das lange Haar hatte er im Nacken zusammengebunden. Im Gegensatz zu seinen harten Gesichtszügen wirkten seine dunklen Augen sanftmütig. Er lächelte sofort, als er Kath erblickte.

»Es ist spät geworden, Mutter, aber ich bin da. Wie geht es dir?«

Obwohl man ihm berichtet hatte was geschehen war, erschrak er tief im Inneren.

»Besser als du vielleicht denkst, Robert.«

Robert lächelte ein wenig, presste die Lippen aufeinander und nickte langsam.

»Ist Maggie hier?«

»Ja. Du sollst mit ihr reden, bevor wir fahren.«

Robert nickte. Das wollte er. Langsam ging er den Gang weiter bis zum Behandlungszimmer. Die Tür stand einen Spalt breit offen. Robert schob sich hindurch und blieb stehen. Auf der Behandlungsliege lag ein kleiner Junge, vielleicht fünf oder sechs Jahre und krümmte sich unter den vermutlichen Bauchschmerzen. Maggie sprach beruhigend auf ihn und seine Mutter ein, während sie ihm eine feine Nadel in die Vene schob. Das Medikament zeigte innerhalb kürzester Zeit seine Wirkung. Der Kleine hielt sich tapfer. Zärtlich strich Maggie ihm übers Haar und lächelte.

»Das wird wieder gut. Aber diese Nacht bleibst du mit deiner Mom bei uns.«

»Okay«, antwortete der Kleine.

Maggie räumte die benutzten Utensilien weg. Sie zuckte unwillkürlich zusammen, als sie die reglose Gestalt des Mannes an der Tür wahrnahm. Ungeachtet dessen ging sie zum Mülleimer und wusch sich dann die Hände.

Schwester Mary kam herein und nahm die Mutter und den Jungen mit sich. Als sie endlich allein waren, betrachtete Robert Maggie aufmerksam.

»Guten Abend«, grüßte er schließlich.

»Guten Abend«, erwiderte sie. »Du willst sicher Kath abholen.«

»Ja, das will ich.«

»Gut, dass du gleich gekommen bist.« Nun lächelte Maggie doch. »Willst du einen Kaffee?«

»Ja, gerne.«

Robert löste sich vom Türrahmen und ging auf Maggie zu, nahm sie in die Arme und gab ihr einen Kuss. Sie ließ es zu und wandte sich dann zur Kaffeemaschine um.

»Hast du inzwischen etwas Näheres erfahren, von dem, was sich zugetragen hat?«, fragte er.

»Jemand hat versucht deinen Bruder von der Straße zu drängen und es ist ihm gelungen. Der Wagen ist am Heck und an der Fahrerseite mit dem anderen kollidiert. Er stand abseits der Straße. Ein Schulbusfahrer hat ihn mit drei Einschüssen im Rücken gefunden. Richard Sounding Side von der Stammespolizei ist sofort hinausgefahren.«

Maggie spürte die Enge im Hals, die sie am Sprechen hinderte. Sie goss den Kaffee ein.

»Ich habe deinem Bruder meinen Wagen gegeben, weil er ihn brauchte«, sagte sie leise, während sie Robert die Kaffeetasse gab. Er nahm sie und schien nachzudenken.

»Wenn er oder sie den Wagen verfolgt haben, Maggie, dann…« Robert sprach seine Gedanken nicht zu Ende.

»Dann werde ich auf dich aufpassen müssen«, sagte er schließlich ernst.

»Ich kann auf mich allein aufpassen. Das habe ich immer müssen«, sagte Maggie ohne ihren Mann dabei anzusehen.

»Du weißt, dass das sein muss«, entgegnete er.

»Ja.« Vorsichtig trank sie einen Schluck Kaffee. »Aber es ist schwer«, sagte Maggie leise.

»Wir müssen die Dinge so akzeptieren wie sie sind.«

»Nein, Robert! Man muss die Dinge ändern, weil sie nicht zu akzeptieren sind!« Maggie wirkte plötzlich aufgebracht.

»Du bist mit nichts zufrieden. Nicht mit deiner Arbeit, nicht mit mir und nicht mit dir selbst.« Robert verzog missmutig die Mundwinkel.

»Wir haben viel zu wenig Zeit zusammen und in der Zeit, die wir haben, reden wir nur noch organisatorisches miteinander. Wenn ich nachts neben dir liege wünsche ich mir, dass es wieder so wäre wie zu der Zeit, als wir uns kennengelernt haben. Du hattest die tollsten Einfälle und du hast mich oft zum Lachen gebracht.«

Noch immer sah Maggie ihren Mann nicht direkt an.

Robert stellte die Kaffeetasse neben der Maschine ab und sagte kühl: »Dann sind wir ja wenigstens einer Meinung, Maggie. Nur diese Nacht wirst du nicht neben mir liegen.« Er wandte sich um und ging zur Tür hinaus.

Maggie starrte in ihre Kaffeetasse und drängte die aufsteigenden Tränen zurück.

Es war bereits dunkel geworden, als Robert Yellow Cloud mit Kath nachhause fuhr. Der Lichtschimmer des zunehmenden Mondes beleuchtete schwach das Land.

Meilenweit führte die asphaltierte Straße geradeaus, bevor der Truck die Interstate 18 zum Shannon County verließ. Robert kämpfte gegen die Müdigkeit. Er hatte das Radio ein wenig lauter gestellt und die Seitenfenster ein Stück geöffnet.

Kath war wach, aber sie hatte sich in Schweigen gehüllt.

Ihr war nicht entgangen, dass Robert mit Maggie gestritten hatte. Seit fast vier Jahren hatten sich ihre Wege getrennt. Er wollte seinen Job als Hubschrauberpilot und Ranger bei der Rocky Mountain Bergwacht nicht aufgeben. Maggie hingegen war Ärztin für ihr Volk und gehörte in die Pine Ridge Reservation, hatte sie gesagt. So trennten hunderte von Meilen ihre Ehe, ihr Leben und ihre Liebe. In der kurzen Zeit, die füreinander blieb, schienen sie sich immer mehr voneinander zu entfernen.

Auch das tat Kath im Herzen weh und sie hatte nie darüber geredet. Sie liebte Maggie wie ihre eigene Tochter. Kath hatte sich damit abgefunden, genauso wie sie sich mit allen Dingen abfand, die nicht zu ändern waren. Auch mit dem Mord an ihrem Sohn Henry musste sie sich nun abfinden. Sie wollte beten, doch eine Vollbremsung schreckte Kath aus ihren Gedanken. Etwas polterte und der Truck kam zum Stehen.

»Verdammt!«, zischte Robert durch die Zähne und stieg aus.

Im Schatten des Scheinwerferlichtes kroch er unter den Truck. Vorsichtig zog er ein klägliches Fellbündel hervor und untersuchte es.

»Wer bist du denn?«, fragte er erstaunt und lächelte, als er festgestellt hatte, dass die schwarz-weiß gefleckte Hündin noch atmete. »Du hast mir einen ganz schönen Schrecken eingejagt.«

Robert nahm das benommene Tier auf seine Arme und trug es zur Beifahrertür.

»Sobald sie zu sich kommt werde ich sie verhören.«

Kath lächelte und nahm die Australien Shepherd Misch-lingshündin behutsam auf den Schoß. Als Robert wieder eingestiegen war und starten wollte, fragte sie: »Sie alle?«

Robert sah seiner Mutter erstaunt in die Augen. Aus Kath´ Lächeln wurde ein Grinsen.

»Du meinst sie...«

Kath nickte. »Sie wird bald Babys bekommen.«

Robert lachte leise und startete.

Wenig später tauchten die ersten Häuser des Dorfes auf.

Wie Schattengestalten erschienen die dem Blick ihrer Betrachter. Langsam glitt das Scheinwerferlicht an einem Baumstamm entlang, beleuchtete kleines Gesträuch und scheuchte eine Maus auf. Mitten in der Nacht kamen sie an. Bereits von weitem sahen sie das Licht im gelben Haus brennen.

»Du bleibst im Wagen!«, befahl Robert, während er ausstieg und eilig das Haus betrat. Der Lärm, der ihm entgegenschlug, vermischte sich mit der wütenden Stimme seines Vaters. Das halbe Mobiliar war zertrümmert und bedeckte den Boden. Robert sprang eilig darüber hinweg, um dem Jungen zu Hilfe zu eilen, auf den sein Vater gerade blindlings einschlug. Roberts Stimme ging im Lärm unter. Noch einmal schrie er seinen Vater an. »Hör auf!«

Harry Yellow Cloud fuhr herum, als Robert ihn hart am Arm packte. Der Vater war einen Kopf kleiner, als sein Sohn. Die sonst stolze, aufrechte Gestalt, die Robert kannte, war in sich zusammengefallen, so wie dessen Seele. Harrys Augen funkelten wild durch seine zerzausten Haarsträhnen. Brandygeruch schlug Robert entgegen.

»Verschwinde!«, schrie Harry Robert an. Dann packte er wieder den Jungen, der keinen Laut von sich gab. Robert hatte begriffen, dass es keinen Sinn hatte mit Harry reden zu wollen. Er packte ihn mit aller Kraft von hinten, zog seinen Vater herum und schlug mit der Faust unter dessen Kinn. Harry taumelte zwei Schritte zurück und fluchte laut. Dann schlug er nach seinem Sohn. Doch der Schlag landete im Nichts, bevor Robert seinen Vater endgültig mit einem zweiten Kinnhaken außer Gefecht setzte. Harry ging mit einem dumpfen Geräusch zu Boden und blieb reglos liegen.

»Alles okay mit dir?«, fragte Robert, als Ray sich langsam aus der Zimmerecke aufrappelte. Er nickte nur, zog sich ein Taschentuch aus der Hosentasche, wischte sich das Blut von der Nase und drückte es dann auf die aufgesprungene Lippe. Robert zog seinen Gürtel aus der Jeans und band seinem Vater damit die Hände fest zusammen.

Dann zog er ihn vor die Tür auf die Veranda und lehnte ihn gegen die Hauswand. Als er den Wohnraum wieder betrat, stand Großvater Ian vor ihm und hielt einen Stuhl in der Hand.

»Er hat nur noch drei Beine. Vielleicht kann ich ja hier irgendwo noch ein Brauchbares finden. Wenn nicht, brauche ich mir keine Sorgen mehr um das Holz für den Winter zu machen.« Er lachte leise. »Gut, dass du da bist, Robert.«

»Es wurde höchste Zeit! Hallo Großvater.«

Ian trug nur eine Boxershort. Die Nächte waren ihm zu warm. Sein Körper straffte sich, als er sich zu seiner vollen Größe aufrichtete. Er überragte seinen Enkelsohn um etwa eine Handbreite. Während zahlreiche Falten Ians Gesichtszüge durchfurchten, gab sein Körper noch immer eine beeindruckende Gestalt ab. Nur das hellgraue Haar erinnerte Robert an Großvaters wahres Alter.

Noch immer lächelte der alte Mann. Dieses Lächeln milderte seine eher scharfen Gesichtszüge mit der markant gebogenen Nase. Robert wandte den Blick von ihm und sah sich im Raum um.

»Wo ist deine Schwester, Ray?«, fragte er seinen Neffen besorgt.

»Sharon ist seit zwei Tagen bei ihrer Freundin. Sie hatte Angst.«

Robert nickte und griff zu, um wenigstens notdürftig etwas Ordnung zu schaffen, bevor Kath das Haus betrat.

Kath war inzwischen aus dem Truck gestiegen und hatte die Hündin unter der Veranda in einem Karton gebettet.

Sie war zu sich gekommen und winselte leise. Das Lager unter der Veranda schien ihr zu gefallen, denn sie hatte es dankend angenommen. Kath hatte ihren Mann, der an der Hauswand gelehnt im Schlaf grunzte, nur mit dem Blick gestreift. Kaum merklich schüttelte sie den Kopf bevor sie hineinging. Der Stich in ihrem Herzen blieb ihr Geheimnis. Sie verbarg auch tapfer ihre Gedanken, als sie sich im Haus umsah. Sie stand mitten im größten Raum des Hauses, der sowohl Wohn- und Esszimmer und auch Küche war. Alles glich wahrhaftig einem Schlachtfeld. Nichts stand mehr an seinem Platz. Selbst die Vorhänge waren heruntergerissen worden. Zumindest die Küchenschränke, der Kühlschrank und der Gasherd schienen unversehrt zu sein. Zerbrochenes Geschirr lag am Boden. Eine Pfanne lag gegenüber vor der Tür zum Badezimmer. Kath ging dorthin und hob sie auf. Sie wagte kaum die Tür zu öffnen. Doch das Badezimmer war völlig unversehrt geblieben, wie auch die zwei Schlafzimmer, die sich auf beiden Seiten neben dem Bad befanden. Kath atmete tief durch. Alles war zu reparieren und vielleicht auch die Seele ihres Mannes, glaubte sie.

Ray starrte auf seine zertrümmerte Gitarre. Schließlich hob er sie auf. Seine Gedanken hingegen blieben nicht verborgen.

»Seit zwei Tagen war er nur noch betrunken. Er lässt die Wut über den Tod seines Sohnes an uns aus«, sagte Ray leise zu seinem Onkel. »Ich habe versucht, ihn zu beruhigen, aber es war sinnlos.«

»Das wird sich ändern. Ich bleibe vorläufig hier«, entgegnete Robert.

Ray nickte und verschwand mit den Überresten seiner Gitarre nach draußen. Er warf sie zum Müll, sah zu den Sternen und atmete die frische Nachtluft tief ein.

»Gib mir die Kraft, das zu verstehen, Vater«, sagte Ray kaum hörbar. Er spürte, dass jemand neben ihn getreten war und beobachtete aus den Augenwinkeln, wie dieser sich eine Zigarette aus der Schachtel zog. Robert zündete sie sich an und nahm einen tiefen Zug. Er schwieg.

Irgendwann drehte Ray den Kopf zur Seite und sah zu seinem Onkel. Der schien nachzudenken. Ray richtete seinen Blick wieder nach vorn. Als Robert schließlich seine Zigarette austrat, meinte er nur: »Wir sollten schlafen gehen.«

»Ja.«

Gemeinsam gingen sie hinein.

Am Nachmittag des nächsten Tages stiegen die Geschwister gemeinsam aus dem Schulbus. Ray waren die Spuren der letzten Nacht ins Gesicht geschrieben. Er hatte sich tapfer gehalten und seine Freunde hatten sich mit ihren Sprüchen zurückgehalten. Sharon ging mit ihrem großen Bruder nach Hause. Das war seit drei Tagen das gelbe Haus, das gemeinsam mit den anderen Häusern des Dorfes eingebettet zwischen den Bäumen im Prärietal stand. Die Hügel die es umgeben boten etwas Schutz vor dem stetigen Wind. In dem Haus warteten die Großeltern und ihr Urgroßvater Ian auf die Geschwister. Die Elfjährige versuchte mit ihrem Bruder Schritt zu halten. Die geflochtenen Zöpfe sprangen im Takt ihrer Schritte. Sharon reichte ihrem Bruder bis zu dessen Kinn. Das zierliche Mädchen war stolz einen großen Bruder wie Ray zu haben. Es tat so gut, dass er für sie da war. Sharon wusste bereits von ihm, dass ihr Onkel gekommen war, um sie zu beschützen.

Ray lächelte, als er schließlich mit ihr vor der Veranda des Hauses stehen blieb.

»Oh, wie niedlich!«, rief Sharon, ließ ihre Schultasche fallen und kroch vorsichtig ein Stück unter die Treppenstufen. Die Hündin knurrte das Mädchen leise an.

»Sie will ihre neugeborenen Babys beschützen.«, sagte Ray.

Sharon hielt inne und beobachtete sie.

»Ich habe die Welpen heute Morgen entdeckt, als ich zum Schulbus gehen wollte.«

Sharon wandte sich zu ihrem Bruder um und grinste.

»Und du hast es mir nicht erzählt!«

»Es ist schön, dein Lächeln zu sehen.«, hörten beide eine bekannte Stimme von der Veranda her.

»Grandpa!«

Sharon stand auf und ging zu Großvater Ian. Er saß auf einem alten, geflochtenen Schaukelstuhl im Schatten und lächelte. Schließlich nahm Ian Sharon wie ein kleines Mädchen auf seinen Schoß und lachte vergnügt. Sie schien nichts dagegen zu haben.

Ray hatte Sharons Schultasche aufgehoben. Als er an den beiden vorbeiging, fragte er: »Wie viele?«

»Fünf habe ich gezählt«, antwortete der alte Mann.

Ray nickte und ging hinein.

Kath hängte gerade die Vorhänge wieder auf, die letzte Nacht zerrissen am Boden liegen geblieben waren und die sie kunstvoll genäht hatte.

»Hallo, Ray. Hast du Hunger?«, fragte sie, ohne von ihrer Arbeit aufzusehen.

»Oh ja! Wie ein Bär. Ich mache mir ein Sandwich. Wo ist Grandpa Harry?«

»Bei der Stammespolizei. Sie haben Fragen, sehr viele Fragen.«

Ray öffnete die Kühlschranktür und nahm sich eine Flasche Wasser heraus. Fast die Hälfte trank er gierig in einem Zug aus. Dann belegte er sich mehrere Toastbrot-scheiben mit einigen klebrigen Käsescheiben. Es war jeden Tag dasselbe. Das Brot klebte beim Kauen am Gaumen fest und machte nicht wirklich satt. So hungrig, wie Ray in seinem Wachstumsschub war, hätte er ein ganzes Brot allein vertilgen können. Er nahm seine Käsesandwiches mit hinaus und setzte sich, wie immer, auf die Treppenstufen vor dem Haus. Ein Bein auf der untersten Stufe und das andere auf dem staubigen Boden. Während Ray kaute, beobachtete er das Haus gegenüber, das etwa eine halbe Meile entfernt zwischen einzelnen, schattenspendenden Bäumen stand. Sharon war gerade auf dem Weg dorthin. Ihre Freundin Lory wohnte dort drüben mit ihren Eltern und ihren fünf Geschwistern. Sharon und Lory waren beide elf, gingen in eine Klasse und waren unzertrennlich. Ray würgte den letzten Bissen hinunter. Seine Freunde aus der Schule wohnten zu weit entfernt, um sich danach noch zu treffen. Nicht mal einen funktionierenden Wagen besaßen sie mehr. Rays Blick streifte die zwei Wagen neben dem Haus, die seinem Vater gehört hatten. Der eine war nur ein schrottreifer Ersatzteilspender, der andere war nicht angesprungen, als er ihn brauchte.

Nicht ohne Grund hatte er sich Maggies Wagen ausleihen müssen. Auch den gab es nun nicht mehr.

»Was denkst du?«, hörte er die leise Stimme Großvater Ians hinter sich, der noch immer auf seinem Stuhl saß.

»Mir ist langweilig.«

»Hast du heute keine Schularbeiten mehr zu tun?«

Ray drehte sich zu ihm um und grinste.

»Clevere machen das in der Schule.«

Ian grinste ebenfalls und schüttelte den Kopf.

»Warte. Ich habe etwas für dich.«

Der alte Mann stand auf und verschwand im Haus. Kurz darauf kam er mit einer kleinen Handtrommel zurück.

Damit setzte er sich zu seinem Urenkel und sagte: »Das ist zwar keine Gitarre, aber du kannst auch Takte damit schlagen, so wie dein Herz es will.«

Ray sah ihn skeptisch an.

»Probiere es einfach«, nickte Ian auffordernd.

Schließlich nahm Ray die Trommel in die Hände und betrachtete sie genau. Schließlich begann er sie zu schlagen. Ian trommelte den Takt auf seinem Bein mit und nickte zufrieden.

»Da ist ein Herzschlag. Kannst du ihn hören? Kannst du ihn fühlen?«

Ray fühlte sein Herz kräftig in seiner Brust schlagen und mit jedem Schlag schlug er die Trommel kräftiger und schneller, bis sie dem Rhythmus seines Herzens folgte.

»Vergiss es, Kenneth! Es ist zwecklos«, lachte Maggie amüsiert, als sie dem jungen Mann, der auf der Unter-suchungsliege saß, den Verband am Handgelenk fixierte.

Der beobachtete lächelnd jeden ihrer Handgriffe.

»Gib es zu, dass du mich noch immer liebst, Maggie.«

»Bilde dir bloß nichts ein.«

Maggie schüttelte den Kopf und zog sich die Handschuhe aus.

»Es ist nicht gut, wenn eine so junge, schöne Frau zu lange allein ist.«

»Ich bin nicht allein.«

»Du weißt, was ich meine.«

»Warum suchst du dir keine neue Frau. Damit wäre dein Problem gelöst.«

Kenneth griff nach Maggies Handgelenk.

»Ich will dich, Maggie!«

»Du wirst es wohl nie überwinden, dass ich Roberts Frau geworden bin.«

»Er hat dich allein gelassen. Er ist nicht hier. Ich bin hier.« Der junge Mann sah Maggie eindringlich in die Augen.

»Er ist hier!« Maggie zog ihre Hand zurück.

»Und er wird wieder gehen, wie immer.«

Kenneth stand auf.

»Du wirst jetzt auch gehen, Kenneth. In drei Tagen sehen wir uns zum Verbandwechsel. Bye«, sagte sie sachlich.

»Bye, Maggie«, antwortete Kenneth eine Spur mürrisch und verließ das Behandlungszimmer. Maggie sah ihm nach.

Kenneth Calling Tree war gefährlich! Er hatte tatsächlich schöne Augen, geschwungene Wimpern und unwiderstehliche Grübchen umspielten seinen Mund, wenn er lächelte. Maggie hatte sich schon in der Highschool in ihn verliebt. Alle Mädchen hatten das und das war ihm nicht ver-borgen geblieben. Lächelnd schüttelte sie bei diesen Gedanken den Kopf. Robert liebte nur sie. Sie ging hinaus. Auf dem Gang begegnete ihr Mary Night Killer.

»Das Aspirin geht zu Ende, Maggie. Spritzen, Desinfektion und Verbandsstoffe auch. Insulin habe ich noch gefunden. Aber es wird eng.« Mary sah die junge Ärztin besorgt an.

»Das ist merkwürdig. Alles war ausreichend bestellt. Ich kümmere mich darum«, beruhigte Maggie Schwester Mary schließlich.

Mary nickte und ging weiter.

Leise, beinahe lautlos, öffnete Maggie eine der Türen, die zu einem Patientenzimmer gehörte. Die Kinder in den sechs Betten schienen fest zu schlafen. Sie lächelte.

Gerade als sie die Tür ebenso leise schließen wollte, vernahm sie eine leise Stimme.

»Maggie?«

Sie hielt inne.

»Ja, Ferris.«

»Ich habe auf dich gewartet.«

Maggie schloss die Tür, kam zum Bett des kleinen Jungen und setzte sich auf die Decke.

»Was gibt es?«

»Ich habe Angst mich selbst zu stechen, aber ich habe beschlossen, dass ich es noch einmal versuchen will«,

antwortete der Junge leise.

»Gut so. Wenn deine Blutzuckerwerte in den nächsten Tagen in Ordnung sind, darfst du wieder nach Hause.«

»Wann kommst du wieder?«

»In drei Tagen. Aber Mary ist hier.«

»Ich werde auf dich warten, Doctor Maggie.«

»Ich weiß genau, dass du tapfer bist, Ferris, mehr als du glaubst. Und nun schlaf gut. Auch das ist wichtig, um deinen Blutzuckerspiegel nicht unnötig durcheinander zu bringen.«

Der Junge mit dem nussbraunen, runden Gesicht, das unter der hellgrünen Bettdecke hervorlugte, grinste und kniff die Augen zu. Maggie strich sanft über sein Haar. So leise wie sie gekommen war, schlich sie sich wieder hinaus. Es war wahrhaftig zu warm in den Zimmern, um schlafen zu können. Maggie atmete dennoch tief durch und ging den Flur entlang zum Büro.

Gegen Abend war Robert wieder auf dem Weg zum Hospital, diesmal um Maggie abzuholen. Sein Pick-up wirbelte den Staub auf. Diese Staubwolke wirbelte hinter dem Truck her. Seit zwei Wochen hatte es nicht geregnet. Der Boden war hart und rissig und die Flüsse waren nur noch Rinnsale.