Tote Killer küssen besser - Brita Rose-Billert - E-Book

Tote Killer küssen besser E-Book

Brita Rose Billert

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Beschreibung

Rita Hurtig, jung, ledig, Krankenschwester, passiert in ihrem Nachtdienst etwas Unglaubliches! Der fremde Mann, der mit einer Schussverletzung bei ihr auf der Unfallstation landet, trägt eine Waffe bei sich, und zwar eine echte! Seine Augen wirken ehrlich, als er Rita eindringlich um Hilfe bittet. Am Morgen darauf flüchten die Beiden aus der Klinik und verlassen die Stadt in einem gestohlenen Auto. Doch dann erfährt Rita, dass dieser Mann bereits vor zwei Jahren tödlich verunglückte...

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Zur Autorin:

Brita Rose Billert wurde 1966 in Erfurt geboren und ist Fachschwester für Intensivmedizin und Beatmung, ein Umstand, der auch in ihren Romanen fachkundig zur Geltung kommt. Ihre knappe Freizeit verbringt sie mit ihrem Pferd beim Westernreiten durch das Kyffhäuserland in Thüringen. Sie hat durch ihre Reisen in die USA viele Freundschaften mit Native Indians in Utah, South Dakota und British Columbia geschlossen. Diese Tatsache, die Liebe zu den Pferden und ihrem Job inspirieren Sie zum Schreiben. Zwölf Romane sind bereits publiziert. Autorenhomepage: www.brita-rose-billert.de

Lieberzweimal in die falscheRichtung laufen,als ständig auf der Stelle zutreten.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1 - Nachtdienst

Kapitel 2 - Der Mann, der zweimal starb

Kapitel 3 - Gefährliche Zeiten

Kapitel 4 - Gegen die Zeit

Kapitel 5 - Tote Killer küssen besser

Kapitel 1

Nachtdienst

Rita keuchte. Sie rannte die letzten paar Meter zur Straßenbahnhaltestelle Leipziger Platz. Sie musste die Bahn unbedingt noch erwischen. Ein blonder Pferdeschwanz wippte hinter ihrem Kopf und die Kapuze ihrer knallroten Steppjacke ebenfalls. Einzelne Haarsträhnchen hatten sich aus dem Zopf gelöst. Der Herbstwind spielte damit. Wie kleine Fähnchen tanzten sie über ihr Gesicht und krabbelten an der Nase. Rita musste niesen. Die schwarze Umhängetasche schien mit ihr zu fliegen. Glück gehabt! Der Fahrer hatte sie bemerkt und öffnete die Tür noch einmal für sie. Hastig bedankte sie sich bei ihm. Er nickte freundlich. Hinter ihr klappte die Tür endgültig zu und die Bahn fuhr sofort an.

Ein paar Schritte weiter ließ Rita sich auf einen freien Sitz fallen. Sie sah sich nach den Menschen um, die sie umgaben. Nein. Sie konnte niemanden ausmachen, den sie kannte. Rita schickte einen kurzen Blick durch das Fenster. Es war 20:30 Uhr, doch die Nacht hatte längst in der Stadt, in Erfurt, Einzug gehalten. Die Lichter funkelten wie ein Spiegelbild des Sternenhimmels und reflektierten auf der Wasseroberfläche der Gera. Der Wind spielte mit den bunten Blättern, wirbelte sie auf und blies sie in alle Ecken. Die Fußwege waren um diese Zeit wie leergefegt. Autos drängten sich über den Stadtring, von Ampel zu Ampel. Rita zog ein kleines Buch aus ihrer Tasche und las. Sie vertiefte sich in ihren Krimi. Die Straßenbahn stoppte mitten auf dem Anger. Rita sprang auf. Sie musste in eine andere Bahn umsteigen, wenn sie zum Klinikum der Stadt wollte. Und genau da musste sie hin. Mit dem Buch in der Hand stieg sie aus. Flüchtig glitt ihr Blick über den von Laternen beleuchteten Platz im Altstadtzentrum.

Prachtvolle Häuser fast aller Baustile, von Gotik über Barock, Renaissance, Jugendstil bis zum Neuzeitlichen, waren hier vertreten. Sie erzählten Architekturgeschichte. Erst vor einigen Jahren waren sie restauriert worden, vom Anger bis hin zum Domplatz, vom Augustinerkloster bis über die Krämerbrücke, Rita liebte die Altstadt. Hier konnte man jederzeit wunderbar bummeln und es gab unzählige gemütliche Kaffees und Restaurants.

Rita schlug das Buch wieder auf und las. Der Herbstwind spielte mit den Seiten. Sie hielt das Buch fest in ihren Händen. Schließlich blätterte sie um und stieg, wie ferngesteuert, in die ankommende Straßenbahn. Sie fand sofort einen freien Platz. Rita wandte keinen Blick von ihren Buchseiten. Sie sah weder das alte Rathaus im neugotischen Stil am Fischmarkt, noch den angestrahlten Mariendom mit der Severikirche. Majestätisch richtete sich das historische Bauwerk in den Nachthimmel. Der Wind fegte einige Blätter über die Pflastersteine des großen Platzes davor. Die Straßenbahn stoppte. „Domplatz”, erklang eine weibliche Stimme vom Band. Die Türen öffneten automatisch und die kalte Luft zog herein. Rita starrte unbeirrt in ihr Buch. Sie musste noch ein paar Stationen weiter fahren. Die Straßenbahn ratterte in Richtung Norden, in die Andreasstraße. Rita blätterte um und sah wieder auf ihre Uhr.

20:44 Uhr!

Sie atmete tief durch. Dann las sie weiter. Dieser Krimi hatte, wie alle zuvor, Besitz von ihr ergriffen und ließ sie nicht wieder los. Jede Seite, jeden Satz, ja, jeden Buchstaben schien sie förmlich in sich aufsaugen zu wollen. Beinahe hätte sie das Aussteigen verpasst. Hastig sprang Rita auf, fummelte das Buch in ihre Umhängetasche, während sie an der Haltestelle Klinikum Erfurt, in der Nordhäuser Straße, ausstieg. Ein Mann war ebenfalls ausgestiegen und wandte sich zur anderen Straßenseite. Die Ampel zeigte rot. Blöde Ampel, dachte sie und blickte genervt auf die Uhr. Ungeduldig trat sie von einem Fuß auf den anderen. Als das grüne Ampelmännchen endlich erschien, überquerte Rita eilig die Straße, lief ein paar Meter am Parkhaus entlang und bog dann zum Klinikgelände ein. Die hell erleuchteten Blöcke hatte sie schon unzählige Male gesehen. Sie schenkte ihnen kaum noch einen Blick. Höchstens einen flüchtigen. Wahrhaftig eine kleine Stadt, das Klinikum in der Thüringer Landeshauptstadt Erfurt. Auf den Gehwegplatten spiegelte sich das Licht der Laternen.

Rita Hurtig hatte im Klinikum Erfurt gelernt, studiert und war geblieben. Seit vier Jahren arbeitete sie als Krankenschwester auf der unfallchirurgischen Station und sie tat es gern. Heute Abend hatte sie einen zusätzlichen Nachtdienst für eine Kollegin übernommen. Das machte ihr nichts aus. Schlafen hätte sie heute Nacht womöglich sowieso nicht können. Außerdem brauchte sie gelegentlich selbst die Hilfe einer Kollegin. Der kühle Oktoberwind spielte mit ihrem Haar, das im Gesicht krabbelte. Es schien sie nicht zu stören. Rita war wahrhaftig spät dran und mit den Gedanken zwischen ihrem Schmöker und ihren Patienten. Die Glasschiebetür öffnete sich und sie rannte die letzten Meter quer durch das Foyer, vorbei an der Cafeteria, bog links ab, dann wieder rechts. Ein Labyrinth für Patienten und Besucher. Rita hätte ihren Weg selbst mit geschlossenen Augen gefunden. Atemlos stieß sie die Tür zum Umkleideraum auf. Rita war heiß. Die Spätdienstschwester wartete! Rasch schlüpfte sie in ihre Hose und Kasack. Mit ausgreifenden Schritten lief sie den Flur entlang und bog, wie ein Wirbelwind, zum Dienstzimmer ab.

„Hallö Da bin ich. Gibt‵s was Neues?”

Geschafft! Rita versuchte ihren schnellen Atem zu besänftigen und setzte sich.

„Jede Menge. Mann! Wo warst du bloß wieder?”

Der Zeiger der Wanduhr rückte mit einem Klacken auf einundzwanzig Uhr.

„Mir ist die Straßenbahn vor der Nase weggefahren. Ich musste warten”, log sie unverschämt.

Ihre Kollegin stöhnte, während sie Kaffee in zwei große Tassen goss.

„Du bist ein Engel, Kathrin”, sagte Rita und lächelte schuldbewusst, in Anbetracht ihrer kleinen Notlüge.

„Das nächste Mal erwürge ich dich höchst persönlich”, knurrte Kathrin. Dann lachte sie.

„Geht‵s nicht auch ‵n bisschen sanfter. Es gibt so viele Möglichkeiten…”, Rita schluckte den Rest ihres Satzes lieber.

Kathrin blickte streng über den Brillenrand und hob die Augenbrauen.

„Du liest zu viele Krimis! Kauf dir besser mal einen Liebesroman, damit du weist, was man mit Männern anfängt.”

Sie kicherten beide.

„Weißt du es denn?”, fragte Rita grinsend und schlürfte vom heißen Kaffee.

Kathrin nickte und verstellte ihre Stimme tiefer, als sie antwortete: „Und ob, Schätz-chen.”

Das Telefon klingelte.

Kathrin nahm ab und meldete sich.

„Unfall eins, Schwester Kathrin.”

Sie verdrehte genervt die Augen, während sie zuhörte und antwortete schließlich freundlich.

„Geht in Ordnung.”

Dann legte sie auf.

„Zugang, Schwester Rita. Ist noch im OP. Du kannst die Sachen aber schon abholen. Dann kannst du wenigstens den Papierkram erledigen, solange ihn Frau Dr Achtzehn wieder zusammenflickt. Die Schwesternschülerin ist schon da und jeden Augenblick kommt noch ein Medizinstudent zur Verstärkung. Einer von den Professoren im dritten Semester, die denken, sie könnten hier im Nachtdienst schlafen.”

Rita schüttelte den Kopf.

„Ich springe schon. Bin gleich wieder da.” Schon war sie zur Tür hinaus und um die Ecke verschwunden.

„Der Name Hurtig passt zu ihr”, murmelte Kathrin zu sich selbst.

Rita meldete sich, eine Etage höher, bei ihrem Kollegen im OP Bereich.

„Hi Klaus. Hast du angerufen?”

„Ja”, antwortete er.

„Ich dachte Kathrin kommt.”

„Enttäuscht?”

Klaus zuckte mit den Schultern und meinte:

„Wie man‵s nimmt.”

„Dann nimm‵s nicht so schwer. Ich habe Nachtdienst. Den Letzten!”

„Bist du dir sicher?”

Klaus grinste.

„Ich hoffe es. Wo sind die Sachen?”

Klaus ging zum Schreibtisch und sprach ernst: „Schusswunde. Männlich, achtundzwanzig Jahre, Deutscher. Hier ist seine Brieftasche mit den Papieren.”

Er drückte Rita eine schwarze Weste in die Hand.

„Soll das ein Witz sein?”

„Was? Wieso?”, fragte er.

„Hatte der Kerl nur das Ding an oder liegt er etwa in voller Montur auf dem OP Tisch?” Klaus lachte.

„Die Hosen darfst du ihm nachher ausziehen, Rita, wenn Frau Doktor Achtzehn mit ihm fertig ist.”

„Spinner!”

„Ich hab‵s gehört!”

„Gut. Ich hätt‵s auch nochmal gesagt.”

„Danke. Ich kenne viele charmante Menschen, aber du bist mit Abstand die Beste. Ich ruf dich an.”

Rita nickte. „Ich werde ran gehen.”

Klaus grinste hintergründig.

„An‵s Telefon”, fauchte sie und verschwand durch die Tür.

Rita warf die Weste zunächst auf einen der Stühle im Dienstzimmer und die Brieftasche auf den Schreibtisch. Dann griff sie nach der Tasse mit dem lauwarmen Kaffee und setzte sich. Kathrin kam herein.

„Und? Brauchst du mich noch?”

„Nein. Halb so schlimm. Klaus ruft zurück. Es dauert wohl noch eine Weile.”

„Okay. Dann viel Spaß heute Nacht.”

Rita sah auf und grinste.

„Den hab‵ ich doch immer.”

Kathrin lachte und schnappte ihre Tasche.

„Tschüss.”

„Tschüss Kati.”

Kathrin schlenderte den Gang entlang zum Umkleideraum. Nicht, dass sie nicht schnell nach Hause wollte, aber nach fast neun Stunden Dienst brummten alle Knochen.

Rita machte sich an die Arbeit und untersuchte die Brieftasche. Der Ausweis und die Versicherungskarte waren auch dabei. Die Schwesternschülerin kam herein und ließ sich auf den anderen Bürostuhl fallen.

„Hi, Boss”, grüßte sie.

„Hallö Na? Schon so geschafft, Anne?”

„Hmhm. Wenn das die ganze Nacht so weiter geht… prost Mahlzeit.”

„Da kann ich dich aufmuntern. Es kommt gleich ein Zugang und Verstärkung. Ein Medizinstudent.”

Anne seufzte.

„Schön. Ist noch etwas von der schwarzen Aufbaudroge da?”

„Ja, aber die scheint auch nichts mehr zu nützen”, meinte Rita.

„Besser als gar nichts. Habe mir schon das Rauchen wieder abgewöhnt.”

Rita lachte leise, während sie die Formulare ausfüllte. Kaum zwei Minuten später piepte der Schwesternruf.

„Oh Mann!”, schnaufte Anne und stand auf. Bevor sie ging, trank sie schnell noch einen Schluck. Rita sah in das Geldscheinfach der Brieftasche und pfiff leise durch die Zähne.

„Sie scheinen mir ja eine gute Partie zu sein, Herr Brenner.”

Dann schloss sie diese zunächst im Medizinschrank ein. Wenn Herr Brenner wieder bei Bewusstsein war, konnte er selbst darauf aufpassen, dachte Rita. Sie schnappte die schwarze Weste und ging hinaus. Schwer war sie. Was schleppte der Kerl nur alles mit sich herum? Ein Stück den Gang entlang, klopfte sie an die Tür eines Patientenzimmers. Niemand antwortete. Sie trat ein.

Herr Hauptmann saß in seinem Bett am Fenster, die Kopfhörer auf den Ohren und starrte in den Fernseher. Rita wusste, dass der alte Mann schwerhörig war und trat in sein Blickfeld. Die Musik hörte sie deutlich. Ein Lächeln erschien auf dem Gesicht des alten, hageren Mannes.

„Alles okay, Schwesterchen!”, schrie er sie an. Rita lächelte zurück, wies auf die Weste und dann zum Bett am Schrank. Herr Hauptmann schüttelte den Kopf.

„Das gehört mir nicht!”, sagte er laut.

„Ich weiß.”

Rita schlug die Bettdecke zurück und wies mit der Weste, die sie fest umklammert hielt, in das leere Bett. Herr Hauptmann grinste und winkte ab.

„Aloha he, aloha he”, sang er laut.

Ein anderes Bett war nicht mehr frei. Rita holte einen Bügel aus dem Schrank und blies die aufgestaute Luft aus den Wangen. Während sie die Weste mit einer Hand auf den Bügel fummelte, fiel etwas schweres auf die Matratze. Eine Hitzewelle schoss durch ihren Körper, als sie auf das schwarze Ding starrte. Dann schlug sie geistesgegenwärtig die Decke über die Pistole und schickte einen prüfenden Blick zu Herrn Hauptmann. Der war zum Glück in seine Fernsehsendung vertieft. Rita hängte die Weste in den Schrank, tastete sie ab und griff zur Sicherheit in alle Taschen. Sie fand ein Feuerzeug und einen Bleistift. Schnell schloss sie den Schrank. Ihr Herz klopfte noch immer bis in die Schläfen.

Ob die Waffe geladen ist? Vielleicht ist es ja nur eine Schreckschusspistole oder eine aus dem Spielzeuggeschäft - für seinen Sohn, überlegte sie. Die sehen auch ziemlich echt aus.

Rita öffnete die Tür und schob das Bett kurzentschlossen auf den Flur hinaus. Vor dem Verbandszimmer stoppte sie und zog sich in Windeseile ein paar Handschuhe über. Nur niemals so etwas mit bloßen Händen anfassen! Wegen der Fingerabdrücke, dachte sie. Vielleicht hatte er jemanden damit erschossen und...

Rita erschrak über ihre Gedanken. Ihr wurde heiß. Sie wischte sich mit dem Arm eine ihrer blonden Haarsträhnen aus dem Gesicht, die sich aus ihrem Zopf gelöst hatten. Dann schüttelte sie energisch den Kopf, als wollte sie ihre Gedanken mit aller Macht abschütteln.

„Kati hat Recht. Ich habe zu viele Krimis gelesen”, sagte sie leise zu sich selbst.

Rita blickte um sich und zog die Pistole unter der Decke hervor. Rasch verschwand sie damit im Dienstzimmer und betrachtete das Ding genauer. Wieder wurde ihr heiß.

„Wow! Eine echte Glock. Wahnsinn!”, wisperte sie.

Das Magazin war darin und die Pistole war gesichert. Rita hörte eilige Schritte näher kommen und versteckte das gefährliche Ding hinter ihrem Rücken.

„Anne! Hast du mich erschreckt.”

„Wieso?”

Rita schnappte nach Luft. „Du kommst hier herein gestürmt...”

„Sorry, aber ich arbeite zufällig hier.”

„Schon gut.”

„Geht‵s dir gut Boss? Du siehst so ziemlich mitgenommen aus.”

„Mir war auf einmal schlecht. Aber jetzt geht es wieder. Habe Wasser getrunken. Wahrscheinlich vertrage ich den giftigen Kaffee nicht mehr.”

Rita zuckte mit den Schultern und lächelte verlegen.

Das Telefon klingelte.

„Gehst du mal ran, Anne?”

Anne wandte sich um und nahm ab.

Rita suchte verzweifelt nach einer Möglichkeit, die Waffe zu verstecken. Das Telefongespräch war viel zu kurz. Rita ließ die Pistole vorsichtig in die leere Blumenvase gleiten und zog rasch die Handschuhe von den Händen. Als Anne auflegte, hatte Rita die Hände in den Taschen vergraben.

„Oberpfleger Klaus am anderen Ende. Der Zugang ist fertig für den Umzug. Soll ich... „

„Nein”, fiel Rita ihr ins Wort. „Ich gehe selbst.”

Der Zeiger der Wanduhr rückte gerade auf viertel vor Zehn.

„Frau Meyer bekommt noch ihre Nachtmedizin und Herr Kunz braucht einen frischen Eisbeutel.”

„Aye aye Käpt‵n”, entgegnete Anne prompt und wandte sich zum Gehen.

Rita rollte das Bett zum Fahrstuhl. Eine Etage höher taxierte sie das allein schwer lenkbare Bett den langen Gang entlang. Klaus lehnte bereits am Türrahmen und amüsierte sich, als Rita trotz aller Bemühungen aneckte.

„Das Taxi ist da”, schnaufte sie.

„Das kostet dich ‵ne Runde, Rita”, bemerkte Klaus trocken.

„Hättest ja mal zufassen können, Flegel!”

Rita parkte das Bett vor einem der vielen Fenster, die wie Spiegel wirkten und tagsüber den Blick zum Nordpark zuließen.

„Mindestens eine Flasche Rotwein”, meinte Klaus unbeirrt.

„Mach dir ‵ne Strichliste”, schnaubte Rita.

Klaus lachte amüsiert und ging voran.

Der Patient lag auf der Transportliege. Klaus sprach den Mann an.

„Herr Brenner! Können Sie mich hören?”

Der Mann öffnete die Augen, sah ihn an und nickte.

„Ja”, antwortete er leise.

Dann schloss er die Augen wieder.

„Gut”, meinte Klaus zufrieden.

„Frau Doktor hat ihm intravenös ein Anti-narkotika injiziert. Keine Komplikationen. In der Infusion ist eine Ampulle Tramal. Außerdem bekommt er Fraxi und in den nächsten sieben Tagen ein Antibiotikum. Steht alles korrekt blau auf gelb auf dem Verordnungsbogen.”

„Okay. Danke. Rückt die Polizei etwa auch noch an?”, fragte Rita seufzend.

„Ist grad eben gemeldet. Also wenn du Hilfe brauchst, Rita, ruf mich an.”

Sie antwortete mit einem Blick ohne Worte. Klaus kannte diesen Ausdruck.

„Hey, ich mein‵s ernst. Du bist allein da unten, mit einem Lehrling und einem ‵ich weiß nicht, was ich machen soll‵ Doc.”

Rita nickte.

„Ja, du hast ja recht. Danke.”

Vorsichtig hoben sie den willenlosen Körper des jungen Mannes in das Bett. Er hatte die Augen geschlossen und atmete ruhig. Der festsitzende Verband reichte vom linken Ellenbogen bis zur Schulter hinauf. Klaus steckte das blutige Hemd in einen kleinen Müllbeutel.

„Noch nicht wegwerfen!”

Dann warf er es mit dem Verordnungsbogen auf die Bettdecke und schob den Patienten, gemeinsam mit Rita, bis zum Aufzug.

„Danke. Ruhigen Dienst”, sagte sie leise, bevor sich die Tür schloss.

„Gleichfalls.”

Klaus hob die Hand zum Gruß und wandte sich um.

Rita überlegte nicht lange und schob das Bett kurzerhand in das Verbandszimmer, direkt neben dem Dienstzimmer. Es war eng, aber es ging. Sie kontrollierte die Infusion und warf einen Blick auf den Verordnungsbogen. Blutdruckkontrolle stand an und Rita holte das Gerät.

„Herr Brenner?”, sprach sie ihn schließlich an. Der blinzelte.

„Ich werde jetzt Ihren Blutdruck messen. In Ordnung?”

Der Mann nickte schwach.

Als Rita die Manschette wieder entfernte, sagte sie: „Alles im grünen Bereich. Geht es Ihnen gut?”

Der Angesprochene öffnete die Augen und lächelte schwach.

„Bin ich tot?”, fragte er kaum verständlich. Rita lächelte zurück und schüttelte den Kopf.

„Nein. Wie kommen Sie denn darauf?”

„Sie haben mich in einen Abstellraum geschoben und Sie sehen aus wie ein Engel.” Sie lachte amüsiert.

Der Mann schloss die Augen wieder. Er trug ein schwarzes Unterhemd. Rita blieb, wie angewurzelt, stehen und betrachtete seine schwarzen Haarstoppeln, seine Augen mit den geschwungenen Wimpern, die leicht gebogene Nase und die schmalen Lippen. Die Spuren zweier kleiner Grübchen zeichneten sich an den Mundwinkeln ab. Wahrscheinlich ist er ein fröhlicher Mensch, der gern lacht, dachte sie. Wer hatte ihm das nur angetan? „Kann ich noch irgend etwas für Sie tun, bevor ich gehe?”, fragte sie.

Der Mann öffnete noch einmal seine Augen und sah die Schwester an.

„Wo bin ich hier?”

„Unfallchirurgie. Klinikum Erfurt.”

„Wie spät?”

Rita sah auf die Uhr. „Viertel nach zehn.”

„Morgens oder abends?”

„Abends.”

„Wissen Sie, wo meine Weste geblieben ist?”

Rita schluckte mühsam. „Ja.”

Sein Blick war eine einzige Frage.

„Okay. Ich hole sie Ihnen.”

Mit diesen Worten verschwand sie.

Rita bemerkte Brenners Schreck, als sie wenig später zurück kam. Er wirkte unruhig. Als er sie erkannte, schien er sich sofort zu entspannen. Rita legte ihm das Gewünschte auf die Decke.

„Danke”, sagte er leise, legte seine Hand darauf.

„Wie heißen Sie?”

„Ich bin Schwester Rita. Ich lasse Sie jetzt allein. In etwa zehn Minuten sehe ich wieder nach Ihnen. In Ordnung?”

„Ja”, nickte Brenner.

Er wird sie suchen und er würde sie fragen, wo die Pistole ist, dachte Rita.

Sie wich seinem Blick aus und ging. Leise schloss sie die Tür hinter sich.

Jemand klingelte nach der Schwester und Rita ging sofort dorthin.

„Guten Abend Frau Meyer. Was gibt‵s?”

„Ich kann nicht schlafen. Ich möchte gerne meine Medizin. Ohne die kann ich einfach nicht einschlafen. Und die hier...”, die alte Dame wies mit dem Daumen zu ihrer Bettnachbarin, „...die sägt jede Nacht einen ganzen Urwald ab!”

Rita lächelte.

„Ich verstehe. Da könnte ich wahrscheinlich auch nicht schlafen. Aber Ihre Nachtmedizin hat Ihnen doch die Anne schon gebracht?”

Frau Meyer blickte missmutig drein.

„Ja. Aber geholfen hat sie nicht!”, knurrte sie.

„Gut. Ich sehe nach, was ich für Sie tun kann.”

„Schieben Sie dieses schnarchende Walross auf den Flur raus oder noch besser in den Luftschutzbunker.”

Rita lachte und ging.

Anne war im Dienstzimmer und blätterte in einer der Akten.

„Hat Frau Meyer ihre Medizin gleich genommen?”, fragte Rita.

„Ja. Sofort. Sie hatte schon ungeduldig darauf gewartet.”

Rita zog Frau Meyers Verordnungsblatt. Dann holte sie tief Luft.

„Ich bringe ihr mal eine unserer Wunderpillen. Vielleicht klappt es ja dann.”

Anne sah auf und grinste bis hinter die Ohren. Rita ging selbst. Es war erst viertel nach zehn und momentan ruhig auf der Station. Anne hatte einen Zettel, auf dem sie sich Notizen machte, während sie weiterblätterte.

„Na? Schon im Prüfungsfieber?”, fragte Rita.

„Hmhm”, gab Anne, den Stift zwischen den Zähnen, zur Antwort.

„Ich sehe mal nach dem Zugang.”

„Hmhm”, bekam Rita nochmals zur Antwort.

Etwa zur gleichen Zeit stoppte eine schwarze BMW Limousine direkt vor dem Eingang auf dem Klinikgelände. Ein hochgewachsener Mann, mit grauem Haar und finsterer Mine, stieg aus. Offensichtlich wütend schlug er die Tür zu. Der Grauhaarige ging eilig zur Eingangstür. Ein anderer Mann begleitete ihn. Gesprochen wurde nicht. Der schwarze Mantel des Grauhaarigen war offen und flatterte im Wind. Der Mann schien genau zu wissen, wohin er gehen musste. Niemand begegnete den Männern. Niemand hielt sie auf. Mit leisen Schritten durchquerten sie die Cafeteria und bogen zur Unfallstation ab. Suchend sahen sie sich dort um. Es war still und zunächst niemand zu sehen. Sekunden später kam eine Schwester aus einem der Zimmer und schloss leise die Tür. Sie erschrak, mit einem Aufschrei, und starrte die fremden Männer an.

„Guten Abend, Schwester”, grüßte der Grauhaarige mit tiefer, voller Stimme.

Er zog einen Dienstausweis und steckte ihn sofort wieder weg, während er sich knapp vorstellte.

„Wolf. Kriminalpolizei. Bringen Sie uns bitte zu Herrn Brenner, Martin Brenner. Er ist heute Abend bei Ihnen eingeliefert worden.”

„Schwesternschülerin Anne. Guten Abend. Kommen Sie bitte mit.”

Die beiden Männer folgten ihr.

„Muss ja ‵n ziemlich heißes Ding sein, wenn Sie mitten in der Nacht hier anrücken.”

Anne hatte nicht mit einer Antwort gerechnet und war überrascht, als Wolf tatsächlich zu ihr sagte: „Tja, so ist das in unserem Beruf. Immer im Einsatz.”

„Wundern Sie sich bitte nicht. Meine Oberschwester hat ihn in das Verbandszimmer geschoben. War kein anderes Plätzchen mehr frei.”

Anne wies auf die Tür und lachte.

„So stören wir wenigstens niemanden. Wo ist Ihre Oberschwester?”

„Auf Toilette. Sie muss andauernd kotzen. Ist das nicht verdächtig? Aber sie will es nicht zugeben.” Anne grinste hintergründig.

Auf dem finsteren Gesicht des Mannes, der sich Wolf nannte, erschien ein schwaches Grinsen. Der Andere starrte auf die weiße Tür.

„Okay. Danke. Sie können wieder an ihre Arbeit gehen.”

Anne wandte sich um und ging den Gang entlang. Wolfs Begleiter öffnete vorsichtig die Tür.

„Was ist denn hier los? Wer hat Ihnen erlaubt ....”, schnaufte Rita empört. Weiter kam sie nicht.

„Schwester!”, unterbrach Wolf sie mit tiefer Stimme.

Die jagte Rita noch mehr Angst ein, als sie ohnehin schon hatte. Rita riss sich zusammen.

„Wo ist der Mann, der in diesem Bett lag?”

Rita starrte verwirrt auf das Bett. Die schwarze Weste lag noch darauf. Der Patient war spurlos verschwunden. Ihr Herz raste augenblicklich und ihr wurde übel.

„Ich weiß es nicht”, gab sie niedergeschlagen zu.