Sheloquins Vermächtnis - Brita Rose Billert - E-Book

Sheloquins Vermächtnis E-Book

Brita Rose Billert

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Beschreibung

Der Staff Sergeant der RCMP Hope Ben Clifford ist nicht gerade erfreut, als in seinem Distrikt ein Mord geschieht, und das ausgerechnet vier Wochen vor seiner Pensionierung. Dabei ist Hope, die kleine, verträumte Stadt in British Columbia, der wahrscheinlich friedlichste Flecken auf der Landkarte. Clifford hofft auf die Hilfe des Eingeborenen, Cody White Crow. Niemand ahnt, dass auch dieser in großer Gefahr schwebt. Killer jagen ihn, als er seinem Bruder das Land des alten Sheloquin zeigt. Sein Leben verdankt Cody schließlich Montaya Sunroad, einer Squamish Indianerin und seinem treuen Wolfshund Mellow. Doch ein Mörder läuft noch immer frei herum. Seltsame Dinge geschehen, die immer mehr Fragen aufwerfen. Selbst der Staff Sergeant verstrickt sich tief in das gefährliche Netz aus Lügen und Verrat. Amerindian Research Die Autorin präsentiert spannende Abenteuer mit starken Charakteren um die Natives im modernen Amerika des 21. Jhd., die Hillermans Ethnokrimis in nichts nachstehen.

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In Erinnerung an meinen lieben Mann und besten Freund, Andreas Billert. Danke für die wunderbare gemeinsame Zeit. Bevor du gehen musstest, musste ich dir versprechen, weiter zu schreiben. Das tue ich. Für dich, für unsere indianischen Freunde und für alle Leserinnen und Leser. Danke, dass es euch gibt.

Zur Autorin:

Brita Rose Billert wurde 1966 in Erfurt geboren und ist Fachschwester für Intensivmedizin und Beatmung, ein Umstand, der auch in ihren Romanen fachkundig zur Geltung kommt. Ihre knappe Freizeit verbringt sie mit ihrem Pferd beim Westernreiten durch das Kyffhäuserland in Thüringen. Sie hat durch ihre Reisen in die USA viele Freundschaften mit Native Indians in Utah, South Dakota und British Columbia geschlossen. Diese Tatsache, die Liebe zu den Pferden und ihrem Job inspirieren Sie zum Schreiben. Dreizehn Romane sind bereits publiziert. Autorenhomepage: www.brita-rose-billert.de

Kapitelübersicht

Prolog

Kapitel 1 - Sheloquin

Kapitel 2 - Hope

Kapitel 3 - Montaya Sun Road

Kapitel 4 - In den Bergen

Kapitel 5 - Die Kleinen Leute

Kapitel 6 - Geheimnisse

Kapitel 7 - Verrat

Kapitel 8 - Tag der Wahrheit

Kapitel 9 - Sheloquins Vermächtnis

An iys ti temixw we chet nexws kwayatsut ti nchu7mut.

In the beauty of our landscapes we are made whole in Spirit.

In der Schönheit unseres Landes lebten wir in unserer ganzen Spiritualität.

Squamish Nation

Prolog

Die Sprache der Ureinwohner der Nordwestküste Kanadas ist kaum in Buchstaben festgehalten. Wie so oft unterlag auch sie fortwährend der mündlichen Überlieferung. Für uns Europäer ist es fast unmöglich, diese Worte auszusprechen. Ich habe Menschen in dieser Sprache sprechen hören und war tief beeindruckt. Obwohl ich kein Wort verstanden habe, war ich gefangen in einer anderen Welt.

Deshalb komme ich nicht umhin, dieses Vorwort zu schreiben, denn nicht nur das wundervolle Land British Columbia im Westen Kanadas, die Heimat meiner neuen Freunde, und deren Sprache und Kultur haben mich tief berührt. Die Kultur der Stämme der Nordwestküste allein ist so vielfältig und sprengt alle Vorstellungen vom Bild des typischen »Indianers«, das in Europa so flächendeckend kursiert, und die mehr als 500 Nationen der Ureinwohner ganz Nordamerikas oft nur auf die Plainsindianer beschränkt.

Die Kultur der Aboriginal people Kanadas, der Tlingit, Haida und Küstensalish, zu denen auch die Squamish gehören, war und ist einzigartig.

Totempfähle, geschnitzte Holzmasken für Tänze und Zeremonien und die mit eindrucksvollen Schnitzereien verzierten Hauseingänge, den Schutzpatronen der Bewohner, prägten ihre Kultur und dieses Bild.

Die Natur und das raue Land, die steilen, bewaldeten Küstenberge und der Pazifik hatten die Menschen, die dort lebten, geprägt. Und die Menschen spiegelten das alles in ihrer Kunst und Kultur wider.

Weiter im Inneren des Landes und in den Rocky Mountains gab es ursprünglich keine Totempfähle. Diese gehörten nicht zu den Stämmen und Kulturen, die dort lebten: Skwahla, Cree, Kootaney, Nakota, um nur einige zu nennen.

Dennoch vermischte sich die Kultur der Aboriginal peoples, der Ureinwohner Kanadas, z. B. durch Hochzeiten, bereits vor vielen Jahrhunderten. Somit verbreitete sich die Kunst der Pfahlschnitzer im ganzen Land. Uralte Totempfähle und andere Schnitzereien der Nordweststämme haben auch dort durchaus ihre Berechtigung.

Diese Vermischung der Kulturen hat sich bis in die heutigen Tage fortgesetzt.

Viele der einstigen Stämme sind durch Seuchen und Epidemien der weißen Europäer zugrunde gegangen. Die ursprüngliche Lebensweise der Überlebenden wurde zerstört. Von den etwa 500 verschiedenen Stämmen gibt es heute nur noch einen Bruchteil. Das Wort »Minderheit« ist somit eine traurige Tatsache.

Die Zahl der in British Columbia lebenden Aboriginal macht nur noch weniger als ein Prozent der gesamten Bevölkerung aus! Die noch am stärksten vertretenen Ureinwohner, die Cree, sind allerdings in ganz Nordamerika beheimatet. Dafür sei hier vergleichsweise erwähnt, dass in Vancouver 80 % Asiaten leben, deren Vorfahren in der Zeit des Goldrausches in das Land einwanderten.

Die Reservationen sind klein und unscheinbar. Ein Schild am Straßenrand weist darauf hin. Die Häuser stehen abseits der Straße, oft versteckt hinter den Bäumen. Sie pflegen ihre Kultur und Spiritualität und leben ihr Leben in der Gemeinschaft, in der sie das sein dürfen, was sie sind. Ein befreundeter Uramerikaner sagte mir vor Antritt meiner Reise, ich solle ihnen fern bleiben. Sein Volk wolle nichts mit Weißen zu tun haben, auch nicht mit europäischen Touristen. Die Enttäuschungen der letzten fünfhundert Jahre seien zu groß gewesen. Dieser durchaus moderne Mensch hatte seinem Volk erzählt, dass sie ihre Spirits verlieren, wenn sie sich mit uns »einlassen«. Und dennoch bin ich sehr offenen, gastfreundlichen und neugierigen Ureinwohnern begegnet, die gern von sich und ihrer Kultur erzählten. Sie wollen sie vor dem Vergessen schützen und dass auch wir Europäer etwas davon in unsere Welt mitnehmen.

Am stärksten prallen die Welten in der Metropole Vancouver aufeinander. Eine Reservation, ein Stadtviertel in Armut unter einer modernen Highwaybrücke, verschlug mir tatsächlich die Sprache. Die Söhne und Töchter der Erde und des Pazifiks leben hier auf dem Asphalt, eingezäunt von einem zweieinhalb Meter hohen Maschendrahtzaun. Die Bewohner wollen damit ihr eigenes Territorium schützen. Kein Fremder ist hier willkommen. Ich kann sie verstehen und es tut wahrhaftig im Herzen weh. So möchte niemand leben. Dennoch ist es ihr Zuhause, von Anbeginn. Die Stadt wurde um sie herum gebaut. Niemand hat sie gefragt und bis heute gibt es keine Landabtretungsverträge zwischen den Aboriginals und British Columbia. Sie protestieren. Sie kämpfen einen ungleichen Kampf. Aber aufgeben werden sie nie.

Der Verkauf von unberührtem Land der Aboriginal hat tatsächlich vor einigen Jahren in Vorbereitung der Olympischen Winterspiele, die im Februar 2010 stattfanden, am Whistler Mountain für Furore gesorgt und zu weitgreifender Uneinigkeit unter der Bevölkerung der Squamish geführt.

Der Landraub ist den Ureinwohnern immer wieder gegenwärtig, auch heute noch.

Sheloquin gab es übrigens tatsächlich. Er lebte mit seinem Bruder auf eigenem Land. Es gab Weiße, die das Land unbedingt haben wollten, und da es die Brüder nicht hergaben, begann man, sie zu schikanieren. Das kostete einem Bruder das Leben. Der andere blieb hartnäckig.

Das war die Idee, die der folgenden Geschichte zugrunde liegt.

Herzlichen Dank für die freundlichen und offenen Begegnungen und die schöne Zeit in eurem wundervollen Land, in British Columbia.

ChiChi aus Hope,

Shayla aus Boston Bar

Edgar Allan Rosetti, Vancouver

Haihai ist Cree und heißt Danke

Kapitel 1 Sheloquin

Es war Abend. Kühle Luft breitete sich aus. Mit der untergehenden Sonne zogen blaue Nebelschwaden in die Täler. In den Bergen lag Schnee, auch wenn der Frühlingsmonat Mai gerade Einzug hielt. Ein alter Mann stand auf der Veranda seines Holzblockhauses, das sich auf einer Lichtung mitten im Wald befand. Die krummen Beine des Mannes steckten in Jeans und Lederstiefeln. Fast reglos verharrte er, an die Hauswand gelehnt, und blickte über das Land. Das war sein Zuhause, mitten in der Wildnis der Rocky Mountains, oben am Isollilock Peak, südwestlich der kleinen Stadt Hope. Der Atem verflüchtigte sich mit zartem Rauch vor Mund und Nase. Noch immer roch es nach Schnee. Langsam löste sich der Alte von der Hauswand und trat drei Schritte nach vorn. Das schien ihm schwer zu fallen. Er zog das rechte Bein nach, als wollte es ihm nicht mehr gehorchen. Die rotkarierte Steppjacke hatte er geschlossen und den Fellkragen hochgeschlagen. Ganz in typischer Holzfällermanier war er gekleidet. Nur seinen Kopf hatte er nicht bedeckt, sodass sich sein eisgraues Haar kaum merklich im Wind bewegte. Der alte Mann verschränkte seine Arme und lehnte sich auf das Geländer seiner Veranda. Er musterte die Berge, den Wald und den klaren Bergsee, direkt vor seinem Haus, aufmerksam, obwohl er seit Jahrzehnten kaum etwas anderes gesehen hatte. Er kannte jeden Baum, jedes Tier und jeden Wassertropfen im See. Der schimmerte blaugrün und spiegelte seine Umgebung wider.

Still war es.

Der alte Mann schien nachzudenken.

Stolze dreiundachtzig Jahre zählte er. Sheloquin nannten sie ihn. Sheloquin war sein Name, seit er denken konnte. Dass er mit Vornamen Edward hieß, wusste nur er selbst. Er hatte es in all den Jahren nicht vergessen, aber er hatte es niemandem jemals erzählt. Sheloquins Land erstreckte sich so weit sein Blick reichte. Er selbst bezeichnete sich als Hüter dieses Landes und nichts anderes hatte er all die Jahre getan. Die Leute, unten in Hope, kannten und respektierten ihn, auch wenn sie ihn hin und wieder als alten, seltsamen Kauz bezeichneten. Aber selbst das taten sie mit einem freundlichen Augenzwinkern. Sheloquins Frau, eine Skwahla Indianerin, war vor zehn Jahren an einer Lungenentzündung gestorben. Der alte Mann atmete tief durch und blinzelte.

Ja, heute war ein schöner Tag zum Sterben.

Sheloquin hatte alles vorbereitet. Das Land, das seit Urzeiten den Aboriginals gehörte, sollte ihnen niemand wegnehmen. Mehrmals hatten die Leute vom Landmanagement versucht, es ihm abzuschwatzen. Sie hatten ihm sogar Geld geboten. Sehr viel Geld! Doch Sheloquin hatte nur darüber gelacht. Die Männer, die immer wieder bei ihm aufgetaucht waren, blieben hartnäckig. Nun hatten sie ihm gedroht. Doch der alte Mann hatte sie ignoriert. Das machte sie wütend. Sheloquin hatte weiß Gott nichts zu verlieren, gar nichts. Er war sogar bereit zu sterben und heute war ein schöner Tag, um zu seiner Frau zu gehen. Das Land, das auf seinen Namen eingetragen war, galt es zu schützen. Es war heiliges Land.

Der Alte lächelte müde.

Der Geruch des Zedernholzes lag in der feuchten Luft. Ein paar Wildgänse flatterten schreiend vom Ufer des Sees auf und flogen in westliche Richtung davon. Die Dämmerung zog aus den Tälern hinauf in die Berge und mit ihnen die blauen Nebelschwaden. Sheloquins Herz schlug schneller, als er das verräterische Knacken von Zweigen hörte. Sie waren also da. Langsam wandte er sich um, als im selben Augenblick drei Männer auftauchten.

»Guten Abend«, grüßte der Erste.

»Wo ist die Besitzurkunde?«, fragte der Zweite.

Sheloquin musterte die Kerle und schwieg. Ihm war bewusst, in welcher Absicht sie gekommen waren. Und es war ihm nicht entgangen, dass sie bewaffnet waren.

»Die Besitzurkunde, alter Mann, und dir passiert nichts«, sprach nun der dritte Mann, dessen frostige Stimme einen eisigen Schauer über Sheloquins Rücken kriechen ließ. Unwillkürlich begann er zu zittern. Er spürte die Angst, die nach ihm griff. Aber er antwortete mit fester Stimme.

»Niemals!«

Der zuletzt gesprochen hatte, gab den anderen beiden Männern ein Zeichen. Die betraten das Holzblockhaus. Sie schienen zu suchen. Sheloquin hörte das dumpfe Knallen von Türen. Glas zerbrach. Er hörte Schubkästen zu Boden fallen und Flüche. Der Mann, der mit Sheloquin draußen auf der Veranda geblieben war, war einen ganzen Kopf größer als er. In aller Ruhe zündete der sich eine Zigarette an. Sheloquin kannte den Mann, der ihm schon mehrmals gedroht hatte. Er hieß Harris Shore und behauptete, aus Vancouver zu stammen. Er hatte auch behauptet, für den Coquihalla Canyon Provincial Park Hope zu arbeiten. Aber das stimmte nicht. Sheloquin kannte die Leute. Shore hatte gelogen!

Der alte Mann verzog die Mundwinkel.

Nach etwa einer halben Stunde meldeten sich die beiden Männer, dass sie nichts gefunden hätten. Nicht mal einen Pass oder eine Geburtsurkunde. Keinerlei Papiere, die zu verwerten wären, und keine Landbesitzurkunde. Wütend griffen sie den alten Mann bei den Armen und zerrten ihn in sein Haus. Dort hatten diese Männer innerhalb kürzester Zeit ein Chaos angerichtet, dass kaum ein Möbelstück heil geblieben war. Selbst die Vorhänge an den Fenstern waren ihrer Wut nicht entkommen. Nun richtete sich diese Wut gegen den Alten. Shore hob einen Stuhl auf und befahl Sheloquin, sich zu setzen. Der hatte keine andere Wahl, wurde er doch von einem der Männer mit aller Kraft darauf gedrückt. Sheloquin wurde heiß. Er spürte die kräftigen Pranken an seiner Schulter, die ihn am Aufstehen hinderten. Schmerzhaft bohrten sie sich in sein Fleisch, dass er hätte aufschreien können. Shore hielt ihm ein Foto hin, von dem ein junges Paar lächelte.

»Deine Erben?«, fragte Shore.

Er blickte wie ein Fuchs, der seine Beute im Fang hatte, auf den Alten herab.

Sheloquin schoss das Blut heiß durch die Adern. Er war wütend auf sich selbst. Ich hätte das Foto vernichten sollen, solange noch Zeit dafür gewesen war, schalt er sich selbst.

»Nein«, brummte Sheloquin.

Shore lächelte. »So? Wer dann?«

Stille.

»Sie scheinen dir sehr viel zu bedeuten. Richtig?«

Sheloquin schwieg.

»Keine Sorge, Sheloquin. Ich werde die beiden finden. Die kleine Squaw ist übrigens verdammt hübsch. Es wird mir nicht schwer fallen, ihr meinen Gewehrlauf zwischen die Beine zu schieben«, grinste Shore.

»Sie wird dir die Augen auskratzten und deine stinkenden Eier an die Geier verfüttern«, krächzte Sheloquin.

»Wo hast du die Besitzurkunde versteckt?«, fragte Harris Shore in einem gefährlich ruhigem Ton.

Sheloquin antwortete nicht.

»Gut. Wie du willst, alter Mann«, zischte Shore und verschränkte die Arme. Seine hellgrauen Augen funkelten Sheloquin drohend an. Lässig lehnte sich Shore gegen die Überreste eines Schrankes und nickte seinen beiden Begleitern zu. Der eine griff nach der Hand des alten Mannes und brach ihm, mit einem hörbaren Knacken, zunächst den kleinen Finger. Sheloquin schrie auf. Ihm wurde speiübel.

»Was meinst du, wie oft ich meine Frage wiederholen kann, Sheloquin?«, fragte Shore kühl.

Sheloquin rang nach Luft.

»Ihr Geier werdet dieses Land niemals besitzen. Sag das deinem Auftraggeber, Shore«, stöhnte der alte Mann.

Der Angesprochene schüttelte verärgert den Kopf. Dann nickte er ein zweites Mal. Wieder knackte ein Fingerknochen unter dem Schrei des alten Mannes.

»Ist es das wert?«, fragte Shore schließlich.

»Du verfluchter Bastard!«, schrie Sheloquin heißer.

Er zitterte vor Erregung. Die Angst, die nach ihm gegriffen hatte, nahm ihn nun vollkommen in Besitz. Eine Angst, die er so noch nie gespürt hatte. Unweigerlich hatten sich seine Augen mit Wasser gefüllt. Sheloquin sah alles nur noch verschwommen. Er schniefte. Die Schmerzen waren kaum mehr zu ertragen. Er betete um Erlösung. Er wusste, dass er sterben würde.

»Wo - ist - die - Urkunde?«, fragte Shore, jedes Wort einzeln betonend.

Sheloquin spuckte auf den Boden, in die Richtung, aus der die Stimme kam. Shore verzog das Gesicht zu einer furchtbaren Fratze. Nun stieß er sich von dem Schrank ab. Ohne ein weiteres Wort zog er seine Pistole und zerschoss dem alten Mann, der auf dem Stuhl saß, die Knie. Sheloquin hörte seine eigenen, heißeren Schreie. Er konnte es nicht verhindern. Schweißperlen sammelten sich auf seiner Stirn. Die Schmerzen überwältigten ihn. Sheloquin drohte vom Stuhl zu kippen, doch die Pranken, die sich in seine Schulter gebohrt hatten, hinderten ihn daran. Das Blut lief zu Boden. Sie marterten ihn. Sie verstümmelten ihn. Sie verbrannten ihn, ge-meinsam mit seinem Haus, aber sie fanden nicht, was sie suchten.

Die Nacht hatte längst Einzug gehalten und das Feuer musste kilometerweit zu sehen sein. Der Geruch des Rauches lag über dem Land und der Wind trieb ihn langsam südostwärts. Doch im Umkreis von fünfzig Kilometern wohnte hier niemand.

Der anbrechende Morgen offenbarte die verkohlten Reste von Holzbalken und Asche. Niemand würde den alten Mann so schnell vermissen, bis auch die letzten Spuren der Nacht verwischt waren.

Kapitel 2 Hope

Hope stand auf dem Ortsschild der kleinen Stadt. Hope am Fraser River. Wer auch immer diesen Ort so genannt hatte, musste Hoffnung gehabt haben. Eingebettet lag Hope, idyllisch umgeben bewaldeter Berge, im Tal, durch das sich der Fraser River schlängelte. Dort, wo die Rocky Mountains mit den Coast Mountains zusammentrafen. Lange bevor ein Mann Namens Fraser dem Fluss seinen Namen gab, nannten ihn die Skwahla Indianer den Stolo, den Fluss der Lachse. Er war ihr Bruder. Sie sprachen mit ihm. Er gab ihnen, was sie zum Leben benötigten, und »Die Leute vom Fluss«, wie sich das Volk der Stolo Nation selbst nannte, achteten und dankten dem Fluss. Der Fluss und das Leben darin waren ihnen heilig, besonders der Lachs, der für sie das bedeutete, was der Büffel für die Plainsstämme war. Viele der Leute vom Fluss waren gegangen und andere Menschen waren aus einer anderen Welt gekommen. Der Fluss war geblieben. Die weißen Menschen hatten Häuser und Straßen an seinem Ufer gebaut und sie hatten Hoffnung.

Hope war relativ klein geblieben. Die meisten Menschen hatte der Goldrausch nach British Columbia gelockt. Sie waren weiter in den Norden gezogen. Nach einem langen, harten Winter hielt nun endlich der Frühling Einzug in Hope. Die Sonne schien vom fast wolkenlosen Himmel und zauberte ein Lächeln in die Gesichter der Menschen. Der Ort wurde wieder lebendiger und erwachte zu neuem Leben, wie es schien, so, wie jedes Jahr um diese Zeit. Doch in diesen Tagen war etwas anders. Die Leute sprachen von dem schrecklichen Vorfall in den Bergen, zwischen dem Isolillock und dem Silver Peak. Sie raunten sich furchtbare Schauergeschichten zu, redeten hinter vorgehaltener Hand über Mord und trauerten um den alten Mann, den sie seit einem halben Jahr nicht mehr im Ort gesehen hatten. Es hieß, Cody White Crow, hätte die verkohlten Überreste Sheloquins gefunden, als er mit Jägern in den Bergen unterwegs gewesen war. Die White Crows wohnten drüben bei Mission, in der Reservation. Um so mehr heizte der blaue Silverado, der schon seit Stunden vor dem Upper Fraser Valley Regional Departement der Royal Canadian Mounted Police in Old Hope parkte, die Gerüchte an. Jeder hier im Ort wusste, dass dieser Pick-up mit dem Wolfshund auf der Ladefläche Cody White Crow gehörte. Erst vor zwei Tagen hatte der genau an derselben Stelle gestanden.

Stundenlang.

Der junge Skwahla saß im Büro der Mounted Police, beim Staff Sergeant Ben Clifford. Rabenschwarze Augen funkelten Clifford aufmerksam an, während dieser die Aufnahme des Falles Sheloquin erläuterte. Die Luft hier drin war etwas modrig und verstaubt, so wie das ganze alte Mobiliar. An der Wand, direkt hinter dem Bürostuhl des Staff Sergeants, klebte eine Landkarte. Sie zeigte das gesamte Gebiet um Hope. Der Distrikt begann direkt östlich von Abbotsford, einem Vorort Vancouvers und erstreckte sich der Grenze entlang bis zum östlichen Mount Kelly und im Norden über den Ort Boston Bar hinaus. Das Hope Canadian Police Office war Teil mehrerer Außenstellen im Bezirk. Cliffords Zuständigkeitsbereich war auf der Landkarte markiert und erstreckte sich also weit über die kleine Stadt Hope und die Berge hinaus. Das lag daran, dass es ringsum nur Wildnis gab, die so dünn besiedelt war, dass jeder Einwohner hier in Hope seinen eigenen Provincial Park eröffnen könnte.

»Tja, leider gibt es dort oben keine Spuren mehr«, schloss Clifford seinen Bericht. »Alles, was wir wissen, ist, dass die Gerichtsmedizin Sheloquins Überreste eindeutig identifiziert hat und dass es keine weiteren«, Clifford räusperte sich, bevor er weitersprach, »keine weiteren Leichen gegeben hat. Der alte Mann war allein. Vielleicht ist er mit seiner Zigarette im Bett eingeschlafen.«

Cody White Crow schüttelte entschieden den Kopf.

»Sheloquin ist getötet worden! Das habe ich dir schon mal gesagt, Ben Clifford. Von zwei, vielleicht auch drei Männern. Um die 1,80 und etwa achtzig bis neunzig Kilo schwer. Sie trugen Rangerstiefel. An einem Stück Holz klebte Blut«, sagte er.

Clifford hob den Kopf samt Augenbrauen.

»Du warst noch mal da oben?«, fragte er erstaunt.

»Nein. Ich habe mir das sofort angesehen, bevor alle Spuren vernichtet worden sind! Vorgestern.«

Cliffords Augen starrten Cody an. Winzige Schweißperlen erschienen auf seiner Stirn. Der junge Skwahla, der ihm gegenüber saß, war erst fünfundzwanzig! Der Staff Sergeant war mehr als doppelt so alt. Achtundfünfzig, um genau zu sein. Er war groß, kräftig gebaut und im Laufe seiner Schreibtischkarriere hatte er hier und da etwas Speck angesetzt. Auf seinem Kopf standen die Haare, senkrecht und sehr kurz geschoren. Sie waren braun mit einem rötlichen Schimmer. Schließlich zog Clifford sein Taschentuch aus der Hosentasche und wischte über die Stirn.

»Wir hatten noch nie einen Mordfall hier. Nicht, solange ich Staff Sergeant hier bin, Cody. Hope ist ein friedlicher Ort. Wahrscheinlich der friedlichste, den es in ganz British Columbia gibt.«

Cody musste schmunzeln.

»Da passt so etwas nicht, nicht vor deiner Pensionierung«, bemerkte er.

Clifford blickte auf den jungen, schlanken Mann und schwieg. Der hockte angespannt auf der Stuhlkante, bereit zum plötzlichen Aufspringen. Clifford kannte Cody genau. So meinte er wenigstens. Der Indianer, der in Bluejeans und blau kariertem Hemd steckte, war anders als alle Vorstellungen, die Clifford je von einem Indianer gehabt hatte. Cody White Crows Haar war kurz und gepflegt, als wäre er gerade vom Friseur gekommen. Und er trug einen braunen Cowboyhut. Der lag im Augenblick allerdings auf dem Schreibtisch. Clifford spürte den herausfordernden Blick des jungen Indianers unangenehm auf sich gerichtet. Das tat kein anderer Indianer, mit dem Clifford jemals zu tun gehabt hatte.

»Es wird in den Zeitungen stehen«, brummte er schließlich missmutig.

Cody nickte. »Und es kam in den Spätnachrichten.«

»Die Leute reden.«

»Natürlich tun sie das!«

»Verflixt noch mal«, zischte Clifford. »Ich muss herausfinden, was dort oben passiert ist. Vielleicht war es Mord, vielleicht auch nicht.«

Cody lehnte sich auf dem Stuhl zurück und verschränkte die Arme. »Mindestens einer der Männer besitzt eine Polizeipistole. Ich habe eine Patrone gefunden. Die war nicht abgeschossen worden, sondern nur zu Boden gefallen«, sagte er ernst.

»Weshalb hast du mir das nicht gleich gesagt!«, fuhr Clifford auf.

»Das habe ich. Du musst mir nur mal zuhören. Aber ich bin nur ein Jagdführer, ein Guide, ein Lachsfänger und manchmal schnitze ich. Ich bin nur ein Ureinwohner, aber kein Polizist. Sheloquin musste sterben«, antwortete Cody ruhig.

»Ja. Und er war dreiundachtzig«, meinte Clifford mit zynischem Unterton.

»Und irgendjemand dauerte es zu lange, bis der alte Sheloquin gehen würde.«

Clifford presste die Lippen fest aufeinander und schnaufte. »Du lehnst dich weit aus dem Fenster, White Crow.«

Cody legte den Kopf schräg und kniff seine Augen zu kleinen Schlitzen. Er beobachtete Ben Clifford, wie der Berglöwe seine Beute. Holz knackte in die Stille.

»Ich will dir nur helfen, den Mörder des alten Mannes zu finden, auch wenn du mich nicht darum gebeten hast.«

»Was weißt du?«, fragte Clifford vorsichtig.

»Dass das Land dort oben, Sheloquins Land, den Ureinwohnern gehört. Und nur ein Mann unseres Volkes, nur ein Skwahla, wird der Hüter dieses Landes sein.«

Clifford verzog das Gesicht, als hätte er puren Zitronensaft geschluckt.

Cody grinste kurz. Dann nahm er seinen Hut und stand auf.

»Was hast du vor?«, fragte Clifford.

»Ich tue meinen Job. Tu du den deinen.«

Clifford brummte wie ein alter Grizzlybär über diese Respektlosigkeit. Aber er konnte dem jungen Mann nicht böse sein. Cody war nicht unbedingt sein Freund, aber er war ihm von großem Nutzen. Das hatte Ben Clifford lange erkannt. Cody war ein wichtiger Informant. Er war zwar eigenwillig, aber zuverlässig und er belog ihn nicht. Genau das wusste Clifford sehr zu schätzen. Insgeheim erhoffte er sich Hilfe von dem jungen Skwahla, vielleicht auch in dem Fall Sheloquin. Aber Cody White Crow half nur, wenn er das selbst auch wollte, wenn es seinen Interessen entsprach. Diesmal hatte der ein sehr großes Interesse daran, dass der Fall aufgeklärt wurde. Ansonsten hielt er sich aus allen Dingen heraus, die ihn nichts angingen. Mehrmals hatte er ihn deshalb als Sturkopf bezeichnet. »Weißt du wer Sheloquins Erbe antreten wird?«, fragte Clifford.

Cody grinste.

Dann setzte er seinen Hut auf den Kopf und wandte sich zum Gehen. Clifford hob an, etwas zu sagen. Er öffnete seinen Mund und schloss ihn wieder, ohne, dass ein Wort seine Lippen verließ. Ratlos schüttelte er den Kopf. Cody schloss die Tür hinter sich.

Die Sonne schien. Der Wolfshund, der auf der Ladefläche des Pick-ups gedöst hatte, hob den Kopf und winselte leise. Cody öffnete die Wagentür und wartete einen Augenblick. »Na komm schon«, lachte er. Der Hund sprang von der Ladefläche, begrüßte seinen Herren und war mit einem Satz im Wagen verschwunden. Cody stieg ein und startete. Er hatte die neugierigen Blicke der Menschen bemerkt. Langsam fuhr er an ihnen vorbei und grüßte freundlich, während er den Ellenbogen lässig auf die herabgelassene Seitenscheibe legte. Auf der anderen Seite lugte der Kopf des Hundes zum Fenster hinaus. Der Fahrtwind fuhr in sein Fell. Er kniff die Augen zusammen und genoss es.

Auch in Vancouver hatte die Sonne die Menschen aus ihren Häusern gelockt. Downtown erwachte zum Leben und wurde von den ersten Touristen des Jahres besucht. Zartes und üppiges Grün eroberte die Geschäftsviertel zurück und der Beton schien förmlich zurückzuweichen. Parkanlagen und Villen belebten das eigenwillige Stadtbild. Vor den steil aufragenden Coast Mountains lag Vancouver, die Hauptstadt British Columbias, direkt am Pazifik. Im Osten prägten die rauen Rocky Mountains und schier unendliche Wildnis das Land. Der Wind trug den Geruch von Salzwasser mit sich in die Stadt. Unzählige Inseln lagen vor der Küste, die nur mit der Fähre oder einem Flugzeug zu erreichen waren.

Manche waren bewohnt und manche nicht. In einigen einsamen Buchten tummelten sich Wale verschiedener Arten. Auf aus dem Meer aufragenden Felsen genossen Seelöwen die ersten warmen Sonnenstrahlen. Die Möwen und eine Vielfalt von Meeresvögeln teilten sich den Himmel mit den Weißkopfadlern. Wie in jeder Großstadt trafen auch in Vancouver Reichtum und Armut knallhart aufeinander. Während in einigen Stadtvierteln unvorstellbar teure Villen standen, wohnten die Ärmsten in ihren einfachen Haussiedlungen unter Brücken oder waren obdachlos. Auch die handvoll Reservationen der Küsten-Salish, denen einst das gesamte Küstengebiet bis Squamish im Norden und in die Hochebenen des Gebirges im Osten gehört hatte, lebten mitten in der Stadt auf verhältnismäßig winzigem Territorium. Manche ihrer Siedlungen schützten sie selbst mit Zäunen.

Eine silberfarbene Mercedes-Limousine rollte durch ein offenstehendes, schmiedeeisernes Tor. Gulcher Club - Hotel Corperation stand auf einem Messingschild am steinernen Torpfosten. Im Schritttempo bewegte sich die Limousine die Auffahrt hinauf. Zwischen den Bäumen des parkähnlichen Gartens tauchte das Haus schließlich auf. Die weiße Villa selbst glich einem Hotel. Sie wirkte wie ein Überbleibsel aus alten Kolonialzeiten der Südstaaten der USA. Ihr Baustil, hier völlig fremd, aber keinesfalls fehl am Platz, bewies eben Stil. Harris Shore parkte den Mercedes zwischen den anderen Limousinen, die bereits vor dem Eingang standen. Shore holte tief Luft und stieg aus. Dann räusperte er sich, spuckte vor seine eigenen Stiefel, bevor er die Tür zuwarf. Er fühlte sich nicht wohl in seinem Anzug. Der passte nicht zu ihm. Seine Gesichtszüge wirkten versteinert. Den Endvierziger konnte so schnell nichts aus der Bahn werfen. Auch nicht ein misslungener Auftrag. Shore hatte früh gelernt, mit Niederlagen fertig zu werden. Er hatte gelernt, Haltung zu bewahren und sein Selbstbewusstsein war daran gewachsen. So war er hart geworden, hart zu sich selbst und zu allen anderen. Diese Härte stand gerade jetzt wieder in seinem Gesicht geschrieben. Sie war sein Schutzschild. Niemand und nichts würde ihn ernsthaft verletzen können. Shore richtete sich auf, streckte seine hünenhafte Gestalt, die Respekt einflößend wirkte. Mit ausgreifenden Schritten ging er auf die Eingangstür zu.

Shore war ein Cowboy. Er arbeitete hier und da, dort, wo es gerade einen lukrativen Job gab. Er war ein Mann, der aus dem Nichts auftauchte, um schließlich auch dort wieder zu verschwinden, ohne Spuren zu hinterlassen.

Gulcher Club - Hotel Corperation Canada & USA - Philip Barn

stand in großen Buchstaben auf dem Eingangsschild. Willkommen im Paradies stand eine Zeile darunter. Über Shores Gesicht huschte tatsächlich ein Lächeln. Für diese Gesellschaft arbeitete er gerade. Sie hatten ihn angeheuert.

Harris Shore klingelte.

Die Haustür wurde sofort geöffnet. Er wurde erwartet. Der Mann, der ihm öffnete, nickte zum Gruß. Shore würdigte ihn kaum eines Blickes. Unaufhaltsam schritt er durch die Empfangshalle. Jeder Schritt hallte wider. Die Türflügel zum Konferenzraum standen offen. Philip Barn wandte sich aus der Gruppe dem Ankömmling zu.

»Oh, Shore«, lächelte er.

Shore vermochte nicht einmal jetzt, in Gegenwart der Geschäftsleute, seine versteinerte Mine zu lösen. Aber er nickte, als er sagte: »Guten Abend.«

Jemand bot ihm einen Drink an. Shore nahm sich ein Glas vom Tablett, trank es in einem Zug leer und stellte es sofort zurück.

»Reden wir«, sagte Barn. »Kommen Sie mit in mein Arbeitszimmer.«

Er wies mit seiner Hand zu einer Tür. Dann ging der Mann, der wesentlich kleiner war als Shore, voran. Barn trug einen hellen Anzug. Shore konnte den feinen Duft seines Parfüms riechen.

»Setzen Sie sich doch bitte«, forderte Barn ihn auf.

Während Shore sich setzte, öffnete Barn einen alten Sekretär und holte eine Schachtel heraus. Wortlos bot er Shore eine seiner Zigarren an. Shore nahm sich eine, bedankte sich knapp und steckte sie in die Innentasche seines Anzuges. Barn blickte ihn fragend an.

»Für schlechte Zeiten«, meinte Shore.

Philip Barn lächelte Shore aus seinen graublauen Augen an. Die wenigen Haare, die auf seinem Kopf geblieben waren, bildeten einen Halbkreis und waren kurz geschnitten. Dafür trug er einen Schnauzer. »Wie Sie wollen«, entgegnete Barn.

Er setzte sich Shore gegenüber in einen mit Samt bezogenen Sessel. Dann zündete er sich in aller Ruhe seine Zigarre an und blies den Rauch kunstvoll in die Luft. Es wirkte geradezu wie ein Ritual. Shore wartete geduldig.

»Ich billige es nicht, wenn ein Plan nicht funktioniert«, begann Barn, der etwa zehn Jahre älter als Shore sein mochte. »Ich will mir die Saison nicht entgehen lassen. Es geht um Geld. Sehr viel Geld.«

Shore schwieg.

Deshalb redete Barn weiter. »Ich kenne einflussreiche Anwälte. Die Besitzurkunde ist mit dem Tod des alten Sheloquin sowieso hinfällig. Was wir brauchen, ist ein Kaufvertrag mit seinem Erben.«

Shore nickte.

»Finden Sie ihn und überzeugen Sie ihn, an uns zu verkaufen, egal wie«, verlangte Barn.

Shore nickte noch einmal.

Philip Barn lächelte zufrieden. »Ich möchte über alles sofort unterrichtet werden«, fügte er hinzu.

»Der Staff Sergeant des RMCP Departement Hope hat Ermittlungen im Fall Sheloquin eingeleitet«, berichtete Shore.

Barn horchte auf, verzog das Gesicht und zog an der Zigarre. Er schien zu überlegen. Dann blies er den Rauch zur Zimmerdecke. »Um den Staff Sergeant kümmere ich mich«, sagte er schließlich.

»Gehört das Land da oben jetzt nicht dem ganzen Stamm?«, fragte Shore.

»Nein. Sheloquin war der einzig eingetragene Besitzer, auch wenn er Indianer war. Die Familienoberhäupter der Squamish hatten durchaus immer Besitztümer, die weitervererbt wurden.«

»Er war Salish-Kootaney«, gab Shore zu bedenken.

Barn nickte. »Korrekt. Die Squamish gehören zu den Küstensalish. Sheloquins Frau brachte das Land mit in die Ehe. Und sie war hingegen eine reinblütige Skwahla aus einer wohlhabenden Familie.«

Shores harte Gesichtszüge verloren sich in einem hintergründigen Lächeln.

»Eine gute Partie. Vielleicht sollte ich mich dort nach einer Frau umsehen«, meinte er spitzfindig.

Philip Barn lachte leise.

Dann nahm er einen tiefen, genussvollen Zug an seiner Zigarre und streifte vorsichtig die Asche am Rand des Kristallaschenbechers ab. Sie glitt hinein und schickte eine dünne Rauchsäule empor.

»Ich verlasse mich auf Sie, Shore. Vier Wochen und keinen Tag länger!«, betonte Barn.

»In Ordnung«, bestätigte Shore.

Barn drückte die Zigarre endgültig aus und erhob sich. Shore erhob sich ebenfalls und folgte Barn zur Tür.

»Ich würde Sie gern zum Dinner einladen«, sagte Barn, während er die Tür öffnete. Er schien es offensichtlich nicht ernsthaft zu meinen.

»Danke, Sir. Aber ich habe noch zu arbeiten«, entgegnete Shore. »Auf Wiedersehen.«

»Viel Erfolg«, wünschte Barn und wandte sich wieder seiner Gesellschaft zu.

Shore verließ das Haus.

Sanft rauschte das Wasser des Fraser River. Hier und da plätscherte es leise über Steine, als wollte es den Menschen, die an den verzweigten Seitenarmen des Fraser River lebten, etwas zuflüstern. Sie waren die Leute vom Fluss, seit Anbeginn. Stolo nannten sie den Fraser River. Der Fluss gehörte zu ihnen. Er war ihr Leben, gab ihnen Nahrung und Frieden. Sie waren Teil des Flusses. Aus dem Fluss waren sie geboren. Mit dem Fluss waren sie gestorben. Mit dem Fluss waren sie wieder aufgestanden und mit dem Fluss waren sie in eine neue Zeit gegangen. Wind wiegte das Ufergras und das Licht der Abendsonne flirrte durch die Blätter der Bäume. Er trug den Geruch der Zedern und der Bergwiesen in das Tal. Ein paar Häuser standen im Schatten der Bäume zwischen dem Trans Canadian Highway 1 und dem Wasser. Die Häuser waren in der typischen Bauweise, wie sie in jeder Reservation zu finden waren und unisoliert auch hier im hohen Norden. Nur ein wesentlich größeres Holzhaus stand, im Gegensatz zur typischen Bauweise, in ihrer Mitte, im Herzen des Dorfes. Das traditionelle Rundhaus galt als Bote vergangener Zeiten und fügte sich harmonisch in das Bild zwischen Gestern und Heute. Mehrere alte Autos standen zwischen den Häusern. Ein relativ neuer Van stand am Straßenrand. Der Platz am Rundhaus schien auf den ersten Blick verlassen. Einige Kinder saßen auf dem Boden unter einem der Bäume und spielten im Sand. Drei Hunde sprangen herum. Eine zarte Rauchsäule stieg schräg zum Himmel hinauf. Sie verbreitete den Geruch nach frisch geräuchertem Fisch. Die Fische, die der Fluss den Skwahla brachte, waren heilig. Sie waren neben Hamburger, Chips und Diätpepsi die Hauptnahrungsquelle des Volkes der Fischfänger, hauptsächlich Lachsfänger und Jäger. Auch Schnitzereien hatten in der neuen Zeit wieder mehr an Bedeutung gewonnen. Während die Kultur der Holzpfähle in der Geschichte der Skwahla keine Rolle gespielt hatte, die wiederum zu anderen Stämmen der Nordwestküste, der Salish, Haida und Tlingit gehörte, hatten sich die unterschiedlichen Kulturen mit der Zeit vermischt. So war nach Hochzeiten zwischen verschiedenen Stämmen ein Totempfahl durchaus auch in anderen Gebieten British Columbias zu finden. Nun wandten sich die Aboriginals dem Pfahlschnitzen wieder bewusster zu, denn infolge der boomenden Tourismusbranche waren die Pfähle sehr gefragt und eine begehrte Einkommensquelle der Völker des Nordwestens geworden. Manchmal gab es sogar Aufträge aus aller Welt, hauptsächlich von Museen und Hotels. Nicht jeder Indianer konnte das. Nicht jeder durfte es.

Ein unfertiger Pfahl stand nur ein paar Meter vom Eingang des Rundhauses entfernt. Der Bär und ein Lachs waren bereits zu erkennen. Alles andere verlor sich noch in der Fantasie des Betrachters. Holzspäne verschiedener Größen lagen ringsum auf dem Boden. Im Moment arbeitete niemand daran. Vor dem Eingang des Rundhauses saß ein alter Mann. Er schien das unfertige Kunstwerk zu betrachten.

Vielleicht träumte er auch, denn er war allein. Wie lange er dort bereits saß, wusste er selbst nicht mehr. Sein graues Haar lag wellig über den Schultern. Den vorderen Schopf hatte er zurückgebunden. Er trug eine schwarze Weste zu seiner schwarzen Jeans und ein weißes Baumwollhemd.

Nein. Heute war kein Sonntag. Es war Donnerstag und die Sonne neigte sich bereits westwärts über die Bergkämme bis zu den Wellen des Pazifiks. Erst als er den sich nahenden Pick-up Truck hörte, regte sich der alte Mann aus seiner Starre. Er sah auf und beobachtete den blauen Silverado, bis der schließlich vor einem der Häuser parkte. Drei weitere Wagen standen bereits dort. Als der Fahrer die Tür öffnete, sprang ein großer Hund heraus. Der sah einem Wolf sehr ähnlich.

Cody White Crow stieg aus und drückte seinen Hut auf den Kopf. Er hatte seinen Pflegevater, Kyce White Crow, längst gesehen. Ein Lächeln erschien auf Codys Gesicht. Er ging zu dem alten Mann. Vor ihm blieb er stehen. Der Hund kauerte inzwischen in einer Kuhle neben der Treppe des Holzhauses, vor dem der Truck parkte und beobachtete die beiden Männer ganz genau.

»Guten Abend, Vater«, grüßte Cody.

Kyce nickte ihm zu. »Hallo, Cody. Schön, dass du da bist.«

Cody setzte sich neben ihn auf die Bank. Er lehnte sich mit den Rücken gegen die Holzplanken, wobei ihm der Hut über das Gesicht rutschte. Ein Lächeln umspielte seine Lippen. Da der Hut nicht herunterfiel, blieb er da, wo er hing.

»Auch eine Möglichkeit, sich zu verstecken«, meinte Kyce amüsiert.

Schmunzelnd zog Cody den Hut vom Gesicht. Sein Blick fiel genau auf das unfertige Schnitzwerk.

»Ich verstecke mich nicht, Vater. Ich versuche nur, einen Augenblick an nichts zu denken«, entgegnete er.

Kacy nickte. »Clifford glaubt dir nicht«, stellte er fest. Auch er blickte wieder zu dem Holzpfahl, der auf seine Vollendung wartete.

»Hm. Ich glaube schon. Aber das ist nicht das Problem. Er hat Angst, etwas zu tun, denke ich. Er ist es, der sich verstecken möchte«, meinte Cody.

Kyce schwieg.

Zwei weitere Männer gesellten sich zu ihnen. Stehend warteten sie vor dem Eingang. Sie unterhielten sich leise. Mit der Zeit fuhren immer mehr Wagen vor und die Leute versammelten sich. Irgendwann gingen sie in das Rundhaus hinein. Cody wandte sich Kyce zu. Seine Augen blinzelten vorwitzig, als er seinen Pflegevater ansah.

»Was hältst du von einer Schlange?«, fragte Cody unvermittelt.

»Hm«, brummte Kyce unschlüssig.

Cody schmunzelte. »Mal sehen, was heute Abend herauskommt. Der alte Fuchs beschäftigt ein ganzes Volk mit seinem Vermächtnis.«

Kyce lachte.

Dann stützte er seine Hände auf die Bank und erhob sich. Cody stand ebenfalls auf und folgte Kyce in das Haus. Der braune Cowboyhut blieb verlassen auf der Holzbank zurück. Der Wolfshund schlich sich heran, schnappte den Hut und trug ihn vorsichtig zu seinem Platz, der Kuhle. Dort legte er sich schützend auf den Hut.

Gelbes Dämmerlicht und leise Stimmen erfüllten den Raum. Cody und sein Pflegevater suchten sich einen Platz und setzten sich. Irgendwann verstummte das Gemurmel vollkommen. Die Versammlung wurde eröffnet. Der Anführer, der Siem, hatte sich erhoben und sprach zu den Versammelten. Der Grund der Zusammenkunft war der Mord am alten Sheloquin. Niemand hier glaubte an etwas anderes, als das der alte Mann ermordet worden war. Die Gerüchte gingen seltsame Wege, nicht nur in Hope, sondern auch in Chilukwayuk, dem Gebiet der Skwahla. Einige vertraten inzwischen die Meinung, dass es besser wäre, das Land zu verkaufen, da das Geld dringend gebraucht wurde und allen zugute kam. Aber einige waren strikt dagegen, heiliges Land zu verkaufen, das seit Urzeiten den Skwahla gehörte. Sie plädierten dafür, das Land vor der Abholzung und der infrastrukturellen Erschließung zu beschützen. So hatten sie es immer gehalten und so war es Sheloquins Wille gewesen. Die einzelnen Sprecher vertraten klar ihren Standpunkt und versuchten, alle anderen von ihrer Meinung zu überzeugen. Das erhitzte die Gemüter im Verlauf der Versammlung immer mehr. Es wurde heiß im Raum.

Cody White Crow erhob sich von seinem Platz und bat darum, etwas sagen zu dürfen.

»Vielleicht sollten wir den fragen, den der alte Sheloquin als den rechtmäßigen Erben seines Landes eingesetzt hat«, sagte er schließlich laut und deutlich vor den Versammelten.