Magic Diaries. Magische Sechzehn - Marliese Arold - E-Book

Magic Diaries. Magische Sechzehn E-Book

Marliese Arold

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Beschreibung

Eben waren sie noch ganz normale Mädchen, doch mit einem Mal geschehen eigenartige Dinge: Victoria wacht plötzlich drei Tage später in der Zukunft auf, Stella kann scheinbar mit ihrer Gedankenkraft das Verhalten anderer beinflußen und Mary-Lou? Ihr begegnet nachts niemand Geringeres als der Geist ihres toten Bruders. Die Erklärung liegt auf der Hand: Die drei sind verrückt geworden! Oder? Da erhält Victoria ein 16 Jahre altes Tagebuch. Die Schrift der Aufzeichnungen ist … ihre eigene! Können die mysteriösen Seiten klären, was im Dunklen verborgen liegt? Und wer sind die unheimlichen Watcher, die jeden ihrer Schritte zu beobachten scheinen? Die neue Serie von Marliese Arold - ein Muss für alle Magic Girls-Fans!

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Vollständige eBook-Ausgabe der Hardcoverausgabe

arsEdition GmbH, München 2012

© 2012 arsEdition GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten

Covergestaltung: Romy Pohl, Innengestaltung: Sandra Stefan unter Verwendung von Bildmaterial von © www.fotolia.de: fox 111184,

© gettyimages/thinkstock

Illustration Auge: Petra Schmidt

Text: Marliese Arold, Ausschnitt aus dem Gedicht „The Raven“ von Edgar Allan Poe

Vignetten: Marliese Arold

ISBN eBook 978-3-7607-9151-7

ISBN Printausgabe 978-3-7607-8467-0

www.arsedition.de

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Die Zeit naht.

Sie werden sechzehn Jahre alt.

Ihre Kräfte müssten sich allmählich entfalten.

Aus den Aufzeichnungen des Severin Skallbrax

Inhalt

Das Tattoo

Zeitsprung

Geständnisse

Mary-Lous Date

Schicksal

Todesnähe

Eldorado

Totenbeschwörung

Koma

Severin Skallbrax

Dorian

Licht ins Dunkel

Piep piep – piep piep – piep piep – piep piep …

„Oh nein!“ Victoria wälzte sich mühsam vom Bauch zur Seite und tastete nach dem Wecker. Wo war denn das blöde Ding? Da, der Knopf. Endlich Schweigen.

Victoria gab einen zufriedenen Laut von sich und bettete ihren Kopf wieder auf das Kissen. Schwarze Seide. Ihre Mutter hatte sich schrecklich über die Bettwäsche aufgeregt. Aber Victoria liebte Schwarz. Am liebsten hätte sie die Wände ihres Zimmers schwarz gestrichen, doch Mum hatte gedroht, sie rauszuwerfen, wenn sie das tat. Victoria seufzte. Sie blinzelte. Ein paar Sonnenstrahlen stahlen sich durch die Ritzen ihrer Jalousie und wärmten ihren Arm.

Victoria genoss das Gefühl. Dann bewegte sie ihren Arm, und ihr Blick landete auf einem Drachentattoo, das ihre rechte Schulter und den Oberarm zierte.

Sie brauchte einige Sekunden, um zu begreifen, was sie da sah. Es war ein wunderschönes Tattoo. So eines hatte sie sich schon lange gewünscht, und inzwischen hatte sie das Geld dafür fast zusammen.

„Moment!“

Victoria schnellte hoch und starrte ungläubig ihren Arm an. Sie wischte mit dem Finger darüber. Es war echt, kein Fake. Ein Drache, mit vier Füßen und rotem Auge, den edlen Kopf nach rechts gedreht. Die Schwanzspitze endete kurz vor ihrer Ellenbeuge. Perfekt!

Aber warum zum Teufel konnte sich Victoria nicht daran erinnern, wie sie sich das Tattoo hatte stechen lassen?

Sie schwang die Beine über die Bettkante und kämpfte dabei gegen das aufsteigende Panikgefühl an.

Gedächtnislücke? Filmriss? Hatte ihr jemand Drogen gegeben? Oder war sie einfach noch gar nicht wach, sondern träumte ihren Traum weiter?

Draußen zwitscherten die Vögel. Spatzen balgten sich laut in der Kastanie vor ihrem Fenster. Victoria stand auf, zog die Jalousie hoch und atmete tief die Morgenluft ein. Die Kastanie blühte, Victoria roch den Duft. Bienen summten um die rosa Blütenstände.

Alles wie immer. Ganz normal und sehr real.

Victoria drehte sich um und betrachtete die Wand über ihrem Schreibtisch. Dort hing ein riesiges Bild, genauer eine große Schwarz-Weiß-Fotografie. Sie zeigte Victoria mit ihren schwarzen Haaren und den stark geschminkten Augen, bleich wie ein Vampir, in Gothic-Klamotten, eine schwarze Braut. Ruben, ein Junge aus der Zwölften, hatte das Bild gemacht. Er war ein toller Fotograf und wusste, worauf es ankam.

Victorias Blick wanderte weiter, zu der Schatulle, in der sie ihren Silberschmuck aufbewahrte. Sie trat an den Tisch und fing an, ihre Lieblingsringe überzustreifen. Alles fühlte sich völlig normal an. Sie betrachtete sich im Spiegel. Ein wenig zerknautscht sah sie aus, das war alles. Das kurze schwarze Nachthemd mit den Spaghettiträgern trug sie am liebsten. Keine dicken Lider von irgendwelchen Alkoholexzessen. Warum also dann der Filmriss?

Das Tattoo war auch im Spiegel gut zu sehen. Saubere Arbeit, tadellos gestochen. Einer Eingebung folgend, stürzte Victoria zu ihrer Nachttischschublade, zog sie auf und holte die silberne Dose heraus, in der sie ihr Erspartes aufbewahrte. Die Dose war leer, das Geld weg.

Klar, so ein Tattoo bekam man ja nicht umsonst.

Victoria stellte die Dose zurück. Noch einmal strengte sie ihr Gehirn an, aber da war nicht die klitzekleinste Erinnerung. Sie wusste natürlich, wo der Tattoo-Laden war und wie er aussah. Aber sie hätte schwören können, dass sie nicht dort gewesen war, um sich ein Drachentattoo stechen zu lassen!

„Mann, das ist ja völlig verrückt!“ Sie schüttelte ihren Kopf, dann stürzte sie ins Badezimmer. Aber selbst unter der heißen Dusche ließ sich das ungute Gefühl nicht abschütteln, dass irgendetwas nicht stimmte. Eigentlich waren ihre Gedanken klar, und auch ihr Verstand schien einwandfrei zu funktionieren. Sie fühlte sich weder krank, noch war sie verkatert. Trotzdem wäre sie am liebsten aus der Haut gefahren, weil sie die Erinnerung nicht abrufen konnte. Sie trat aus der Dusche, trocknete sich ab und nahm sich vor, über Gedächtnisverlust so schnell wie möglich im Internet zu recherchieren. Eigentlich müsste auch ihre Mutter etwas zu dem Thema beisteuern können, denn sie war Medizinerin, genauer: Chirurgin, und zwar eine sehr gute.

Doch irgendetwas hielt Victoria davon ab, sie um ihren Rat zu fragen. Sie stellte sich das Gespräch wie folgt vor.

„Hallo, Mum, du, ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung, wann ich dieses Tattoo bekommen habe. Hat das was Schlimmes zu bedeuten? Ich meine, bin ich jetzt krank oder verrückt oder so? Mir fehlen ein paar Stunden aus meinem Leben. Die sind wie weggeschnitten.“

No. So ging es auf keinen Fall.

Außerdem fehlten ihr keine Stunden. Sie konnte sich noch genau an den gestrigen Tag erinnern. Bis mittags war sie in der Schule gewesen, danach zwei Stunden im Park, wo sie Musik aus ihrem iPod gehört hatte, während ihre Freundin Estelle ihre halsbrecherischen Parkour-Übungen absolvierte. Gegen vier hatte Victoria genug gehabt und war noch ins Einkaufszentrum gegangen, um nach Klamotten zu schauen. Aber sie hatte nichts gefunden, was ihrem momentanen Geschmack entsprach. Die kleine Gothic-Boutique „Devil’s End“ hatte leider vor einem Monat dichtgemacht, der Laden stand noch immer leer. Frustriert war Victoria nach Hause gegangen, hatte ein paar Hausaufgaben erledigt und sich dann mit ihrer Freundin Mary-Lou vor dem Kino getroffen. Es war Dienstag, Kinotag, da kostete der Eintritt nur die Hälfte.

Sie hatten sich den neuesten Streifen mit Orlando Bloom in der Originalfassung angesehen, und beide waren sich einig gewesen, dass er schon in besseren Filmen mitgespielt hatte. Danach waren sie noch kurz auf eine Cola und ein Kräuterbaguette ins Bistro gegangen, dann nach Hause. Das war’s. Keine Zeit für ein Tattoo, absolut nicht.

Mit der Überzeugung, dass mit ihrem Kopf doch noch alles in Ordnung war, verließ Victoria das Badezimmer. Aus dem Erdgeschoss zog der Duft nach Kaffee und Aufbackbrötchen herauf. Victoria lief die Treppe hinunter und spürte, wie hungrig sie war. Sie fand es ausgesprochen nett von ihrer Mutter, dass sie Frühstück gemacht hatte, obwohl sie gerade von der anstrengenden Nachtschicht zurückgekommen war und sich wahrscheinlich nach ihrem Bett sehnte.

Susanne Bruckner saß am Küchentisch und schenkte sich gerade eine Tasse Kaffee ein, als Victoria den Raum betrat. Sie hatte die Lesebrille in die Haare geschoben. Auf der Tischkante lag die Tageszeitung.

„Hallo, Mum!“ Victoria küsste ihre Mutter auf die Wange. „Fein, dass wir zusammen frühstücken.“

„Hallo, Liebes! Ich möchte wenigstens etwas Zeit mit dir verbringen, wenn wir uns schon so wenig sehen.“

Victoria ließ sich auf einen Stuhl fallen. Sie fand, dass ihre Mutter müde aussah. In ihr blondes Haar schlichen sich die ersten grauen Strähnen ein, dabei war sie erst zweiundvierzig.

„Schlimme Nacht gehabt?“ Victoria angelte nach der Kaffeekanne.

Ihre Mutter nickte. Victoria registrierte, wie ihr Blick an dem Drachentattoo hängen blieb, aber sie verlor keine Bemerkung darüber.

Mum kennt den Drachen!

„Gestern Abend hat es einen schrecklichen Unfall gegeben, gegen acht Uhr, auf der Hauptstraße. Ein Motorradfahrer ist von der Fahrbahn abgekommen. Es hat ihn schwer erwischt, wir mussten sofort operieren. Keine Ahnung, ob er durchkommt.“ Frau Bruckner seufzte. „Es kann sein, dass du ihn kennst, er ist an deiner Schule. Armer Kerl.“

„Wie heißt er?“, fragte Victoria. Sie musste sich dazu zwingen, nicht dauernd an das Tattoo zu denken.

„Stefan Auer.“

Victoria zuckte zusammen. Natürlich kannte sie Stefan. Er war schon achtzehn, fuhr seit Kurzem immer mit einer gebrauchten Honda zur Schule und Mary-Lou stand total auf ihn.

„Ist er … ist es … wie schlimm ist es denn?“

„Es steht auf der Kippe. Seine Verletzungen sind lebensgefährlich. Er liegt jetzt im künstlichen Koma. Wir haben alles getan, was wir konnten.“ Frau Bruckner biss in ein Brötchen. Die Marmelade kleckerte auf den Teller. „Hast du deine Schulsachen gepackt?“

„Klar.“ Seit Jahren die gleiche Frage beim Frühstück.

„Auch die Sportsachen?“

„Sport?“ Victorias Augenbrauen schnellten in die Höhe.

„Na, heute ist doch Freitag“, erwiderte ihre Mutter. „Oder fällt Sport aus?“

„Nein, aber …“ Freitag? Wenn gestern Dienstag war? Mum musste sich irren! „Heute ist Freitag?“

„Sicher ist heute Freitag. Was denkst du denn? Das Wochenende steht vor der Tür! Sonst kannst du es doch kaum erwarten.“

„Oh“, machte Victoria zerknirscht. „Es ist … gestern etwas später geworden, ich bin noch nicht so ganz wach.“

Hiiiilfe, Mum! Ich kann mich an die letzten beiden Tage nicht erinnern. Was ist nur los mit mir?

„Kind, du bist ganz blass. Was ist los?“

„Nichts … äh … doch … dieser schreckliche Unfall … Das nimmt mich ziemlich mit, weißt du.“

„Ich hätte dir besser nichts davon erzählen sollen. Jedenfalls nicht beim Frühstück. Jetzt iss etwas, Liebes, sonst kommst du noch zu spät zur Schule.“ Susanne Bruckner schlug die Zeitung auf.

Victoria verrenkte sich fast den Hals, um aufs Datum zu schielen.

„Ist was, Victoria?“

„Oh … Gibst du mir auch ein Stück Zeitung?“

Susanne runzelte die Stirn. „Die liest du doch sonst nicht beim Frühstück.“

„Nur den Wirt… den Wirtschaftsteil, ich muss was nachschauen für die Schule.“

Umständlich suchte Susanne Bruckner den gewünschten Teil heraus und reichte ihn Victoria. Victorias Blick glitt sofort zum Datum.

Freitag, 17. Mai.

Ihr Herz setzte einen Schlag aus und die Buchstaben verschwammen vor ihren Augen. Die Aktienkurse tanzten auf und ab.

Warum konnte sie sich an die letzten beiden Tage nicht erinnern? Warum fehlten die nur komplett in ihrem Gedächtnis?

Victoria hatte das Gefühl, sich gleich übergeben zu müssen. Sie sprang auf, rannte aus der Küche und stürmte auf die kleine Gästetoilette, die sich gleich neben dem Eingang befand. Sie hielt ihr Gesicht über die Klobrille, aber sie musste nur zweimal würgen, ohne dass etwas kam. Nach und nach beruhigte sich ihr Magen wieder, aber sie zitterte am ganzen Körper.

„Victoria, bist du okay?“ Ihre Mutter klang besorgt, sie klopfte von außen an die Tür.

„Alles in Ordnung, Mum.“

Dabei war nichts in Ordnung, einfach gar nichts. Es konnte nichts Gutes bedeuten, wenn man sich an zwei Tage nicht erinnern konnte. Das war einfach nicht normal!

Wieder stieg die Panik in ihr hoch, eine heiße und zugleich kalte Welle. Sie verhinderte das klare Denken.

„Ist wirklich alles in Ordnung mit dir, Victoria?“, fragte ihre Mutter noch einmal.

„Ja, Mum, mach dir keine Sorgen. Ich komme gleich.“

Victoria ließ kaltes Wasser über ihre Hände und ihr Gesicht laufen, wieder und wieder, bis der Panikanfall nachließ und sie sich beruhigte.

Die Wimperntusche hatte sich aufgelöst. Von wegen wasserfest. Auf den Wangen zeigten sich schwarze Streifen. Victoria rubbelte ihr Gesicht mit dem Gästehandtuch sauber. Jetzt waren die dunklen Flecken an dem Tuch. Victoria streckte ihrem Spiegelbild die Zunge heraus, dann verließ sie die Gästetoilette und kehrte in die Küche zurück, wo ihre Mutter mit besorgter Miene auf sie wartete.

„Was war denn los?“

„Ich dachte, ich muss kotzen.“

Ihre Mum zog die Augenbrauen hoch, was Victoria gleich mit einem pampigen „Nein, ich bin nicht schwanger!“ quittierte. Sie setzte sich hin und schmierte aus reinem Trotz dick Schokoladencreme auf ein Brötchen.

Aber dann konnte sie doch nichts essen. Keinen Bissen.

Frau Bruckner stand auf und räumte das benutzte Geschirr in die Spülmaschine. „Ich leg mich dann mal hin“, sagte sie. „Ich kann kaum noch die Augen offen halten – trotz des Kaffees. Es war wirklich eine anstrengende Nacht.“ Sie streckte sich einen Moment, drückte seufzend ihr Kreuz durch und ging dann zur Tür.

„Nacht, Mum. Schlaf gut.“

„Danke, Victoria. Bis später.“

Victoria hörte, wie ihre Mutter die Treppe hochging. Sie biss sich auf die Lippe. Nein, bitte kein neuer Panikanfall! Sie schenkte sich Kaffee nach, schaute zur Uhr und spurtete dann noch einmal hoch in ihr Zimmer, um Schulrucksack und Sporttasche zu holen. Beides stand bereits neben der Tür. Victoria stutzte. Die Sportsachen waren gepackt? Und auch die richtigen Bücher für Freitag? Dann musste sie das gestern Abend getan haben. Und das hieß, dass sie gestern Abend noch im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte gewesen war.

Was ist heute Nacht geschehen?

Es war zum Wahnsinnigwerden.

Die Haustür fiel hinter Victoria ins Schloss. Das Geräusch klang wie immer. Auch Victorias Schritte auf dem Kiesweg hörten sich an wie gewohnt. Ein herrlicher, vollkommener Frühlingsmorgen.

Victoria presste die Lippen zusammen und beschleunigte ihren Schritt. Sie musste den Bus erwischen. Ihr Magen fühlte sich an, als sei er mit Zement gefüllt, obwohl sie ja nichts gegessen hatte. Mechanisch setzte sie die Füße voreinander, öffnete das Gartentor und schloss es hinter sich. Wie jeden Tag. Als wäre alles ganz normal. Dabei war nichts mehr normal …

Der Bus war pünktlich, und Victoria musste die letzten Meter rennen, um ihn noch zu erwischen. Sie stieg in der Mitte ein und setzte sich ganz nach hinten.

Mary-Lou begrüßte sie mit einem freundlichen Grinsen. Aus ihren Ohrstöpseln drang Musik. Ihre flammend roten Haare kamen Victoria noch kürzer vor als sonst.

„Warst du schon wieder beim Frisör?“

Mary-Lou zog einen Ohrstöpsel aus dem Ohr. „Nein, selbst gemacht. Ich habe jetzt so einen Kurzhaarschneider. Spart einen Haufen Geld. Hey, aber habe ich dir das nicht schon gestern erzählt?“

„Sorry, aber ich stehe heute irgendwie neben mir“, murmelte Victoria.

Mary-Lou grinste breit und ließ ihren Kaugummi schnalzen. „Zu viel gebechert gestern?“

„Wenn’s das wäre.“ Victoria seufzte.

„Alles klar bei dir?“, fragte Mary-Lou misstrauisch.

Victoria nickte automatisch. Hatte ihr vielleicht gestern Abend jemand K.-o.-Tropfen ins Glas geträufelt? Konnte sie sich deswegen an nichts mehr erinnern? Aber warum waren dann gleich zwei ganze Tage gelöscht? Sie fand einfach keine Erklärung dafür.

„Hallo, Erde an Victoria!“ Mary-Lou winkte vor ihren Augen. „Jemand zu Hause? Ich habe dich gefragt, ob du glaubst, dass wir heute in Bio eine Arbeit schreiben. Der Ritter hat doch eine Vorliebe, seine unangekündigten Tests freitags zu schreiben, damit einem auch ja das Wochenende versaut ist.“

„Bio?“, wiederholte Victoria lahm. Hatte sie das Biobuch überhaupt eingepackt? Oh ja, doch, ein Zombie hatte ja am Donnerstagabend die richtigen Bücher in Victorias Rucksack gestopft. Sie seufzte. „Mary-Lou, ist es dir schon mal passiert, dass du Sachen nicht mehr weißt, die du eigentlich wissen müsstest?“

„Das passiert mir doch ständig.“ Mary-Lou ließ ihren Kaugummi ploppen. „Besonders in Bio. Das mit dem Gen-Zeugs kapier ich einfach nicht, es ist so kompliziert. Das kann ich mir tausendmal durchlesen. Diese komischen Spiralen und so. Und dann solche Wörter wie Desoxyribonukleinsäure … Dabei ist das Thema eigentlich spannend. Vor allem, wenn es ums Klonen geht. Ist es nicht total verrückt, dass der Klon viel kürzer lebt als das Original? Dass man praktisch die Jahre von seiner Lebenszeit subtrahieren muss, die das Original bis zum Zeitpunkt des Klonens schon gelebt hat? Irgendwie fies, finde ich … So als wollte die Natur nicht, dass man ihr ins Handwerk pfuscht.“

„Hm“, machte Victoria nur. Sie hatte nicht zugehört.

Wie können mir zwei Tage fehlen? Ich muss mich doch erinnern können, muss, muss, muss!

„Hey“, Mary-Lou stieß sie mit dem Ellbogen an, „was ist los mit dir? Irgendetwas stimmt doch nicht. Ich kenne dich schließlich …“

„Ich habe Angst“, stieß Victoria hervor. „Verdammte Angst.“

Mary-Lou zog die dünn gezupften Augenbrauen hoch. „Wovor? Was ist passiert? Du kannst mir alles sagen, hey, vielleicht kann ich dir helfen! Macht dir jemand aus der Szene Ärger?“

Victoria schüttelte wieder den Kopf. Sie tippte auf ihr Tattoo. „Kannst du dir vorstellen, dass ich mich … heute Morgen nicht mehr daran erinnern konnte, dass ich mir das Tattoo habe stechen lassen?“

Nanu! Der Drache kam ihr verändert vor. Seine Augenfarbe war nicht mehr rot, sondern orange!

„Na ja, okay, vielleicht hast du es ja verdrängt, wegen der Schmerzen beim Stechen oder so“, überlegte Mary-Lou. „Die Erinnerung blendet manchmal unangenehme Dinge aus.“

„Dann muss in den letzten beiden Tagen etwas Schlimmes passiert sein“, flüsterte Victoria. „Mary-Lou, mir fehlen zwei Tage! Heute Morgen habe ich geglaubt, es sei Mittwoch. Ich kann mich nicht erinnern, was am Mittwoch und am Donnerstag war. Totaler Blackout. Achtundvierzig Stunden sind aus meinem Gedächtnis gelöscht, einfach so!“

Mary-Lou starrte sie an, als käme sie von einem anderen Stern. „Krass“, sagte sie dann.

„Ich habe langsam das Gefühl, ich verliere den Verstand, ehrlich …“, murmelte Victoria.

„Ach, Unsinn“, sagte Mary-Lou. „Es gibt tausend Gründe, warum du dich nicht erinnern kannst. Ein Schock vielleicht! Irgendetwas, was dir gestern Abend passiert ist. Bist du wieder mit deinen Leuten unterwegs gewesen?“

„Ich weiß es doch nicht …“

„Ach so, klar. Sorry.“ Mary-Lou wandte den Kopf und blickte aus dem Busfenster.

Was ist gestern Abend passiert? Habe ich etwas Schlimmes beobachtet? War ich vielleicht in einen Unfall verwickelt und bin auf den Kopf gefallen oder so? Gehirnerschütterung, Schleudertrauma, Filmriss – vielleicht gab es eine ganz natürliche Erklärung … Aber hätte sie da nicht Schmerzen haben müssen? Oder bei K.-o.-Tropfen zumindest einen dicken Kopf?

Sie hatte nicht einmal einen auffallenden blauen Fleck. Sehr mysteriös!

Da fiel ihr wieder der Unfall ein, von dem ihre Mutter gesprochen hatte. Das Motorrad …

„Weißt du, was mir meine Mutter heute erzählt hat?“, fragte Victoria.

Mary-Lous Kopf fuhr herum. „Na, spann mich nicht auf die Folter!“

„Stefan Auer … Er … er hatte einen schlimmen Unfall. Meine Mum sagt, er liegt nach einer Notoperation im künstlichen Koma.“

„Nein!“ Das Blut wich aus Mary-Lous Gesicht. Ihre Lippen fingen an zu zittern. „Bist du sicher? Stefan … Oh mein Gott!“ Sie war völlig geschockt.

Victoria legte den Arm um sie, obwohl ihr selbst zum Heulen zumute war. „Es tut mir leid! Ich wollte dich nicht erschrecken. Er … er kommt bestimmt durch, Mary-Lou. Die Klinik ist gut … und alle sagen, dass Mum eine tolle Chirurgin ist, die beste.“ Sie wollte nicht angeben, sondern Mary-Lou nur Hoffnung machen.

„Meinst du, ich kann ihn besuchen?“ Mary-Lou hob den Kopf. Sie war total verknallt in Stefan, das wusste Victoria, nur Stefan hatte davon keine Ahnung.

„Ich nehme an, dass er auf der Intensivstation liegt, und dorthin dürfen normalerweise nur Familienangehörige.“

„Kann deine Mum nicht dafür sorgen, dass sie eine Ausnahme machen? Für mich?“

„Vielleicht“, antwortete Victoria vorsichtig. „Ich kann sie ja mal fragen.“

Mary-Lou drückte Victorias Hand. „Danke“, flüsterte sie. Sie schniefte und suchte in ihrem Rucksack nach einem Taschentuch. Sie fand auch einen kleinen Spiegel und kontrollierte ihr Make-up. „Mann, was sind wir zwei Heulsusen heute Morgen.“ Mühsam versuchte sie, ihre Tränen zu unterdrücken.

Der Bus hielt vor dem Edith-Stein-Gymnasium, einem großen, gelb angestrichenen Gebäude. Die Schule hatte erst vor Kurzem fünfzigjähriges Jubiläum gefeiert. Vor dem schmiedeeisernen Schultor wartete Stella auf die beiden Freundinnen. Sie hatte auf ihrer Stirn ein Pflaster und Schrammen an den Armen.

„Oh, hast du dich verletzt?“, fragte Victoria erschrocken, als sie ihre Freundin erblickte.

Stella warf ihr blondes Haar zurück. „Du weißt doch, dass ich vorgestern ausgerutscht bin, weil ich eine Sekunde lang unkonzentriert war. Oder hast du das vergessen?“

„Shit!“, stieß Victoria verzweifelt aus und lehnte sich gegen den Zaun. „Das weiß ich auch nicht mehr …“

„Was ist denn mit ihr los?“, fragte Stella Mary-Lou. „Und du siehst auch so aus, als hättest du geheult. Kann mich mal jemand aufklären?“

„Stefan liegt im Koma“, murmelte Mary-Lou. „Schwerer Unfall. Es ist nicht sicher, ob er durchkommt …“

Stella wurde blass. Sie nahm Mary-Lou stumm in den Arm. Dann wandte sie sich an Victoria, um sie ebenfalls zu umarmen.

„Mir fehlen 48 Stunden in der Erinnerung, und ich habe keine Ahnung, warum“, sagte Victoria mit belegter Stimme.

„Echt?“, fragte Stella nach.

Victoria nickte. Sie tippte auf ihr Tattoo. „Mittwoch und Donnerstag sind einfach wie ausgelöscht. Ich kann mich auch nicht daran erinnern, dass ich mir das Drachentattoo habe stechen lassen.“

Stella sah bestürzt aus.

„Irgendetwas muss sie so schockiert haben, dass die zwei Tage weg sind“, meinte Mary-Lou. „Das ist jedenfalls meine Theorie.“

„Wo warst du gestern Abend?“, fragte Stella.

Victoria hob die Schultern. „Ich habe nicht den blassesten Schimmer.“

„Das habe ich sie auch schon gefragt“, sagte Mary-Lou.

„Aber gestern Abend muss noch alles in Ordnung gewesen sein, denn mein Schulrucksack war heute Morgen gepackt“, fügte Victoria hinzu.

„Dann muss heute Nacht etwas passiert sein“, vermutete Mary-Lou. „Vielleicht warst du wieder auf dem Friedhof mit deinen Freunden – und dort ist etwas Schreckliches geschehen. Eine schwarze Messe …“

„Au Mann!“, entfuhr es Victoria. „Könnt ihr mal aufhören, euch darüber lustig zu machen, dass ich einfach nur andere Musik höre und mich gern schwarz anziehe?!“

„Aber ihr geht auf Friedhöfe“, hakte Mary-Lou nach.

„Ja, aber nicht ständig.“ Victoria strich wütend ihr Haar zurück. Sie regte sich jedes Mal schrecklich auf, wenn andere Leute meinten, sie wüssten genau, was Gothic ausmachte. Bisher hatte sie ihre beiden Freundinnen noch nicht dazu bewegen können, einmal zu einem Treffen mitzukommen. Dann würden sie sich solche Kommentare sicher sparen. Besonders bei Stella, die so gern blutige Horrorromane las, ging oft die Fantasie durch …

„Ja, ist schon gut.“ Stella legte Victoria beruhigend die Hand auf den Arm. „Du weißt also nicht, was heute Nacht passiert ist. Okay, dann werden wir es gemeinsam herausfinden. Es gibt sicher einen ganz plausiblen Grund.“ Sie lächelte Victoria an.

Victoria zog ihren Arm zurück, noch immer leicht verstimmt. Aber Stella hakte sie einfach unter und gemeinsam betraten sie den Schulhof. Alles schien wie immer … Die Kleinen, die eine Coladose durch die Gegend kickten, die zerrupften Rosen am Spalier, der leicht hinkende Hausmeister, der in seinem grauen Mantel einen Getränkekasten ins Gebäude trug … Ein ganz normaler Tag lag vor ihnen.

Leider ist überhaupt nichts normal! Victoria runzelte grimmig die Stirn.

„Kannst du deine Mum fragen, ob ich Stefan nach der Schule besuchen kann?“, bat Mary-Lou, als sie ihr Klassenzimmer erreichten.

„Ja, klar.“ Victoria zog ihr Handy aus der Tasche. Dann fiel ihr ein, dass sich ihre Mutter hingelegt hatte, und sie steckte es wieder zurück. „Ich ruf sie später an. Jetzt schläft sie, sie hatte eine anstrengende Nacht.“

„Okay.“ Mary-Lou nickte. „Also später.“

Die drei Freundinnen betraten das Klassenzimmer und setzten sich ganz nach hinten, wo ihre Plätze waren.

Der Unterricht begann mit Mathematik – Stochastik. Frau Pinkhoff, eine dünne, farblose Person, die aussah, als gäbe es keine Freude in ihrem Leben, versuchte, die Klasse 10a in die Geheimnisse der Wahrscheinlichkeitsrechnung einzuführen. Sie zog das Mathematikbuch aus ihrer fliederfarbenen Aktentasche und schlug es auf. Dann glitt ihr Blick über die Schüler und Schülerinnen, auf der Suche nach einem Opfer. „Estelle, würden Sie bitte so freundlich sein und nach vorne kommen?“

Stella erhob sich zu ihrer stattlichen Länge von fast 1,80 Meter und ging nach vorne. Sie war das größte Mädchen in der Klasse und völlig durchtrainiert. Einige Jungs unkten, Muskeln bei Mädchen seien unsexy, aber Stella ignorierte solches Geschwätz. Parkour war ihre Leidenschaft und dazu brauchte man die totale Körperbeherrschung.

Trotzdem war ihr Gang wiegend, als sie zur Tafel schritt. Sie bewegte sich wie ein Model auf dem Laufsteg. Victoria sah ihr bewundernd nach. Stella war einfach unglaublich. Sie hatte ernsthaft vor, einmal als Stuntfrau beim Film zu arbeiten – und wenn sie so weitermachte, dann würde sie es auch schaffen. Vielleicht würde sie eines Tages sogar ein James-Bond-Girl doubeln. Victoria konnte es sich jedenfalls gut vorstellen.

„Bitte erklären Sie die Begriffe Merkmal, Merkmalsträger und Merkmalsausprägung anhand eines Beispiels“, verlangte Frau Pinkhoff.

Stella verdrehte kurz die Augen, griff nach der Kreide und fing an, große und kleine Kreise an die Tafel zu malen.

„Die Kreise sollen weiße Kugeln darstellen. Die weißen Kugeln sind der Merkmalsträger …“

In der Pause versuchte Victoria, ihre Mutter anzurufen, aber niemand nahm ab.

„Sie schläft tief und fest“, sagte Victoria zu Mary-Lou. „Aber ich probiere es später noch einmal. Gewöhnlich steht sie gegen Mittag auf und legt sich nachmittags noch mal für ein Stündchen hin, wenn sie Nachtschicht hatte.“

„Okay.“ Mary-Lou nagte an ihrer Unterlippe. „Was meinst du? Wird Stefan durchkommen? Was bedeutet künstliches Koma? Deine Mum ist doch Ärztin, da weißt du sicher Bescheid.“

„Ich weiß nur, dass manche Patienten nach einer schweren OP in künstlichem Koma gehalten werden, damit sich der Körper besser erholen kann“, antwortete Victoria.

Mary-Lou nickte gedankenverloren. „Stell dir vor, er stirbt“, murmelte sie. „Und er erfährt nie, dass ich … na ja, also … wie meine Gefühle für ihn sind. Warum habe ich mich nur nie getraut, ihn anzusprechen und mich mit ihm zu verabreden? Jetzt ist es vielleicht zu spät … für immer …“ Ihre großen blauen Augen füllten sich mit Tränen.

Stella legte den Arm um Mary-Lou. „Beruhige dich! Wenn er aus dem Koma aufgewacht ist und auf der normalen Station liegt, kannst du ihn ja jeden Tag besuchen. Er wird sich ganz sicher freuen. Und er kann nicht weglaufen, wenn du mit ihm redest.“ Sie gab Mary-Lou einen aufmunternden Rippenstoß. „Komm, alles wird gut!“

Victoria hatte noch immer ihr Handy in der Hand. Sie las die Nachrichten, die am Mittwoch und Donnerstag eingegangen waren, und auch die Mitteilungen, die sie während dieser beiden Tage abgeschickt hatte. Nicht ein Hauch von Erinnerung … „Verdammt!“ Am liebsten hätte sie mit ihrem Kopf gegen die Wand geschlagen, um ihrem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen. Frustriert steckte Victoria ihr Handy wieder ein und war den Rest der Pause sehr schweigsam.

In der dritten und vierten Stunde hatte die Klasse Sport, getrennt nach Mädchen und Jungs. Victoria versuchte alles zu verdrängen, was geschehen war, und lief mit den anderen mit, um sich aufzuwärmen. Aber schon nach der ersten Runde auf dem Rasen ging ihr dermaßen die Puste aus, dass sie Angst hatte, ohnmächtig zu werden. Sie setzte sich am Rand ins Gras, winkelte die Knie an und wartete darauf, dass sich ihr Herzschlag beruhigte. Die anderen Mädchen zogen an ihr vorüber. Stella, für die das Ganze ein Kinderspiel war, stoppte und fragte: „Was ist los, Victoria?“

Victoria schüttelte nur den Kopf. „Ich kann heute irgendwie nicht.“ Sie griff nach ihrer Wasserflasche und nahm einen Schluck. Das Wasser war lauwarm und schmeckte nach Plastik.

Stella ließ sich neben ihr ins Gras fallen. „Geh am besten nach Hause.“

„Das bringt mir die beiden fehlenden Tage auch nicht zurück.“ Victoria schnitt eine Grimasse. „Ich habe das Gefühl, verrückt zu werden.“

„Du solltest zu einem Arzt gehen oder zu einem Psychologen.“

„Und wenn sie mich dann in die geschlossene Abteilung stecken?“