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Götter, Riesen und magisches Bowling Der Donnergott Thor hat mal wieder seinen Hammer verloren – eine ziemlich beunruhigende Angewohnheit, immerhin handelt es sich dabei um die mächtigste Waffe der Neun Welten! Und dieses Mal ist er zu allem Übel in die Hände des Feindes geraten. Magnus Chase und seine Freunde müssen den Hammer so schnell wie möglich zurückholen, denn ohne ihn ist die Welt der Sterblichen einem Angriff von Riesen wehrlos ausgeliefert. Der Weltuntergang Ragnarök droht! Um ihr Ziel zu erreichen, benötigen die Freunde einen Verbündeten – und das ist ausgerechnet Loki, der Gott der Lügen und Streiche. Leider ist Loki die einzige Person, die einen Deal für die Rückgabe des Hammers aushandeln kann – doch der Preis für seine Hilfe ist hoch. Aus dem Universum von "Percy Jackson" und "Die Kane-Chroniken": Magnus Chase Der 16-jährige Magnus Chase lebt seit dem mysteriösen Tod seiner Mutter auf der Straße. Mit Diebstählen hält er sich über Wasser – bis er eines Tages von seinem besonderen Erbe erfährt: Magnus ist der Sohn des nordischen Gottes Frey und soll die Welt vor dem Untergang retten. In der Fantasy-Trilogie überführt Rick Riordan alte Sagen und Legenden in moderne Geschichten und schafft es, Leser*innen überall auf der Welt für die nordische Mythologie zu begeistern. ***Feuerriesen, Walküren und nordische Götter – packende Fantasy für Leser*innen ab 12 Jahren und für alle Fans der nordischen Mythologie***
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Veröffentlichungsjahr: 2017
Rick Riordan:
Aus dem Englischen von Gabriele Haefs
Der Gott Apollo fällt vom Himmel direkt in ein paar Mülltonnen – er ist bei Zeus in Ungnade gefallen und wurde zur Strafe seiner Unsterblichkeit beraubt! Prompt wird er auch noch überfallen, doch zum Glück springt ihm Meg zur Seite – frech, kampflustig, höchstens zwölf und zweifelsfrei eine Halbgöttin. Zusammen machen sie sich auf nach Camp Half-Blood, doch dort lauern weitere Gefahren. Und noch dazu funktioniert das Orakel von Delphi nicht mehr, denn es ist immer noch von Apollos altem Feind Python besetzt …
Neue Abenteuer aus der Welt der Götter, und auch mit Percy Jackson gibt es ein Wiedersehen!
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Glossar
Die Neun Welten
Runen
Vita
Für J. R. R. Tolkien, der mir die Welt der nordischen Mythologie eröffnet hat
1Eins hab ich jetzt gelernt: Wenn ihr eine Walküre zum Kaffee einladet, sitzt ihr am Ende mit der Rechnung und einer Leiche da.
Ich hatte Samirah al-Abbas seit fast sechs Wochen nicht mehr gesehen, und als sie dann ohne Vorwarnung anrief und erklärte, wir müssten über eine Sache von Leben und Tod reden, sagte ich sofort zu.
(Technisch gesehen bin ich ja schon tot, was bedeutet, dass die Sache mit »Leben und Tod« nicht so ganz zutraf, aber dennoch … Sam schien sehr besorgt zu sein.)
Sie war noch nicht da, als ich im Thinking Cup in der Newbury Street ankam. Dort war es wie immer überfüllt, deshalb stellte ich mich für einen Kaffee an. Einige Sekunden später kam Sam angeflogen – und zwar richtig, einfach so über die Köpfe der Cafégäste hinweg.
Niemand zuckte auch nur mit der Wimper. Normale Sterbliche können magischen Kram nicht so gut verarbeiten, was praktisch ist, denn sonst würden die Leute aus Boston ständig voller Panik vor Riesen, Trollen, Ungeheuern und Einherjern mit Kriegsäxten und Caffè Latte davonrennen.
Sam landete in ihrer Schuluniform neben mir – weiße Turnschuhe, Khakihose und ein langärmliges blaues Hemd mit dem Logo der King Academy. Ein grüner Hidschab bedeckte ihre Haare. An ihrem Gürtel hing eine Axt. Ich war ziemlich sicher, dass die Axt nicht zur Schuluniform gehörte.
Ich freute mich zwar sehr, sie zu sehen, registrierte aber auch, dass ihre Augenringe dunkler waren als sonst. Sie schwankte, als sie nun vor mir stand.
»He«, sagte ich. »Du siehst schrecklich aus.«
»Ich find’s auch nett, dich zu sehen, Magnus.«
»Nein, ich meine … nicht schrecklich. Sondern schrecklich erschöpft.«
»Soll ich dir einen Spaten holen, damit du das Grab noch ein bisschen schneller schaufeln kannst?«
Ich hob resigniert die Hände. »Wo hast du dich in den vergangenen anderthalb Monaten denn rumgetrieben?«
Sie straffte die Schultern. »Ich hab in diesem Halbjahr so viel zu tun, das bringt mich um. Nach der Schule geb ich noch Nachhilfe. Und dann hab ich ja meinen Teilzeitjob, wie du weißt, und muss die Seelen der Toten einsammeln und streng geheime Erledigungen für Odin übernehmen.«
»Die heutige Jugend und ihre vollgestopften Stundenpläne.«
»Und dazu kommt dann noch … der Flugunterricht.«
»Der Flugunterricht?« Wir bewegten uns in der Schlange vorwärts. »Mit einem Flugzeug?«
Ich wusste, dass Sam eines Tages Pilotin werden wollte, aber ich hatte nicht gewusst, dass sie schon Unterricht nahm. »Geht das denn mit sechzehn?«
Ihre Augen funkelten vor Erregung. »Meine Großeltern hätten sich das niemals leisten können, aber ein Freund der Fadlans leitet eine Flugschule. Und die haben dann Jid und Bibi überredet …«
»Ah.« Ich grinste. »Die Flugstunden sind also ein Geschenk von Amir.«
Sam errötete. Sie ist der einzige verlobte Teenager in meiner Bekanntschaft, und ich finde es total süß, wie sie immer aus der Fassung gerät, wenn Amir Fadlan erwähnt wird.
»Dieser Unterricht ist das umsichtigste, verständnisvollste …« Sie seufzte sehnsüchtig. »Aber genug davon. Ich hab dich nicht herbestellt, um über meinen Stundenplan zu reden. Wir müssen uns mit einem Gewährsmann treffen.«
»Einem Gewährsmann?«
»Das könnte die Chance sein, auf die ich so lange gewartet habe. Wenn seine Informationen gut sind …«
Sams Handy summte. Sie fischte es aus der Tasche, warf einen Blick aufs Display und fluchte. »Ich muss los.«
»Du bist doch gerade erst gekommen.«
»Walkürengeschäfte. Codenummer drei-acht-eins: Heroischer Tod im Anmarsch.«
»Das erfindest du.«
»Tu ich nicht.«
»Also … irgendwer glaubt, im Sterben zu liegen, und schreibt: Stürze ab. Brauche sofort Walküre, und dahinter dann eine Reihe von traurigen Emojis?«
»Ich meine mich zu erinnern, dass ich auch deine Seele nach Walhalla gebracht habe. Du hattest mir keine SMS geschickt.«
»Nein, aber ich bin etwas Besonderes.«
»Such dir einfach draußen einen Tisch«, sagte sie. »Sprich mit meinem Gewährsmann. Ich komme so schnell wie möglich zurück.«
»Ich weiß ja nicht mal, wie dein Gewährsmann aussieht.«
»Du wirst ihn sofort erkennen«, versprach Sam. »Sei tapfer. Und kauf einen Scone für mich.«
Und dann flog sie wie Supermuslima aus dem Café und ich durfte unsere Bestellung bezahlen.
Ich holte zwei große Kaffee und zwei Scones und suchte mir draußen einen Tisch.
Der Frühling war in diesem Jahr früh nach Boston gekommen. An den Kantsteinen klebten noch immer schmutzige Schneeflecken wie Zahnbelag, aber die Kirschbäume liefen über vor weißen und rosa Knospen. Geblümte Kleider in Pastelltönen blühten in den Fenstern der teuren Boutiquen. Touristen schlenderten vorbei und genossen den Sonnenschein.
Als ich im Freien saß, in meinen frisch gewaschenen Jeans, einem T-Shirt und einer Jeansjacke, ging mir auf, dass das der erste Frühling seit drei Jahren war, in dem ich nicht obdachlos sein würde.
Im vergangenen März hatte ich mich aus Mülltonnen ernährt. Ich hatte unter einer Brücke im Park geschlafen, hatte mit meinen Kumpels Hearth und Blitz herumgehangen, war den Bullen aus dem Weg gegangen und hatte einfach versucht zu überleben.
Dann, vor zwei Monaten, war ich im Kampf gegen einen Riesen getötet worden. Und war als einer von Odins vielen Einherjerkriegern im Hotel Walhalla wieder zu mir gekommen.
Jetzt hatte ich saubere Kleidung. Ich duschte jeden Tag. Ich schlief jeden Abend in einem behaglichen Bett. Ich konnte an diesem Cafétisch sitzen und Dinge essen, für die ich bezahlt hatte, und ich brauchte keine Angst davor zu haben, vom Personal vertrieben zu werden.
Seit meiner Wiedergeburt hatte ich mich an allerlei Seltsamkeiten gewöhnt. Ich war durch die Neun Welten gereist und nordischen Gottheiten, Elfen, Zwergen und allerlei Monstern begegnet, deren Namen ich nicht aussprechen konnte. Ich hatte ein magisches Schwert errungen, das derzeit in Gestalt eines Runensteins um meinen Hals hing. Ich hatte sogar mit meiner Cousine Annabeth ein Gespräch über die griechischen Götter geführt, die sich in New York herumtrieben und Annabeth das Leben schwer machten, und dieses Gespräch hätte fast mein Gehirn zum Schmelzen gebracht. Offenbar war Nordamerika total götterverseucht. Wir hatten es mit einer ausgewachsenen Epidemie zu tun.
Ich hatte gelernt, das alles zu akzeptieren.
Aber wieder in Boston zu sein, an einem schönen Frühlingstag, und wie ein ganz normaler sterblicher Jugendlicher abzuhängen?
Das kam mir komisch vor.
Ich hielt in den Fußgängerscharen Ausschau nach Sams Gewährsmann. Du wirst ihn sofort erkennen, hatte sie versprochen. Ich fragte mich, über welche Informationen dieser Typ wohl verfügte und warum Sam meinte, es gehe um Leben und Tod.
Mein Blick blieb an einer Ladenfassade am Ende des Blocks hängen. Über dem Eingang leuchtete noch immer stolz der Name in Messing und Silber: BLITZEN’S BEST. Das Fenster in der Eingangstür war von innen mit Papier zugeklebt, und darauf war in aller Eile mit rotem Filzstift gekritzelt worden: Wir bauen um. Bald wieder für Sie da!
Ich hatte gehofft, Samirah danach fragen zu können. Ich hatte keine Ahnung, warum mein alter Freund Blitz so plötzlich verschwunden war. Vor einigen Wochen war ich eines Tages am Laden vorbeigegangen und hatte festgestellt, dass er geschlossen war. Seither hatte ich nichts mehr von Blitzen oder Hearthstone gehört, und das sah ihnen gar nicht ähnlich.
Bei diesem Gedanken machte ich mir solche Sorgen, dass ich unseren Gewährsmann erst entdeckte, als er schon fast vor mir stand. Aber Sam hatte recht gehabt: Er fiel durchaus auf. Schließlich sieht man nicht jeden Tag eine Ziege im Trenchcoat.
Er hatte sich einen Zylinder zwischen die Hörner geklemmt. Auf seiner Nase balancierte eine Sonnenbrille. Sein Trenchcoat verfing sich immer wieder zwischen seinen Hufen.
Trotz dieser raffinierten Verkleidung erkannte ich ihn sofort. Ich hatte diese Ziege in einer anderen Welt getötet und verspeist, und das ist eine Art von Kontaktaufnahme, die man nicht vergisst.
»Otis«, sagte ich.
»Pssst!«, sagte er. »Ich bin inkognito. Nenn mich … Otis.«
»Ich bin nicht sicher, ob inkognito so funktioniert, aber von mir aus.«
Otis alias Otis kletterte auf den Stuhl, den ich für Sam reserviert hatte. Er setzte sich auf die Hinterbeine und legte die Vorderhufe auf den Tisch. »Wo steckt die Walküre? Ist sie auch inkognito?« Er starrte die nächstgelegene Kuchentüte an, als ob Sam sich darin versteckt haben könnte.
»Samirah musste eine Seele einsammeln«, sagte ich. »Sie ist bald wieder hier.«
»Es muss schön sein, einen Sinn im Leben zu haben.« Otis seufzte. »Na ja, danke für das Essen.«
»Das ist nicht für …«
Otis schnappte sich die Tüte mit Sams Scone und fing an, sie zu verzehren, mit Papier und allem.
Ein älteres Paar am Nachbartisch starrte meinen Ziegenfreund an und lächelte. Vielleicht erschien er ihren sterblichen Sinnen als niedliches Kind oder lustiger Schoßhund.
»Also.« Es fiel mir schwer, zuzusehen, wie Otis den Scone fraß und dabei das Revers seines Trenchcoats vollkrümelte. »Du wolltest uns etwas erzählen?«
Otis rülpste. »Es geht um meinen Herrn.«
»Thor.«
Otis zuckte zusammen. »Ja, den.«
Wenn ich für den Donnergott gearbeitet hätte, wäre ich bei Thors Erwähnung auch zusammengezuckt. Otis und sein Bruder Marvin zogen seinen Karren. Sie lieferten Thor außerdem einen niemals endenden Vorrat an Ziegenfleisch. Und jeden Abend brachte Thor sie um und verzehrte sie zum Abendessen. Jeden Morgen ließ er sie auferstehen. Deshalb solltet ihr brav zur Schule gehen, Kinder – damit ihr euch später nicht als magische Ziege verdingen müsst.
»Ich habe endlich eine Spur«, sagte Otis. »Zu diesem gewissen Objekt, das mein Herr vermisst.«
»Du meinst seinen Ham…«
»Sag das nicht laut!«, warnte Otis. »Aber, ja, seinen Ham.«
Ich dachte zurück an den Januartag, als ich dem Donnergott zum ersten Mal begegnet war. An gesellige Runden um das Lagerfeuer, wo wir Thor zuhörten, wie er furzte, sich über seine Lieblingsfernsehserien verbreitete, furzte, sich über seinen verlorenen Hammer beklagte, mit dem er Riesen erschlagen und seine Lieblingsfernsehserien empfangen hatte, und furzte.
»Ist der noch immer verschwunden?«, fragte ich.
Otis trommelte mit den Vorderhufen auf die Tischplatte. »Na ja, offiziell natürlich nicht. Wenn die Riesen mit Sicherheit wüssten, dass Thor seinen Du-weißt-schon nicht mehr hat, würden sie in die Welt der Sterblichen eindringen und alles zerstören und ich würde ganz tief in der Soße stecken. Aber inoffiziell … ja. Wir suchen seit Monaten erfolglos. Thors Feinde werden immer dreister. Sie spüren seine Schwäche. Ich habe meinem Therapeuten erzählt, dass es mich daran erinnert, wie ich als Zicklein im Ziegenstall stand und diese gemeinen Typen sich vor mir aufbauten.« Der Blick aus Otis’ gelben Schlitzpupillen wanderte in die Ferne. »Ich glaube, damals hat mein traumatischer Stress eingesetzt.«
Das war mein Stichwort, um die nächsten Stunden mit Otis über seine Gefühle zu sprechen. Aber da ich ein Mistkerl bin, sagte ich einfach, »Das kann ich total nachvollziehen«, und wechselte das Thema.
»Otis«, sagte ich, »bei unserer letzten Begegnung haben wir Thor einen netten Eisenstab als Ersatzwaffe besorgt. Er ist also nicht gerade wehrlos.«
»Nein, aber der Stab ist nicht so gut wie der … Ham. Er ruft bei den Riesen nicht die gleiche Angst hervor. Und Thor ärgert sich, wenn er versucht, auf dem Stab seine Serien zu sehen. Der Bildschirm ist winzig und die Auflösung grottenschlecht. Ich mag es nicht, wenn Thor sich ärgert. Dann fällt es mir schwer, meinen inneren glücklichen Ort zu finden.«
Hier ergab ganz schön viel keinen Sinn: Warum es Thor solche Mühe bereitete, seinen eigenen Hammer ausfindig zu machen, wie er den Verlust so lang vor den Riesen hatte geheim halten können, und die Vorstellung, dass Otis die Ziege einen inneren glücklichen Ort haben könnte.
»Thor will also unsere Hilfe«, vermutete ich.
»Nicht offiziell.«
»Nein, natürlich nicht. Wir werden allesamt Trenchcoats und Sonnenbrillen tragen müssen.«
»Das ist eine hervorragende Idee«, sagte Otis. »Jedenfalls habe ich der Walküre gesagt, dass ich sie auf dem Laufenden halte, da sie mit Odins … du weißt schon, seinen Sondereinsätzen beauftragt wird. Das ist jetzt die erste gute Spur, die ich habe, was den Aufenthaltsort des gewissen Objekts angeht. Meine Quelle ist zuverlässig. Er ist auch ein Ziegenbock und geht zum selben Therapeuten wie ich. Er hat auf seinem Hofplatz ein Gespräch belauscht.«
»Wir sollen also einer Spur folgen, die auf Bauernhofklatsch beruht, den du im Wartezimmer deines Therapeuten aufgeschnappt hast.«
»Das wäre super.« Otis beugte sich so weit vor, dass ich schon Angst hatte, er könnte vom Stuhl fallen. »Aber ihr müsst vorsichtig sein.«
Ich musste mir gewaltige Mühe geben, um nicht zu lachen. Ich hatte mit Feuerriesen Fang-die-Lavakugel gespielt. Ich hatte über den Dächern von Boston Adlersurfing betrieben. Ich hatte die Weltenschlange aus der Massachusetts Bay gefischt und den Fenriswolf mit einem Garnknäuel besiegt. Und jetzt sagte diese Ziege, ich sollte vorsichtig sein.
»Und wo steckt der Ham denn nun?«, fragte ich. »Jotunheim? Niflheim? Thorfurzheim?«
»Du machst Witze.« Otis’ Sonnenbrille rutschte ihm halb über die Schnauze. »Aber der Ham ist an einem anderen gefährlichen Ort. Er ist in Provincetown.«
»Provincetown«, wiederholte ich. »An der Spitze von Cape Cod.«
Ich hatte vage Erinnerungen an diesen Ort. Meine Mom war mit mir an einem Sommerwochenende dorthin gefahren, als ich so um die acht gewesen war. Ich erinnerte mich an Strände, Salztoffee, Hummerbrötchen und eine Menge Kunstgalerien. Das Gefährlichste, was uns dort begegnet war, war eine Möwe mit Durchfall gewesen.
Otis senkte die Stimme. »In Provincetown gibt es einen Hügel – den Hügel eines Grabwichts.«
»Und ist das anders als ein normaler Hügel?«
»Allerdings. Ein Grabwicht …« Otis schauderte. »Also, ein Grabwicht ist ein mächtiges untotes Wesen, das magische Waffen anhäuft. Und Grabwichte haben ihr Grab immer in einem Hügel. Tut mir leid, es fällt mir schwer, über Grabwichte zu sprechen. Die erinnern mich an meinen Vater.«
Das warf eine Menge weiterer Fragen über Otis’ Kindheit auf, aber ich beschloss, diese Fragen seinem Therapeuten zu überlassen.
»Gibt es viele Gräber von untoten Wikingern in Provincetown?«, fragte ich.
»Nur eins, soviel ich weiß. Aber das reicht. Wenn sich das gewisse Objekt dort befindet, wird es schwer sein, es dort rauszuholen – es liegt dann tief in der Erde und wird von einem starken Zauber behütet. Du wirst deine Freunde brauchen – den Zwerg und den Elfen.«
Das wäre ja schön und gut, wenn ich nur eine Ahnung hätte, wo diese Freunde steckten. Ich hoffte, dass Sam mehr wusste als ich.
»Warum sieht Thor sich diesen Hügel nicht selbst an?«, fragte ich. »Moment … lass mich raten. Er will keine Aufmerksamkeit erregen. Oder er will uns die Gelegenheit geben, Helden zu sein. Oder es ist harte Arbeit und er möchte lieber eine Serie sehen.«
»Um fair zu sein«, sagte Otis, »die neue Staffel von Marvels Jessica Jones ist gerade neu im Streaming.«
Der Ziegenbock ist nicht schuld, sagte ich mir. Er verdient es nicht, dass ich ihm eins auf die Nase haue.
»Schön«, sagte ich. »Wenn Sam kommt, überlegen wir uns eine Strategie.«
»Ich glaube eigentlich nicht, dass ich mit dir hier warten sollte.« Otis leckte sich einen Krümel vom Revers. »Ich hätte das schon erwähnen sollen, also … jemand … oder etwas … verfolgt mich.«
Die Haare in meinem Nacken prickelten. »Du meinst, die haben dich hierher verfolgt?«
»Ich bin nicht sicher«, sagte Otis. »Ich hoffe, mit meiner Verkleidung hab ich sie abgeschüttelt.«
Na super, dachte ich.
Ich schaute mich um, konnte aber keine möglichen Verfolger sehen. »Hast du dir diesen Jemand genau angesehen?«
»Nein«, gab Otis zu. »Aber Thor hat jede Menge Feinde, die uns daran hindern würden, seinen … seinen Ham zurückzuholen. Sie würden auch nicht wollen, dass ich mich mit dir austausche, schon gar nicht über die neuesten Informationen. Du musst Samirah sagen, dass …«
FLUNK.
Seit ich in Walhalla lebte, hatte ich mich daran gewöhnt, dass manchmal tödliche Waffen aus dem Nirgendwo geflogen kamen, aber ich war doch überrascht, als jetzt eine Axt in Otis’ Brustfell steckte.
Ich warf mich über den Tisch, um ihm zu helfen. Als Sohn des Frey, des Gottes der Fruchtbarkeit und der Gesundheit, kann ich ziemlich umwerfende Erste-Hilfe-Magie liefern, wenn ich genug Zeit habe. Aber sowie ich Otis berührte, spürte ich, dass es zu spät war. Die Axt hatte sein Herz durchbohrt.
»Ach du meine Güte«, Otis hustete Blut. »Ich muss … jetzt … sterben.«
Ihm kippte der Kopf in den Nacken. Sein Zylinder kullerte über das Pflaster. Die Dame hinter uns schrie auf, als hätte sie gerade erst bemerkt, dass Otis kein niedlicher Schoßhund war. Er war unbestreitbar eine tote Ziege.
Ich musterte die Dächer in der Straße. Der Winkel, in dem die Axt feststeckte, zeigte, dass sie von irgendwo dort oben geworfen worden sein musste … ja. Ich nahm eine winzige Bewegung wahr, mit der der Angreifer verschwand … eine Gestalt in Schwarz mit einer Art Metallhelm.
Das wär’s dann mit der Tasse Kaffee in aller Ruhe. Ich riss mir den magischen Anhänger von der Halskette und nahm die Verfolgung des Ziegenkillers auf.
2Ich sollte wohl mein Schwert vorstellen.
Jack, das sind die Leute. Leute, das ist Jack.
Sein wirklicher Name ist Sumarbrander, das Schwert des Sommers, aber Jack möchte lieber Jack heißen, aus Gründen. Wenn Jack eine Runde schlafen möchte, also fast immer, hängt er an einer Kette um meinen Hals, und zwar in Gestalt eines Anhängers, in den Fehu eingekerbt ist, die Rune des Frey:
Wenn ich seine Hilfe brauche, verwandelt er sich in ein Schwert und tötet so dies und das. Manchmal tut er das, während ich ihn schwinge. Manchmal tut er es auch, während er allein durch die Luft fliegt und nervige Popsongs singt. In der Hinsicht ist er magisch.
»Was ist denn los?«, fragte er. »Wen bringen wir um?«
Jack behauptet, dass er meinen Gesprächen nicht zuhört, wenn er seine Anhängergestalt angenommen hat. Er sagt, er habe dann meistens seine Ohrstöpsel drin. Aber das glaube ich nicht, denn Jack hat gar keine Ohrstöpsel. Oder Ohren.
»Den Mörder«, rief ich und wich einem Taxi aus. »Ziege getötet.«
»Aha«, sagte Jack. »Die alte Leier also.«
Ich sprang an der Seite des Hauses von Pearson Publishing hoch. Ich hatte die beiden vergangenen Monate damit verbracht, mich mit meinen Einherjerkräften vertraut zu machen, deshalb erreichte ich mit einem Sprung ein Sims drei Stock über dem Haupteingang – kein Problem, nicht einmal mit dem Schwert in der Hand. Dann sprang ich von Fenstersims zu Mauerbrüstung an der weißen Marmorfassade hoch, und ich konzentrierte mich auf meinen inneren Hulk, bis ich oben angekommen war.
Auf der anderen Seite des Daches verschwand jetzt gerade eine dunkle zweibeinige Gestalt hinter einer Reihe von Schornsteinen. Der Ziegenkiller sah menschenähnlich aus, was einen Mord unter Ziegen ausschloss, aber ich hatte in den Neun Welten genug gesehen, um zu wissen, dass menschenähnlich nicht gleich menschlich ist. Er konnte ein Elf, ein großer Zwerg, ein kleiner Riese oder sogar ein göttlicher Axtmörder sein. (Bitte, kein göttlicher Axtmörder.)
Als ich die Schornsteine erreichte, war meine Beute schon auf das Dach des Nachbarhauses gesprungen. Das klingt vielleicht nicht so umwerfend, aber das Nachbarhaus war ein Klinkerbau, der über fünfzehn Meter weiter auf der anderen Seite eines Parkplatzes stand. Der Ziegenkiller besaß nicht einmal den Anstand, sich bei der Landung die Knöchel zu brechen. Er schlug auf dem Teerdach einen Purzelbaum und rannte dann weiter. Danach sprang er über die Newbury Street und landete auf dem Turm der Church of the Covenant.
»Ich hasse diesen Kerl«, sagte ich.
»Woher weißt du, dass es ein Kerl ist?«, fragte Jack.
Das Schwert hatte einen messerscharfen Verstand. (Tut mir leid, ich kann diese Wortspiele einfach nicht lassen.) Die lockeren schwarzen Kleider des Killers und der metallene Kriegshelm machten es schwer, sein oder ihr Geschlecht zu erraten, aber ich beschloss, ihn erst einmal als männliches Wesen zu denken. Ich weiß nicht genau, warum. Ich nehme an, die Vorstellung eines Ziegen mordenden Geschlechtsgenossen nervte noch mehr.
Ich trat zurück, nahm Anlauf und sprang auf die Kirche zu.
Ich würde euch gern erzählen, dass ich auf dem Turm landete, beim Killer die Handschellen zuschnappen ließ und erklärte: »Du wirst wegen Nutzviehmordes eingebuchtet.«
Stattdessen … Na ja, die Church of the Covenant hat so schöne bunte Glasfenster, die um 1890 von Tiffany hergestellt wurden. Ein Fenster auf der linken Seite des Gotteshauses hat oben einen fetten Sprung. Das war ich.
Ich knallte auf das schräge Kirchendach, rutschte herunter und packte mit der rechten Hand die Regenrinne. Schmerzensstrahlen jagten durch meine Fingernägel. Ich baumelte an der Kante, strampelte mit den Beinen und trat das wunderschöne Buntglasfenster mitten ins Jesuskind.
Das Gute war, dass ich mein Leben damit rettete, dass ich so gefährlich vom Dach herunterhing. Als ich noch herumzappelte, wurde von oben eine Axt geschleudert und schnitt mir die Knöpfe von der Jeansjacke. Ein Zentimeter weiter und sie hätte mir die Brust aufgeschlitzt.
»He!«, schrie ich.
Ich neige dazu, mich zu beschweren, wenn jemand mich umbringen will. In Walhalla bringen wir Einherjer uns zwar dauernd gegenseitig um, aber wir werden dann rechtzeitig zum Abendessen von den Toten auferweckt. Außerhalb von Walhalla jedoch war ich absolut tötbar. Wenn ich in Boston starb, konnte ich mit keinem kosmischen Neustart rechnen.
Der Ziegenmörder schaute vom Dachfirst auf mich herab. Den Göttern sei Dank waren ihm offenbar die Wurfäxte ausgegangen. Leider hing an seiner Seite noch immer ein Schwert. Seine Leggings und sein Kittel waren aus schwarzem Fell. Ein rußverschmiertes Kettenhemd hing lose über seiner Brust und sein schwarzer Eisenhelm war unten mit einer Art Vorhang aus Kettengeflecht versehen – in der Wikingerbranche nennen wir das eine Helmbrünne –, der seinen Hals und seinen Nacken vollständig bedeckte. Seine Züge wurden von einem Visier bedeckt, das einem zähnefletschenden Wolf ähnelte.
Natürlich einem Wolf. Alle in den Neun Welten lieben Wölfe. Es gibt Wolfsschilde, Wolfshelme, Wolfsbildschirmschoner, Wolfsschlafanzüge und Geburtstagsfeste mit Wolfsthema.
Ich dagegen stehe nicht so sehr auf Wölfe.
»Lass dir einen Rat geben, Magnus Chase.« Die Stimme des Mörders zwitscherte und wechselte dann vom Sopran zum Bariton, als würde sie von einer Maschine für Sondereffekte gefiltert. »Bleib weg von Provincetown.«
Die Finger meiner rechten Hand schlossen sich um meinen Schwertgriff. »Jack, dein Einsatz.«
»Bist du dir sicher?«, fragte Jack.
Der Mörder zischte. Aus irgendeinem Grund sind andere oft entsetzt, wenn sie feststellen, dass mein Schwert sprechen kann.
»Ich meine«, sagte nun Jack, »ich weiß, der Typ hat Otis umgebracht, aber das machen alle. Sich umbringen zu lassen gehört zu Otis’ Arbeitsplatzbeschreibung.«
»Hack ihm einfach den Kopf ab oder was auch immer!«, schrie ich.
Der Mörder, der ja kein Idiot war, drehte sich um und floh.
»Hol ihn dir!«, sagte ich zu Jack.
»Warum kriege ich immer die schweren Aufgaben?«, beschwerte sich Jack.
»Weil ich hier baumele und du nicht getötet werden kannst.«
»Bloß, weil du recht hast, ist das noch lange nicht cool.«
Ich schleuderte ihn. Jack flog in Spiralen außer Sichtweite, nahm die Verfolgung des Ziegenkillers auf und sang dabei seine eigene Version von »Shake it off«. (Ich habe ihn noch nie davon überzeugen können, dass es darin nicht »cheese graters gonna grate, grate, grate, grate« heißt.)
Obwohl ich jetzt die linke Hand frei hatte, brauchte ich einige Sekunden, um mich auf das Dach zu ziehen. Irgendwo im Norden hallte das Klirren von Klingen von den Klinkerbauten wider. Ich rannte darauf zu, sprang über die Türmchen auf dem Kirchdach und warf mich über die Berkeley Street hinweg. Dann sprang ich von Dach zu Dach, bis ich in der Ferne Jack rufen hörte: »AU!«
Die meisten Leute stürzen sich nicht ins Kampfgetümmel, um sich über das Wohlergehen ihres Schwertes zu informieren, aber genau das tat ich. An der Ecke der Boylston Street kletterte ich an einem Parkhaus hoch, erreichte Dachhöhe und sah, wie Jack … na ja, vielleicht nicht um sein Leben kämpfte, aber zumindest um seine Würde.
Jack prahlte oft, er sei die schärfste Klinge in den Neun Welten. Er könne alles durchschneiden und ein Dutzend Feinde auf einmal abwehren. Ich glaubte ihm das gern, da ich selbst erlebt hatte, wie er wolkenkratzergroße Riesen erledigte. Aber es gelang dem Ziegenkiller mühelos, Jack ans andere Ende des Daches zu drängen. Der Mörder war zwar klein, aber er war schnell und stark. Sein dunkles Eisenschwert sprühte Funken, wenn es mit Jack zusammentraf. Und immer, wenn die beiden Klingen einander berührten, schrie Jack: »Au! Au!«
Ich wusste nicht, ob Jack wirklich in Gefahr schwebte, aber ich musste ihm helfen. Da ich keine andere Waffe hatte und nicht mit bloßen Händen kämpfen wollte, sprang ich zur nächstbesten Laterne und riss sie aus dem Zement.
Das klingt wie Prahlerei, ist es aber nicht, ehrlich. Die Laterne war einfach das praktischste waffenartige Objekt, das ich finden konnte – abgesehen von einem geparkten Lexus, aber ich war dann doch nicht stark genug, um ein Luxusautomobil zu schwingen.
Ich griff den Ziegenkiller mit meiner sieben Meter langen Lampen-Lanze an. Das erregte seine Aufmerksamkeit. Als er sich zu mir umdrehte, schlug Jack zu und riss eine tiefe Wunde in den Oberschenkel des Mörders. Der Ziegenkiller grunzte und stolperte.
Das war meine Gelegenheit. Ich hätte ihn erledigen können, doch als ich noch drei Meter von ihm entfernt war, durchschnitt in der Ferne ein Heulen die Luft und ließ mich erstarren.
Meine Güte, Magnus, denkt ihr jetzt vielleicht, das war doch nur ein Heulen in der Ferne, was soll die Aufregung?
Ich habe vielleicht schon erwähnt, dass ich Wölfe nicht mag. Als ich vierzehn war, haben zwei Wölfe mit leuchtenden blauen Augen meine Mutter ermordet. Meine kürzliche Begegnung mit dem Fenriswolf hatte meine Sympathien für diese Tiere kein bisschen steigern können.
Dieses Heulen stammte eindeutig von einem Wolf. Es kam von irgendwo jenseits des Parks, hallte von den Hochhäusern wider und verwandelte mein Blut in Frostschutzmittel. Es war genau dasselbe Geräusch, das ich in der Nacht gehört hatte, in der meine Mutter gestorben war – hungrig und triumphierend, das Geheul eines Monsters, das seine Beute gefunden hat.
Der Laternenpfahl rutschte mir aus der Hand und fiel klirrend auf den Asphalt.
Jack schwebte an meine Seite. »Äh, Señor, kämpfen wir noch immer gegen diesen Typen, oder was?«
Der Mörder taumelte rückwärts. Das schwarze Fell seiner Beinüberzüge glitzerte vor Blut. »Dann beginnt es also.« Seine Stimme klang jetzt noch verzerrter. »Hüte dich, Magnus. Wenn du nach Provincetown gehst, wirst du deinen Feinden in die Hände spielen.«
Ich starrte die zähnefletschende Maske an. Ich kam mir vor, als wäre ich wieder vierzehn, allein in der Gasse hinter unserer Wohnung, in der Nacht, in der meine Mutter gestorben war. Mir fiel ein, wie ich an der Feuerleiter hochgeschaut hatte, über die ich soeben entkommen war, während ich die Wölfe in unserem Wohnzimmer heulen hörte. Dann loderten hinter den Fenstern die Flammen auf.
»Wer – wer bist du?«, brachte ich mühsam heraus.
Der Mörder lachte tief in seiner Kehle. »Falsche Frage. Die richtige Frage: Bist du bereit, deine Freunde zu verlieren? Wenn nicht, solltest du Thors Hammer verloren geben.«
Er wich an den Rand des Daches zurück und kippte hinunter.
Ich rannte an den Rand, als eine Taubenschar aufstob, sich als blaugraue Wolke erhob und über dem Schornsteinwald der Back Bay davonwirbelte. Tief unten: keine Bewegung, kein Körper, keine Spur des Mörders.
Jack kam neben mich geschwebt. »Ich hätte ihn erledigen können. Du hast mich nur überrumpelt. Ich hatte keine Zeit mehr für meine Dehnübungen.«
»Schwerter brauchen keine Dehnübungen«, sagte ich.
»Ach, entschuldigen Sie bitte, Herr Fachmann für angemessene Vorbereitungstechniken.«
Eine Wolke aus Taubenflaum segelte auf die Dachkante und klebte in verschmiertem Mörderblut fest. Ich hob eine winzige Feder auf und sah zu, wie die rote Flüssigkeit davon aufgesaugt wurde.
»Und was jetzt?«, fragte Jack. »Was war das für ein Wolfsgeheul?«
Eiswasser sickerte durch meinen Gehörgang und hinterließ in meinem Mund einen kalten, bitteren Geschmack. »Ich weiß nicht«, sagte ich. »Aber was es auch gewesen sein mag, jetzt hat es aufgehört.«
»Sollten wir mal nachsehen?«
»Nein! Ich meine … wenn wir dann festgestellt haben, woher es kommt, können wir ja doch nichts mehr ändern. Und außerdem …«
Ich musterte die blutige Taubenfeder. Ich fragte mich, auf welche Weise der Ziegenkiller so plötzlich hatte verschwinden können und was er über Thors Hammer wusste. Seine verzerrte Stimme hallte in meinen Gedanken wider: Bist du bereit, deine Freunde zu verlieren?
Etwas an dem Mörder hatte total falsch gewirkt … und doch total vertraut.
»Wir müssen mit Sam reden.« Ich packte Jacks Schwertknauf und mich überwältigte die Erschöpfung.
Der Nachteil davon, ein Schwert zu haben, das ganz allein kämpft: Was immer Jack leistete, ich bezahlte den Preis, sowie er in meine Hand zurückkehrte. Ich merkte, wie Schrammen an meinen Armen auftauchten – eine für jeden Hieb, den Jack von dem anderen Schwert eingesteckt hatte. Meine Beine zitterten, als ob ich den ganzen Morgen gerannt wäre. In meinem Hals bildete sich ein dicker Kloß – Jack schämte sich, weil der Ziegenkiller ihm entkommen war.
»He, Mann«, sagte ich. »Immerhin hast du ihm eine Wunde verpasst. Das ist mehr, als mir gelungen ist.«
»Ja, na ja …« Jack schien verlegen zu sein. Ich wusste, dass er die schlechten Erlebnisse ungern mit mir teilte. »Vielleicht solltest du dich einen Moment ausruhen, Señor. Du bist nicht in Form, um …«
»Mir geht’s gut«, sagte ich. »Danke, Jack. Das hast du gut gemacht.«
Jack hatte in einem Punkt recht: Ich brauchte Ruhe. Ich wäre gern zu einem Nickerchen in diesen netten Lexus gekrochen, aber wenn der Ziegenkiller auf dem Weg zurück zum Thinking Cup war, wenn er Sam dort überraschte …
Ich sprang über die Dächer und hoffte, dass es noch nicht zu spät wäre.
3Im Café beugte Sam sich gerade über Otis’ Leichnam.
Gäste gingen im Thinking Cup aus und ein und machten dabei einen weiten Bogen um die tote Ziege. Sie wirkten nicht beunruhigt. Vielleicht hielten sie Otis für einen bewusstlosen Obdachlosen. Einige meiner besten Freunde waren bewusstlose Obdachlose. Ich wusste sehr gut, wie sie die Vorübergehenden abschrecken konnten.
Sam sah mich stirnrunzelnd an. Unter ihrem linken Auge sah ich eine neue orange Schramme. »Warum ist unser Gewährsmann tot?«
»Lange Geschichte«, sagte ich. »Wer hat dich geschlagen?«
»Auch eine lange Geschichte.«
»Sam …«
Sie wischte meine Besorgnis beiseite. »Mir geht’s gut. Sag mir nur einfach, dass du Otis nicht umgebracht hast, weil er meinen Scone fressen wollte.«
»Nein. Aber wenn das mein Scone gewesen wäre …«
»Ha, ha. Was ist passiert?«
Ich machte mir immer noch Sorgen wegen Sams Auge, aber ich gab mir alle Mühe, die Sache mit dem Ziegenkiller zu erklären. Mittlerweile fing Otis’ Gestalt an, sich aufzulösen, er zerschmolz wie Trockeneis zu weißen Dampfkräuseln. Bald waren nur noch der Trenchcoat, die Sonnenbrille, der Zylinder und die Axt übrig, die ihn getötet hatte.
Sam hob die Waffe des Mörders auf. Die Klinge war nicht größer als ein Smartphone, aber ihre Schneide sah scharf aus. In das dunkle Metall waren rußgeschwärzte Runen eingeätzt.
»Von Riesen geschmiedetes Eisen«, sagte Sam. »Mit einem Zauber belegt. Perfekt austariert. Wie kann man so eine wertvolle Waffe zurücklassen?«
»Schön. Ich fände es schrecklich, wenn Otis mit einer billigen Waffe umgebracht worden wäre.«
Sam achtete nicht auf mich. Das machte sie inzwischen ganz schön gut. »Du hast gesagt, dass der Mörder einen Wolfshelm trug?«
»Was die Auswahl auf die Hälfte aller Schurken in den Neun Welten begrenzt.« Ich winkte zu Otis’ leerem Mantel hinüber. »Wo ist sein Körper jetzt?«
»Der von Otis? Dem geht’s gut. Magische Wesen werden aus dem Nebel des Ginnungagap gebildet. Wenn sie sterben, lösen sich ihre Körper in diesem Nebel auf. Otis wird sich wohl irgendwo in der Nähe seines Herrn neu bilden, hoffentlich rechtzeitig, dass Thor ihn zum Abendessen wieder töten kann.«
Mir kam das wie eine seltsame Hoffnung vor, aber auch nicht seltsamer als der Morgen, der hinter mir lag. Ehe meine Knie unter mir nachgeben konnten, setzte ich mich und nippte an dem inzwischen kalt gewordenen Kaffee.
»Der Ziegenkiller hat gewusst, dass der Hammer verschwunden ist«, sagte ich. »Er hat mir gesagt, wenn wir nach Provincetown gingen, würden wir unseren Feinden in die Hände spielen. Du glaubst nicht, dass er …«
»Loki gemeint hat?«, Sam nahm mir gegenüber Platz. Sie legte die Axt auf den Tisch. »Ich bin sicher, dass der auf irgendeine Weise damit zu tun hat. Das hat er immer.«
Ich konnte gut verstehen, dass sie so bitter klang. Sam sprach nicht gern über den Gott von Lug und Trug. Abgesehen davon, dass er ein gemeiner Kerl war, war er auch noch ihr Dad.
»Du hast kürzlich von ihm gehört?«, fragte ich.
»Nur ein paar Träume.« Sam drehte ihren Becher hin und her wie das Schloss eines Safes. »Flüstern, Warnungen. Er wollte vor allem … egal. Nicht der Rede wert.«
»Das klingt aber ganz anders.«
Sams Blick war starr und voller Hitze, wie die Holzscheite in einem Kamin, unmittelbar ehe sie Feuer fangen. »Mein Dad versucht, mein Leben zu ruinieren«, sagte sie. »Das ist aber nichts Neues. Er will mich ablenken. Meine Großeltern, Amir …« Ihre Stimme versagte. »Aber damit werde ich fertig. Es hat nichts mit unserem Hammerproblem zu tun.«
»Sicher?«
Ihre Miene riet mir, mich zurückzuhalten. Wenn ich sie in der Vergangenheit zu sehr bedrängt hatte, dann hatte sie mich gegen eine Wand geknallt und mir einen Arm gegen die Kehle gepresst. Die Tatsache, dass sie mich noch nicht bewusstlos gewürgt hatte, war ein Beweis dafür, dass sich unsere Freundschaft vertiefte.
»Egal«, sagte Sam. »Loki kann nicht dein Ziegenkiller sein. Er könnte keine Axt so werfen.«
»Warum nicht? Ich meine, ich weiß, dass er theoretisch im Hochsicherheitstrakt von Asgard angekettet ist, wegen Mordes oder was auch immer, aber es ist offenbar kein Problem für ihn, vor meiner Nase aufzutauchen, wann immer er Lust hat.«
»Mein Vater kann sein Bild projizieren oder in einem Traum auftauchen«, sagte Sam. »Bei äußerster Konzentration und für eine gewisse Zeit kann er sogar Kraft genug aussenden, um eine physische Gestalt anzunehmen.«
»Wie damals, als er mit deiner Mom zusammen war.«
Wieder zeigte Sam mir ihre Zuneigung, indem sie mir nicht das Gehirn aus dem Schädel schlug. Wir besiegelten hier im Thinking Cup geradezu unsere Freundschaft.
»Ja«, sagte sie. »Auf diese Weise kann er sein Gefängnis verlassen, aber er kann keine ausreichend solide Gestalt annehmen, um magische Waffen zu benutzen. Dafür haben die Götter gesorgt, als sie seine Ketten mit einem Zauber belegt haben. Wenn er eine verzauberte Klinge aufheben könnte, würde er sich sonst irgendwann damit befreien können.«
Ich vermutete, dass das auf irgendeine unsinnige nordisch-mythische Weise einen Sinn ergab. Ich stellte mir Loki vor, wie er mit ausgestreckten Armen und Beinen in irgendeiner Höhle lag, und seine Hände und Füße waren gefesselt mit – uähhh, ich mochte kaum daran denken – dem Gedärm seiner eigenen ermordeten Söhne. Dafür hatten die Götter gesorgt. Sie hatten angeblich auch eine Schlange über Lokis Kopf angebracht, die in alle Ewigkeit Gift in sein Gesicht träufeln sollte. Barmherzigkeit steht nicht hoch im Kurs bei der Gerichtsbarkeit von Asgard.
»Der Ziegenkiller arbeitet vielleicht trotzdem für Loki«, sagte ich. »Er könnte ein Riese sein. Er könnte …«
»Er könnte alles Mögliche sein«, sagte Sam. »So, wie du ihn beschreibst – wie er gekämpft und wie er sich bewegt hat –, klingt er wie ein Einherje. Vielleicht sogar wie eine Walküre.«
Mein Magen drehte sich um. Ich stellte mir vor, wie er über den Boden rollte und neben Otis’ Zylinder zum Stillstand kam. »Jemand aus Walhalla. Aber warum sollte irgendwer …«
»Ich weiß es nicht«, sagte Sam. »Wer immer es ist, er oder sie will nicht, dass wir dieser Spur von Thors Hammer nachgehen. Aber ich glaube nicht, dass wir eine Wahl haben. Wir müssen schnell handeln.«
»Warum die Eile?«, fragte ich. »Ich meine, der Hammer ist jetzt seit Monaten verschwunden und die Riesen haben noch nicht angegriffen.«
Etwas in Sams Augen erinnerte mich an die Netze der Meeresgöttin Ran, wie sie in den Wellen wirbelten und ertrunkene Geister hochjagten. Es war keine glückliche Erinnerung.
»Magnus«, sagte sie, »die Ereignisse überstürzen sich. Meine letzten Einsätze in Jotunheim … Die Riesen sind ruhelos. Sie haben riesige Zauber heraufbeschworen, um zu tarnen, was immer sie vorhaben, aber ich bin ziemlich sicher, dass das gesamte Riesenheer in Bewegung ist. Sie bereiten die Invasion vor.«
»Die Invasion? Wo denn?«
Die Brise ließ den Hidschab um ihr Gesicht flattern. »Hier, Magnus. Und wenn sie kommen, um Midgard zu zerstören …«
Trotz des warmen Sonnenlichts fröstelte ich jetzt. Sam hatte mir erklärt, dass Boston im Mittelpunkt von Yggdrasil lag, der Weltenesche. Es war der leichteste Durchgang zwischen den Neun Welten. Ich stellte mir vor, wie die Schatten der Riesen auf die Newbury Street fielen, wie der Boden unter mit Eisen beschlagenen Stiefeln von Panzergröße bebte.
»Das Einzige, was sie zurückhält«, sagte Sam, »ist ihre Angst vor Thor. Das ist seit Jahrhunderten so. Sie trauen sich keine komplette Invasion zu, solange sie nicht absolut sicher sind, dass er verletzlich ist. Aber sie werden dreister. Sie haben so langsam den Verdacht, dass jetzt der richtige Augenblick sein könnte …«
»Thor ist doch nicht der einzige Gott«, sagte ich. »Was ist mit Odin? Oder Tyr? Oder meinem Dad, Frey? Können die nicht gegen die Riesen kämpfen?«
Kaum hatte ich das gesagt, da kam mir diese Vorstellung albern vor. Odin war unberechenbar. Wenn er sich blickenließ, wollte er lieber PowerPoint-Vorträge halten, statt zu kämpfen. Tyr, der Gott der Tapferkeit und des Zweikampfs, war mir nie begegnet. Und Frey … mein Dad war der Gott des Sommers und der Fruchtbarkeit. Wenn man Blumen zum Blühen, die Ernte zum Reifen oder eine Schnittwunde zum Heilen bringen wollte, dann war er der Richtige. Aber die Horden aus Jotunheim verjagen? Eher nicht.
»Wir müssen die Invasion aufhalten, ehe es so weit ist«, sagte Sam. »Was bedeutet, dass wir den Hammer Mjöllnir finden müssen. Bist du sicher, dass Otis Provincetown gesagt hat?«
»Ja. Im Hügel eines Grabwichts. Ist das schlimm?«
»Auf einer Skala von eins bis zehn ist das hoch in den Zwanzigern. Wir brauchen Hearthstone und Blitzen.«
Trotz der Umstände freute ich mich darauf, meine alten Kumpel wiederzusehen.
»Du weißt, wo sie sind?«
Sam zögerte. »Ich weiß, wie man sie erreichen kann. Sie haben in einer von Mimirs konspirativen Wohnungen Zuflucht gesucht.«
Das musste ich erst mal verdauen. Mimir, das abgehackte Götterhaupt, das das Wasser aus dem Quell des Wissens gegen Jahre der Knechtschaft tauschte; das Blitz und Hearth befohlen hatte, ein Auge auf mich zu haben, als ich auf der Straße lebte, weil ich »wichtig für das Schicksal der Welten« war; das in allen Welten eine Reihe von billigen Spielsalons und anderen lichtscheuen Unternehmungen aufgezogen hatte – Mimir verfügte also über eine Reihe von konspirativen Wohnungen. Ich fragte mich, was er meinen Freunden an Miete abknöpfte.
»Warum sind Blitz und Hearth abgetaucht?«
»Das erklären sie dir besser selbst«, sagte Sam. »Sie wollten dich nicht beunruhigen.«
Das war dermaßen unwitzig, dass ich lachen musste. »Sie sind ohne ein Wort verschwunden, weil sie mich nicht beunruhigen wollten?«
»Hör mal, Magnus, du brauchtest Zeit zum Trainieren – und um dich in Walhalla einzuleben und dich an deine Einherjerkräfte zu gewöhnen. Hearthstone und Blitzen haben einfach in den Runen ein schlechtes Omen gesehen. Sie haben ihre Vorsichtsmaßnahmen getroffen, sind untergetaucht. Für diesen Einsatz allerdings …«
»Ein schlechtes Omen. Sam, der Mörder hat gesagt, ich müsste damit rechnen, meine Freunde zu verlieren.«
»Weiß ich.« Sie griff nach ihrem Becher. Ihre Finger zitterten. »Wir werden vorsichtig sein, Magnus. Aber was den Hügel des Grabwichts angeht … Runenmagie und Minenerfahrung könnten da einen Riesenunterschied machen. Wir werden Hearth und Blitz brauchen. Ich sage ihnen heute Nachmittag Bescheid. Und dann erkläre ich dir alles andere. Versprochen.«
»Das war noch nicht alles?« Plötzlich kam ich mir vor, als ob ich während der vergangenen sechs Wochen beim Festmahl am Katzentisch gesessen hätte. Ich hatte alle wichtigen Gespräche der Erwachsenen verpasst. Ich hasste den Katzentisch.
»Sam, du brauchst mich nicht zu beschützen«, sagte ich. »Ich bin schon tot. Ich bin ein verflixter Odinskrieger und lebe in Walhalla. Lass mich mithelfen.«
»Wirst du auch«, versprach sie. »Aber du brauchtest Zeit fürs Training, Magnus. Als wir das Schwert des Sommers erobert haben, hatten wir Glück. Aber bei dem, was jetzt kommt … da wirst du all deine Fähigkeiten brauchen.«
Die Angst in ihrer Stimme machte mir eine Gänsehaut.
Ich hatte uns nicht direkt für vom Glück begünstigt gehalten, als wir das Schwert des Sommers zurückeroberten. Wir hätten viele Male ums Leben kommen können. Drei von unseren Mitstreitern hatten ihr Leben gelassen. Wir hatten den Fenriswolf und eine Bande von Feuerriesen nur mit Mühe daran hindern können, die Neun Welten zu verwüsten. Wenn das Glück war, wollte ich vom Pech nichts wissen.
Sam streckte die Hand über den Tisch aus. Sie nahm sich meinen Preiselbeer-Orangen-Scone und knabberte den Guss ab. Er war von der gleichen Farbe wie die Schwellung unter ihrem Auge. »Ich muss zurück in die Schule. Ich darf nicht noch eine Physikstunde versäumen. Heute Nachmittag muss ich zu Hause ganz schön Schadensbegrenzung betreiben.«
Ich erinnerte mich daran, wie sie gesagt hatte, dass Loki ihr Leben zu ruinieren versuchte, und an den leisen Zweifel, ehe sie Amirs Namen genannt hatte. »Kann ich dir irgendwie helfen? Vielleicht kann ich bei Fadlans Falafel vorbeigehen und mit Amir reden?«
»Nein!« Ihre Wangen wurden tiefrot. »Nein, danke. Das nun wirklich nicht. Nein.«
»Das soll wohl ein Nein sein.«
»Magnus, ich weiß, du meinst es gut. Ich habe eine Menge Probleme, aber damit werde ich fertig. Wir sehen uns heute Abend beim Fest für …« Sie verzog unwillig das Gesicht. »Du weißt schon, den Neuzugang.«
Sie meinte die Seele, die sie vorhin eingesammelt hatte. Als Walkürenchefin vom Dienst musste Sam beim abendlichen Fest anwesend sein und den neuesten Einherje vorstellen.
Ich sah mir die Schwellung unter ihrem Auge an und mir dämmerte etwas.
»Diese Seele, die du geholt hast«, sagte ich. »Dieser neue Einherje hat dich geschlagen?«
Sam runzelte die Stirn. »So einfach ist das nicht.«
Mir waren durchaus schon gewalttätige Einherjer über den Weg gelaufen, aber keiner, der es gewagt hätte, einer Walküre eine reinzusemmeln. Das war Selbstmord, sogar, wenn man schon tot war. »Was für ein Idiot … Moment. Hat das irgendwas mit dem Wolf zu tun, den ich von der anderen Seite des Parks gehört habe?«
Sams dunkelbraune Augen loderten und standen kurz vor der Explosion.
»Das wirst du heute Abend erfahren.« Sie stand auf und griff nach der Axt des Mörders. »Und jetzt geh zurück nach Walhalla. Heute Nacht wirst du das Vergnügen haben, jemand ganz Besonderen kennenzulernen, nämlich …« Sie verstummte und suchte nach Worten. »Meinen Bruder.«
4Wenn man sich für ein Nachleben entscheidet, muss man den Ort gut abwägen. Vorstadt-Nachleben, wie in Folkvanger und Niflheim, sind mit niedrigeren Nicht-Lebenshaltungskosten verbunden, aber der Eingang von Midgard nach Walhalla liegt mitten im Herzen der Stadt, gegenüber vom Park. Die besten Läden und Restaurants sind bequem zu Fuß zu erreichen und die U-Bahn-Station ist weniger als eine Minute entfernt.
Ja, Walhalla. Für alle Ihre wikingerparadiesischen Bedürfnisse.
(Okay, tut mir leid. Ich hatte der Hotelleitung versprochen, einen Werbespot unterzubringen. Aber es war wirklich einfach, nach Hause zurückzukommen.)
Nachdem ich im Café noch eine Tüte mit Schokolade überzogener Kaffeebohnen gekauft hatte, ging ich durch den Park und kam an meiner alten Schlafstelle unter der Fußgängerbrücke vorbei. Zwei verdreckte Typen saßen in einem Nest aus Schlafsäcken und teilten ihre Funde aus den Mülltonnen mit einem Terrier.
»He, Jungs.« Ich reichte ihnen Otis’ Trenchcoat und Hut, zusammen mit dem gesamten sterblichen Geld, das ich bei mir hatte – an die vierundzwanzig Dollar. »Schönen Tag noch.«
Die Jungs waren zu verwirrt, um zu antworten. Ich ging weiter und kam mir vor, als ob mir eine Axt aus der Brust ragte.
Bloß, weil ich zwei Monate zuvor von einem Feuerriesen getötet worden war, konnte ich jetzt im Luxus leben. Und die Jungs hier und ihr Terrier ernährten sich aus Mülltonnen. Das war nicht fair.
Ich wünschte, ich könnte alle Obdachlosen von Boston zusammenholen und sagen, hallo, Leute, hier drüben steht ein riesiges Haus mit Tausenden von Luxusappartements und Gratisessen bis in alle Ewigkeit. Mir nach!
Aber das wäre nicht gegangen.
Man durfte keine Sterblichen nach Walhalla mitnehmen. Man konnte nicht einmal freiwillig sterben, um hinzukommen. Der Tod musste ungeplant und selbstlos sein, und auch dann konnte man nur hoffen, dass gerade eine Walküre in der Nähe war und alles gesehen hatte.
Natürlich war Walhalla damit immer noch besser als die vielen Hochhäuser, die gerade überall in der Stadt aus dem Erdboden schossen. Die meisten waren voller leer stehender Luxuswohnungen – erstklassige vierte oder fünfte Wohnsitze für Milliardäre. Man brauchte keines tapferen Todes zu sterben, um dort hineinzukommen, man brauchte nur einen Haufen Geld. Wenn die Riesen also wirklich in Boston einmarschierten, könnte ich sie vielleicht überreden, eine Runde auf Luxushochhäusern herumzutrampeln.
Endlich hatte ich die nach Midgard gerichtete Fassade von Hotel Walhalla erreicht. Von außen sah es einfach aus wie ein achtstöckiges Gebäude aus weißgrauem Stein – eine weitere superteure Immobilie in einer Reihe von Stadthäusern aus der Kolonialzeit. Der einzige Unterschied: Der Vorgarten des Hotels war von einer drei Meter hohen Kalksteinmauer ohne Eingang umgeben – die erste von vielen Befestigungsanlagen, um uns die Nicht-Einherjer vom Leib zu halten.
Ich sprang hinüber und landete im Hain von Glasir.
Zwei Walküren schwebten in den Zweigen der weißen Birke und pflückten die vierundzwanzigkarätigen Goldblätter. Sie winkten mir zu, aber ich blieb nicht stehen, um mit ihnen zu plaudern. Ich stieg die Vortreppe hoch und stieß die schwere Doppeltür auf.
In der kathedralengroßen Hotelhalle sah alles aus wie immer. Vor dem tosenden Kaminfeuer hingen Einherjer im Teenageralter ab und waren mit Brettspielen beschäftigt, oder sie chillaxten einfach nur (das ist wie Chillen, nur eben mit Streitäxten). Andere Einherjer in flauschigen grünen Hotelbademänteln jagten sich gegenseitig um die grob zurechtgehauenen Säulen, die die Halle umstanden, und spielten Verstecken mit Umbringen. Ihr Lachen hallte unter der hohen Decke wider, deren Deckenbalken von den Spitzen Tausender zusammengebündelter Speere funkelten.
Ich schaute zum Rezeptionstresen hinüber und fragte mich, ob Sams mysteriöser Bruder, der anderen so gern ein blaues Auge haute, wohl gerade eincheckte. Aber ich sah nur den Manager, Helgi, der mit düsterer Miene seinen Computerbildschirm anstarrte. Ein Ärmel seines grünen Anzugs war abgerissen und Stücke seines gewaltigen Bartes waren herausgefetzt. Seine Haare sahen mehr denn je aus wie ein toter Bussard.
»Geh da ja nicht hin«, warnte eine vertraute Stimme.
Hunding der Hotelpage trat neben mich. Sein rotes Warzengesicht war von frischen Kratzern übersät und sein Bart sah ebenfalls aus, als wäre er eben erst in eine Geflügelrupfmaschine geraten. »Der Boss ist wirklich stinksauer«, sagte er. »Also, in Ich-hau-dich-gleich-mit-meinem-Stock-Stimmung.«
»Du siehst auch nicht gerade glücklich aus«, sagte ich. »Was ist passiert?«
Hundings Bart zitterte vor Wut. »Unser neuester Gast ist passiert.«
»Samirahs Bruder?«
»Hmpf. Wenn du ihn so nennen willst. Ich weiß nicht, was Samirah sich dabei gedacht hat, dieses Monster nach Walhalla zu holen.«
»Monster?« Ich musste kurz an X denken, den Halbtroll, den Samirah einst nach Walhalla gebracht hatte. Dafür hatte sie ganz schön einstecken müssen, aber dann hatte X sich später als der verkleidete Odin entpuppt (lange Geschichte). »Du meinst, dieser Neue ist ein echtes Monster, wie der Fenriswolf oder …«
»Schlimmer, wenn du mich fragst.« Hunding wischte sich ein Büschel Schnurrbarthaare von seinem Namensschild. »Der verfluchte Ergi hätte mir fast das Gesicht zerfleischt, als er seine Unterkunft gesehen hat. Ganz zu schweigen davon, dass es rein gar kein Trinkgeld gab …«
»Piccolo!«, brüllte der Manager hinter der Rezeption. »Hör auf zu fraternisieren und komm her. Du musst die Drachenzähne mit Zahnseide reinigen!«
Ich sah Hunding an. »Er lässt dich die Drachenzähne reinigen?«
Hunding seufzte. »Dauert noch dazu ewig. Ich muss los.«
»He, Mann.« Ich reichte ihm die Tüte mit den Schokokaffeebohnen, die ich im Thinking Cup gekauft hatte. »Halt durch.«
Die Augen des alten Wikingers trübten sich. »Magnus Chase, du bist ein feiner Bursche. Ich könnte dich totdrücken …«
»PICCOLO!«, brüllte Helgi wieder.
»SCHON GUT! ALTER MANN IST DOCH KEIN ACHTFÜSSIGES PFERD!« Hunding lief zum Tresen und deshalb brauchte ich mich nicht totdrücken zu lassen.
So elend ich mich auch fühlte, ich hatte immerhin nicht Hundings Job. Der arme Typ war in Walhalla angekommen, um sofort von Helgi, seinem Erzfeind aus dem sterblichen Leben, in Knechtschaft gezwungen zu werden. Ich fand, dass er ab und zu Schokolade verdient hatte. Und seine Freundschaft hatte sich schon einige Male als sehr wertvoll erwiesen. Hunding kannte sich im Hotel besser aus als alle anderen, und er wusste immer den neusten Klatsch.
Ich steuerte die Fahrstühle an und überlegte, was wohl ein »Ergi« war und warum Sam einen nach Walhalla geholt hatte. Vor allem aber fragte ich mich, ob ich vor dem Kampf des Nachmittags noch Zeit zum Essen und zu einem Nickerchen haben würde. Wenn man im Kampf stirbt, empfiehlt es sich, satt und ausgeruht zu sein.
Auf den Gängen schielten einige Einherjer zu mir herüber. Die meisten ignorierten mich. Ich hatte zwar das Schwert des Sommers zurückerobert und den Fenriswolf besiegt, aber die meisten meiner Mitkrieger sahen in mir bloß den Kleinen, der am Tod von drei Walküren schuld war und fast die Götterdämmerung ausgelöst hätte. Die Tatsache, dass ich ein Sohn des Frey war, des Sommergottes der Wanen, war mir auch keine Hilfe. Freys Nachkommen tauchten nur selten in Walhalla auf. Ich war nicht cool genug für die angesagten Cliquen – die Kinder von Kriegsgöttern wie Thor, Tyr und Odin.
Ja, in Walhalla gab es Cliquen, genau wie in der Highschool. Und während die Highschool nie ein Ende zu nehmen schien, nahm Walhalla wirklich nie ein Ende. Die einzigen Einherjer, die mich akzeptierten, waren meine Flurgenossen im neunzehnten Stock, und ich wollte jetzt unbedingt zu ihnen zurück.
Im Fahrstuhl konnte die wikingische Unterhaltungsmusik meine Stimmung auch nicht verbessern. Die Fragen wirbelten mir nur so durchs Gehirn: Wer hatte Otis umgebracht? Wovor hatte die Ziege mich warnen wollen? Wer war Sams Bruder? Wovor versteckten sich Blitz und Hearth? Und welcher vernünftige Mensch kam auf die Idee, »Fly Me To The Moon« auf Altnordisch aufzunehmen?
Die Fahrstuhltüren öffneten sich zum neunzehnten Stock. Ich stieg aus und wurde sofort von einem Tier gestreift. Es bewegte sich so schnell, dass ich nur noch eine verschwommene Gestalt in Braun und Schwarz wahrnehmen konnte, ehe es um die Ecke bog und verschwunden war. Dann sah ich Löcher in meinen Turnschuhen, wo das Tier hingetreten war. Winzige Schmerzgeysire brachen auf meinen Füßen aus.
»Au«, sagte ich verspätet.
»Haltet den Gepard!« Thomas Jefferson jr. kam mit aufgepflanztem Bajonett durch den Gang geprescht, gefolgt von meinen Flurgenossen Mallory Keen und Halbgeboren Gunderson. Sie kamen stolpernd vor mir zum Stehen, alle drei keuchend und schweißnass.
»Hast du ihn gesehen?«, wollte T. J. wissen. »Wo ist er hin?«
»Äh …« Ich zeigte nach rechts. »Warum haben wir hier einen Gepard?«
»Das war nun wirklich nicht unsere Idee, das kannst du mir glauben.« T. J. schulterte sein Gewehr. Wie üblich trug er seine blaue Unionsuniform mit offener Jacke über einem grünen Hotel-Walhalla-T-Shirt. »Unser neuer Flurgenosse ist nicht besonders gern hier.«
»Der neue Flurgenosse«, sagte ich. »Ein Gepard … du meinst … die Seele, die Sam hergebracht hat. Ein Kind des Loki. Und das ist ein Werwesen?«
»Unter anderem«, sagte Halbgeboren Gunderson. Als Berserker hatte er einen Körper wie Sasquatch und trug nur eine Fellhose. Runentattoos zogen sich über seine gewaltige Brust. Er knallte seine Streitaxt auf den Boden. »Dieser Meinfretur hätte mir fast das Gesicht eingeschlagen!«
Seit ich in Walhalla wohnte, hatte ich eine beeindruckende Menge von altnordischen Verwünschungen gelernt. »Meinfretur« bedeutete so ungefähr »Stinkfurz«, was natürlich die übelste Sorte Furz war.
Mallory schob ihre beiden Messer in die Scheiden. »Halbgeboren, ab und zu eingeschlagen zu werden, könnte deinem Gesicht nur guttun.« Ihr irischer Akzent wurde deutlicher, wenn sie wütend war. Mit ihren roten Haaren und ihren glühenden Wangen hätte sie als kleine Feuerriesin durchgehen können, nur waren Feuerriesen nicht so beängstigend. »Ich mache mir größere Sorgen darum, dass dieser Dämon das Hotel zerstören könnte. Hast du gesehen, was er im Zimmer von X angerichtet hat?«
»Er hat das alte Zimmer von X übernommen?«, fragte ich.
»Und sofort angefangen, es zu zerlegen.« Mallory machte mit zwei Fingern ein V und zeigte damit dem Gepard hinterher. Miss Keen war Irin, und deshalb bedeutete ihr V nicht Friede oder Sieg, sondern etwas viel Gröberes. »Wir wollten ihn willkommen heißen, aber wir fanden nur Trümmer vor. Kein Respekt.«
Ich dachte an meinen ersten Tag in Walhalla. Ich hatte ein Sofa durch das Wohnzimmer geschleudert und mit der Faust durch die Badezimmerwand geschlagen. »Na ja … es kann schwer sein, sich einzugewöhnen.«
T. J. schüttelte den Kopf. »Aber nicht so. Der Kleine wollte uns auf den ersten Blick umbringen. Und was er so von sich gegeben hat …«
»Erstklassige Beleidigungen«, gab Halbgeboren widerwillig zu. »Das muss ich ihm lassen. Aber ich habe noch nie jemanden so viel Schaden anrichten sehen … Schau es dir doch mal an, Magnus. Mach dir selbst ein Bild.«
Sie führten mich zum alten Zimmer von X. Ich war noch nie drinnen gewesen, aber nun stand die Tür weit offen. Innen sah es aus, als ob sich ein Hurrikan von Stärke 5 als Innenarchitekt versucht hätte.
»Heilige Frigg.« Ich kletterte über einen Haufen zerbrochener Möbel hinein.
An sich sah es ziemlich so aus wie in meiner eigenen Wohnung – vier viereckige Wohnbereiche, die sich wie ein riesiges Plus um einen Innenhof gruppierten. Das Wohnzimmer war früher einmal ein Sitzbereich mit einem Sofa, Bücherregalen, einem Fernseher und einem Kamin gewesen. Jetzt war es ein Katastrophengebiet. Nur der Kamin war noch intakt, aber das Sims war zerkratzt, als ob unser neuer Nachbar sein Glück mit dem Breitschwert probiert hätte.
Soweit ich sehen konnte, waren Schlafzimmer, Küche und Badezimmer ebenso übel zugerichtet worden. Wie benommen ging ich weiter in den Innenhof.
Wie bei meinem stand ein riesiger Baum in der Mitte. Die untersten Zweige erstreckten sich unter der Decke in die Wohnung und schlangen sich um die Dachbalken. Die oberen ragten in einen wolkenlosen blauen Himmel. Meine Füße versanken in grünem Gras. Der Wind duftete nach Berglorbeer – ein bisschen wie Traubenlimonade. Ich hatte die Zimmer mehrerer Freunde gesehen, aber keines hatte einen nach oben offenen Innenhof.
»War das bei X auch so?«, fragte ich.
Mallory schnaubte. »Wohl kaum. Der Hof bei X war ein riesiges Becken – eine natürliche heiße Quelle. Bei ihm war es immer so heiß, feucht und schweflig wie in der Achselhöhle eines Trolls.«
»X fehlt mir.« Halbgeboren seufzte. »Aber ja, das hier ist alles ganz neu. Jede Wohnung richtet sich passend zum Geschmack des Bewohners ein.«
Ich fragte mich, was es bedeutete, dass mein Innenhof genauso aussah wie der des Neuen. Ich wollte nicht denselben Geschmack haben wie eine mörderische Wildkatze, die ein Sohn des Loki war und anderen auf die Füße trat.
Am Rand des Innenhofes lagen weitere Trümmer. Frei stehende Regale waren umgeworfen worden. Das Gras war übersät mit Tonschalen und Bechern – einige waren bunt glasiert, andere aus noch nicht gebranntem Ton.
Ich kniete nieder und hob das Unterteil einer zerbrochenen Teekanne auf. »Meint ihr, unser Freund der Gepard hat die alle gemacht?«
»Jepp.« T. J. zeigte mit seinem Bajonett in die Wohnung. »In der Küche stehen auch ein Brennofen und eine Töpferscheibe.«
»Gute Qualität«, sagte Halbgeboren. »Die Vase, die er mir ins Gesicht geworfen hat, war wunderschön und tödlich. Genau wie Miss Keen hier.«
Mallorys Gesicht wechselte von erdbeerrot zu paprikaorange. »Du bist ein Idiot.« Das war ihre Art, ihrem Freund ihre Zuneigung zu gestehen.
Ich drehte die Scherbe um. Auf der Unterseite waren die Initialen A. F. in den Ton eingeritzt. Ich wollte nicht wissen, wofür die wohl standen. Unter den Initialen gab es eine dekorative Prägung: zwei zu einem ausgefeilten S-Muster verschlungene Schlangen, deren Schwänze sich jeweils um den Kopf der anderen wickelten.
Meine Fingerspitzen fühlten sich an wie betäubt. Ich ließ die Scherbe fallen und hob ein anderes zerbrochenes Gefäß auf: auf der Unterseite die gleichen Initialen, die gleiche Schlangenprägung.
»Das ist ein Symbol des Loki«, sagte Halbgeboren hilfsbereit. »Flexibilität, Wechsel, Schlüpfrigkeit.«
In meinen Ohren rauschte es. Dieses Symbol hatte ich schon einmal gesehen … vor kurzer Zeit, in meinem eigenen Zimmer. »Woher – woher weißt du das?«
Halbgeboren reckte seine ohnehin schon vorgeschobene Brust noch weiter vor. »Wie schon gesagt, ich habe meine Zeit hier in Walhalla nicht ungenutzt verstreichen lassen. Ich habe eine Doktorarbeit über germanische Literatur geschrieben.«
»Was er jeden Tag nur wenige Male erwähnt«, fügte Mallory hinzu.
»He, Leute«, rief T. J. aus dem Schlafzimmer. Er bohrte sein Bajonett in einen Kleiderhaufen und hob ein dunkelgrünes ärmelloses Seidenkleid hoch.
»Sauteuer«, sagte Mallory. »Das ist von Stella McCartney.«
Halbgeboren runzelte die Stirn. »Woher weißt du das so genau?«
»Ich habe meine Zeit hier in Walhalla nicht ungenutzt verstreichen lassen.« Mallory konnte Halbgeborens Stimme ziemlich gut nachahmen. »Ich habe eine Doktorarbeit über Mode geschrieben.«
»Ach, halt den Mund, Frau«, murmelte Halbgeboren.
»Und seht euch das an.« T. J. hob einen ebenfalls grünen Smoking mit rosa Revers hoch.
Ich muss zugeben, dass mein Gehirn nicht mehr richtig arbeitete. Ich konnte nur an Lokis Symbol auf den Scherben denken und daran, wo ich dieses Schlangenmuster schon einmal gesehen hatte. Der Wirbelsturm aus Kleidungsstücken in diesem Zimmer ergab keinen Sinn – Jeans, Röcke, Jacketts, Schlipse und Partykleider, die meisten in rosa und grünen Farbtönen.
»Wie viele wohnen hier?«, fragte ich. »Hat er eine Schwester?«
Halbgeboren schnaubte. »T. J., willst du das erklären, oder soll ich?«
DUUUHM. Das Widderhorn schallte durch den Gang.
»Mittagessen«, verkündete T. J. »Wir reden nachher weiter.«
Meine Freunde liefen zur Tür. Ich beugte mich weiter über den Scherbenhaufen und starrte die Buchstaben A. F. und die verschlungenen Schlangen an.
»Magnus?«, rief T. J. »Kommst du?«
Mir war der Appetit vergangen. Und auch mein Verlangen nach einem Nickerchen. Adrenalin ließ mein System vibrieren wie eine elektrische Gitarrensaite.
»Geht schon mal vor.« Meine Finger schlossen sich um das zerbrochene Gefäß mit Lokis Symbol. »Ich muss noch schnell etwas nachsehen.«
5Gut, dass ich nicht zum Mittagessen gegangen bin.
Beim Buffet wurde normalerweise auf Leben und Tod gekämpft, und so zerstreut, wie ich jetzt war, wäre ich von einer Fonduegabel aufgespießt worden, noch ehe ich meinen Teller gefüllt hätte.
Bei den meisten Aktivitäten in Walhalla ging es um Leben und Tod: Scrabble, Wildwasserkanu, Pfannkuchenessen, Krocket. (Tipp: Versucht niemals, wikingisches Krocket zu spielen!)
Ich ging in mein Zimmer und atmete einige Male tief durch. Ich hatte halbwegs damit gerechnet, dass hier alles so verwüstet sein würde wie in A. F.s Zimmer – als ob sich meine Wohnung, nur weil die Wohnungen sich so ähnlich waren, aus purer Sympathie ebenfalls zerlegen würde. Stattdessen sah sie so aus, wie ich sie verlassen hatte, nur sauberer.
Ich hatte das Hauspersonal noch nie gesehen. Auf irgendeine Weise schafften sie es immer, aufzuräumen, wenn ich unterwegs war. Sie machten das Bett, ob ich darin geschlafen hatte oder nicht. Sie schrubbten das Badezimmer, auch wenn ich das gerade erst selbst erledigt hatte. Sie bügelten und falteten meine Wäsche, obwohl ich mir alle Mühe gab, niemals irgendein Kleidungsstück herumliegen zu lassen. Echt, wer bügelt und stärkt denn Unterwäsche?
Ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil ich diese ganze Wohnung für mich hatte; die Vorstellung von Hauspersonal, das hinter mir herräumte, machte alles nur noch schlimmer. Meine Mom hatte mich dazu erzogen, meinen Dreck selbst wegzumachen. Aber sosehr ich versuchte, das zu tun, jeden Tag tauchte das Hotelpersonal auf und machte erbarmungslos alles hier klinisch rein.
Außerdem legten sie mir Geschenke hin. Das machte mir noch ärger zu schaffen als die gestärkte Unterwäsche.
Ich ging zum Kamin hinüber. Als ich hier eingecheckt hatte, hatte nur ein Foto auf dem Sims gestanden – ein Bild von meiner Mom und mir, als ich acht war, auf dem Gipfel des Mount Washington. Seit damals waren weitere Bilder aufgetaucht – einige, an die ich mich von früher her erinnerte, andere, die ich noch nie gesehen hatte. Ich wusste nicht, woher das Hotelpersonal sie nahm. Vielleicht tauchten die Fotos einfach aus dem Kosmos auf, während sich die Wohnung an mich gewöhnte. Vielleicht hatte Walhalla in der iCloud eine Sicherheitskopie vom Leben aller Einherjer.