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»Für mein Maiglöckchen Lily, in Liebe Hermann« steht auf der alten Spieluhr, die Maja beim Renovieren der geerbten alten Villa am Bodensee, in der sie eine Pension eröffnen will, findet. Was hat die sonderbare Irin Nora damit zu tun, die eines Tages dort auftaucht und behauptet, die rechtmäßige Erbin zu sein? Als auch noch der attraktive Pensionsgast Peter auf mysteriöse Weise ums Leben kommt, wird es Zeit für Kommissar Michael Harter, die Sache in die Hand zu nehmen - und für Maja, um ihre Existenz und ihr Glück zu kämpfen.
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Seitenzahl: 434
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Christine Rath
Maiglöckchensehnsucht
Roman
Ausgewählt von Claudia Senghaas
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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© 2015 – Gmeiner-Verlag GmbH
Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung: Julia Franze
E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von:
© Wilm Ihlenfeld / Shutterstock.com
ISBN 978-3-8392-4568-2
»Das ist die Sehnsucht: Wohnen im Gewoge
und keine Heimat haben in der Zeit.
Und das sind Wünsche: leise Dialoge
täglicher Stunden mit der Ewigkeit.
Und das ist Leben. Bis aus einem Gestern
die einsamste von allen Stunden steigt,
die, anders lächelnd als die andern Schwestern,
dem Ewigen entgegenschweigt.«
Rainer Maria Rilke
Für meine Kinder
Sanft, ganz sanft fallen sie vom Himmel … kleine, große, unendlich viele und unglaublich zarte weiße Schneeflocken. Ich stehe am Fenster und betrachte, wie sich die Welt um mich herum in einen weißen Wintertraum verwandelt.
Wie still es ist! Kann man Schnee eigentlich hören? Vielleicht, wenn man selbst ganz leise ist? Ich öffne das Fenster und strecke die Hand nach draußen, um ein paar der kleinen Flocken einzufangen. Im Nu ist mein Ärmel auch ganz weiß. Komisch, dass einem die Nässe des Schnees überhaupt nichts ausmacht! Bei Regen hätte ich das Fenster längst geschlossen. Aber Regen ist auch laut und unangenehm, während die leise Stille des herabfallenden Schnees den Lärm und die Hektik des Tages komplett vergessen lässt. »Leise rieselt der Schnee … still und starr ruht der See …«, fällt mir das alte Weihnachtslied ein, das ich bereits als Kind so sehr geliebt habe. Wie schön auf einmal alles aussieht, selbst der ruhige See in seinem sanften Grau. Schon haben alle Büsche und Bäume im Garten weiße Mützen auf, und auch der Steg ist mit einer kuschelweichen Schneeschicht überzogen. Dabei hatte es am Vormittag noch so sonnig ausgesehen, obwohl es bereits bitterkalt war. Jedoch hatte der Himmel schon diese seltsame rosa-graue Farbe angenommen, die immer den Schnee ankündigt. Wenn man am See lebt, bekommt man mit der Zeit einen Blick dafür, wenn sich das Wetter ändert. Besonders, wenn man so oft den Blick zum Himmel richtet wie ich!
Ich schließe das Fenster, denn auf einmal ist mir doch kalt. Außerdem sollte ich nicht noch mehr Zeit mit Träumereien verplempern, denn heute ist der 24. Dezember – Heiligabend! Und ich habe noch kein einziges Geschenk. Wie oft habe ich früher die Leute belächelt, die noch am Weihnachtstag hektisch durch die Geschäfte eilen, um noch irgendwo ein brauchbares Geschenk aufzutreiben, mit dem sie am Abend ihre Lieben erfreuen können. Die meisten von ihnen mit diesem verzweifelten Gesichtsausdruck, weil die besten und schönsten Dinge leider schon lange ausverkauft sind.
Und nun bin ich selbst eine von diesen Wahnsinnigen! Ich hoffe inständig, dass ich in einer der kleinen Boutiquen etwas für Nini und vielleicht auch eine nette Kleinigkeit für Christian erstehen kann. Wenigstens muss ich keinen Parkplatz suchen, da ich ja zu den Glücklichen gehöre, die in Überlingen am schönen Bodensee leben dürfen.
Ich ziehe meinen dicken schwarzen Wollpullover über und setze meine rote Pudelmütze auf, die bei dem Schnee sicher schon bald weiß statt rot sein wird.
Den dicken Daunenmantel und die festen Stiefel werde ich heute auf jeden Fall auch benötigen. Erwartungsfroh wedelt meine Mischlingshündin Jojo mit dem Schwanz und läuft zur Tür.
»Heute nicht, Jojo!«
Am Klang meiner Stimme merkt Jojo, dass ich sie nicht mitnehmen möchte. Sie sieht mich vorwurfsvoll an und trollt sich in ihr Körbchen. In der Küche meines Cafés Butterblume empfängt mich Ruth, die gerade dabei ist, die Geschirrspülmaschine auszuräumen.
»Du bist ja immer noch da!«, sage ich vorwurfsvoll zu ihr. Die Gute hat nicht nur die letzten Gäste bedient, sondern auch schon den gemütlichen kleinen Gastraum blitzblank geputzt.
»Ab nach Hause mit dir!« Ich versuche, meiner Stimme einen strengen Ton zu geben.
»Wie könnte ich wohl nach Hause gehen, ohne dir ›Frohe Weihnachten‹ zu wünschen?«, fragt Ruth lächelnd daraufhin, während sie ruhig die kleinen Teetassen in unseren Küchenschrank stellt.
Ich bin so froh, dass es sie gibt und sie mir in meinem Café Butterblume zur Hand geht. Seitdem meine Tochter Nini ein Studium in Mannheim begonnen hat und deshalb nur noch selten am See ist, und meine Mutter seit dem letzten Jahr glücklich verheiratet in den Staaten lebt, bin ich hier doch ziemlich allein. Na ja, bis auf meine kleine Hündin Jojo, die ich außer dem alten Nachbarhaus von meiner Freundin Frieda geerbt habe … und natürlich meinen Liebsten Christian, der jedoch ein äußerst erfolgreicher Anwalt ist und seine Kanzlei in Stuttgart hat, weswegen er nicht allzu oft bei mir sein kann.
Außerdem besitzt er eine Dependance für Einwanderungsrecht in Kanada, die er eigentlich seiner Exfrau übergeben wollte. Nachdem diese sich im Oktober jedoch Hals über Kopf in ihren Psychotherapeuten verliebte und seitdem auf und davon ist, bleibt wieder die ganze Arbeit an ihm hängen und viel zu wenig Zeit für uns beide am schönen Bodensee.
Ruth habe ich erst im letzten Jahr kennengelernt, aber sie ist schnell zu einem sehr wichtigen Menschen in meinem Leben geworden. Sie war da, als ich am dringendsten Hilfe brauchte, und ist seitdem unentbehrlich für mich geworden.
Ruth ist oder vielmehr war Teil einer Gruppe von lebenslustigen Frauen »in den besten Jahren«, die mein Café Butterblume meist nach oder statt ihrer Bauch-Beine-Po-Gymnastik besuchen, weswegen ich sie insgeheim BBP-Ladys nenne. Da sich Ruth im letzten Sommer dummerweise in Hubert, den Mann einer der Ladys, verliebte, hat sie sich aus dieser Gruppe ausgeklinkt und hilft mir stattdessen in ihrer Freizeit im Café.
Sie scheint völlig in dieser Arbeit aufzugehen, denn sie ist praktisch jeden Tag in der Butterblume, auch wenn ich sie gar nicht für die vielen Stunden bezahle.
Wenn ich deshalb ein schlechtes Gewissen habe und sie frage, was ich ihr denn stattdessen Gutes tun könne, dann winkt sie nur ab und sagt: »Das ist schon Gutes genug für mich, Maja … dass ich hier sein kann, mit dir in der Butterblume am See … und die netten Gäste bewirten darf!«
Das glaube ich ihr sogar. Denn finanziell hat sie es eigentlich überhaupt nicht nötig, arbeiten zu gehen. Ihr verstorbener Mann hat sie gut versorgt, doch ich kann mir vorstellen, dass eine so attraktive Mittfünfzigerin wie sie nicht einfach nur zu Hause sitzen oder zur Gymnastikstunde gehen mag.
Ich weiß, dass sie darunter leidet, die Geliebte eines verheirateten Mannes zu sein, auch wenn sie mir selten genug ihr Herz ausschüttet.
Hinzu kommt, dass die Frau dieses Mannes so etwas wie eine Freundin oder zumindest eine gute Bekannte von ihr ist. Das macht es sicher für sie doppelt schwer, auch wenn diese Frau eine ziemlich bestimmende und selbstherrliche Person ist. Ruth erzählte mir eines Tages unter Tränen, dass es für sie fast nicht auszuhalten sei, Jutta ins Gesicht zu sehen, weswegen sie aus der Gymnastikgruppe ausgetreten sei. Dazu kämen diese ständigen Heimlichkeiten und die Angst, irgendwo von jemandem entdeckt zu werden. Und, was meiner Meinung nach das Schlimmste für Ruth ist, die Einsamkeit an Tagen wie diesen … an Feiertagen wie Weihnachten, Ostern … oder Geburtstagen, die ihr Geliebter im Kreis seiner Familie und nicht mit ihr verbringt.
Mir ist bewusst, dass das auch der Grund ist, weshalb Ruth jetzt immer noch hier und nicht schon längst zu Hause ist. Deshalb traue ich mich fast nicht zu fragen:
»Wirst du Hubert an den Feiertagen einmal sehen … oder bist du … allein?«
Allein. Weihnachten und allein … ich wollte das eigentlich gar nicht sagen und würde mir am liebsten die Zunge abbeißen.
Doch auf einmal bekommt Ruth ganz rote Wangen und sie antwortet glücklich:
»Aber nein, ich werde diesmal Weihnachten nicht allein sein. Hubert will mich besuchen, und zwar heute schon!! Denk dir, er will mir unbedingt ein Weihnachtsgeschenk bringen!«
Ruths blaue Augen strahlen noch mehr als sonst. Wie hübsch sie ist, denke ich. Ruth hat so etwas Entspanntes, Ausgeglichenes in ihren Zügen … so, als ob sie tief drinnen in sich selbst ruht. Mir fällt auf, dass dieses Wortspiel ja eigentlich gut zu ihrem Namen passt.
»Und was machst du dann noch hier?«, frage ich mit gespieltem Vorwurf in der Stimme und schiebe sie sanft aus der Küche.
»Ich gehe ja gleich, Maja!«, lacht sie zurück.
»Weißt du, ich habe gar nicht mehr viel zu tun. Eingekauft habe ich bereits vor ein paar Tagen, und mein kleines Häuschen ist blitzblank. Selbst der Weihnachtsbaum steht schon. Nun muss ich mich nur noch ein bisschen hübsch machen und das Essen in den Ofen schieben. Ich habe vor, einen leckeren Sauerbraten mit Rotkohl und Knödeln zu machen, den liebt Hubert doch so sehr.«
Ich kann mir schon vorstellen, dass Ruth seit Tagen in den Vorbereitungen für diesen festlichen Abend steckt. Man sieht ihr an, wie glücklich sie über den Besuch ihres Liebsten ist.
Im Stillen frage ich mich, wie Hubert es wohl schaffen wird, danach auch noch den Weihnachtsbraten seiner Ehefrau zu verspeisen, doch ich will Ruth die Freude nicht vermiesen und nehme sie stattdessen mit einem Lächeln in den Arm.
»Das freut mich wirklich. Dann wünsche ich euch frohe Weihnachten, liebe Ruth!«
Ruth sieht mich dankbar an, glücklich darüber, dass ich nicht zu denen gehöre, die ihr Vorwürfe und ein schlechtes Gewissen machen. Die meisten der ohnehin schon wenigen Leute, die von ihrer heimlichen Liebe wissen, haben nämlich kein Verständnis für sie. Ich dagegen muss immer an die alte und lebenskluge Frieda denken, mit der ich so viel über die Liebe gesprochen habe. Sie sagte stets zu mir: »Weißt du, Maja, man kann sich die Liebe nicht aussuchen. Die Liebe sucht uns aus. Und wenn sie das getan hat, dann müssen wir unserem Herzen folgen, auch wenn alles andere dagegen spricht!«
Im Fall von Ruth spricht allerdings so ziemlich Alles dagegen. Nicht nur die Tatsache, dass ihr Geliebter bereits eine Frau hat, sondern auch, dass er offensichtlich nicht gewillt ist, an diesem Arrangement etwas zu ändern. Natürlich behalte ich meine Zweifel lieber für mich, denn ich sehe, wie glücklich sie über diese wenigen und darum für sie so kostbaren »gestohlenen« Stunden ist. Dabei hätte sie es meiner Meinung nach wirklich verdient, einen echten Partner an ihrer Seite zu haben, der das Leben mit ihr zu genießen versteht.
Ruth ist nicht nur eine sehr hübsche, sondern auch unglaublich warmherzige, nette und gebildete Frau, die für ihr Leben gerne reist und sicher auch einmal ausgeführt werden will.
Sie ist einfach zu schade, um immer versteckt zu werden und ihr Dasein hier als Café-Angestellte zu fristen.
»Maja, ich weiß, du hast eine harte Zeit hinter dir«, sagt sie auf einmal und sieht mich ernst an, während sie meine Hand fest drückt, »und es hört sich wirklich blöd an, aber das Leben geht weiter. Weihnachten ist doch das Fest der Freude! Versprichst du mir, dass du über Weihnachten einmal nicht so furchtbar traurig sein wirst?«
Sie sieht ehrlich besorgt aus und wartet auf meine Antwort, die allerdings nur aus einem Nicken und einem kläglichen, jedoch ehrlichen Lächeln besteht.
»Ich möchte eigentlich noch gar nicht gehen, aber sicher wird Nini gleich eintreffen, und Christian kommt ja auch heute Abend, nicht wahr?«
Ich sehe Ruth an, dass sie zweifelt, ob sie mich wirklich allein lassen kann. Meine Güte, sehe ich etwa aus, als würde ich gleich aus dem Fenster springen?
Ich versuche mich an einem breiten Grinsen und sage: »Ja, Nini ist schon auf dem Weg. Ich muss mich sputen, denn ich muss ja noch ihr Weihnachtsgeschenk abholen.«
Abholen! Als ob ich bereits etwas gekauft hätte und dieses nur noch auf meine Abholung warten würde.
»Apropos Geschenk.«
Ruth bückt sich und zaubert ein kleines Päckchen aus ihrer Handtasche.
»Für dich, Maja! Es ist nur eine Kleinigkeit, von der ich dachte, sie würde dich sicher freuen. Aber bitte erst unterm Weihnachtsbaum aufmachen!«
Sie überreicht mir das kleine Päckchen in goldenem Papier, das mit roten Sternen beklebt ist.
Beschämt nehme ich es entgegen und schlucke die Tränen hinunter, die gerade aufsteigen. Natürlich hätte ich wissen müssen, dass Ruth etwas für mich hat. Wo sind nur in diesem Jahr meine Gedanken? Wieso habe ich es nicht geschafft, für die Menschen, die mir am Herzen liegen, ein Geschenk zu besorgen?
»Danke, liebe Ruth … ich weiß gar nicht, was ich sagen soll … aber …«, stammle ich hilflos.
»Nichts aber!«, schimpft sie mit mir. »Man schenkt doch etwas, um jemandem eine Freude zu machen und nicht, um eine Gegenleistung zu erwarten.«
Trotzdem ist es mir unangenehm, das Geschenk entgegenzunehmen.
Ruth tut jeden Tag so viel Gutes für mich. Ich hätte auch irgendeine Kleinigkeit besorgen können, ja, sogar müssen, denn ich hatte doch genug Zeit.
»Was hältst du davon, wenn wir beide nach den Feiertagen einmal schön essen gehen?«, frage ich in der leisen Hoffnung, dass dies vielleicht gerade noch so als Geschenk durchgeht, und weil ich mich dadurch ein ganz klein wenig besser fühle.
»Wir könnten mal wieder ins Rosmarin gehen und uns ein leckeres Thai-Curry gönnen!«
Vermutlich würde es uns beiden guttun, einmal wieder unter Leute zu gehen.
»Sehr gerne! Aber erst einmal verbringst du ein paar schöne Feiertage mit deinen Lieben!«, lacht Ruth, während sie in ihren warmen braunen Wollmantel schlüpft und die blonden Haare unter eine cremefarbene Strickmütze stopft. Hübsch sieht sie aus mit ihren roten Wangen und dem erwartungsfrohen Lächeln im Gesicht.
Meine Lieben … Noch sind sie ja gar nicht da. Denn natürlich habe ich Ruth angeschwindelt, als ich sagte, Nini sei bereits unterwegs. In Wahrheit habe ich heute noch gar nichts von ihr gehört und bin mir ziemlich sicher, dass sie bis zur letzten Minute bei ihrem Freund Ben bleiben will, was ich ja auch verstehen kann. Und das Flugzeug, mit dem Christian aus Kanada anreisen wird, landet erst um 21:00 Uhr in Stuttgart, also wird er wohl erst sehr spät am See eintreffen. Trotzdem muss ich langsam los, wenn ich wenigstens noch ein paar brauchbare Geschenke für die beiden finden möchte. Ich drücke Ruth noch einmal herzlich.
»Frohe Weihnachten und einen wunderschönen Abend, Ruth. Und … danke … für alles!«
Als ich gerade das Haus verlassen will, kommt Jojo um die Ecke und sieht mich mit ihren treuen Hundeaugen erwartungsfroh an. Ich kann nicht anders, ich hole die Leine und nehme sie mit.
»Hast es wieder mal geschafft!«, schimpfe ich mit ihr, dabei meine ich aber eigentlich mich selbst, weil ich schon wieder so inkonsequent bin. »Aber du bist selber schuld, wenn du jetzt im kalten Schnee herumsitzen und warten musst, während ich in den Geschäften bin! Fang bloß nicht an zu fiepen, nur weil du einen kalten Hintern hast!«
Jojo ignoriert natürlich meine Worte und schnüffelt stattdessen überglücklich im frisch gefallenen Schnee. Gemeinsam gehen wir in die winterweiße Wunderwelt hinaus.
*
Erwartungsgemäß ist in den Geschäften unserer kleinen Stadt am Bodensee am heutigen Tage die Hölle los. Ich bin nicht wirklich überrascht und freue mich sogar, dass ich nicht die Einzige bin, die offenbar auf den letzten Drücker ihre Weihnachtsgeschenke besorgt.
Nur Jojo ist genervt, sie wäre viel lieber auf dem kleinen Weg, der am See entlang führt, geblieben, auf dem so viel von dem watteweichen Schnee liegt.
Aber da muss sie jetzt durch, diesmal lasse ich mich nicht erweichen. Auf dem kleinen Marktplatz stehen noch die Buden des kleinen Weihnachtsmarktes, der bis vorgestern die Überlinger Bürger mit Glühwein und allerlei Leckereien erfreute. Ganz verlassen stehen sie da, als ob sie noch immer auf die vielen Menschen warten würden, die sich hier trafen, um ein Gläschen heißen Wein mit Freunden zu trinken oder eine Bratwurst zu essen. Nun ärgere ich mich, dass ich nicht den wundervollen roten Leuchtstern gekauft habe, den ich mir ein paar Mal in einer der Buden angesehen hatte. Wie hätte er schön im Fenster der Butterblume leuchten können! Selber schuld, schimpfe ich mit mir. Jetzt ist es zu spät.
Mein Blick fällt auf die Parfümerie Drahtmann, und augenblicklich fällt mir ein Geschenk für Nini ein. Ich betrete das Geschäft und werde empfangen von allerlei wundervollen Wohlgerüchen. Zum Glück ist meine Lieblingsverkäuferin Heidi da, die mir einen ganz speziellen und besonderen neuen Duft für mein Töchterchen empfiehlt. Na bitte, das erste Geschenk wäre in der Tasche! Jojo und ich schlendern weiter und kommen am Sportgeschäft vorbei. In der Auslage liegt ein toller roter Skipullover mit Norwegermuster, der sicher super an Christians breiten Schultern aussehen wird. Direkt neben dem Sportgeschäft befindet sich ein Schreibwarenladen, in dem ich einen edlen Füller für Nini erstehe. Als Studentin braucht man doch so etwas! Leider ist es zu spät, ihn gravieren zu lassen, das wäre eine hübsche Idee gewesen. Ich hätte eben früher daraufkommen sollen!
Nini hatte bereits im Herbst an das Weihnachtsgeschenk für ihre Oma in den USA gedacht, und das Päckchen an sie ist zum Glück längst unterwegs.
Sie hatte auf der Hochzeit ihrer Oma mit ihrem amerikanischen Freund Steve im letzten Mai unzählige Fotos gemacht und daraus ein wunderschönes Fotoalbum gebastelt. Meine Mutter wird begeistert sein, wenn sie die Erinnerungen an diesen schönen Tag auf der Insel Mainau noch einmal vor Augen hat. Dabei fällt mir ein, dass ich sie unbedingt heute noch anrufen und ihr ein frohes Fest wünschen muss. Auch der Weihnachtsbraten sollte in den Ofen. Der noch nicht einmal gekauft ist. Vielleicht würde Christian auch gerne einen Sauerbraten essen. Oder vielleicht lieber eine Gans? Mir wird bewusst, dass ich mir im Gegensatz zu Ruth bei Weitem nicht so viele Gedanken um die Gestaltung des Abends gemacht habe.
Beim Metzger sind die Gänse natürlich bereits ausverkauft.
»Die waret alle vorbestellt!«, informiert man mich vorwurfsvoll.
Doch es gibt noch einen leckeren Sauerbraten, der bereits eingelegt ist, und somit steht das Weihnachtsmenü fest, auch wenn es eine von Ruth geklaute Idee ist. Nini wird sich an Beilagen satt essen, die ebenfalls aus Knödeln und Rotkohl bestehen, was beides zu Ninis Lieblingsspeisen zählt. Zum Nachtisch gibt es Schokopudding mit Vanillesoße, auch den liebt sie sehr. All diese leckeren Dinge kann ich zum Glück in dem kleinen Lebensmittelmarkt erwerben, sodass ich später nicht noch einmal losfahren muss. Allerdings bin ich inzwischen so bepackt, dass ich Mühe habe, Jojos Leine noch ordentlich festzuhalten. Bei der Buchhandlung Osiander finde ich einen wundervollen Kalender mit Segelbooten für Christian und einen neuen Liebesroman für Nini, der in London spielt. Das wird ihr gefallen, da sie im letzten Jahr einige Monate dort verbracht hat.
Wunderbar! Ich bin glücklich, dass mein Last-minute-Shopping doch einigermaßen erfolgreich war, und ich auf die Schnelle noch ein paar schöne Dinge für meine Lieben erstanden habe. So voll bepackt kann ich allerdings beim besten Willen nicht zu Fuß nach Hause gehen, zumal es immer noch schneit. Was für eine Schnapsidee, statt des Autos den Hund mitzunehmen! Dieser kann mir nun wirklich nicht beim Tragen helfen. Außerdem wird es bereits dunkel, und es schneit munter weiter. Ich beschließe, mir ausnahmsweise einmal ein Taxi zu gönnen, und schlittere so gut es geht mit den Paketen unter dem Arm und dem Hund an der Leine in Richtung Taxistand. Auf dem Weg dorthin komme ich an einem kleinen Schmuckladen vorbei, der ein paar entzückende bernsteinfarbene Glitzerohrringe in der Auslage hat. Die müssen auch noch mit! Ebenso wie ein wunderschönes Armband aus Rosenquarz, das sicher sehr hübsch an Ruths schmalem Handgelenk aussehen wird.
Natürlich sind alle Taxis unterwegs, und Jojo und ich frieren uns synchron den Hintern ab. Da das nächste freie Taxi jedoch für uns bestimmt ist und wir gemütlich nach Hause gefahren werden, lobe ich mich selbst für diese kluge Entscheidung. In der Seestraße angekommen, erwartet uns jedoch eine Überraschung.
Nicht nur Ninis Beetle steht in der Einfahrt, nein, auch Ruths kleiner roter Polo steht dort, beide sind mit einer dicken Schneemütze bedeckt. Nanu, Ruth wollte doch längst zu Hause sein und sich für ihren Liebsten hübsch machen? Mich beschleicht ein ungutes Gefühl. Kaum, dass ich im Inneren des warmen und gemütlichen Hauses bin, lasse ich alle Tüten fallen und ziehe nur schnell den nassen Mantel und die Stiefel aus.
Nini und Ruth sitzen in der Küche, vor sich eine Kerze, eine Flasche Prosecco mit zwei Gläsern und sagen gerade wie aus einem Mund: »Männer!«
Nini springt sofort auf, als sie mich in der Tür erblickt, und stürzt in meine Arme. »Mama! Da bist du ja endlich! Wir haben auf dich gewartet und gedacht, wir stoßen schon mal auf Weihnachten an.«
Ich schließe kurz die Augen und atme den Pfirsichduft von Ninis Haaren ein. Wie schön es ist, dass sie da ist! Ich habe sie so sehr vermisst, dass ich sie kaum loslassen mag. Doch sie zieht mich zum Tisch und gießt auch mir ein Glas Prosecco ein. Ich setze mich damit neben Ruth, die mir ein trauriges Lächeln schenkt. Ich brauche die Frage nicht zu stellen, die mir auf der Zunge liegt, sondern stelle nur fest: »Er ist nicht gekommen.«
Was keine Überraschung für mich ist.
Ruths Gesicht, das noch bis vor wenigen Stunden richtig hübsch und glücklich aussah, wirkt auf einmal unglaublich müde. Sie blickt auf ihr Glas und schüttelt den Kopf. Natürlich hat sie prompt eine Entschuldigung für ihn parat.
»Hubert musste länger arbeiten, und zu Hause war bereits die Schwiegermutter eingetroffen. Dabei sollte die doch erst morgen kommen.«
Nini verdreht die Augen. Natürlich! Ruth hatte schon den Braten in den Ofen geschoben, sich in ein knallrotes Samtkleid geworfen und die Haare gefönt. Ich könnte diesem Hubert eine knallen, so wütend bin ich. Es war doch klar, dass er Weihnachten im trauten Familienkreis verbringen würde! Er war nur zu feige, es Ruth zu sagen, wenn man mich fragt.
»Und wann hat er es für nötig gehalten, dich über diesen Umstand zu informieren?«, frage ich deshalb leicht genervt.
»Das Problem ist, dass ich erst eine ganze Weile gewartet habe und dann, als Hubert nicht kam, auf mein Handy sehen wollte. Aber da bemerkte ich, dass ich das Handy wohl in der Butterblume vergessen hatte.« Ruth hat entweder vom Prosecco oder vor lauter Aufregung ganz rote hektische Flecken im Gesicht.
»Willst du damit etwa sagen, Hubert hat dir per SMS mitgeteilt, dass er heute nicht kommen wird?« Nun bin ich wirklich richtig wütend. Anstandshalber hätte er doch zumindest bei Ruth anrufen können. Nein … sogar müssen!
»Ja, und ›Frohe Weihnachten, mein Mäuschen!‹ darunter geschrieben.«
»Also das ist doch wohl die Höhe: ›Mäuschen‹!«, empöre ich mich.
Ich nehme einen großen Schluck Prosecco, damit mir nicht etwas Unflätiges über Hubert herausrutscht.
»Das Handy lag tatsächlich hier in der Küche, und gerade als ich die SMS gelesen hatte, kam Nini zur Tür herein. Sie sah wohl meine Enttäuschung und lud mich spontan auf ein Gläschen Prosecco ein.«
»Super Idee!«, sage ich und schlage Ruth vor, doch den ganzen Heiligabend mit uns zu verbringen.
Ein Lächeln huscht über Ruths trauriges Gesicht, und sie will sofort losfahren, um den bereits zubereiteten Sauerbraten von daheim zu holen. Doch ich halte sie davon ab, indem ich sage, es könne ja möglich sein, dass Hubert an einem der nächsten Tage doch noch bei ihr aufkreuze, um das versprochene Geschenk vorbeizubringen. Auch wenn ich selbst nicht recht daran glaube. Aber ich kann sie unmöglich bei diesem Wetter mit dem Auto fahren lassen, zumal sie ja auch schon ein Gläschen oder zwei intus hat. Zudem habe ich selbst Fleisch für einen Braten besorgt und bitte sie daher, doch diesen nach ihrem speziellen, ganz persönlichen Rezept zuzubereiten. In der Zwischenzeit lege ich die Geschenke unter den Baum und geselle mich zu Nini ins Badezimmer, nicht ohne zuvor mein altes schwarzes Kleid angezogen zu haben. Ich stecke meine dunklen Locken hoch und ein paar glitzernde Ohrringe, die meine Freundin Emily mir einmal geschenkt hat, an die Ohrläppchen. Na bitte, geht doch. Ein wenig Kajal und roter Lippenstift, gleich sehe ich aus wie ein Vamp und nicht mehr wie das blasse Gespenst, das mir noch vor ein paar Minuten aus dem Spiegel entgegengeblickt hat. Doch Nini sieht mich misstrauisch an:
»Hast ganz schön abgenommen, Mama«, stellt sie fest.
»Ein bisschen vielleicht«, gebe ich zögernd zu, »ich hatte nicht so viel Appetit in der letzten Zeit.«
»In der Vorweihnachtszeit? Oh Mann, das müsste mir mal passieren! Ich brauche die Lebkuchen und Dominosteine nur anzuschauen und habe schon ein Pfund mehr auf den Hüften«, seufzt Nini.
Das ging mir bis vor Kurzem noch ganz genauso, und daher habe ich auch keine Zweifel, dass es bald wieder so sein wird. Es muss mir nur erst wieder ein bisschen besser gehen, aber das wird es sicher bald. Im neuen Jahr … ganz bestimmt.
»Blödsinn«, sage ich zu Nini und kneife sie spaßeshalber in die Taille. »Da hat noch ganz viel Platz!«
Und schon kurz darauf zieht ein verführerischer Duft aus der Küche zu uns herauf. Dieser Hubert ist selbst schuld, wenn er sich dieses leckere Essen entgehen lässt!
*
Noch immer schneit es unaufhörlich und deshalb machen wir uns zu Fuß auf den Weg zum Heiligabend-Gottesdienst in der Klosterkirche Birnau, diesmal jedoch ohne Jojo, die noch genug von der Shopping-Aktion und den damit verbundenen nassen Pfoten hat und außerdem ihr warmes Körbchen sowie den Duft des Weihnachtsbratens nicht verlassen möchte.
In der Kirche bete ich im Stillen für Christian, der sich bei diesem Wetter auf den Weg von Stuttgart an den Bodensee machen muss. Heimlich schreibe ich während der Predigt eine SMS an ihn: ›Liebling, es wäre bei diesen Straßenverhältnissen besser, wenn du heute Nacht in Stuttgart bleiben würdest. Komm lieber erst morgen, ich habe sonst Angst um dich!‹
Christian hat noch eine Wohnung in Stuttgart an der Weinsteige, in der er unter der Woche übernachtet, wenn er Termine in der Kanzlei in Stuttgart hat. Ich mag gar nicht daran denken, dass er bei diesem Wetter auf der Autobahn unterwegs ist. Wenn er jetzt noch nicht losgefahren ist, dann wird er Stunden brauchen, um zum See zu gelangen. Lieber soll er morgen früh ausgeschlafen losfahren, wenn die Schneeräumdienste schon im Einsatz waren!
Ich mache das Handy aus, schließe die Augen und höre die Stimmen der Menschen um mich herum, die Stille Nacht singen. Für einen Moment wünsche ich mir, die Kirche wäre leer wie so oft. Ich denke an meinen kleinen Engel und bete, dass er behütet sein mag, wenn er schon nicht bei mir sein darf.
An allen Feiertagen ist es bitterkalt, und Überlingens Häuser haben Puderzuckerhäubchen aus Schnee. Natürlich hatte Christian sein Versprechen doch wahr gemacht und war noch in der Heiligen Nacht an den See gefahren. Zu später Stunde, als ich schon längst im Bett lag und mich unruhig hin und her wälzte, hatte er sich zu mir gelegt und mich sanft in seine Arme gezogen. Ich kuschelte mich an seine Schulter und vergaß die Sorge um ihn, glücklich, dass er bei mir war und ich seinen ruhigen Atemzügen lauschen durfte. Ich betrachtete ihn heimlich im Schlaf, wie ich es so oft tat, wenn ich wieder einmal selbst keine Ruhe fand, und grübelte, wie unser Kind wohl ausgesehen hätte. Hätte es meine Augen gehabt und seine sinnlichen Lippen? Meine Stupsnase und seine vollen, dichten Haare? Diese Fragen hielten mich nächtelang wach und sorgten dafür, dass ich auch tagsüber neben der Spur und nicht mehr dieselbe war. Und vermutlich nie mehr sein würde.
Ruth war in der Weihnachtsnacht nicht mehr heimgefahren, weil wir zu ihrem leckeren Braten gleich zwei Fläschchen Spätburgunder vom Römfeld-Weingut geleert hatten, und ich darauf bestand, sie nicht mehr fahren zu lassen. Nur zum Schein widerwillig hatte sie sich mit allerlei Bettzeug bewaffnet in Friedas Haus begeben, um dort in einem der Gästezimmer zu übernachten. In Wirklichkeit war sie natürlich froh, dass sie die Nacht nicht in ihrer Wohnung alleine verbringen musste, nachdem ihr Hubert sie so schmählich versetzt hatte.
Als meine alte Freundin Frieda im letzten Jahr starb, hatte sie mir ihr Haus vermacht, das sich in der Nachbarschaft der Butterblume befindet und direkt am Bodenseeufer liegt. Frieda hatte leider keine eigenen Kinder, deshalb standen wir uns sehr nahe. Auch heute noch vermisse ich sie und ihre lebensklugen Ratschläge sehr und wünsche mir oft, ich könnte wieder einmal ein Tässchen Tee mit ihr in ihrem schönen Garten trinken und ihr mein Leid klagen. Doch das geht leider nicht mehr. Möglicherweise ist das ja der Grund, warum mir immer noch nicht eingefallen ist, was ich mit ihrem Haus machen soll. Ich selbst bewohne ja die oberen Räume der Butterblume, die völlig ausreichend sind, selbst wenn Christian und Nini gleichzeitig einmal am Wochenende hier sind.
Irgendwie kann ich mich auch nicht dazu aufraffen, Friedas Haus an fremde Leute zu vermieten. Ich sehe die ganze Zeit Frieda in ihrem hellblau geblümten Kleid in der Küche stehen und Kuchen backen und kann mir nicht vorstellen, dass dort jemand anders wohnt.
Im letzten Jahr habe ich zusammen mit meiner Freundin Emily, die Innenarchitektur in Konstanz studiert und ein fabelhaftes Händchen für geschmackvolle Einrichtungen hat, einige der Räume in Friedas Haus ein wenig hergerichtet, als meine Mutter und ihr Bräutigam Steve anlässlich ihrer bevorstehenden Hochzeit zu Besuch kamen. Die beiden brachten Steves Tochter nebst Mann und drei reizenden kleinen Kindern mit und füllten das alte Haus im Nu mit Leben. Doch seitdem alle wieder in die USA zurückgekehrt sind, steht es praktisch leer.
Auch Ruth hatte nur die Heilige Nacht dort verbracht und sich am nächsten Morgen, nachdem sie bemerkt hatte, dass Christian wieder da war, schnell verabschiedet.
Mein Entschluss, das Café Butterblume an den Feiertagen und sogar bis nach Neujahr geschlossen zu halten, erschien mir zunächst äußerst reizvoll. Endlich einmal ausschlafen zu können und keine Verpflichtung zu haben, dieser Gedanke hatte etwas Verführerisches gehabt. Doch nun, nachdem die Feiertage vergangen und wir das Haus – abgesehen von kurzen Spaziergängen im Schnee – nicht verlassen konnten, ist mir auf einmal langweilig, und ich vermisse den täglichen Trubel, der mich von den dunklen Gedanken ablenkt. Ich spüre, dass die Arbeit in den letzten Wochen auch etwas Heilsames hatte.
»Deine Hände sind ja ganz kalt«, sagt Christian, als wir am See entlang gehen.
Der See liegt grau und still vor uns und strahlt eine gewisse vornehme Ruhe aus.
»Ach ja? Wie konnte das nur passieren?«, frage ich gereizt. Immerhin trage ich die neuen Handschuhe, die er mir aus Kanada mitgebracht hat.
Statt einer Antwort sieht Christian mich nur traurig an. »Ist dir kalt, Liebling? Vielleicht sollten wir wieder zurück ins Haus gehen?«, fragt er und steckt meine Hand mitsamt dem Handschuh in die Tasche seines schweren warmen Mantels.
»Warum nicht?«, frage ich gleichgültig und sehe gleichzeitig, dass er eine andere Antwort erwartet hat.
Eigentlich möchte ich auch etwas ganz anderes sagen. Dass ich froh bin, dass er hier ist. Und wie gut es tut, dass er meine Hand in seine Manteltasche steckt. Dass ich mir wünsche, er würde mich küssen, jetzt gleich, und zwar so sehr, dass ich an nichts mehr denken kann als an den Kuss. Warum kann ich das nicht sagen? Warum kann ich ihn nicht selbst einfach küssen?
»Wir könnten auch irgendwo etwas Schönes essen gehen?«, fragt er nun hoffnungsvoll, doch ich zucke nur die Schultern.
»Wohin denn? Nach den Feiertagen haben doch viele Restaurants geschlossen.«
»Wie wäre es mit Luigi? Wir könnten eine schöne Pasta essen und dazu ein Gläschen Bardolino oder Chianti trinken, was meinst du?«
»Eigentlich trinke ich am liebsten Bodenseewein, und den haben wir im Keller. Pasta mag ich eigentlich gar nicht soooo …«
»Dann kannst du doch auch eine Pizza essen. Komm, Maja, mach mir die Freude, lass uns ausgehen. Wir können doch nicht immer nur zu Hause sitzen.«
Und uns anschweigen, meint er. Denn ein richtiges Gespräch ist im Moment offenbar nicht möglich, wie es scheint. Ich weiß, dass es meine Schuld ist, und wünschte mir ja selbst, ich könnte eine andere sein. Die Alte Maja. Selbst einem Mädelgespräch mit Nini gehe ich aus dem Weg. Schon ein paar Mal kam sie in die Küche und wollte mir mir reden, doch ich vertröstete sie immer auf später. Ich bin die schlechteste Gesellschaft, die man sich denken kann, und würde mir den ganzen Tag am liebsten die Decke über den Kopf ziehen. Und nun soll ich mit Christian essen gehen? Ganz davon abgesehen, dass ich gar keinen Appetit habe, möchte ich auch ungern Nini allein zu Hause lassen, zumal sie schon bald wieder nach Mannheim aufbrechen wird.
»Und Nini …?«, frage ich daher.
»… kann entweder sehr gerne mitkommen oder sich selbst etwas in die Pfanne hauen, so wie sie es im Übrigen in Mannheim die ganze Zeit sehr gut auf die Reihe bekommt«, sagt Christian bestimmt und zieht mich nach meinem »Na gut!« mit so großen Schritten zurück nach Hause, dass ich Mühe habe, mitzuhalten.
Nini liegt in ihrem Zimmer auf dem Bett und liest in dem neuen Buch, das ich ihr zu Weihnachten geschenkt habe. Anscheinend ist es sehr spannend, weswegen sie keine Lust hat, uns zu begleiten.
»Ihr wollt ausgehen? Ach so … schade … Mama, ich wollte nämlich gerne etwas mit dir besprechen. Eigentlich die ganze Zeit schon. Hättest du vielleicht vorher noch ein paar Minuten Zeit für mich?
»Natürlich!«, sage ich schnell, denn eigentlich habe ich im Gegensatz zu Christian sowieso keine Lust, noch einmal das warme und gemütliche Haus zu verlassen. Nachdem ich mich aus den ganzen warmen Klamotten gepellt habe, setzen wir uns auf unser gemütliches lila Sofa, auf dem wir schon so viele Probleme besprochen haben, und Nini beginnt zögerlich:
»Also die Sache ist die …«
»Ja?«, hake ich nach, weil sie irgendwie nicht richtig zu Potte kommt.
»Ähm … ja … also … das mit Mannheim … war … glaub ich … nicht so ganz die richtige Entscheidung … äh …«
»Was meinst du damit, Nini? ›Nicht so ganz die richtige Entscheidung‹?«
Sie atmet tief durch.
»Tja, also … das mit dem Studium und so …«
Nini meidet meinen Blick und spielt mit ihrem Ring.
»Mit dem Studium? Was meinst du damit konkret?«
Ich nehme ihre Hand und sehe ihr fest in die Augen.
»Ja, also … das Studium … Mama, ich glaub, ich pack das nicht!«
Auf einmal schwimmen ihre Augen in Tränen.
»Ich hab die letzten Prüfungen versemmelt, und zwar alle! Und ich will nicht das ganze blöde Semester noch einmal machen … ich will das nicht mehr! Die ganze blöde Lernerei … wochenlang … alles umsonst! Ich schaffe es einfach nicht«, bricht es aus ihr heraus.
»Und warum hast du nicht früher mal was gesagt? Zum Beispiel, als du die Prüfungen ›versemmelt‹ hast? Wir haben doch so oft telefoniert«, wende ich ein.
Wieso kommt sie erst jetzt damit an?
Nini schaut auf ihre Fußspitzen, als wolle sie die Maschen ihrer gestrickten Ringelsocken zählen, und sagt dann zögernd:
»Ich weiß, aber du hattest doch deine eigenen Sorgen und da wollte ich dich nicht zusätzlich belasten.«
Auf einmal fängt sie an zu weinen.
»Hör mal, Nini …«, versuche ich, sie zu trösten. »Es gibt sicher eine Lösung. Ganz bestimmt kannst du die Prüfungen nachholen und dann …«
»Hast du mich nicht verstanden, Mama? Ich will sie nicht nachholen! Du weißt nicht, wie ich mich da reingehängt habe… und trotzdem habe ich sie nicht bestanden. Noch einmal die ganze Arbeit … und dann? Dann falle ich womöglich wieder durch? Nein, ohne mich!«
»Aber Nini, das ist doch überhaupt nicht gesagt, dass du wieder durchfällst. Du musst dich nur ein bisschen anstrengen, und dann wird das schon.«
»Nein, das wird überhaupt nicht! Ich kann das nicht und ich will das auch nicht. Das ganze blöde Studium hängt mir zum Hals heraus. Ich habe mir das alles total anders vorgestellt. Dieses betriebswirtschaftliche Gelaber ist so todlangweilig und kotzt mich einfach an.«
So langsam macht sie mich wütend und ich sage deshalb: »Es ist ja nicht so, dass du das Studium nicht unbedingt anfangen wolltest, nicht wahr? Und es musste ja auch unbedingt Mannheim sein! Nur, um bei deinem Freund Ben zu sein …«
Nini atmet wieder tief durch und sagt dann: »Richtig. Aber ich habe erkannt, dass die Entscheidung falsch war. Hast du mir nicht immer gesagt: ›Menschen können sich irren, Nini. Nicht jede Entscheidung ist die richtige.‹? Weißt du was, Mama? Ich habe vor Kurzem einen klugen Spruch gelesen, ich glaube, der war von Brecht und ging ungefähr so:
›Wer A sagt, muss nicht B sagen. Er kann auch erkennen, dass A falsch war. Mannheim war definitiv falsch. Das mit Ben übrigens auch‹, setzt sie plötzlich unvermittelt hinzu.
»Was? Aber Nini, wie kommt denn das jetzt so plötzlich?« Ich bin völlig von den Socken. Die ganze Zeit dachte ich, sie sei so glücklich mit Ben und ihrem Studium in Mannheim.
»Das kommt keineswegs so plötzlich, Mama. Ich habe das schon längere Zeit gemerkt, dass das Leben mit Ben nicht so ist, wie ich mir das eigentlich vorgestellt habe. Er ist so ein furchtbarer Langweiler! Für ihn ist es schon der absolute Leichtsinn, wenn wir mal ins Kino gehen oder einen Pärchen-Abend mit Mensch-Ärgere-dich-nicht-Spielen verbringen. Ich will mehr, ich will mal was Verrücktes machen. Ich bin jung, ich will ›leben‹!«, bricht es aus ihr heraus.
»Aber Nini, was verstehst du denn unter Leben? Ben ist nun einmal ein anständiger junger Mann, der seine Zukunft fest im Blick hat und sich nicht von irgendwelchen Party-Aktivitäten ablenken lässt. Das finde ich eigentlich sehr gut … und …« Ich setze noch eins drauf: »… vielleicht solltest du dir ein Beispiel an ihm nehmen und dich ein wenig mehr um dein Studium kümmern.«
Nini sieht mich fest an und sagt dann: »Du verstehst wirklich überhaupt nichts, Mama. Ich hatte die letzten Tage genug Zeit, um nachzudenken, und mein Entschluss steht fest: Ich werde nicht an die Uni Mannheim zurückkehren. Und ich werde mich von Ben trennen. Ich komme zurück an den Bodensee.«
»Wie bitte? Du spinnst wohl?«, höre ich mich sagen und bereue die Worte bereits in dem Moment, in dem ich sie ausgesprochen habe. »Ich meine, du wirst auf gar keinen Fall die Uni so mir nichts dir nichts einfach hinschmeißen, ohne einen Plan B in der Tasche zu haben. Sondern erst einmal zurückkehren und alles in Ruhe überdenken. Auch das mit Ben! Nini, man trifft so eine wichtige Entscheidung nicht, nur weil man mal einen kleinen Streit hatte. Oder ein paar Prüfungen nicht bestanden hat und deshalb vielleicht etwas missgestimmt ist.«
»Missgestimmt? Ich hatte eigentlich gedacht, dass du dich freuen würdest, wenn ich wieder hier bin«, sagt Nini leise, und schon wieder laufen ihr dicke Tränen über ihr hübsches Gesicht.
»Wirklich schade, denn bisher dachte ich eigentlich, ich hätte die coolste Mutter der Welt und ich könnte alles mit ihr besprechen. Aber da habe ich mich wohl getäuscht!«
Nini steht auf und wirft mit einem lauten Knall die Tür hinter sich zu, und schon nach kurzer Zeit höre ich laute Rockmusik aus ihrem Zimmer dröhnen.
Mir ist ganz schlecht, denn so schlimm haben wir beide uns noch nie gestritten, und ihre letzten Worte tun ordentlich weh.
»Maja?«
Christian steht, bereits im Mantel, in der Tür und sieht mich fragend an.
»Du bist ja noch nicht einmal umgezogen!«, sagt er vorwurfsvoll mit einem Blick auf meine Jogginghose.
»Es tut mir leid, Christian, aber ich habe auf einmal gar keinen Hunger mehr. Können wir nicht einfach hier bleiben?«
»So wie jeden Abend?« Er verdreht die Augen. »Nicht einmal Silvester haben wir richtig gefeiert, weil du keine Lust auf die vielen Leute und eine ausgelassene Partystimmung hattest. Aber so ein gemütlicher Abend beim Italiener ist ja keine Party, nicht wahr? Komm doch bitte meinetwegen mit. Du wirst sehen, der Appetit kommt beim Essen. Zieh dir einfach ein hübsches Kleid an und lass uns heute ein bisschen unter die Leute gehen! Das wird dir gut tun! Uns beiden …«, setzt er hinzu.
»Nein, Christian, das wird es nicht. Ich kann nicht, mir geht es nicht gut, bitte hab Verständnis. Geh doch alleine …«
Auf einmal habe ich wirklich schreckliche Kopfschmerzen. Das liegt sicher an meinem Blutdruck, der nach dem Streit mit Nini vermutlich ordentlich gestiegen ist.
»Mensch Maja, ich habe wirklich gedacht, ich könnte dich heute einmal aus deinem Schneckenhaus locken! Nur ein einziges Mal. Oh Mann!« Wütend wirft Christian seinen Schal auf den Boden. Ich habe ihn enttäuscht, das sehe ich ihm an. »Ich weiß, du hast eine schwere Zeit hinter dir. Ich bin auch traurig, dass wir das Baby verloren haben … aber deswegen kannst du nicht auch noch dein eigenes Leben aufgeben! Das Leben geht doch weiter! Darf ich dich daran erinnern, dass du schon ein Kind hast? Eine Tochter, die die ganze Zeit ein Problem mit sich herumträgt, das du nicht sehen willst?«
Von dem ich gerade eben erst erfahren habe. Ganz offensichtlich hat er es dagegen schon länger gewusst.
»Und einen Mann, der dich vielleicht auch gerne einmal wieder als Frau erleben möchte und nicht als ein Häufchen Elend?«
Meine Kopfschmerzen sind auf einmal so stark, dass ich kaum noch klar denken kann. Ich bin plötzlich so unglaublich wütend auf Christian und schleudere ihm entgegen: »Ich habe einen Mann? Das ist mir ja das Allerneueste! Ich habe, wenn überhaupt, einen Freund, der mich immer gerade dann, wenn ich ihn am meisten gebraucht hätte, im Stich gelassen hat. Wegen irgendwelcher blöder und wichtiger Termine! Selbst, als … als …« Ich kann es nicht aussprechen. Ich kann es immer noch nicht sagen, es tut einfach zu weh, und der Schmerz in mir drin droht mich zu zerreißen.
»Maja, ich weiß, ich hätte bei dir sein sollen, als … es … passierte. Aber ich war es nun einmal nicht, weil ich in Kanada war und so schnell keinen Flug bekommen habe. Das Ganze tut mir einfach … unendlich leid …«
Ich glaube ihm nicht. Er findet es vielleicht schade, dass ich das Baby verloren habe, aber es bedeutet ihm nicht so viel wie mir. Er ist gleich wieder zur Tagesordnung übergegangen und hat sich hinter seiner Arbeit verkrochen. Vermutlich, damit er mich, das Häufchen Elend, nicht um sich haben muss.
»Aber du musst langsam anfangen, wieder nach vorne zu sehen, Maja.« Christian macht einen Schritt auf mich zu und eine versöhnliche Geste. »Ich liebe dich doch.« Er nimmt meinen Kopf in seine Hände und streicht mir liebevoll übers Haar. »Ich kann und will nicht zulassen, dass du so leidest. Wenn das Baby so wichtig für dich war, dann sollten wir vielleicht über ein weiteres Kind nachdenken. Was meinst du?«
Ich schüttle traurig den Kopf.
Mit einer verzweifelten und müden Geste lässt Christian die Hände sinken. »Warum nicht? Es wäre doch schön, noch ein Kind zu haben.« Erwartungsfroh lächelt er mich an.
Es hört sich ja auch gut an. Vielleicht könnte ich mit einer erneuten Schwangerschaft zwar nicht vergessen, doch zumindest verdrängen, was geschehen ist. Aber ich habe keine Hoffnung darauf. Wie soll ich ihm sagen, dass ich glaube, dass ich nach der Fehlgeburt keine Kinder mehr bekommen kann? Immerhin haben wir doch so oft miteinander geschlafen, und es hat nicht geklappt. Einmal hatte ich gehofft, es könnte wieder so weit sein. Doch eine Woche später kam meine Regel wie gewohnt. Nein, ich glaube, das Schicksal will nicht, dass ich noch einmal Mutter werde, weil ich einfach … zu alt dazu bin! Das sage ich ihm natürlich nicht, sondern schüttle stattdessen wieder traurig den Kopf.
»Nein, Christian. Ich kann doch nicht ein Baby verlieren und dann so tun, als hätte es dies nie gegeben, und einfach ein neues machen. Man kann einen Menschen nicht einfach so ersetzen!«, sage ich leise.
»Das ist doch Blödsinn, Maja. Es wäre doch kein Ersatz, sondern etwas, das wir beide uns wünschen.«
»Wir beide? Bist du sicher?«, frage ich gehässig.
Tief in mir drin fehlt mir der Glaube, dass es wirklich auch Christians Wunsch ist, noch ein Kind zu bekommen. Vermutlich hat er nur die Hoffnung, dass ich dadurch endlich wieder »normal« werde.
»Nein, Christian, ich glaube, es sollte einfach nicht sein, dass wir beide ein Kind bekommen. Lassen wir es dabei. Ich werde schon darüber hinwegkommen.« Ich muss schlucken, weil mir die Tränen kommen.
Christian seufzt und lässt hilflos die Schultern sinken. Sicher hat er eine ganz andere Reaktion von mir erwartet und weiß nicht, was er darauf noch sagen soll. Er ist verstimmt, das sehe ich ihm an.
»Na gut. Meinst du nicht, dass es dann besser wäre, du würdest endlich einmal das Kinderzimmer ausräumen … und endlich damit abschließen?«, sagt er mutlos.
»Damitabschließen?«
Wie kann er nur? Wie kann er mir so etwas, noch dazu so herzlos, sagen? Wie kann er denn nur erwarten, ich wäre dazu fähig, nachdem ich mich so auf das Baby gefreut und das Kinderzimmer voller Liebe eingerichtet habe? Ich kann das einfach nicht, noch nicht.
»Christian, ich glaube, es ist besser, wenn du jetzt alleine essen gehst«, sage ich leise, weil ich ihm ansonsten etwas an den Kopf werfen könnte, dass ich hinterher sicher bereuen werde.
»Was habe ich denn jetzt schon wieder falsch gemacht? Mein Gott, Maja, du machst es mir aber auch wirklich schwer! Ich habe das Gefühl, egal, was ich tue oder sage, es ist immer falsch! Komm doch mit – bitte!«
Doch statt einer Antwort starre ich nur mit verschränkten Armen wütend auf den Tisch, und schon kurz darauf fällt wieder einmal eine Tür mit lautem Knall ins Schloss. Ich habe es geschafft, die beiden Menschen, die ich am meisten liebe, in die Flucht zu schlagen. Na bitte! Das muss mir erst einmal einer nachmachen.
*
Ein alter Spruch sagt: Immer wenn du glaubst, es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her. Früher fand ich ihn blöd, doch inzwischen denke ich, dass an den alten Weisheiten durchaus etwas dran ist. Nach den Feiertagen brechen Nini und Christian mehr oder weniger gleichzeitig nach Stuttgart und Mannheim auf, angeblich um zu arbeiten bzw. das Studium wieder aufzunehmen. Ich vermute, in Wirklichkeit konnten sie wahrscheinlich nur das Häufchen Elend nicht mehr länger ertragen. Ich falle in ein unglaublich tiefes Loch und fühle mich nicht imstande, die Butterblume wieder aufzumachen, geschweige denn meinen Haushalt auch nur einigermaßen zu organisieren. Tagelang schlurfe ich im Bademantel umher und ernähre mich von Tütensuppen, Rotwein und Schokolade.
Mehrere Versuche, noch einmal mit Nini vor ihrer Abreise zu reden, waren erfolglos geblieben, sie hatte mir lediglich versprochen, noch einmal in Ruhe über alles nachzudenken und bis zum neuen Semester keine endgültige Entscheidung zu treffen. Das Verhältnis zu Christian war unterkühlt und hatte sich nur dahingehend verbessert, dass wir zwar wieder miteinander sprachen, uns aber ansonsten meist aus dem Weg gingen. In der Nacht, bevor er fuhr, hatten wir miteinander geschlafen, ohne uns jedoch wirklich nahe zu sein. Ich fühle mich einsam und frage mich, warum er für mich und meine Situation so wenig Verständnis hat. Es war doch auch sein Kind … wie kann er so locker darüber hinweggehen? Aber vielleicht ist er ja gar nicht so gefühllos, und es ist nur seine Art, damit fertig zu werden, indem er die Verdrängungstaktik anwendet.
Vielleicht hat er ja recht und es gefällt mir, in Selbstmitleid zu baden und darüber die Menschen, die mir nahestehen, ganz und gar zu vergessen. Das beste Beispiel ist Nini. Immer hat sie mir vertraut, über alles konnten wir miteinander reden. Die Tatsache, dass sie mich erst darüber informiert, dass sie das Studium hinwerfen will, als ihr Entschluss bereits feststeht, spricht Bände. Bin ich denn wirklich so egoistisch und denke nur an mich? Ich grüble mehr als je zuvor, ohne Ergebnis natürlich, und komme schließlich zu dem Schluss, dass Christians Idee, das Kinderzimmer auszuräumen, um mit der ganzen »Sache« endlich abschließen zu können, vielleicht gar nicht so schlecht war. Vielleicht ist es wichtig für mich, um nach vorne zu sehen und das neue Jahr nicht genauso traurig zu beginnen, wie ich das alte verabschiedet habe.
Also stehe ich an diesem kalten Januartag auf, mache nur eine kurze Katzenwäsche ohne mich zu schminken, binde mir die Haare zum Zopf und ziehe alte Jeans und einen Pullover an. Langsam gehe ich auf das Zimmer zu. Wie habe ich mich vor diesem Moment gefürchtet!
Wochenlang konnte ich nicht einmal in das Zimmer hineinschauen und hatte immer Herzklopfen, wenn ich daran vorbeiging. Ich nehme mein Herz in die Hand und allen Mut zusammen. Ich habe mich entschlossen, mit der Vergangenheit abzuschließen, um nach vorne zu sehen. Doch gerade, als ich die Klinke herunterdrücken und den Raum betreten will, klingelt es auf einmal Sturm an der Haustür.
»Majaaaa!«
Meine Mutter steht draußen, dick eingepackt in einen schweren hellen Webpelzmantel, und strahlt mich fröhlich an. Ihr Mann Steve ist beschäftigt, jede Menge Koffer aus dem Leihwagen zu hieven, und winkt mir fröhlich zu.
»Ich hatte so ein Gefühl, als ob du mich brauchst!«, sagt sie lachend und drückt mich so fest, dass mir die Luft wegbleibt.
»Und wenn ich dich so ansehe, dann hat mich mein Gefühl nicht getäuscht. Im Gegenteil, es wird höchste Zeit, dass dich deine alte Mutter mal wieder ein wenig aufpäppelt. Nicht wahr, Darling?«, ruft sie und wirft Steve eine Kusshand zu.
Wenn sie wüsste, wie gut es tut, sie zu sehen. Ich muss schlucken, denn mir kommen die Tränen, so froh bin ich, die beiden zu sehen.
Und dann gehen wir mit ungefähr 147 Koffern zurück ins warme Haus.
*
»Du liebe Güte, du hast ja überhaupt nichts Vernünftiges zu essen im Haus! Kein Wunder bist du so ein Strich in der Landschaft!« Beherzt greift meine Mutter zu Bleistift und Papier, um eine Einkaufsliste für Steve zu schreiben, der vermutlich nach dem langen Flug und der Fahrt über die vereiste Autobahn am liebsten erst einmal ein Schläfchen auf dem Sofa abhalten würde.
Kaum hat er das Haus mit der Einkaufsliste und einem Korb sowie allerlei Leergut verlassen, sieht meine Mutter mich ernst an.
»Wo ist Nini?«, fragt sie.
»Nini ist in Mannheim, das Studium hat doch wieder angefangen«, sage ich und versuche, die Krümel unauffällig unter den Tisch zu schieben. Mein Gott, sieht es hier aus! Auf einmal sehe ich die Wohnung mit den Augen meiner Mutter. Ich muss nachher unbedingt staubsaugen. Und Wäsche waschen. Und Fenster putzen.
»In Mannheim? Ich dachte, Nini wollte das Studium aufgeben!«, antwortet meine Mutter, während sie sich eine Schürze vom Haken nimmt und anfängt, die Küche aufzuräumen.
Also hat sie es auch gewusst! Vermutlich hat Nini sie angerufen und ihr ihren Kummer gestanden, weil ihre Mutter ein verheultes Weichei ist, das kein offenes Ohr für die Sorgen ihres einzigen Kindes hat.
»Mama, lass das doch bitte«, sage ich und nehme ihr den Staubsauger aus der Hand.
»Setz dich lieber ein bisschen zu mir. Ich mache das später!«
Wir setzen uns auf das Sofa und meine Mutter nimmt meinen Kopf in beide Hände.
»Mein armes Kind! Was hast du nur durchgemacht?«
Auf einmal fließen die Tränen, die sich seit Tagen und Wochen aufgestaut haben und die ich ständig vor allen und auch vor mir selbst verborgen gehalten habe, und wollen nicht mehr aufhören. Als ob ein Damm gebrochen wäre.
»Maja, ich weiß, für eine werdende Mutter ist es das Schlimmste, was passieren kann, wenn sie ihr Kind verliert.«
Ich kann nicht antworten, schniefe nur undefinierbares Zeug, das sich zwischen »Wenn ich nur wüsste, warum« und »Ich habe alles falsch gemacht, ich hätte mehr aufpassen sollen« und so weiter bewegt.
Meine Mutter hält mich schweigend im Arm und lässt mich einfach heulen.
Als ich endlich ruhiger werde, sagt sie: »Es gibt keine Antwort auf diese Fragen, Maja. Der liebe Gott holt manchmal jemanden zu sich, und man versteht nicht, warum gerade diesen Menschen. Aber er hat seine Gründe dafür! Ich weiß nur eines, Maja: Du hast keine Schuld, dass du das Baby verloren hast!«
»Doch! Ich hätte mehr aufpassen sollen! Ich habe die ganze Zeit so viel gearbeitet und mich nie geschont und …«
»Das ist es nicht, Maja. Zu allen Zeiten haben Frauen Kinder bekommen, ohne sich zu schonen. Haben gearbeitet wie ein Pferd und große Probleme oder schwere Kriegsjahre durchgestanden. Daran lag es ganz sicher nicht. Du darfst dir nicht solche Vorwürfe machen, du kannst überhaupt nichts dafür. Viele Frauen erleben das Gleiche, das du auch erleiden musstest.«
Das kann ja sein. Und doch gibt es etwas, das mich quält. Über das ich noch nie mit jemandem gesprochen habe.
»Vielleicht habe ich das Baby deshalb verloren, weil ich … weil ich … weil ich es am Anfang nicht wollte. Weil ich gezweifelt habe …«
»Blödsinn!«, sagt meine Mutter und schüttelt vehement den Kopf.