Manifestation der Angst - Matthias Roth - E-Book

Manifestation der Angst E-Book

Matthias Roth

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Beschreibung

Ein packendes Fantasy-Epos über Beziehungen, Opfer und Intrigen in einer von Konflikten zerrissenen Welt. Historische Anklänge sind verwoben mit bodenständiger Fantasy - hier gibt es keine schwertschwingenden Helden oder feuerspeienden Drachen, sondern tiefgehende, persönliche Dramen, komplexe menschliche Beziehungen und fesselnde Staatsraison. Acht Jahre nach der Wiedervereinigung und zwei Jahre nach dem Ende des verheerenden Sezessionskrieges scheint endlich Frieden in Galizina eingekehrt zu sein. Doch der Schein trügt. Revolutionäre Gruppen, die das Ende der Doppelmonarchie fordern, erstarkende Feindseligkeiten des nördlichen Nachbarn und der schwelende Konflikt zwischen dem säkularen Ostreich und dem religiösen Westreich destabilisieren die fragile Ordnung. Doch die größte Bedrohung soll erst noch kommen: Die arkanen Manifestationen. Paulina Nowgoroda, eine Adelige aus der Hauptstadt und einflussreiche Handelsgildenfrau, wird von niemand Geringerem als Kaiserin Alessia Vyrkov auf eine gefährliche Expedition geschickt. Die Kaiserin, einst Paulinas enge Freundin, hat sich durch ihre Kriegstreiberei und zunehmende Unberechenbarkeit von ihr entfremdet. Was als harmlose Handelsmission beginnt, entwickelt sich schnell zu einem Albtraum. Unvorstellbare Schrecken haben sich in den Ruinen eines Adelshauses, nahe des Dorfs Trocnov breitgemacht - Schrecken, vor denen nur ein verrückt geglaubter Arkanist gewarnt hat. Kann das Auftreten dieser arkanen Manifestationen durch Paulina gestoppt werden? Und wird das ohnehin schon zerrüttete Reich dieser neuen Bedrohung standhalten?

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Weitere Informationen und Kurzgeschichten in der Welt von Galizina unter https://www.galizina.de

Im gesamten Buch wird aus Gründen der einfacheren Lesbarkeit primär das generische Maskulinum verwendet. Dies schließt kontextbezogen auch andere Geschlechter mit ein.

Besonderer Dank gilt: Martina für wertvollsten Rat und Romina für blitzschnelles Lesen.

„Bleib!“

Inhaltsverzeichnis

Akt I

Prolog

Kapitel I: Wiedersehen

Kapitel II: Goldstück

Kapitel III: Herz

Kapitel IV: Moos

Kapitel V: Aufbruch

Kapitel VI: Annäherung

Kapitel VII: Gefangen

Kapitel VIII: Jagdbeute

Kapitel IX: Begegnung

Kapitel X: Konfrontation

Kapitel XI: Ausblick

Akt II

Kapitel XII: Auf und nieder

Kapitel XIII: Planung

Kapitel XIV: Kontakt

Kapitel XV: Hinab

Kapitel XVI: Adler

Kapitel XVII: Nebel

Kapitel XVIII: Forschung

Kapitel XIX: Tiefe

Kapitel XX: Verrat

Kapitel XXI: Erkenntnis

Kapitel XXII: Hunger

Kapitel XXIII: Dank

Kapitel XXIV: Wiederherstellung

Kapitel XXV: Bericht

Epilog: Wunden

Akt I

Prolog

Die trauernde Braut

Galizina, Ostreich, nahe der Ortschaft Trocnov im Sommer 1271

Das Wasser des Baches umfloss ihre dicken Lederstiefel. Für diese Jahreszeit waren sie eigentlich zu warm, aber Marilka mochte es darin zu laufen. Sie waren bequem und außerdem die einzigen Stiefel die sie besaß. Sie beobachtete das Schuhwerk, während der Bach träge weiter floss. Es war spannend wie ihre Füße, einer kleinen Blockade gleich, das Wasser stauten. Ein Stoß in den Rücken, der sie fast ins Wasser fielen ließ riss sie aus ihren Gedanken.

„Was glaubst du im Wasser zu finden?“, schnauzte sie Pietr, der den Abschluss der Gruppe bildete, an.

Wortlos ging Marilka weiter. Mit Pietr legte man sich besser nicht an, das hatte sie früh gelernt. So lange er etwas zu essen oder zu saufen hatte war er weniger schlimm, allerdings war es schon einige Stunden her, seit die Gruppe das letzte gerastet hatte. Pietrs Laune war also nicht gut.

Sie schloss zu den anderen auf und starrte auf den Rücken von Dogan. Der Köcher mit Pfeilen und der dazugehörige, morsche Eibenbogen nahmen einen Großteil desselben ein. Vor Dogan ging Aleksiv, der gemeinsam mit Dmitri den Auftrag organisiert hatte.

Der Weg begann langsam anzusteigen, und die Mauern des schon seit längerem sichtbaren Fürstensitzes waren wenige hundert Schritt entfernt. An einer Biegung des Weges hielt die Gruppe an. Eine lange ausgebrannte Feuerstelle zeichnete sich neben einer großen Buche im Gras ab.

„Wir machen hier Rast, bevor wir das Biest erlegen“, befahl Dmitri mit seiner rasiermesserscharfen Stimme.

„Woher weißt du das es ein Tier ist?“, fragte Dogan düster.

„Was soll es sonst sein, Mann? Groß, böse, reißt Tiere und Menschen. Wahrscheinlich ein Bär oder sowas.“ Dmitri entkorkte seine bauchige Weinflasche und trank in großen Zügen daraus. Anschließend begann er sein Rapier langsam mit einem Wetzstein zu schärfen. Marilka machte das Geräusch rasend, ihre Nervosität stieg dadurch nur weiter an.

Die Gruppe ließ sich neben der erkalteten Feuerstelle ins Gras sinken. Ein Feuer zu entfachen war nicht notwendig, die Sommersonne war heiß genug. Dogan hatte seinen Bogen neben sich im Gras abgelegt und biss vorsichtig von seinem Honig-Schweinerücken-Spieß ab. Das geräucherte Fleisch sah faserig aus, duftete aber himmlisch. Marilka lief das Wasser im Mund zusammen, sie hatte seit dem Aufbruch am Morgen nichts gegessen. Hungrig kramte sie den Beutel mit den Artischocken aus ihrem Rucksack und nahm sich einen dicken Kanten altbackenes Brot dazu. Die Artischocken waren noch leicht ölig.

Aleksiv lag auf dem Rücken neben der Feuerstelle und hatte die Augen geschlossen. Pietr warf ihn mit Brotkrumen ab und lachte dümmlich. „Wieso liegst du da Aleks? Iss was und bereite dich vor!“

„Ich tue etwas was dir wohl nicht in die Wiege gelegt wurde. Ich denke nach.“

Pietr wollte wütend aufbegehren, aber Dmitri fiel ihm ins Wort. „Pietr, spar dir deine Kraft für die bevorstehende Jagd. Aleks liegt immer auf dem Rücken, wenn er denkt. Und er hat Recht, das Denken ist wirklich nicht deine Stärke. Eher deine Oberarme.“

Marilka beobachtete den Disput während sie sich eine neue Artischocke aus dem gewachsten Lederbeutel fischte. Sie verabscheute diese Bande, allerdings hätte sie ohne sie in der Unterstadt nicht lange überlebt. Zumindest nicht ohne einige Körperteile zu verlieren oder zu verkaufen. Auch die Arbeit in den Staubminen hätte sie nicht länger ausgehalten, ihr Rücken war krumm und knotig gewesen, als sie die Arbeit dort endlich hatte niederlegen können. Nichtsdestotrotz hatte sie unheimliche Angst. Sowohl vor dem bevorstehenden Kampf als auch vor ihren eigenen Kumpanen. Ihre Hände begannen wieder zu zittern. Sie schaffte es kaum die angebissene Artischocke in den Mund zu schieben. Kauend wischte Marilka die Hände im Gras ab und suchte in ihrer Tasche verzweifelt nach dem was ihrer Angst Abhilfe schaffen würde. So hoffte sie zumindest. Nach kurzem Suchen fand sie was sie suchte und steckte sich den Rauchstängel zwischen die Lippen. Mit einem Feuerstein und einem Plättchen Stahl schaffte sie es nach einiger Zeit das gerollte Papier anzuzünden. Marilka zog stark an dem Rauchkraut und blies leise hustend blauen Rauch aus. Tatsächlich beruhigten sich ihre zitternden Hände etwas.

„Rilka, hast du da wieder Traumstaub eingemischt? Du weißt das wir das Zeug verkaufen und nicht selber rauchen sollen. Das macht dich noch kaputter als du eh schon bist“, blaffte Dmitri sie wenig freundlich an. Natürlich sagte er das nicht zu ihr, weil er fürsorglich sein wollte und sich um sie sorgte. Er sorgte sich allein um den Profit. Wenn ein Mitglied der Pariah sich mit Traumstaub das Hirn bis zur Stauberkrankung zerschoss, gab es ein Pariah-Mitglied weniger, dass das lilafarbene Gut verkaufte. Außerdem war die Gefahr immer groß, dass der Staub aus den Lagern der Bande geklaut wurde. Wer bei so etwas erwischt wurde musste zwar mindestens mit einer Hand bezahlen, allerdings schreckte das Staubkranke nicht immer ab.

Marilka schüttelte den Kopf, doch das war eine Lüge. Natürlich war Traumstaub dem Rauchkraut beigemischt. Sie wusste, dass sie das Zeug zu oft nahm, jedoch wollte sie heute nicht darauf verzichten. Konnte nicht darauf verzichten. Außerdem hatte sie nur wenig Traumstaub in das Kraut gemischt, redete sie sich ein, sie wollte ja nicht völlig berauscht durch das Anwesen stolpern. Vollständig entsagen konnte sie, in Anbetracht der kommenden Gefahr, dem Staub jedoch nicht vollständig. Nur noch wenige Stunden, dann würde es vorbei sein. Dann musste sie keine Angst mehr haben. Sie hatte Dmitri mit seinem blitzschnellen Rapier, den zielsicheren Dogan mit seinem Bogen, Aleksiv mit einem Langen Messer und Pietr mit seinem Vorschlaghammer. Seit einigen Monaten begleitete sie diese Gruppe jetzt schon und Marilka hasste jeden Moment mit und jeden von ihnen, im Moment war sie allerdings um deren Anwesenheit froh. Keiner den sie kannte würde die Aufgabe besser erledigen können. Wer weiß wie viele Kniescheiben Pietrs Hammer schon zertrümmert hat, oder wie viele zahlungsunfähige Schuldner schon durch Dmitris Rapier durchbohrt worden waren.

Marilka betrachtete die Saufeder, die neben ihr im Gras lag. Gestern hatte sie noch einem örtlichen Jäger gehört. Anfänglich hat er sich gewehrt, als die Gruppe ihn um einige seiner Habe erleichtert hat. Als Dmitri aber seinen Jagdhund mit dem Rapier an die Wand genagelt hatte und Pietr seiner Frau gefährlich nahegekommen war, hatte er nachgegeben. Sogar seine übrigen Kronen und das viel zu gute Essen, dass gerade in ihren Bäuchen landete, hatte er abgegeben. Der Kerl tat Marilka leid. Niemals aber hätte sie etwas gegen die Ungerechtigkeit, die ihm widerfahren war unternommen. Das war keine Frage der Moral, sondern eine Frage der Selbsterhaltung. Hätte sie Partei für ihn ergriffen hätte sie mindestens einige Zähne verloren. Sie hatte sich ebenfalls an seinem Geldbeutel und an seinen Vorräten vergriffen. Moral sorgte nur dafür, dass man früher ins Gras biss, dachte sie. Der Jäger hatte sicherlich genug eingelagert, versuchte sie sich einzureden, wenn nicht jagte er eben neues Wild.

Natürlich konnte der Mann zum Bürgermeister von Trocnov gehen, dafür würde er allerdings viel zu viel Angst haben. Aleksiv hatte ihm, mit seiner ruhigen, bedrohlichen Stimme, klar gemacht was passieren würde, wenn er dies tat. Doch selbst wenn er den Mut fasste, sie wären längst über alle Berge bevor der Bürgermeister die Stadtwachen alarmieren konnte.

Marilka schielte zu dem unausgesprochenen Anführer ihrer Gruppe. Vor Aleksiv musste man sich generell am Meisten in Acht nehmen, dachte sie. Er wirkte sehr ruhig, fast schon harmlos. In den Gassen von Neuer Schacht, dem Bezirk der Unterstadt in dem sie sich meistens aufhielten, hielt sich aber die Vermutung das er gerne den Leichenbeschauern und Totengräbern bei ihrer Arbeit zusah. Es ging außerdem das Gerücht umher, dass bei einem Begräbnis häufiger ein Körperteil der Leiche fehlte, nachdem Aleksiv zugegen war. Was er damit tat wusste niemand.

Marilka vermisste Neuer Schacht schon fast. Natürlich war es schöner im Gras unter der Sonne zu liegen und etwas zu essen was nicht aussah wie eine zähe, dunkle Masse und roch wie ein Abwasserkanal, die Umstände machten ihren Aufenthalt unter der Sonne aber weniger schön. Drei Tagesreisen von Goldhafen nach Trocnov. Wäre das Gerücht von den herrenlosen Reichtümern in dem alten Familienanwesen doch niemals in die Gassen von Neuer Schacht gelangt. Sie würde lieber wochenlang die Sonne nicht sehen und täglich Schwarzen Topf essen als die Strapazen dieser Reise zu ertragen. Und mit Strapazen meinte sie hauptsächlich ihre Begleiter. Brabek, der Anführer der Pariah in Neuer Schacht und der gesamten Unterstadt, hatte sie eingeteilt mit der Gruppe zu gehen und die vermuteten Reichtümer für die Pariah in Besitz zu nehmen. Sie hätte ihren letzten Auftrag besser ausführen sollen, dann hätte sie vielleicht niemals mitgemusst.

Marilka schmatzte leicht nachdem sie erneut an ihrem Rauchstängel zog. Sie schmeckte beinahe den schwarzen Topf, das beliebte Gericht in Neuer Schacht und der restlichen Unterstadt. Beliebt nicht wegen des Geschmacks, sondern weil alle Zutaten leicht zu beschaffen waren. Die Basis bildete zumeist gebratene Ratte. Man briet sie in der eigenen Soße, schnitt Zwiebeln und etwas Kohl hinzu und warf alles mit etwas Wasser und schalem Bier in einen Kochtopf. Der Name kam von den Fellstücken, die versehentlich manchmal mitgebraten wurden. So war zumindest das Gerücht.

Marilka hatte sich erzählen lassen, dass wohl viele der reichen Oberstädter Schwarzen Topf zum Vergnügen und zur Belustigung aßen. Natürlich war dieser dann von eigenen Köchen gekocht, die Zutaten waren frisch, statt Ratten wurden Hühnchen gebraten und allgemein hatte es sehr wenig mit dem richtigen Schwarzen Topf aus der Unterstadt zu tun. Marilka hatte sogar gehört, dass sich die reichen Medames und Mesers, junge Frauen und Männer aus der Unterstadt holten um ihnen dieses Gericht zu servieren. Ihre Freundin Agatha durfte bei so einer Veranstaltung die Bedienung mimen. Sie bekam ein anständiges Bad, frische Kleidung und etwas Warmes zu essen. Außerdem gab es sieben Kronen als Lohn. Sieben Kronen! Und selbst die Kleidung durfte sie behalten. Natürlich war es nur billiges Leinen, in ausgewaschenen Grau- und Brauntönen, es musste ja zum Bild, welches die hohen Herren von den Unterstädtern hatten passen, aber dennoch. Marilka konnte sich nicht mehr daran erinnern, wann sie zuletzt ein ordentliches Bad oder neue, gute Kleidung bekommen hatte. Die dünne Lederkleidung, die sie trug hatte sie von Dmitri. Sie war ihr etwas zu groß und abgetragen, aber immerhin versprach sie sich etwas Schutz davon. Schutz vor was auch immer sie erwartete. In ihrer Barracke in Neuer Schacht lagen zwei Kleider, eines davon hatte sie schon seit sie sich erinnern konnte, das andere hatte vorher ihre Schwester getragen. Marilka dachte daran wie gerne sie das einmal machen würde. Statt hier in der Wildnis wäre sie in den riesigen Wohnhäusern der Oberstadt, die ihr wie kleine Paläste vorkamen. Auch als Zimmermädchen oder Bedienstete wäre sie unheimlich glücklich. Nur blieb ihr dieser Luxus als Kind der Unterstadt verwehrt.

„Aufstehen, bereitet euch vor“, riss die schneidende Stimme von Dmitri sie aus ihren Gedanken. Dogan stand murrend auf und nockte die Sehne seines Bogens ein. Er strich anschließend mit seiner Rechten über die Befiederung seiner Pfeile. Aleksiv erhob sich wortlos und sein Waffengehänge klirrte leise als er sich bewegte. Die Gruppe machte sich zum Abmarsch bereit, lange war es nicht mehr. Marilkas Hände begannen wieder zu zittern. Sie packte den Schaft ihrer Saufeder fester.

Langsam gingen sie um die nächste und letzte Biegung des Weges. Sattgrünes Gras rahmte den Weg ein, Vögel sangen und Insekten zirpten. Nichts deutete auf das Grauen hin, vor welchem sie die Dorfbewohner gewarnt hatten. Und weswegen sie, ihrem unterschriebenen Kontrakt nach, hier waren.

Die Mauern kamen immer näher als sie auf den großen Torbogen zuschritten. Bedrohlich sah die Festung eigentlich nicht aus, eher etwas altertümlich. Die Außenmauern und Gebäude bestanden aus hellen Mauersteinen, wie er häufig im östlichen Teil von Flamen zu finden war. Den Torbogen schmückte in der Mitte des Bogens ein Wasserspeier, welcher eher fröhlich wirkte als gefährlich. Die Tore waren weitestgehend intakt, standen aber offen. Von hier oben hatte man einen wunderbaren Ausblick über die gesamte Region, das Dorf Trocnov und den gleichnamigen Bach, die wenigen, kargen Felder, die steinigen Hänge und die lichten Wälder. Marilka konnte sich sehr gut vorstellen wie lebhaft es hier zu den Zeiten der Laukai vorgegangen sein musste. Die uralte Dynastie hatte seit Ewigkeiten dieses Anwesen bewohnt.

Marilka schluckte. Bis vor vier Jahren. Auf dem Weg nach Trocnov hatten die anderen Gruppenmitglieder viel über die Geschichte der Familie und die Legenden, welche sich um diesen Ort rankten, erzählt. Bei dem Gedanken daran lief Marilka ein Schauer über den Rücken. Die Einwohner von Trocnov erzählten sich, dass es hier spukte. Die Forderungen der Adelsfamilie an die Bewohner des Landes waren immer höher geworden, die Abgaben die sie hatten leisten müssen immer mehr. Regelmäßig hatten Repressalien ohne erkennbaren Grund stattgefunden, sagte man sich. Das Volk hatte gelitten und es sprachen sich sogar Gerüchte herum, dass die Laukai Monster gewesen waren, die in Menschenblut badeten. Beschwerden, die der Legende nach bis an den Goldenen Palast gegangen waren, waren unbeantwortet geblieben, worauf die Bürger von Trocnov ihr Schicksal selbst in die Hand genommen hatten. Mit Mistgabeln, Forken und Fackeln waren sie eines Tages vor den Toren des Anwesens gestanden und hatten verlangt die Laukai zu sprechen. Den Vorsitz der Familie der Laukai hatte zu diesem Zeitpunkt Marille de Laukai gehabt. Sie, ihr Mann und ihre Söhne und Töchter hatten das Land mit eiserner Hand regiert. Marille hatte als grausame Frau gegolten, weswegen sie naturgemäß auch den Bauern und Bürgern von Trocnov wenig gesprächsbereit gegenüber gewesen war. Ein Massaker war die Folge gewesen, dem die gesamte Familie der de Laukai zum Opfer gefallen war. Sie waren getötet worden, die grausame Marille und ihr Ehemann, aber auch die Kinder, bis auf die kleinsten. Sogar die Bediensteten, Köche, Stallburschen und Hausmädchen hatte man nicht verschont. Tagelang waren die Leichen der Adeligen im Festungshof an Galgen gebaumelt, auf improvisierten Scheiterhaufen oder im Dreck verrottet. Die Bewohner von Trocnov begründeten den Ausbruch von Gewalt und Zorn anfangs noch mit der Unterdrückung durch die Adeligen und deren Schergen, von denen die Gewalt an jenem Tag auch ausgegangen sein soll. Die Wachen und Lakaien der Laukai sollen die Gemeinschaft der Dörfler angegriffen haben. Bald schon aber wollten sie mit diesem blutigen Teil der Geschichte abschließen und trotz der wenigen Zeit, die seitdem vergangen war, vermieden sie es die Vorgänge offen anzusprechen. Wo anfangs noch Stolz und das Recht auf ihre Selbstbestimmtheit aufgetragen wurde, verspürte man jetzt Scham und Unwohlsein. Einige zumindest. Andere leugneten aus Furcht vor Konsequenzen die Taten in Gänze, die in dieser Nacht begangen wurden.

Es hatte lange gedauert, bis Bürger losgeschickt worden waren um die Leichen der Adeligen und ihres Gefolges zu begraben. Erst kürzlich hatte der Bürgermeister Dorfbewohner ausgeschickt um ebenjenes zu tun. Die wenigen die vom Anwesen zurückgekehrt waren, welche oft nicht alle waren die ausgeschickt worden sind, berichteten mit schreckenserstarrten Gesichtern von einem Spuk der das Schloss befallen hatte. Man schenkte diesen Geschichten nur wenig Glauben und schrieb die Ereignisse der traurigen Geschichte des Ortes zu.

Dennoch hielten sich diese Schauermärchen hartnäckig. Geräusche kamen scheinbar aus dem Anwesen, welche man nicht aus einem leeren und baufälligen Gebäude erwartete. Den Bürgermeister von Trocnov hatte das dazu veranlasst einen Kontrakt auszuhängen um die vermeintliche Gefahr ein für alle Mal zu bannen. Und das brachte auch Brabek dazu den Kontrakt anzunehmen. Der Boss der Pariah glaubte nicht an Geister und Spuk. Er sah nur die Möglichkeit Profit zu machen. Das Anwesen stand seit mittlerweile vier Jahren leer, die Vorrats-, Schatz- und Waffenkammern waren aufgrund des vermeintlichen Fluchs bisher nicht angetastet worden. Brabek versprach sich unheimlich große Schätze von diesem Kontrakt.

„Auf geht’s“, grunzte Dmitri und schob sich langsam durch die offenen Tore. Die ganze Reise hatte er darüber gescherzt, dass sie hier nichts außer Staub und Knochen antreffen würden und trotzdem bemerkte Marilka wie vorsichtig er sich bewegte.

„Rilka, geh schon“, zischte Dogan ihr zu.

„Willst du nicht vor mir gehen?“, antwortete Marilka leise und versuchte das Zittern in ihrer Stimme zu unterdrücken.

„Willsssssst du nicht vor mir gehen?“, äffte Dogan sie nach und schob sie einfach durch den Torbogen. Marilka hasste es, wenn man sich über ihr Lispeln lustig machte. Sie hasste diesen Makel und Dogan band ihn ihr allzu oft auf die Nase.

Ängstlich stolperte sie durch das Tor und fand sich neben Dmitri wieder, der sich langsam mit zusammengekniffenen Augen umschaute. Marilka packte mit der Rechten ihre Saufeder fester, mit der Linken umklammerte sie das Blechmedaillon, welches um ihren Hals hing. Ein unsauberes ‚S‘ war dort eingeritzt. Sie besaß das Medaillon schon seit ihrer Kindheit und hatte es kaum einmal ausgezogen. Sie betete außerdem zum Einen und zu den arkanen Heiligen. Obwohl sie nicht religiös war, konnte sie doch gerade jede Hilfe gebrauchen die verfügbar war. Vielleicht erhörte der Eine oder einer der Heiligen ja heute ihre Gebete.

Langsam traten auch die anderen Mitglieder durch das Tor. Der große, nahezu halbkreisförmige Innenhof war verwildert. Das Gras wuchs hier aufgrund des felsigen Untergrunds zwar nicht besonders hoch, allerdings rankten überall Wildrosen und Efeu an den hellen Steinmauern entlang. In weiten Teilen des Innenhofs lagen verschiedenste Utensilien, Werkzeuge und kaputte Haushaltsgegenstände. Die Innenmauern säumten leere Ställe in denen gammelndes Stroh und zerbrochene Kistenstapel lagen. Auf direktem Weg vom Tor führte ein ausgetretener und wilder Kiesweg zu den großen, schmuckreichen Eingangstoren des Anwesens. Diese waren, im Gegensatz zum Außentor, zu. Über eingefallene Treppen konnten die schmalen Wehrgänge der Außenmauern erreicht werden. Eine kleine, offene Kapelle, deren Dach ein großes Loch aufwies, war ebenfalls im Innenhof zu sehen. Rechts der Tür zum Anwesen ging es eine Treppe hinab, vermutlich führte die zum Keller. Seitlich versetzt des Weges erhob sich ein Brunnen, dessen Kurbel beschädigt war, ein Eimer hing nicht mehr an dem zerfaserten Seil.

„Verteilt euch“, wisperte Dmitri.

Aleksiv ging vorsichtig in Richtung der kleinen Kapelle. Dmitri blieb nahe des Tores stehen und beäugte langsam die Mauern. Pietr stapfte zu einer eingefallenen Stallung rechts des Tores. Marilka schlich nach kurzem Zögern vorsichtig in Richtung des Brunnens. Es war nahezu totenstill. Der Wind bewegte einige Gräser und Sträucher, Vogelgesang oder Insektenzirpen war gar nicht zu hören. Ab und zu quietsche ein altes Scharnier oder verrotendes Holz knarzte. Aus Pietrs Richtung kam ein Knirschen. „Hier liegen überall Knochen rum Boss“, raunte er leise. Marilka war erstaunt wie Pietr es fertig brachte so leise zu sprechen. Das hatte sie bisher noch nie von ihm gehört.

Ein weiteres Knacken schreckte Marilka auf. Ihr Kopf ruckte in Richtung der Herkunft des Geräusches. Es war allerdings nur die beschädigte Kurbel des Brunnens, die etwas abgerutscht war. Sie näherte sich dem gemauerten Rund immer weiter. Ihr lief kalter Schweiß den Rücken herunter, etwas stimmte mit diesem Ort nicht, das spürte sie. Sie schaute flehend zurück zu Dmitri, der ihr aber mit einer Handbewegung vulgär bedeutete weiter auf die gemauerte Wasserquelle zu zugehen.

Aleksiv war beinahe bei der Kapelle angelangt. Vorsichtig ging er um die Kapellmauer herum um einen Blick hinein werfen zu können. Angespannt erreichte Marilka den Brunnen und berührte den grob behauenen Stein mit ihrer Hand. Er war angenehm kühl. Sie streckte ihren Kopf langsam vor um den Brunnenschacht hinab blicken zu können. Handbreit um Handbreit sah sie weiter in das Dunkel hinab.

Leere Augenhöhlen eines Schädels starrten zurück. Ein Skelett war mit einem Seil im Brunnenschacht befestigt. Marilka erschrak. Mit einem Aufschrei stieß sie sich vom Brunnenrand weg und fiel rücklings ins Gras.

Dmitri stürmte in ihre Richtung. „Was hast du gesehen Rilka?“, donnerte er.

Marilka konnte kaum sprechen. Der Schock hatte sie wie ein Hammerschlag getroffen. „Nur ein Skelett im Brunnen, tut mir leid“, stammelte sie.

Die Erklärung benötigte Dmitri nicht mehr, er war schon bevor sie ihren Satz beendet hatte am Brunnen und konnte sich selbst ein Bild machen. Er blickte kurz in den Brunnen und drehte sich mit zornigem Blick zu Marilka um, die immer noch im Gras saß. Seine sich anbahnende Schimpftriade wurde aber von Pietr unterbrochen, der aus den Stallungen rief.

„Hier liegen auch nur Knochen Boss.“

„Hier genauso“, schallte es von der anderen Seite des Innenhofs von Aleksiv. Dmitri setzte sich in Bewegung Richtung Kapelle. Marilka rappelte sich auf und kam schwankend auf die Beine. Langsam beruhigte sich ihr schmerzhaft pochendes Herz wieder. Sie lief Dmitri hinterher, selbst seine Anwesenheit war besser als in diesem verfluchten Gemäuer alleine zu sein.

Dmitri starrte mit Aleksiv in die kleine Kapelle. Ein Skelett klammerte sich noch im Tod an den Altar. In seinen Rippen steckte eine Heugabel, deren mittlerer Sporn abgebrochen war. Die Person war von hinten erstochen worden, als sie sich in die Kapelle flüchten wollte. Dmitri machte große Schritte um die Knochen des Skeletts herum, als er auf den Altar, auf dem goldene Kelche standen, zuschritt. Prüfend hob er sie hoch.

„Stell sie wieder hin, die gehören dem Einen“, schnauzte ihm Aleksiv zu.

„Seit wann bist du denn religiös“, kicherte Dmitri zurück. Marilka stimmte Aleksiv im Stillen zu, sie hoffte, dass Dmitri die Kelche umgehend zurückstellte. „Ist eh nur Messing“, meinte Dmitri achselzuckend und warf den Kelch achtlos auf den Altar. Er prallte davon ab und traf das Skelett im Gesicht, was dessen Unterkiefer abbrechen ließ. Marilka hielt die Luft an, auch Aleksiv versteifte sich. Es herrschte kurz absolute Stille.

Nichts passierte. Erleichtert atmete Marilka auf.

Die drei verließen die Kapelle und gingen auf die andere Seite zu Pietr in die Stallungen. Dogan, der noch immer mit einem Pfeil auf der Sehne seines Bogens nahe des Tores stand, blickte zu ihnen. „Was gefunden?“, rief er.

„Ne, die Reichtümer werden drinnen sein“, antwortete Dmitri. Es achtete keiner mehr darauf leiser zu sein und auch Marilka entspannte sich ein wenig. Bisher hatten sie noch keine Geister bemerkt.

Die drei erreichten die Stallungen. Pietr kam aus einer Stallbox heraus und gesellte sich zu den dreien, die auf eines der von Pietr gefundenen Skelette starrten. Anders als die anderen beiden waren um die Knochen des Skeletts noch Kleidungsreste gewickelt. Die Trägerin dieses Kleids musste wohlhabend gewesen sein, selbst nach all der Zeit sah man der Gewandung an, dass sie teuer gewesen sein musste. Feine Goldfäden und Brokat zierten das Gewand. „Scheinbar wollte sie den Stall verlassen. Es sieht so aus als wäre sie Richtung Brunnen gelaufen“, meinte Dmitri. „Der Kleidung nach zu urteilen könnte das Marille sein. Die Unterdrückerin. Das im Brunnen waren die Überreste eines Kindes, vermutlich wollte sie ihrer Brut helfen.“ Er spuckte aus, sein Speicheltropfen verfehlte Marille de Laukai nur knapp. „Hat offensichtlich nicht geklappt.“

„Schaut mal her“, sagte Pietr und winkte sie in eine leere Stallbox. Ein weiteres Skelett hing in dieser. Man hatte die Person mit Hanfseilen an die Ringe gebunden, die normalerweise für das Ankoppeln der Pferde gedacht waren. Anschließend war sie mit Pfeilen durchsiebt worden, im Skelett steckten vier davon, drei weiter lagen zerbrochen davor. Der Schädel war dem Skelett auf die Brust gesunken. Anhand der Kleidung des Skeletts war erkennbar, dass die Person männlich gewesen sein musste. Aleksiv pfiff leise durch die Zähne. „Das war sicher der Ehemann.“ Marilka wandte sich angewidert um und ging wieder in den Innenhof. Die anderen drei folgten ihr. Auf dem Weg nach draußen fielen Marilka weitere Knochen in der Mitte des Stalls auf. Viele davon waren zerbrochen, teilweise richtiggehend zersplittert. Marilka wurde es übel, sie konnte sich vorstellen was mit diesen Menschen passiert war, Die durchgehenden Pferde mussten sie erwischt und niedergetrampelt haben.

Die Gruppe blieb beim Brunnen stehen, auch Dogan kam etwas näher. „Also, dann fangen wir an. Pietr, Dogan und ich nehmen uns das Haupthaus vor. Aleksiv, du und Rilka…“ Dmitri unterbrach sich. Der Wind wehte auf einmal stärker. Er zerrte an Aleksivs weitem Hemd und wehte Marilka ihre dunklen Locken ins Gesicht. Verwirrt schauten sich die fünf nach einer Ursache des plötzlich eintretenden Windes um. „Verflucht, was ist das? Wo kommt das her?“, keuchte Dogan auf einmal.

„Von was redest du?“, fuhr Dmitri ihn an.

„Die Schreie, der Lärm…“ Dmitri sah ihn verständnislos an. Auch Marilka wusste nicht wovon er redete.

Aleksiv zog mit einer schwungvollen Bewegung sein Langes Messer. Und dann hörte es auch Marilka. Unmenschliche Schreie drangen in ihre Ohren. In der Unterstadt hörte man viele Menschen schreien, aus den unterschiedlichsten Gründen, aus Lust, aus Schmerz, aus Verzweiflung, aber etwas Vergleichbares hatte sie noch nie gehört. Als würde jemandem bei lebendigem Leib die Eingeweide herausgerissen.

Die Schreie wurden immer lauter und durchdringender. Marilka hörte einzelne Wortfetzen zwischen den Schreien, Menschen flehten um Gnade und beteuerten ihre Unschuld. Kinder schrien nach ihren Eltern. Zu den Schreien kam ein Geruch. Es stank nach Blut, verbranntem Fleisch und Schweiß. Die Saufeder fiel ins Gras und Marilka presste sich die Handflächen an die Ohren. Die Schreie konnte sie dadurch nicht unterdrücken. Sie sah verschwommen wie Dmitri sich ebenfalls die Ohren zuhielt. Er schrie seinen Gefährten etwas zu, Marilka hörte ihn allerdings nicht.

Auf einmal wurde es ruhig, das Schreien ebbte ab. Vorsichtig nahm nahm Marilka die Hände von den Ohren. Auch die anderen fingen sich wieder und schauten sich verwirrt um.

„Was…“ hob Pietr an zu sagen, doch er stockte als er Dogans Gesichtsausdruck sah. Marilka wandte sich ihm zu. Mit schreckensweiten Augen starrte er an ihrem Kopf vorbei und hob die Hand um auf etwas hinter ihr zu zeigen. Marilka drehte sich, wie die anderen der Gruppe, ruckartig um.

Was sie sah, was sich vor ihnen erhob, war unbeschreiblich. Sie konnte sich nicht mehr bewegen. Sie stand starr wie ein Fels und konnte ihren Blick nicht von dem erschienenen Etwas abwenden. Die Erscheinung schwebte etwa einen Schritt über dem Boden. Die Maße ihrer Extremitäten erinnerten an die eines Kindes, doch war die Erscheinung mindestens drei Schritt groß. Die Füße der an die groteske Form eines Menschen erinnernden Erscheinung hingen aus einem ehemals weißen Kleid hervor. Es war verbrannt und mit Blut bedeckt, wirkte allerdings fast ätherisch, als könne man es nicht greifen, fast schon durchsichtig. Aus den Ärmeln des Kleides ragten Arme hervor. Zwei Arme pro Seite. Die Arme endeten nicht in Händen, sie endeten in Heugabeln, Sicheln und Nagelknüppeln.

Das Gesicht war das Schrecklichste was Marilka je gesehen hatte. Es wirkte wie das eines Kindes, nur war es viel größer. Die untere Hälfte des Kopfes war skelettiert, Die Zähne des Oberkiefers standen weit auseinander. Der Unterkiefer fehlte. Das Wesen schwebte regungslos im Innenhof. Der Wind und die Schreie waren verstummt.

Dogan starrte das Wesen weiterhin an, einen Pfeil immer noch auf der Sehne. Aleksiv hatte sein Langes Messer fest umklammert und schielte zum Tor des Anwesens. Pietr hatte seinen Vorschlaghammer in seiner Linken und blickte zu Dmitri.

Dmitri zog sein Rapier und schrie. „Alle zusammen, los!“ Er stürmte dem Wesen entgegen, einen Sekundenbruchteil später folgte ihm Aleksiv. Pietr brauchte etwas länger um sich zu fassen, stürmte nach kurzer Zeit aber mit erhobenem Hammer auf die Erscheinung zu. Dogan schrie Marilka an, die sich nur langsam von ihrer Schockstarre erholte. „Reiß dich zusammen, nutzloses Miststück, und folge den anderen!“ Marilka hob ihre Saufeder auf und rannte den anderen hinterher. In den Gassen der Unterstadt gab es zwar einige Schrecken, Mörder, Kranke und Ungetier, trotzdem war Marilka erstaunt mit wie wenig Furcht die anderen der Gruppe sich der Erscheinung entgegenstellten. Fast waren sie bei dem Monster angelangt, als Dogan den aufgelegten Pfeil von der Sehne schnellen ließ. Sirrend flog er das kurze Stück und schlug mit einem dumpfen Schmatzen in dem schwebenden Körper ein. Jetzt erreichten auch Dmitri, Aleksiv und Pietr das Wesen und schlugen und stachen mit ihren Waffen danach.

Die Augen der Erscheinung begannen rot zu leuchten und ein Schwall roter Tränen drang aus seinen Augen. Sie drehte sich Aleksiv zu, der sein Langes Messer eher wie eine Holzfälleraxt verwendete. Als die Augen des Wesens ihn fixierten wich er zurück. Das Sichelende eines Arms schlug nach ihm. Den Schlag blockierte Aleksiv mit seinem Langen Messer, der nächste Schlag mit einem Arm der in einer Heugabelspitze endete folgte jedoch sofort, Aleksiv konnte sich gerade noch darunter wegducken. Dmitri und Pietr nutzten die Situation aus und griffen das Wesen von hinten an. Pietr hob seinen Hammer über den Kopf und hieb dem Monster in den Rücken. Jedem Tier und jeder Person wäre damit das Rückgrat zertrümmert worden, die Erscheinung zeigte sich davon aber unbeeindruckt.

Marilka war jetzt nahe an der Erscheinung, sie stach mit ihrer Saufeder nach dem Wesen. Schnaubend drehte es sich um und holte mit einem Nagelknüppelarm Dmitri von den Beinen. Er flog mehrere Schritt weit.

Marilkas Blick traf die Augen des Wesens. Ihr rannen Tränen über die Wangen, noch nie war sie so etwas begegnet, nicht in den tiefsten Tiefen der Staubminen, benebelt von der Droge. Aleksiv nahm sein Langes Messer mit beiden Händen und stach es der Kreatur von hinten in den Ort, in dem bei Menschen das Herz lag. Er versuchte die Waffe zu drehen, im verzweifelten Versuch der Kreatur mehr Schaden zuzufügen. Ein silberner Blitz durchzuckte die Luft und Aleksiv sank auf die Knie. Er blickte erstaunt auf seine Arme, die bis gerade eben noch in Händen geendet hatten. Aleksivs Hände klammerten sich immer noch um den Griff der Waffe, welche in der Erscheinung steckte, während Aleksiv am Boden kniete und seine blutenden Armstümpfe anstarrte. Lange musste er sich damit nicht aufhalten. Es blitzte erneut und der Sichelarm trennte mit unmenschlicher Geschwindigkeit den Kopf von Aleksiv ab, der aufgrund der Wucht des Streichs durch die Luft segelte und nahe des Tors aufschlug.

Marilka fing leise an zu wimmern. Pietr und Dogan waren still geworden. Dmitri hatte sich mittlerweile aufgerappelt, der Nagelknüppel hatte ihn nur gestreift. „Zurück zum Tor, Rilka nach rechts, Pietr nach links, Dogan und ich nehmen das Vieh von vorne“, brüllte er. Pietr hechtete zum Tor, Marilka stand weiterhin wimmernd vor der Erscheinung. Sie konnte sich nicht bewegen, sie war wie angewurzelt. „Rilka, willst du draufgehen, los jetzt du Miststück“, schrie Dmitri erneut. Sie erwachte aus ihrer Starre und rannte von der Erscheinung weg, auf den ihr zugewiesenen Platz. Die Erscheinung schrie und schwebte zügig Dmitri und Dogan entgegen. Dogan ließ dem Wesen einen weiteren Pfeil entgegenfliegen, der es im Hals traf. Es schrie noch lauter und flog schneller auf Dmitri und Dogan zu.

„Jetzt!“ schrie Dmitri. Pietr stürmte auf das Wesen zu, Marilka tat es ihm gleich. Dmitri sprang aus der Bahn des Wesens und stach mit seinem Rapier nach ihm. Mit unfassbarer Schnelligkeit schloss das Wesen die Distanz zu Dogan, der panisch versuchte einen Pfeil aus seinem Köcher zu ziehen. Mit dem Arm der in einer Heugabel endete stach die Kreatur nach seinem Gesicht. Der Schütze war flink, doch kein Mensch hätte mit derartiger Geschwindigkeit mithalten können. Einer der drei Dornen traf Dogan im rechten Auge, der mittlere mitten im Gesicht, der letzte der Dornen riss ihm das Ohr ab. Aufgespießt auf die Heugabel hob das Wesen Dogan hoch und warf ihn gegen den Brunnen, der einige Schritt entfernt stand. Der Körper verdrehte sich unnatürlich und blieb reglos liegen.

Dmitri und Pietr droschen weiter auf die Kreatur ein und beschimpften sie dabei lauthals. Marilka stach ebenfalls mit ihrer Saufeder zu, ihren Stichen fehlte es aber an Kraft. Das Wesen drehte sich ihr zu und starrte sie kurz aus rot leuchtenden Augen an, bevor es mit dem Nagelknüppel nach ihr hieb. Sie versuchte den Schlag mit ihrer Saufeder zu parieren. Durch die Wucht des Angriffs splitterte der Schaft und Marilka ging in die Knie. Schmerzhaft bohrten sich einige Holzsplitter in ihr Gesicht. Auf allen vieren kroch sie von dem Wesen weg, Panik erfüllte sie immer mehr. Die Erscheinung starrte sie mit ihren bluttränigen Augen nur an.

Pietr versuchte erneut mit einem Überkopfschlag in den Rücken der Kreatur Schaden zuzufügen. Er hob den Hammer über seinen Kopf und wollte ihn gerade niederfallen lassen, als sich ein Arm der Kreatur nach hinten und mitten durch ihn hindurch bohrte. Die Kreatur starrte Marilka dabei weiterhin an. Pietr ächzte als der gesamte Arm der Kreatur ihm ein Loch in die Körpermitte stanzte. Mit einer Drehung des Arms, welche ein Mensch niemals hätte vollbringen können, warf sie den Körper von Pietr neben Marilka ins Gras. Sie sah das riesige, käseradgroße Loch in ihm, welches die Kreatur hinterlassen hatte. Eingeweide drangen daraus hervor.

Marilka weinte nicht mehr, sie starrte nur mit aufgerissenen Augen zwischen Pietr und dem Wesen hin und her. Sie spürte wie ihre Hose im Schritt nass wurde, um sich dafür zu schämen war sie jedoch viel zu verängstigt. Dmitri, der die Szenerie mit Pietr beobachtet hatte, wollte durch das nahe Tor entkommen. Einer Peitsche gleich schoss ein tentakelartiger Arm aus einem der Kleiderärmel und schloss sich um den Hals von Dmitri. Dieser klammerte sich ächzend an den Tentakel und versuchte ihn von sich zu reißen. Der Tentakel gab nicht nach. Langsam hob er Dmitri vor das Gesicht der Kreatur. Der Pariah-Schläger versuchte zu schreien und hieb mit seinem Rapier immer weiter auf das Wesen ein. Erneut kreischte das Wesen und durchtrennte Dmitris Körper mit dem Sichelarm oberhalb der Hüfte in zwei Teile. Die beiden Teile ließ das Wesen achtlos liegen.

Marilka versuchte zum Tor zu kriechen. Sie schluchzte. Die Erscheinung wandte ihr den Kopf zu und schaute ihren Anstrengungen zum Tor zu kommen zu. Sie schrie erneut.

Der Tentakelarm griff nach ihrem Bein und schleuderte sie durch die Luft. Sie schlug hart gegen die innere Felswand des Torhauses und spürte ein Knacken in ihrem linken Arm. Das Wesen wandte sich von ihr ab und schwebte auf eine der Leichen zu. Marilka rappelte sich auf, den linken Arm hielt sie fest an ihre Brust gepresst. Sie lief durch das Tor, durch welches sie vor wenigen Minuten erst das Anwesen betreten hatten. Sie musste durch die Blutlache und die Eingeweide von Dmitri waten, welche den Eingang bedeckten, beinahe rutschte sie darauf aus.

Als sie das Tor durchschritten hatte hörte sie fröhliches Vogelgezwitscher. Der Geruch nach Blut war ebenfalls verschwunden. Marilka schaffte fünf Schritte, dann brach sie in die Knie. Sie übergab sich und weinte. Es fühlte sich an als würde sie stundenlang dort auf dem Boden liegen. Unfähig sich zu bewegen gab sie sich den Wellen aus Schmerzen und Angst hin, die ihren Körper durchströmten.

Als die Würgekrämpfe nachließen stand sie schwerfällig auf und rannte so schnell sie konnte. Sie wollte einfach weg von dem Anwesen und dem Schrecken den es beherbergte. Marilka wusste nicht wie lange sie rannte. Sie ließ die Erhebung, auf der das Anwesen gebaut war hinter sich und durchquerte die Furt des Baches und rannte bis ihre Kraft sie verließ und sie inmitten einer Kreuzung der Straße zusammenbrach.

Die Arkanistin von Trocnov stand mit dem Jäger und dem Bürgermeister im Rathaus des Dorfes. „Die gehört zu der Gruppe die mich überfallen hat. Sie haben mir all mein Geld genommen und meinen Hund ermordet“, erzählte der Jäger aufgebracht, der die junge Frau vor wenigen Stunden bewusstlos auf der Straße Richtung Anwesen gefunden hatte.

„Wo wollten sie hin?“, fragte die Arkanistin.

„Sie haben den Kontrakt für das Anwesen der Laukai angenommen“, antwortete der Bürgermeister anstatt des Jägers und rieb sich nachdenklich das Kinn. Er und die Arkanistin tauschten vielsagende Blicke.

„Ich will entschädigt werden“, beharrte der Jäger.

„Das wirst du, Kolya, das wirst du“, antwortete die Arkanistin. Sie wandte sich an den Bürgermeister und fuhr fort. „Ich verfasse sofort einen Brief an den Erzarkanisten meines Ordens.“ Mit wehenden Roben eilte sie aus dem Rathaus. Kurz bevor sie die Tür erreichte drehte sie sich noch einmal um. „Achja, sperrt sie ein. Verletzt oder nicht, sie ist eine verdammte Pariah-Verbecherin.“

Kapitel I

Wiedersehen

Galizina, Ostreich, Goldhafen im Sommer 1271

Paulina stand im Erdgeschoss des Hauptsitzes der Handelsgilde von Goldhafen. Konzentriert notierte sie auf einer Wachsholztafel welche der Kisten, die von der ‚Eisvogel‘ abgeladen worden waren, beschädigt waren. Das Schiff war von einem Sturm auf ein Riff getrieben worden, weswegen die Ware deutlich verspätet angekommen war. Und teilweise kaputt.

Der Bereich des Gebäudes in dem sie sich aufhielt, der linke Flügel, war verhältnismäßig ruhig. Die eine Seite des Raumes bestand aus einem großen Tor, in dem die Waren zur Durchsicht und zur Inventarisierung eingebracht werden konnten, die Mitte des Raumes war vollständig von Kisten gesäumt. Im Hauptflügel des Hauptquartiers ging es deutlich geschäftiger zu. Kapitäne, reisende Händler, Abenteurer, Botschafter, sie alle kamen in die Gilde um Waren zu verkaufen, Handelskontrakte zu unterschreiben, zu feilschen und manchmal auch nur um zu zetern. Paulina war froh, dass sie ausnahmsweise nicht selbst Streitgespräche oder Verhandlungen über Kontrakte führen musste, sondern einfach nur angekommene Kisten inventarisieren konnte. Ihr Vater, der zwei Stockwerke über ihr an seinem Schreibtisch saß, bestand normalerweise darauf, dass sie Verhandlungen führte und mit Botschaftern sprach. Er wollte, dass sie einmal in seine Fußstapfen trat, oder sogar noch darüber hinauswuchs. Er war einer der Gildenvorstände der Handelsgilde. Zusammen mit sechs anderen Männern und Frauen führte er die Geschäfte der Gilde.

Paulina fand es allerdings mindestens genauso wichtig die Arbeiten der rangniederen Gildenmitglieder zu verrichten. Güter inventarisieren, Geld zählen, Listen korrigieren, Botengänge erledigen, Kapitäne am Hafen begrüßen, mit Betrügern und einfachen Händlern streiten, nur so konnte sie wissen was in der Organisation vorging die sie einmal leiten sollte.

Paulina nahm sich die nächste Kiste vor und seufzte. Eine Holzwand war aufgebrochen und im Innern sah man zwischen dem Stroh, welches polstern sollte, nur noch Scherben. Diese Scherben waren einmal feinste myrenische Tonvasen gewesen. Wunderschön und sündhaft teuer. Paulina kannte die Kapitänin der ‚Eisvogel‘, sie nahm sich vor später mit ihr zu sprechen. Das Schiff segelte nicht unter der Flagge der galizinischen Handelsmarine, sie war ein Freihändler-Schiff. Für die Kosten der Schäden musste sie also vollständig selbst aufkommen. Paulina konnte den Schaden, den die Kapitänin nun hatte aber wenigstens versuchen etwas zu mildern. Sie konnte die Schulden an die Gilde etwas schmälern und möglicherweise sogar einige Kronen für die Reparatur des Schiffes aufwenden. Die ‚Eisvogel‘ hatte viele Jahre lang treu der Handelsgilde von Galizina gedient.

„Wie sieht es aus?“ Ihr Bruder Thomasz hatte sich ihr genähert und kaute an einem Apfel, dessen Überreste er in der Hand hielt.

„Nicht gut. Viele der Kisten sind zerbrochen.“ Paulina fasste sich nachdenklich an ihr Kinn und sog die staubige Luft ein. „Für mich sieht es so aus als wären sowohl die Inhalte in den Kisten, als auch die Kisten selbst richtig verstaut gewesen. Ich überlege gerade wie wir der Kapitänin entgegenkommen können.“

Thomasz verzog das Gesicht, als wäre der Apfel plötzlich sauer geworden. „Das wird die Gilde viel kosten. Du musst dir überlegen wie du das angehen willst. Ich kenne die Kapitänin der ‚Eisvogel‘. Wild und aufbrausend…“

Paulina unterbrach ihn. „Ich weiß worauf du hinauswillst, aber ich werde der Kapitänin keine Schuldenerlassungen vorenthalten, wenn sie sie rechtmäßig verdient.“

Der Blick ihres Bruders änderte sich nicht, er war nicht überzeugt. „Paulina, du bist zuallererst der Gilde verpflichtet. Wir sind keine Wohltätigkeitsorganisation.“

„Eine Bande von gierigen Halsabschneidern sind wir aber auch nicht Thomasz. Zumindest ist das nicht meine Vision der Gilde. Die ‚Eisvogel‘ liefert seit Jahren fristgerecht Waren an uns. Noch nie haben sich unsere Klienten beschwert, noch mussten wir uns beschweren. Ich werde der ‚Eisvogel‘ und ihrer Kapitänin die gleiche Treue zuteilwerden lassen die sie uns entgegenbringt.“

Thomaszs Gesichtsausdruck verhärtete sich erst, begann aber dann in ein liebevolles Lächeln überzugehen. „Ich bin froh das wir dich haben Paulina. Wir brauchen die Stimme der Vernunft und Menschlichkeit. Ich brauche die Stimme der Vernunft und Menschlichkeit, wenn mich die bürokratische Unvernunft packt.“ Paulina dachte erst er wollte sie auf den Arm nehmen. Seinem Gesichtsausdruck zu urteilen meinte er aber wirklich ernst was er sagte. Ihr Bruder zog einen versiegelten Brief aus seinem Wams hervor. Das Siegel zeigte den goldenen, galizinischen Doppeladler des Goldenen Palastes. „Möchtest du nicht wissen wieso ich hier bin?“, fragte er erwartungsvoll lächelnd.

Paulina stürmte auf ihn zu und schnappte nach dem Brief, doch er war schneller und zog die Hand weg. „Spinnst du? Gib mir den sofort, was steht da drin?“

Thomasz lachte als Paulina um ihn und seine erhobene Hand mit dem Brief darin umhersprang und versuchte ihn zu greifen. Auch Paulina fing an zu lachen, als Thomasz beinahe das Gleichgewicht verlor. „Also gut, also gut, hier bitte. Ich will mir nicht den Hals brechen.“ Außer Atem gab er Paulina den Brief. Sie nahm auf einer intakten Kiste Platz und brach das Siegel. Vorsichtig entrollte sie den Brief und las. „Kommt er direkt von der Kaiserin?“ fragte Thomasz neugierig, als Paulina ihren Kopf hob und von dem Papier aufsah.

Sie ließ gedankenverloren den Brief sinken. „Ja, sie möchte mich sehen. Ich soll heute Abend mit ihr zu Abend essen.“

„Ist das so ungewöhnlich? Immerhin kennt ihr euch seit Jahren.“ Thomasz korrigierte sich. „Jahrzehnten.“

Paulina antwortete hektisch. „Ja, das ist ungewöhnlich. Bisher ließ sie mich immer direkt rufen. Von einem Boten, nicht so förmlich. Ich war außerdem schon lange nicht mehr im Palast.“ Paulina schluckte. Seit Ewigkeiten nicht mehr, korrigierte sie sich in Gedanken. Paulina und Kaiserin Alessia kannten sich schon seit sie Kinder waren. Beide entstammten adeligen Familien und Familie Nowgoroda hatte enge Beziehungen zur Kaiserfamilie. Sie waren ähnlich aufgezogen worden und hatten die gleichen Lehrer gehabt. Schon als Kinder hatten sie zusammen Unfug getrieben und Paulina hatte fast mehr Zeit im Goldenen Palast verbracht als in ihrem eigenen Zuhause. Auch als die Thronbesteigung von Alessia immer näher gerückt war und Paulina mehr und mehr in die Geschäfte der Gilde einbezogen wurde, hatte das ihre Freundschaft nicht geändert. Erst in den letzten Jahren war sie erkaltet. Paulina war in vielen Dingen anderer Meinung als die Kaiserin. Die Kriege, die sie geführt hatte, vor allem der Sezessionskrieg mit Levka und den Nordoblasten, hatten Paulinas Meinung nach nur Leid über die Menschen gebracht. Sie hatte anfangs gedacht, dass ihre Freundin diese Kriege aufgrund schlechter Beratung geführt hatte. Dass die Militärs und ihre Duma die eigentlichen Urheber waren. Mittlerweile wusste sie nicht mehr ob das wirklich den Tatsachen entsprach. Ihre Freundin hatte sich sehr verändert. Die steigende Armut der Leute in Goldhafen, die schrecklichen Zustände in der Unterstadt, all das waren Probleme, welche der Kaiserin nicht wichtig genug war. Das dachte zumindest Paulina.

Nichtsdestotrotz verband Paulina etwas mit der Kaiserin. Wenn sie also ihre Anwesenheit erbat dann kam Paulina. Sowieso war es nicht klug der Kaiserin etwas abzuschlagen. Wenn sie eine formelle Einladung schrieb erhöhte das nur die Wichtigkeit des Anliegens.

Paulina sah an sich hinab. „Ich muss mich umziehen“, sagte sie geistesabwesend zu Thomasz, in Gedanken schon bei ihrer Garderobe. Sie trug ein geschlitztes Wams mit geschlossenem Kragen und weiß-blauen, pompösen Ärmeln, den Farben der Handelsgilde. Dazu kam eine weite, hellbeige und ebenfalls geschlitzte Hose. Da sie viel im Gildenhauptquartier und am Hafen unterwegs war trug sie weiche, bequeme Stiefel aus edlem Leder. Die Kleidung war zwar edel, aber nicht edel genug für ein Abendessen mit der Kaiserin. Paulina überlegte welches ihrer Kleider sie anziehen konnte. Sie lächelte. Der Gedanke daran sich herauszuputzen bereitete ihr Freude. Dazu hatte es schon lange keine Gelegenheit mehr gegeben. Sie rief nach einer Kammerdienerin, als sie stürmisch den Flügel verließ und ihrem verdutzten Bruder dabei Holztafel und Griffel in die Hand drückte.

Paulina stand vor den großen Torflügeln des Goldenen Palasts. Beim Aufstieg zum Palast, der über Goldhafen thronte, hatte sie versucht sich auf das Kommende vorzubereiten. Es war schon lange her, dass sie ihre alte Freundin gesehen hatte. Nervös nestelte sie an der goldenen Kordel herum, die ihren Gürtel bildete. Sie trug sie über einem azurblauen Kleid. Viele der Adeligen am Hof schmückten sich in helle Farben, die vor allem von Händlern aus dem Süden eingeführt worden waren, doch Paulina wusste, dass die Kaiserin dunkle Farben mochte, weswegen sie sich für eine klassische Farbgebung entschieden hatte. Ihre blonden Haare hatte sie zu einem altgalizinischen Mittelscheitel mit gelocktem Knoten frisieren lassen. Ein dunkles Band ergänzte ihre Haartracht. Paulina drehte sich kurz um und blickte in den weiten Innenhof des Palastes. Einige der Edelfrauen und -männer die hier zwanglos flanierten kannte sie.

Der Drushinar, der vor dem Tor postiert war schob den rechten Torflügel auf. Paulina nickte ihm zu und trat ein. Sie musste nur wenige Schritte gehen bevor sie zu den beiden Treppen gelangte, welche links und rechts von einer marmornen Statue, die Zorislav Honorius Vyrkov, den Urgroßvater von Kaisern Alessia, zeigte, in die Haupthalle führten. Der marmorne Handlauf fühlte sich angenehm kühl an ihrer Hand an, als sie die Treppen, die oben wieder zusammenliefen, erklomm. Als Paulina das Ende der Treppen erreicht hatte lief sie zügig den roten Teppich auf den Thron zu, der ein wuchtiger Anblick war, aus dem dunklem Holz der galizinischen Eiche gefertigt, mit Goldintarsien übersät. So sehr das man kaum mehr das Holz darunter erkennen konnte.

Den Anblick raubte der Thron der Kaiserin trotz seiner Opulenz jedoch nicht. Sie trug ein samtrotes Kleid, welches mit Goldfäden durchzogen war. Auf dem geschlossenen Dekolletee prangte, ebenfalls in Gold, der doppelte galizinische Adler. Auf dem Kleid verteilt waren Bernsteine eingefasst, welche die Kaiserin fast leuchten ließen. Eine wuchtige Krone ruhte auf den tiefschwarzen Haaren der Kaiserin. Der Augenfang war hier der große, leuchtende Bernstein, welcher in die Stirnpartie der Krone eingefasst war. Einige Schritte vor dem Thron blieb Paulina stehen und begrüßte die Kaiserin förmlich.

„Ich grüße Euch Kaiserin Alessia Loretta Vyrkov von Goldhafen.“ Sie sank auf ein Knie und beugte ihren Kopf. Stille folgte. Sie starrte weiter auf den marmorierten Boden. Paulina nahm das Rascheln eines Kleides wahr und sah den goldenen Saum auf einmal in ihr Blickfeld kommen. Die Kaiserin nahm sie sanft bei den Armen und bedeutete ihr aufzustehen. Langsam erhob sich Paulina und sah ihr in die blaugrauen Augen. Deren Mundwinkel bewegten sich langsam nach oben. Man sah ihr an das sie nicht oft lächelte, dachte Paulina. Ihre alte Freundin hatte sich verändert, das merkte sie heute wie so oft.

Die Kaiserin lächelte sie aus vollen roten Lippen an. „Eine Freundin muss nicht vor mir knien.“ Ihre befehlsgewohnte, angenehme Stimme hallte von den goldbesetzten Wänden wider. Die Kaiserin umarmte Paulina. Die Umarmung war, aufgrund der Kleider der beiden Frauen recht steif.

Erst nachdem sie sich voneinander gelöst hatten konnte Paulina antworten. „Ihr seid die Kaiserin. Natürlich knie ich vor Euch.“

„Ich habe dich nicht eingeladen, dass du mit mir sprichst wie die üblichen Speichellecker bei Hof. Von denen habe ich genug.“

Kaiserin Alessia hakte sich bei Paulina ein und führte sie in den Kleinen Speisesaal, der im Westflügel, direkt neben dem Thronsaal lag. Paulina war länger nicht mehr im Palast gewesen. Früher, vor der Thronbesteigung von Kaiserin Alessia, hatten sie oft in den weitläufigen Räumen bis in die Nacht zusammengesessen und diskutiert. Politische und religiöse Themen, wie sie die Welt besser machen könnten, wie sie Ungerechtigkeiten im Reich bekämpfen könnten, wenn Alessia erst Kaiserin würde. Paulina wusste, dass das naive Ideen von jungen Leuten gewesen waren die so nie umgesetzt hätten werden können. Das wussten sie beide, damals schon. Paulina hatte sich aber, dass sagte sie sich zumindest, einiges vom damaligen Idealismus bewahrt, der der Herrscherin gänzlich abhanden gekommen war.

Die Kaiserin führte sie in den kleinen, aber prächtigen Speisesaal, in dem sie oft Diplomaten oder Botschafter anderer Reiche empfing. Die Wände schmückten Kriegsbanner von Galizina und Gemälde bekannter Künstler. Paulina hatte das Gemälde von Stepan Krawcyk, einem bekannten Portraitmaler, dass den alten Kaiser, den Vater von Alessia zeigte, immer gut gefallen. Der Boden war mit tiefroten Teppichen ausgelegt, die Mitte nahm eine lange Tafel ein, an der auf jeder Seite etwa fünf Personen Platz nehmen konnten. Alessia steuerte allerdings auf einen der kleineren Tische zu, die am Rande des Raumes standen. Auf dem Tisch stand eine Schale mit Obst und zwei Weinkelche aus grünem Glas. Der Geruch der frischen Früchte durchströmte den Raum, der sonst eher nach kaltem Stein roch.

Alessia ließ sich in einem der beiden Stühle, die an dem runden Tisch standen, nieder. Paulina wartete bis die Kaiserin saß und nahm dann auf dem anderen Stuhl Platz. Trotz der Vertrautheit mit welcher die Kaiserin sie behandelte, blieb sie doch vorsichtig und hielt sich an die Etikette.

Kaiserin Alessia machte eine winkende Geste Richtung der Drushina, welche nahe der Tür stand. „Du kannst gehen.“ Die Drushina grüßte militärisch indem sie sich mit der Faust auf die goldene Brustplatte schlug, bevor sie den Raum verließ. Alessia nahm eine Traube zwischen zwei Finger und steckte sie sich in den Mund. „Überall sind die.“ Sie deutete auf die Tür, durch der die Drushina verschwunden war. „Ich weiß nicht wann ich das letzte Mal wirklich alleine war, immer sind die um mich.“

„Du bist die wichtigste Person im Reich. Sie sorgen dafür, dass das noch eine Weile so bleibt.“

Alessia machte eine abwinkende Geste. „Ein Risiko gehe ich gerne ein, wenn ich im Gegenzug dafür einen halben Tag Ruhe bekomme.“

Paulina hörte aus ihrer Antwort heraus das sie darauf keine Reaktion hören wollte. Sie versuchte das Thema zu wechseln. Hinter der Kaiserin an der Wand hing ein großer Bärenkopf, auf den sie nun deutete. Er war ihr neu. „Das ist ja ein… interessanter Wandschmuck.“

Alessia lachte. „Den hat mir ein arretischer Fürst zu meinem fünfundzwangisten Geburtstag geschenkt. Schrecklich oder? Was soll ich denn mit einem Bärenkopf?“

Paulina kam nicht zum Antworten. Die Kaiserin läutete eine kleine, bronzene Glocke die auf dem Tisch stand. Sie wirkte gehetzt, das kam wohl mit ihrem Amt. Sofort kam eine Bedienstete aus einer Tür an der gegenüberliegenden Seite des Raumes. Alessia winkte ihr ohne Hinzusehen. „Wir wollen speisen, bringt den ersten Gang.“

Paulina fiel jetzt erst auf wie hungrig sie war. Ihre Nervosität hatte augenscheinlich ihren Appetit gedämpft. Zwei Bedienstete stellten mit Gold verzierte Keramikteller vor ihnen ab. Auf diesen Tellern dampften frisch gebackene Lepinje neben kalten, eingelegten Paprika, Gurken, Tomaten und Brechbohnen, die in kleinen Tonschälchen, ebenfalls mit Gold verziert, darauf warteten verspeist zu werden. Für die Kaiserin war dieses Gericht eigentlich zu bürgerlich, sie wusste wohl aber noch wie gerne Paulina Lepinje aß. Eine der Bediensteten goss Wein aus der Karaffe in die beiden Gläser, bevor sie lautlos durch die Tür verschwand durch die sie gekommen war.

Die Kaiserin hob ihr Glas und stieß mit Paulina an. „Auf die Tage in denen wir mehr Zeit miteinander verbringen konnten.“ Sie lächelte Paulina zu und Paulina meinte einen traurigen Schein in den Augen der Kaiserin wahrzunehmen. Sie setzte ihren Kelch an die Lippen und trank vorsichtig. Paulina war das Trinken zwar gewöhnt, ein erfolgreiches Handelsabkommen wurde häufiger zwischen den Partnern und auch innerhalb der Gilde ausgiebig gefeiert, allerdings wollte sie einen kühlen Kopf bewahren.

Der Wein war köstlich. Er war sehr leicht, ein Sommerwein.

„Altgalizinischer Sommerwein. Kommt von Weinbergen in der Karolingischen Liga. Wie man Wein keltert wissen die dort.“ Die Kaiserin trank noch einen Schluck bevor sie den Kelch abstellte. „Iss“, wies sie Paulina an.

Kaiserin Alessia griff nach dem Lepinje und rupfte gedankenverloren Stücke davon ab, welche sie sich, wenig kaiserlich, in den Mund steckte. Paulina tat es ihr gleich. Sie hatte schon lange nicht mehr so leckeres Lepinje gegessen. Die Kaiserin begann über den Adel zu sprechen und wie sehr sie von dem raubtierhaften Verhalten genervt war. Paulina kam kaum zu Wort, fragte nur hin und wieder nach oder äußerte sich kurz dazu. Ihr fiel erneut auf, wie sehr sich die Kaiserin verändert hatte. Sie wirkte abgehärteter, unnahbarer als Paulina sie in Erinnerung gehabt hatte. Selbst nach ihren Zwisten über die Politik des Reiches war Kaiserin Alessia nicht so kalt gewesen wie sie jetzt wirkte.

Der Hauptgang wurde relativ schnell aufgetischt. In einer dampfenden Schüssel wurde Gulyás aus Hirschfleisch mit Kartoffeln, Rosmarin und einer Haube aufgeschlagener Sahne serviert. Die Kaiserin erzählte, dass der Hirsch wohl erst am Morgen durch kaiserliche Jäger erlegt worden war.

Während sie aßen wagte Paulina eine Frage zu stellen. „Welche Neuigkeiten gibt es aus dem Westreich? Wie ergeht es König Alexandr?“

Alessia verzog das Gesicht. „Welche Neuigkeiten es gibt sollte ich dich fragen. Die Händler und Kaufleute bringen dir sicher mehr Tratsch aus dem Westreich als ich dir erzählen kann. König Alexandr macht das was er immer macht. Er ist zufrieden so lange er in seinem Palast König und Kriegsherr spielen kann. Er überlässt mir die Geschäfte des Reiches, auch einen Großteil der Geschäfte aus seinem Teil. Zum Erntedank war angedacht, dass der König und ich durch das Reich reisen und ausgewählte Dörfer und Städte besuchen würden. Für danach bin ich nach Westheim eingeladen worden, wo ich mir die Quacksalbereien des Kardinals anhören soll.“ Die Kaiserin streckte die Arme gebieterisch aus und sprach mit tief verstellter Stimme. „Oh Kaiserin Alessia, möget Ihr Euch ewig im Licht des Einen sonnen und möge das Land Euch und unser Volk weiterhin so reich beschenken…“

Paulina prustete aufgrund dieser Darbietung los. „Das hört sich schrecklich an“, lachte sie.

Alessia senkte ihre Arme und fiel in das Lachen ein. „Das wird es auch, glaub mir. Du könntest mitkommen, dann wird es wenigstens etwas erträglicher.“ Bevor Paulina antworten konnte fuhr die Kaiserin fort. Es war wohl keine Frage gewesen. „Nun, es ist noch nicht klar ob ich die Einladung wahrnehmen kann. Dringende Angelegenheiten im Palast zwingen mich hier zu sein und ich werde die Reise vermutlich erst nach Koleda antreten können. Worüber ich auch nicht traurig bin.“ Die Kaiserin rupfte sich erneut etwas Lepinje ab. „Im Herbst begleiten der König und ich ein gemeinsames Militärmanöver. Es wird bei einem kleinen Dorf in der Goldebene stattfinden, Pszenica. Ich bin gespannt wie unsere Ritter und Arbalesten mit den Regimentern des Westens zusammenarbeiten. Erntedank wird der König alleine feiern müssen.“ Trotz des geeinten Reichs unterschied sich das Heer des Westens deutlich von dem des Ostens. Aufgrund der Einwebung von Arkanerz in die Waffenproduktion hatten sich im Westreich andere Truppentypen und Doktrinen entwickelt. Die Westarmeen setzen sehr stark auf Fernkampfwaffen, Arkebusen und Kartaunen und nahmen Hellebardiere und Pikeniere nur als Unterstützungstruppen wahr. Paulina musste so etwas wissen, auch der Handel mit Metallen zur Waffenverarbeitung lief über die Handelsgilde.

Die Kaiserin schwenkte zum Alltag am Hof. Von den vielen Sitzungen mit ihrem Beraterstab, der Duma, in der Vertreter der wichtigsten Institutionen des Ostreichs saßen. Sie erzählte von dem ewigen Jammern des Obersten Schatzmeisters, vom gelangweilten Gerede des Erzarkanisten, von den Sorgen bereitenden Berichten der Großinquisitorin und von vielen, vielen Adeligen. Über die Vertretung der Handelsgilde erzählte sie relativ wenig, vermutlich deshalb, weil Paulina ebendieser angehörte und ihr Vater derjenige war, der für die Organisation in der Duma saß.

Nach dem Hauptgang, welcher schnell abgetragen wurde, wurden kleine Zupfkuchen serviert. Sie waren auf kleine Stäbchen gesteckt und mit Zuckerguss umhüllt. Ein wunderbarer Duft wurde mit ihnen in den Raum hereingetragen.

„Komm, lass uns nach draußen gehen.“ Die Kaiserin nahm sich zwei der kleinen Kuchen und ihren Weinkelch, welcher im Lauf des Abends schon häufiger nachgefüllt worden war, und bewegte sich zu einer Tür am Raumende. Paulina erinnerte sich, dass die Tür auf einen geräumigen Balkon führte, von welchem eine perfekte Sicht auf den großen Hafen von Galizina genossen werden konnte. Sie schnappte sich ebenfalls einige der Kuchen und folgte dem eleganten Schritt der Kaiserin.

Die Luft draußen war erfrischend. Es war später Frühling und daher noch relativ warm, trotz der fortgeschrittenen Stunde. Geschäftige Geräusche aus dem Hafen und der Stadt unter ihnen drangen gedämpft zu ihnen nach oben. Paulina lehnte sich über die Brüstung und starrte angestrengt in den von Fackeln und Laternen erhellten Hafen. Sie glaubte die ‚Eisvogel‘ im Hafen zu erkennen, der Mast hing relativ schief.

„Nach was hältst du Ausschau?“, wollte Alessia wissen.

„Ach, einer unserer Freihändler, die ‚Eisvogel‘, geriet in einen Sturm. Ihre Ware ist beinahe vollständig zerstört und das Schiff selbst hat ebenfalls gelitten.“

Die Kaiserin wandte ihren Blick vom Hafen Paulina zu. „Wenn sie Freihändler sind, sind sie doch selbst dafür verantwortlich, ist es nicht so? Das sollte die Handesgilde doch keine Kronen kosten?“

Paulina seufzte innerlich. Es nervte sie. Sie wollte das Gespräch mit ihrem Bruder nicht noch einmal wiederholen und die gleichen Punkte durchkauen müssen. „Ich kenne die Kapitänin der ‚Eisvogel‘ seit vielen Jahren, sie war der Handelsgilde immer treu und hat zuverlässig Waren aus allen Teilen des Kontinents geliefert. Ich werde diese Treue nicht vergessen.“ Paulina biss sich auf die Lippe. Sie hoffte sie hatte nicht zu hart reagiert.

Die Kaiserin hob eine Augenbraue. „Wie kann sie dir und der Handelsgilde treu sein, wenn sie Freihändlerin ist? Wenn sie uns treu wäre, würde sie Teil der Handelsmarine werden.“ Paulina wurde zunehmend genervter. Steckte wirklich gar nichts mehr von ihrer alten Freundin in diesem roten Kleid? Die Kaiserin sprach weiter. „Wer nicht unter der Flagge des Reiches segelt darf auch nicht mit Vergünstigungen desselben rechnen.“

„Man kann auch Treue zum Reich beweisen ohne unter dessen Flagge zu dienen“, hielt Paulina dagegen. Sie wollte diese Diskussion nicht führen. Sie würden zu keinem Ergebnis kommen. Doch sie konnte nicht anders.

„Die Jahre als Kaiserin haben mich gelehrt, dass dem nicht so ist. Entweder bekennst du dich zum Reich und seiner Kaiserin, oder du bist eben nicht Teil des Reiches.“

Paulina blickte der Kaiserin zornig in die Augen. „Jetzt verstehe ich auch wieso es den Sezessionskrieg gab. Den Nordoblasten wurde wohl vorgeworfen nicht treu genug zum R…“

Paulina brach ab. Sie war zu weit gegangen und sie wusste es. Bei allen Heiligen, sie hätte sich nicht dazu verleiten lassen dürfen das zu sagen. Das Gesicht der Kaiserin war wie erstarrt, die beiden Frauen schauten sich weiterhin in die Augen. Gemeint hatte Paulina damit den verlustreichen Konflikt zwischen dem frisch vereinigten galizinischen Reich und dem Zarenreich Levka, der vor sieben Jahren begonnen und vor zwei Jahren geendet hatte. Die offizielle Ursache war eine aufkeimende pro-levkische Stimmung der nördlichen Oblaste Stastín und Karenina gewesen. Die Kaiserin und der König hatten eine Abspaltung der Oblaste und anschließende Angliederung an Levka befürchtet, weswegen sie der Zarina von Levka den Krieg erklärt hatten. Der ganze nördliche Landstrich von Galizina war durch diesen Krieg verwüstet worden. Tausende waren Pogromen von fanatischen Bekennern des Einen zum Opfer gefallen, welche aus dem Westreich gekommen waren und sich dem stehenden Heer angeschlossen hatten. Höfe und Dörfer der eigenen Landsleute waren durch Soldaten geplündert und Unschuldige, die als Partisanen verdächtigt worden waren, ermordet worden. Erst nach Jahren war der Krieg vorbei gewesen. Karenina, zumindest das was davon übriggeblieben war, verblieb wie Stastín im Reich, die Aufständischen wurden brutal unterdrückt und in ganz Galizina wurde der Ausgang der Kämpfe als glorreicher galizinischer Sieg gefeiert. Ein Sieg der nur aufgrund der Wiedervereinigung der beiden Reichsteile möglich gewesen war.

Paulina hatte auch die andere Version der Geschichte gehört. Die, die man sich hinter vorgehaltener Hand erzählte. Dass die Kriegsgründe ausschließlich auf der Paranoia und Angst der Herrschenden basierten und sich die Nordoblaste nie abspalten hatten wollen. Dass das militärische Zusammenwirken der beiden Reichshälften ein Desaster gewesen war, dass die levkischen Armeen nur aufgrund der weit geringeren Anzahl an Soldaten die Oblaste nicht überrannt hatten, dass die Verluste des galizinischen Heeres riesig waren und dass der allgemeine Ausgang des Krieges katastrophal war. So katastrophal, dass man der levkischen Zarina wohl Reparationen gezahlt hatte, um den Krieg schnell beenden zu können. Natürlich widersprachen die offiziellen kaiserlichen und königlichen Stellen dieser Darstellung und sie war sogar unter Anklage auf Hochverrat verboten auszusprechen. Der Krieg war als schneller Sieg und als Demonstration der Macht des geeinten Reichs gedacht gewesen, war aber in einem Desaster geendet. Was die galizinische Propaganda nicht daran hinderte ihn als großen Sieg zu feiern.

Die Kaiserin antwortete leise, ohne den Blick von Paulina abzuwenden. „Du weißt nicht wovon du redest. Du leitest nicht einmal die Niederlassung deiner Gilde, ich leite ein ganzes Reich. Du hast keine Ahnung davon welche Opfer ich bringen muss.“