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Band 3 des großen nordischen Fantasy-Bestsellers! Der Fimbulwinter herrscht über Nordeuropa, Krankheiten und Hunger breiten sich aus, und die Weissagung der Seherin vom Weltuntergang scheint sich zu bewahrheiten. Oder hat Anne die Zeichen vielleicht falsch gedeutet? Um das drohende Schicksal zu verstehen, muss Anne ihre Kräfte sammeln und den Unterschied zwischen Freund und Feind erkennen. Doch unter ihren engsten Vertrauten befindet sich ein Verräter, und sie beginnt zu begreifen, dass die Ragnarök womöglich nicht das Schlimmste, was ihnen passieren könnte. Anne würde mit ihrem Leben bezahlen, um den Untergang abzuwenden. Doch der Preis dafür ist höher, als sie ahnt, und die Zeit läuft gegen sie …
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Seitenzahl: 895
Malene Solvsten
Das Flüstern der Raben
Mannaz
Aus dem Dänischen von Dagmar Lendt und Dagmar Mißfeldt
Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel Ravnenes hvisken – Bog 3 im Verlag Gyldendal, Kopenhagen.
Die Übersetzung wurde gefördert von der Danish Arts Foundation.
© Atrium Verlag AG, Imprint Arctis, Zürich 2022
Alle Rechte vorbehalten
© Malene Sølvsten & Gyldendal, Copenhagen 2018
Published by Agreement with Gyldendal Group Agency
Übersetzung: Dagmar Lendt und Dagmar Mißfeldt
Covergestaltung: Mette Breth
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.
ISBN978-3-03880-162-7
www.arctis-verlag.com
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Für die Männer in meinem Leben.
Für meinen Vater, meinen Mann und meinen Sohn.
Ihr versteht nicht immer, was die Frauen
umtreibt und was sie machen, aber eure Unterstützung
hat nie auch nur einen Millimeter gewankt.
Ihr reichte Heervater Ringe und Halsschmuck,
erhielt dafür Weisheitssprüche und Seherzauber;
sie sah weithin über jede Welt.
Völuspá
(Die Weissagung der Seherin)
10. Jahrhundert
Heid blieb zwischen den Bäumen stehen. »Hier will ich begraben werden.«
»Sag so was nicht.«
»Im Ernst. Hier ist ein schöner Platz für ein Grab, und hier soll meine letzte Ruhestätte sein.«
Od sah sich um. »Wir sind mitten im Wald. Ich muss alle Bäume fällen, wenn ich hier einen Grabhügel anlegen will.«
»Ich brauche keinen Hügel. Ich möchte in die Erde.«
»In die Erde?«
»Ich möchte dahin, wo die Würmer mich fressen können, damit ich mit allem eins werde. Du sollst mich so hinlegen, dass ich nach Osten schaue. Tausend Jahre Sonnenaufgang warten auf mich.«
»Das ist nicht lustig, Heid. Ich mache für dich Platz in Odinshöhe.«
»Eine Ewigkeit neben deiner Mutter? Nein danke.« Heid drehte sich um, sah aber nicht den Wald. Sie sah die Zukunft. »Menschen wird man dort begraben.« Sie deutete auf die Stelle. »Und die Kirche wird hier stehen.« Mit beiden ausgestreckten Armen zeigte sie dorthin.
»Die Kirche?«
»Wo sie den neuen Gott anbeten. Er ist mit seinem Sohn auf dem Weg hierher.«
»Der vergebende Gott mit dem Sohn, der sich für die Menschen opfert?« Od runzelte die Stirn. »Niemand hier oben will sie anbeten.«
»Noch nicht. Aber so wird es kommen.« Heid hob die Augenbrauen. »Der Sohn erinnert mich an dich. Ihr beide liebt die Menschen.«
Od sah sie zärtlich an. »Manche Menschen liebe ich mehr als andere.«
»Euer Schicksal ist auch ähnli…« Heid brach ab und schloss die Augen. »Hier kann man sich gut ausruhen«, seufzte sie und amete tief ein. »Ich kann Seetang und Fisch riechen. Die Menschen singen so schön, und der Blick aufs Meer ist herrlich.«
Od lachte heiser. »Das Meer liegt eine Tagesreise nach Westen.«
»Das Meer ist gierig. Es wird sich in die Küste fressen.« In Heids Kopf kreischten schon die Möwen, und der salzige Wind wehte ihr ins Gesicht. Sie hatte sich einmal um die eigene Achse gedreht, immer noch mit geschlossenen Augen. Ohne dass sie es gemerkt hatte, war Od nahe an sie herangetreten, sodass er sie in den Arm nehmen konnte. Sie sah zu ihm hoch. Sein dunkles Haar glänzte so, dass ihr wie immer die Luft wegblieb, und es lag in einem sanften Bogen um sein Gesicht. Sie strich es zurück, damit sie ihn besser sehen konnte. »Versprich mir, dass du mich hier in die Erde legst, wenn ich tot bin.« Sie schmiegte sich in seine Umarmung.
»Ich verspreche es dir, genauso wie ich verspreche, deine Seele in die Totenreiche mitzunehmen, damit wir für immer zusammen sein können.«
»Nein!« Das klang energisch. »Nein«, wiederholte sie, diesmal sanfter. »Ich will nicht ins Reich deiner Frau oder deines Vaters.«
»Freyja wird sich freuen, wenn ich zurückkehre. Sie wird nichts dagegen haben, wenn du mitkommst.«
Heid zog eine Augenbraue hoch. »Aber vielleicht habe ich etwas dagegen.«
»Walhall ist gerade fertig geworden. Wir können dort leben. Mein Vater …«
»Du wirst in Midgard bleiben, wenn ich gehe. Du musst etwas erledigen.«
»Ich bin schon seit über hundert Jahren hier. Das muss genügen.«
Sie ging nicht darauf ein.
»Du bekommst immer Recht«, sagte er resigniert. »Wie lange hast du schon gesehen, dass ich hierbleiben muss?«
Sie legte ihre Hand an seine Wange, und es fiel ihr schwer, ihr Mitleid zu verbergen. »Du wirst noch etwas länger bleiben.«
»Treffen wir uns im Leben nach dem Tod wieder?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Ja aber …«
»Gestern ist Odin zu mir gekommen«, fiel sie ihm ins Wort und schaute auf ihre Hand. An ihrem Handgelenk hingen drei Goldreife. »Ich saß allein draußen, als der mächtige Ase plötzlich dastand. Uralt und grau, mit seinem langen Bart und Umhang. Er sah mich mit seinem einen Auge an und sagte mir, ich solle in die Zukunft schauen.« Sie knetete ihre Fäuste so fest, dass es wehtat. »Jetzt wünschte ich, ich hätte es nicht getan.«
»Was hast du gesehen?«, fragte Od vorsichtig.
Plötzlich kam es ihr unmöglich vor, ihm in die blaugrünen Augen zu sehen, also kehrte sie ihm den Rücken zu. »Ich sage es dir und du lässt es aufschreiben. Jemand wird meine Prophezeiung in tausend Jahren lesen. Das ist meine Botschaft an den Raben.«
»Heid?« In diesem einen Wort schwang Angst mit.
»Willst du das für mich tun?«, fragte sie leise.
Nach einer Weile antwortete er. »Ich gebe deine Weissagung weiter. Ich trage die Weissagung der Völva durch die Zeit. Aber wer ist der Rabe? Was geschieht in tausend Jahren?«
Heid begann zu erzählen.
Im Gestank von verbranntem Haar und Fleisch hustete ich. Obwohl irgendwo Feuer brennen musste, war es eiskalt. Gelbe Zuckungen durchfuhren den Dunst wie stroboskopartige Blitze, und ich entdeckte dunkle Umrisse in Dampf und Licht. Es glich einem brutalen Schattenspiel. Ich versuchte mich zu orientieren, sah aber fast nur Nebel.
»Was ist das hier?« Die Frage war an keine bestimmte Person gerichtet, und ich bekam auch keine Antwort. Ich schirmte meine Augen mit der Hand ab. Da waren Menschen, und da waren menschenähnliche, absurd große Gestalten. Im Gewimmel unter ihnen trieben sich Wölfe, Schlangen und Fingalke herum.
»Ragnarök besiegelt das Schicksal der Götter.« Die Worte klangen wie Gesang im Wind.
»Serén? Bist du’s?« Ich hatte lange keinen Kontakt mehr zu meiner Schwester herstellen können, darum war mir sogar ein Albtraum recht, solange sie darin vorkam. »Serén? Bist du da oben irgendwo?«, rief ich voller Hoffnung zum Himmel hoch. Die niedrige Wolkendecke versperrte die Sicht auf das Firmament. Die Sonne schimmerte als schwarze Scheibe hinter dem Dunst.
Der Dampf hob sich, und ich blickte entsetzt auf die Ebene. Sie schwamm in Blut und war haufenweise mit leblosen Menschenleibern übersät. Es waren so viele, dass man die Erde nicht mehr sehen konnte. Krähen hackten auf die Leichname ein, und ihre heiseren Schreie vermischten sich mit Dröhnen, Rufen und Schlägen. Ich entdeckte einen Leichenverschlinger mit knielosen, langen Hinterbeinen, sodass sein Hintern hervorragte. Er kaute eifrig auf einem Oberarm herum, und ich guckte schnell weg.
Dort streunten langhaarige und wilde menschenähnliche Wesen herum. Die fast nackten, aufgedunsenen Körper waren mit Spiralen bemalt, und sie trugen Goldreife um Hals und Arme. Einige schnitten den Gefallenen die Köpfe ab und reckten ihre Kriegsbeute mit Siegesgebrüll in die Luft.
Ein Mensch kam angelaufen. Der bloße Anblick des Mannes nach all diesen Monaten brachte mein Herz ins Trudeln.
»Rorik … ich meine, Sverre.«
Er kämpfte unnachgiebig in einem Schwarm Fingalke. Sein blondes Haar war blutverschmiert, und er sah älter und härter aus. Das lag vielleicht am Krieg, oder was das hier sein sollte, oder vielleicht fand dieses entsetzliche Ereignis Jahre später in unserer Zukunft statt. Sverre durchbohrte einen Fingalk mit seinem Speer. Der Fingalk ähnelte Finn, doch ihm hätte Sverre nie etwas getan. Mein eigener geliebter Fingalk war ohnehin schon lange tot.
Das Wesen fiel zu Boden, und Sverre zog ihm den Speer aus dem Körper. Dabei musste ich mir die Hände vor den Mund halten.
»Anne!«, rief Sverre. »Ich weiß, du schaust aus der Vergangenheit zu. Du musst das hier stoppen. Sorg dafür, dass ich verschlungen werde.«
Ich ging zu ihm. »Verschlungen wovon?«
Sverre drehte sich zu mir um. Seine braunen Augen suchten die Gegend ab. »Du kannst das hier ändern. Wir können zusammen glücklich werden.«
»Kannst du mich sehen?«
Er lief vor, und instinktiv breitete ich die Arme aus, um ihn zu umarmen, er rannte aber einfach durch mich hindurch. Von dem Gefühl, als er meinen Körper passierte, wurde mir schlecht. Als ich mich umdrehte, war Sverre weg.
Die Erde unter mir bewegte sich, und ich fiel auf die Knie. Dann ertönte ein lautes Krachen, gefolgt von einem unheimlichen Rumpeln. Eine eiskalte Riesenwelle überflutete den Kampfplatz, und ich ging in einem Gewirr aus Toten und Waffen unter, die im Wasser umhertrieben. Alles schwappte über meinem Kopf zusammen, und etwas Lebendes und Schuppiges packte meine Knöchel und Handgelenke.
Ich schrie zur Oberfläche, aber aus meinem Mund kamen nur Luftblasen, als die Schlange sich um meinen Körper wickelte und mich hinab in die Tiefe zog.
Ich warf meinen Kopf hin und her, wand mich, wurde aber von der Umschlingung der Schlange unten gehalten. Etwas Lebendes und Warmes drückte mir den Mund fest zu.
»Lass mich los!«, schrie ich, doch meine Worte wurden beinahe wieder zurück in meinen Mund gepresst.
Was auch immer da vor meinen Lippen war, bewegte sich kein bisschen. Stattdessen nahm der Druck zu, sodass ich kaum noch Luft bekam. Ich schlug danach. Ein lähmender Schmerz schoss mir durch den Arm, gleichzeitig wurde die Umklammerung der Schlange gesprengt. Endlich kam ich frei. Hustend holte ich Luft und trat die Schlange weg. Seltsamerweise gab sie ein lautes Ritsch von sich. Verwirrt schaute ich mich um und erwartete halb, um mich Leichenberge, Rauch und Kampfgetümmel zu sehen, doch es war still. Ich lag in meinem Bett im Schlafzimmer in Odinshöhe, es war saukalt, und auf dem Boden lag knallbunter Stoff zerrissen auf einem Haufen.
»Anne«, rief Luna vom Hof. »Wir müssen los, wenn wir es noch schaffen wollen.«
Ich rieb mir das Gesicht, ließ es aber wieder, weil meine Haut brannte. Unter den Nägeln war etwas feuchtes Rotes, und ein Fleck auf dem Handgelenk wurde immer größer. Ich hatte mich offenbar im Schlaf selbst geschlagen. Ich setzte mich aufrecht hin.
»Aaaaanneeee!«
»Ich komme.«
Auf der Treppe vorm Zimmer waren Schritte zu hören. Luna steckte den Kopf herein. Schneeflocken lagen auf ihren Korkenzieherlocken, und sie hatte sich in einen neongelben Daunenmantel eingemummelt. Darunter lugten Füße in Socken hervor. »Hast du dich mitten am Tag wieder schlafen gelegt? Auweia!« Sie hob die zerrissene Decke vom Boden auf. »Es hat über eine Woche gedauert, die zu nähen.«
»Tut mir leid«, murmelte ich.
»Schon okay. Ich repariere sie.« Sie zuckte mit den Achseln. »Warum hast du deinen Riesenkristall nicht eingeschaltet? Hier ist es eiskalt.«
»Habe ich vergessen.« Und er erinnerte mich so sehr an Sverre, dass ich ihn kaum ansehen konnte.
Luna setzte sich auf die Bettkante. »Du blutest.«
Ich stellte meine Strumpffüße auf den kalten Boden. Meine Zehen waren schon durchgefroren, noch bevor sie überhaupt mit den Bodendielen in Berührung kamen, und es wurde nicht besser, als ich aufstand. Dann beugte ich mich hinunter und schaute in den Spiegel. Wo ich mich gekratzt hatte, zogen sich vier rote Striemen von meiner Wange bis zur Oberlippe. Ein rotes Tröpfchen kullerte mir vom Mundwinkel.
»Ich habe was gesehen.« Ich guckte Luna im Spiegelbild an. »Eine brutale Schlacht.«
Sie musterte mich. »Im Traum oder in einer Vision?«
»Ich glaube, in einer Vision, aber es muss die Zukunft gewesen sein, weil ich Sverre gesehen habe, und er war älter.«
»Hat Serén sie dir geschickt?«
»Keine Ahnung, woher oder von wem die kam.«
»Kannst du sie immer noch nicht erreichen?«
Ich leckte meinen Finger an und rieb das Blut weg. Es kribbelte, war aber nur ein leichter Schmerz. »Nope. Die Leitung ist tot.«
»Sie kontaktiert dich bestimmt bald«, meinte Luna optimistisch und stand auf. »Dann kann sie dir erklären, was da abläuft.«
»Wir sollten uns besser beeilen, damit wir nicht zu spät kommen.« Ich hatte keine Lust, über die Probleme bei der Kontaktaufnahme mit meiner Schwester zu reden. Unten zog ich die inzwischen ziemlich abgerockte Jacke meiner Mutter an. Die dunklen Stickereien auf schwarzem Grund waren aufgegangen, und lose Fäden hingen heraus.
Luna schlüpfte in ihre dicken Stiefel. »Bist du startklar? Achtung, fertig, los …« Sie öffnete die Tür und hob die Hand gegen das Schneegestöber. Die kleinen Eiskristalle fielen mir ins Gesicht, und ich setzte meine Mütze auf und zog den Schal so hoch, dass nur noch meine Augen rausguckten. Gemeinsam liefen wir über den Hof zu Bens und Rebeccas orangem VW-Bulli. Mein Vater und Lunas Eltern saßen schon eingepfercht vorn, also quetschten Luna und ich uns hinten rein. Der Motor des Kleinbusses protestierte mit einem Brüllen, weil er wieder zum Leben erweckt wurde. Ben hatte sich mit einem Rentierfell und einer Kosakenmütze warm eingepackt, Rebecca saß in Wollschals gewickelt am Steuer und gab stetig Gas, damit der Bulli nicht wieder ausging, und mein Vater sah in seinem Thermo-Overall aus wie eine grüne Wurst. Ich zog die Jacke fester um mich. Mit ihr, den zwei Lagen Gestricktem, dem Schal, der Pelzmütze und Wollfäustlingen konnte ich mich beinahe warm halten.
Beinahe.
»Leg das einfach unter den Sitz.« Arthur reichte mir einen Stoffbeutel mit etwas Schwerem. Es gab ein Schwapp-Geräusch, als ich ihn auf den Boden des Wagens legte.
»Schieb ihn etwas mehr aus dem Weg.«
Ich gehorchte Arthur und stopfte den Beutel ganz unter den Autositz. »Schon irre, dass ihr Benzin aufgetrieben habt«, sagte ich, hauptsächlich um nicht an meine Nase denken zu müssen, die sich wie ein Eiszapfen anfühlte.
»Benzin. Der Wagen fährt mit Magie«, erklärte Ben so tief, dass seine Stimme fast mit dem Brummen vom Motor verschmolz. Rebecca fuhr mit dem Bulli los, und der hustete die Straße von Odinshöhe hinunter zur Kragheder Landstraße. Es schneite wieder und war fast dunkel. Der Wagen geriet ein paarmal ins Schleudern, doch Rebecca hielt uns auf der Straße in die Stadt.
Das Ortsschild war zum Teil von einer Schneewehe verdeckt, sodass dort nur Ravn, Rabe, stand. Sted war unleserlich, aber es passte gut, weil man wegen all dem Weiß beinahe unmöglich erkennen konnte, wo wir waren. Wir parkten und beeilten uns, vom Wagen in Frank’s Bar and Diner zu kommen. Die Glastür hatten Eisblumen überzogen. Drinnen war es ein bisschen wärmer als draußen, aber nicht besonders viel. Frank fing mich in einer bärenstarken Umhalsung ein.
»Schön, dich zu sehen«, sagte er mir ins Ohr.
Ich erwiderte die Umarmung, drückte mich aber etwas ab und betrachtete ihn. Er trug einen Vollbart, aber das taten jetzt fast alle Männer. Der größte Unterschied zu früher war, dass er keine Gel-Frisur mehr hatte. Seine dunklen Haare mit den grauen Strähnen hingen über seinen Ohren. Jemand an der Bar rief, und Frank eilte hin. Mathias kam zu uns, und seine Hand landete auf meiner Schulter. Ich spürte die kühle Strömung durch meine sämtlichen Klamottenlagen. Die göttlichen Kräfte nahmen mit jedem Tag zu. Seine Haut war so honiggolden wie immer, und seine Augen leuchteten hell. Luna warf sich in seine Arme und küsste ihn stürmisch. Mathias brach den Kuss ab, behielt aber Lunas Hand in seiner.
»Was ist das?« Er berührte vorsichtig mein Gesicht.
»Ich habe mich aus Versehen selbst gekratzt.«
Seine saphirblauen Augen funkelten.
»Das ist nichts«, sagte ich.
Das Frank’s füllte sich mit Leuten aus Ravnssted. Der hinterste Teil der Bar, wo sonst immer Kaffeehaustische standen, lag eine Ebene höher als der Rest, doch jetzt war dort ein Fernseher eines älteren Baujahrs aufgestellt worden. Das Gehäuse, das den leicht gewölbten Bildschirm umgab, war aus silberfarbenem Plastik. Die Lautsprecher waren an den Seiten ins Gerät eingebaut, aber mit feinmaschigem Stoff bezogen. Frank zeigte mit einer großen Fernbedienung darauf, und ein Testbild tauchte auf.
Tiefe Stille senkte sich über die proppenvolle Bar, als ein Anzugträger auf dem Bildschirm erschien. Ich erkannte ihn vom ersten Ball zur Tagundnachtgleiche im Bootsmann vor zwei Jahren wieder, obwohl ich dafür etwas brauchte. Damals hatte er noch keinen Vollbart und halblanges Haar getragen, aber die Fliege war noch die gleiche. Er sah aus wie eine Mischung aus Höhlenmensch und Geheimagent.
Draußen rauschte der Wind, und der Luftzug war bis ins Frank’s zu spüren. Die Kerze auf unserem Tisch flackerte leicht. Der Journalist auf dem Bildschirm wartete, bis die Erkennungsmelodie der Nachrichtensendung verklungen war.
»Die Tagestemperaturen in Skandinavien bewegen sich nach wie vor zwischen fünfzehn Grad minus und fünfundzwanzig Grad minus, abgelöst von Froststürmen, die bis zu fünfundvierzig Grad minus zu uns heranführen können. Die Polkappe hat Nordschweden erreicht, und dort gibt es südlich der Grenze immer noch keinen Kontakt zum Rest der Welt.«
Im Frank’s sagte niemand ein Wort.
»Die Nachrichten berichten wieder über die Kältewelle«, sagte der Sprecher. »Wir geben euch ein Update und sprechen mit führenden Experten.«
Er machte eine Pause.
»Heute ist der 12. August, willkommen zu den Nachrichten.«
»Ist euch aufgefallen, dass die Wettervorhersage gleich am Anfang der Sendung kam?«, fragte Luna, als wir wieder ins Auto stiegen. »Früher brachten sie das Wetter immer am Ende.« Sie legte ihren Kopf auf Mathias’ Schulter und kuschelte sich an ihn. Er drückte sie fester an sich, und da musste ich durch die Windschutzscheibe gucken, statt die beiden anzusehen. Ich vermisste Varnar und gleichzeitig Sverre. Vielleicht vermisste ich auch nur jemanden nahe bei mir.
Eine graue Dunkelheit hatte sich über die schneebedeckte Stadt gelegt, obwohl es erst kurz vor fünf war. Der Himmel war wolkenverhangen, wie schon seit sechs Monaten.
»Die Dänen haben sich schon immer viel mit dem Wetter beschäftigt«, sagte Ben. »Das gehörte zu den ersten Dingen, die mir aufgefallen sind, als ich hierherkam.«
»Ich glaube, hier geht es noch um was anderes«, wandte ich vorsichtig ein.
Rebecca bog mit dem Bulli auf die Grønnegade ab. Der altersschwache Wagen ächzte und rutschte auf dem Eis. Mein Magen schlug vor Schreck einen Purzelbaum, und Luna stieß ein kleines Huch aus, aber Rebecca riss als Gegenmaßnahme fest das Lenkrad herum.
»Jetzt ist alles anders«, murmelte sie und strengte sich an, das Auto auf den richtigen Kurs zu bringen.
Im Rückspiegel sah ich, dass sich Ben und Arthur gegenseitig anguckten.
»So was Ähnliches habe ich schon mal erlebt«, sagte Ben.
Nachdenklich betastete ich den Ring an meinem Finger. Mathias und Luna hatten ihn mir zu meinem achtzehnten Geburtstag geschenkt, und er war mit grünen Kristallen besetzt und aus verhextem Eisen geschmiedet. Die Kristalle waren Mathias’ Tränen, denn Götter und Halbgötter weinten kein Salzwasser wie wir anderen. Ich schaute in die Dunkelheit und hatte Probleme, die Umgebung zu erkennen. Ich drückte mir die Nase an der Scheibe fast platt.
»Hey, fahren wir nicht nach Hause?«
»Wir müssen zuerst noch was erledigen.« Rebecca schnaufte, als sie am Lenkrad zerrte, um den Mini-Bus auf die Straße zu lenken, wo sich das Ravnssteder Sozialamt befand. Der ganze Flachbau lag im Dunkeln, bis auf ein einziges Büro, in dem elektrisches Licht brannte. Ich hatte im letzten halben Jahr nicht besonders viel künstliches Licht gesehen. Ich entdeckte ein Auto, das gerade vor dem Amt einparkte. Auf der Heckscheibe verriet ein Aufkleber mit dem Logo der dänischen Regierung, dass die AMPA zu Besuch war. Die Abteilung für Magische und Paranormale Angelegenheiten.
»Wollen wir zu einer Besprechung?«, fragte ich Arthur.
»Niels ist mit ein paar Freunden aus Kopenhagen hier.«
Er griff hinter den Sitz nach dem Stoffbeutel, den er mir zuvor an diesem Abend gegeben hatte. Ich zog ihn hervor und reichte ihm das Gewünschte. Der dicke Leinenstoff hatte die Form einer Flasche. Arthur sprang aus dem Auto und lief auf die Glastüren zu, die zur Seite glitten.
Wir gingen ins leere Sozialamt, das zum festen Bestandteil meiner Kindheit gehört hatte. Mindestens einmal im Monat musste ich mit verschiedenen Pflegeeltern hier antanzen, um Grethe Bericht zu erstatten. Sie war achtzehn Jahre lang der einzige konstant anwesende erwachsene Mensch in meinem Leben gewesen. Seit ich vor eineinhalb Jahren volljährig geworden war, war ich nicht wieder hier gewesen und hatte sie auch nicht gesehen, und plötzlich vermisste ich meine alte Sozialarbeiterin.
Die Sensoren erfassten uns ununterbrochen auf dem Weg durch die dunklen Flure, und die Neonröhren gingen eine nach der anderen mit einem Knistern an. Hinter einer offenen Tür, aus der ein Lichtkegel auf den Boden fiel, lag Grethes Büro. Die anderen gingen voraus in den beleuchteten Raum, ich konnte es mir aber nicht verkneifen, einen Blick in Grethes Mini-Kabuff zu riskieren.
Dort war es so schummrig, dass ich blinzeln musste, aber es gelang mir, etwas zu erkennen. Der Computer war ausgeschaltet, der Bürostuhl hatte einen verblassten Streifen auf der Seite, die am Fenster stand, und der blaue Becher war wie immer mit Stiften gefüllt. Ich sah auf die Pinnwand mit Postkarten, Kinderzeichnungen und einem Schlüsselanhänger aus geknüpften Bändern und Perlen. Ich hatte als Zehnjährige in der Grundschule im Kunstunterricht mehrere Wochen gebraucht, um ihn hinzuwursteln. Meine destruktive Seite hatte es mir fast unmöglich gemacht, etwas zu erschaffen, aber ich hatte mich mächtig abgestrampelt, damit ich ihn Grethe schenken konnte. Meine Fingerspitze strich über die ungleichmäßigen Knoten. Zum ersten Mal fiel mir auf, dass er genau in der Mitte der Pinnwand hing. Dann riss ich mich los und folgte den anderen in das etwas größere und hellere Büro.
Ich blieb in der Tür stehen und flüsterte meinem Vater zu, der dicht neben mir stand: »Niels’ Freunde?«
»Wir wollen mit dem Premierminister und seiner Frau sprechen«, murmelte Arthur als Antwort. »Niels hat dieses Büro für das Treffen gebucht.« Laut sagte er: »Willkommen in Ravnssted. Schön, euch zu sehen. Jakob. Mardöll.« Er schüttelte dem Staatsoberhaupt und der First Lady die Hand. Hinter ihnen stand Niels Villadsen, der Direktor der AMPA. Ben ging direkt auf die Frau zu, die nicht nur eine glamouröse Schauspielerin, sondern auch eine Hexe war, die Gedanken lesen konnte. Sie sagten zwar kein Wort, aber ich spürte, dass sie eine stumme Unterhaltung führten. Rebecca nickte ihnen ein wenig säuerlich zu. Der Premierminister sagte Hallo, während seine Frau mich fixierte.
Ich freue mich festzustellen, was sich in deinem aufregenden Kopf abspielt, Seherin, sagte die First Lady, deren Name offenbar Mardöll war.
Raus aus meinen Gedanken!
Mardöll schaute mich durchdringend an, und obwohl ich versuchte, nicht über die fehlende Verbindung zu meiner Schwester und meine Theorien über den ungewöhnlichen Winter nachzudenken, war der Geist ein Rebell und kein Diener. Mardöll riss ihre angemalten Augen auf.
Was für eine Vision du hast! Riesen, Fingalke, Schlachten und eine Flut biblischen Ausmaßes.
La, la, la, laaaaaaa, ich versuchte, leise zu singen, aber Mardöll durchkreuzte meine Versuche, sie draußen zu halten.
Sverre warnt dich aus der Zukunft, und deine Kräfte als Völva nehmen zu.
Ich gab es auf, sie abzublocken. Ich weiß nicht einmal genau, was es bedeutet, eine Völva zu sein. Kannst du mir nicht erkl…
Mardöll sah auf ihre lackierten Nägel, als wolle sie damit andeuten, dass ich sie langweilte.
Das Büro war schnell überfüllt. Alle redeten durcheinander, und Niels schüttelte großkotzig lächelnd Hände. Obwohl sie sich nicht kannten, fiel Luna ihm um den Hals, sodass er umzukippen drohte.
»Ich habe eine Flasche Met mitgebracht.« Arthur sang das Wort Met.
»Das habe ich nicht gehört«, grinste Niels. »Es herrscht Rationierung hier im Land, und ich bin für die Verteilung der Waren zuständig.«
»Bist du für so eine praktische Aufgabe nicht zu sehr damit beschäftigt, die übernatürliche Welt unter Kontrolle zu halten?«
»Formulieren wir es doch einfach mal so: Wir haben Zugang zu anderen Vertriebskanälen als die anderen staatlichen Organe. Der AMPA besitzt Mittel und Wege, den Mangel an Treibstoff zu umgehen.« Er klopfte Arthur auf die Schulter. »Aber mal im Ernst. Ohne gegen die Rationierung zu verstoßen, können wir keinen Met trinken.«
»Wir sind neun, Niels. Es wäre eine Beleidigung Odins, keinen Met zu trinken.« Arthur zeigte in die Runde.
»In dem Fall ist es legal.« Niels senkte den Kopf.
Rebecca schenkte in Gläser aus einer Vitrine ein, und schnell waren alle mit dem goldenen, öligen Getränk versorgt. Arthur drückte auch mir ein Glas in die Hand, das herrlich nach süßem Alkohol duftete.
Rebecca hob ihr Glas. »Óöin Ullr. Zu Odins Ehren.«
Die anderen wiederholten die Worte und tranken feierlich, wogegen ich nur nippte, ohne die altnordischen Worte zu sagen.
»Kommt. Das müsst ihr euch ansehen.« Niels hatte auf dem großen Tisch eine Karte von Skandinavien ausgerollt. Ich vermutete, dass er sich das Büro des Bürgermeisters erschlichen hatte, denn es war geräumig, besaß einen großen ovalen Besprechungstisch, an dem Lederstühle standen.
Wir versammelten uns um die Landkarte.
Niels räusperte sich. »Die außergewöhnliche Kälte hält nun schon ein halbes Jahr an. Mit dem natürlichen Winter zusammen haben wir nun schon bald ein ganzes Jahr Frostwetter.«
»Gibt es irgendwelche Signale vom Rest der Welt?«, fragte Rebecca. »Sie haben in den Nachrichten heute nichts davon erwähnt.«
»Heute wieder nicht«, fügte Arthur hinzu.
Niels schüttelte den Kopf. »Wir haben Schiffe und Drohnen losgeschickt. Die Signale der Drohnen brechen nach einem Kilometer auf dem Meer ab.« Er platzierte auf der Karte seinen Finger in der Nordsee vor der dänischen Küste. Dann bewegte er seine Hand nach Süden. »Die Überschwemmungen hier unten beim Wattenmeer und zur deutschen Grenze hin schneiden uns vom Rest der Welt ab, und nach Osten verlieren wir den Kontakt mitten in Schweden. Die Polkappe liegt so, dass wir Osteuropa oder Russland nicht erreichen können.«
»Was ist mit den Schiffen?«
Niels nahm seine Metallbrille ab und rieb sich den Nasenrücken. »Ich habe gesehen, wie einige von ihnen zurückkamen.«
»Überlebende?« Ben sprach ungewohnt leise.
Niels schüttelte den Kopf.
Ich schoss meine Hellsichtigkeit auf ihn und schlug mir vor Schreck unwillkürlich eine Hand vor den Mund. In Niels’ Vergangenheit sah ich Schiffe schaukelnd auf die Küste zufahren. Sie waren mit einer Eisschicht überzogen, und die Besatzung lag tot an Deck. Es sah so aus, als wären sie an Ort und Stelle umgefallen. Einer war noch immer an der Reling festgefroren. Ich konnte ihre entsetzten Gesichter unter der dicken Eiskruste erahnen. Den Rest der Vision blendete ich aus.
Der Premierminister stellte sein leeres Glas auf den Tisch. »In der Bevölkerung herrscht Unruhe, aber es ist uns gelungen, den Zerfall der Gesellschaft aufzuhalten.«
»Wie macht ihr das?« Auch Luna stellte ihr leeres Glas ab.
»Wir halten die gesamte Infrastruktur aufrecht, sofern das für uns möglich ist. Die Straßen werden einigermaßen geräumt und Lebensmittel verteilt. Das Internet und das digitale Fernsehsignal für die breite Bevölkerung sind ja weg, aber zum Glück haben einige Museen ein paar alte Sendeantennen heimlich gerettet.« Der Premierminister hatte dunkle Ringe unter den Augen. Die hatten wir alle nach so vielen Monaten ohne Sonnenlicht, aber seine waren tiefer. »Wenn wir die Windanlagen nicht hätten, wären wir jetzt alle tot. Sie liefern genügend Strom, um uns mit Wärme zu versorgen und die Elektroautos am Laufen zu halten, obwohl es zur Folge hat, dass alles andere, was Strom verbraucht, abgeschaltet werden muss. Außerdem sind die Windräder so hoch, dass wir auf ihnen Fernsehmasten installieren können. Hier kommt ihr ins Spiel. Ihr müsst für Ruhe und Ordnung sorgen, damit in der Bevölkerung keine Panik ausbricht.«
»Sie machen keinen besonders panischen Eindruck«, sagte Mathias.
Mardöll zuckte mit den Augenbrauen. »Hypnose. Die Menschen haben keine Ahnung, wie nahe sie dem Untergang sind. Dem Pöbel ist am besten damit gedient, wenn er von der Wahrheit verschont bleibt.«
Rebecca verschränkte die Arme.
Niels schaute hoch. »Danke auch an dich für die Hilfe, Benedict.«
»Unsere Hypnose wird sich mit der Zeit abschwächen.« Ben richtete sich auf. »Wenn nötig, müssen wir sie noch einmal durchführen. Vor allem, wenn mehr Krankheitsfälle auftreten.«
»Was für Krankheitsfälle?«, fragten Luna und ich wie aus einem Mund. Gern hätte ich gewusst, ob auch wir hypnotisiert worden waren.
»Nichts Ernstes«, antwortete Niels. In seiner Stimme lag etwas Schroffes, und das machte mich misstrauisch.
»Noch nicht«, fügte Mardöll hinzu.
Niels warf ihr einen Im-Ernst-jetzt-Blick zu, bevor er Luft holte. »Es kam nur in sehr wenigen Fällen zu Krankheitsausbrüchen. Ein unbekannter Grippe-Typus. Die Infektion wurde eingedämmt und behandelt, sodass sie nie ein kritisches Stadium erreichen konnte.«
»Für die Verstorbenen war es aber sehr kritisch.« Der Premierminister kratzte sich an der Stirn. Für ein Staatsoberhaupt musste es schwierig sein, in Krisenzeiten machtlos dazustehen.
»Der Tod ist eine Tragödie für jeden Einzelnen.« Niels wirkte kurz traurig, bevor er sein Gesicht verhärtete. »Aber jedes Jahr sterben Menschen an dieser Art von Infektionen. Die Anzahl der Todesopfer ist nicht höher als in früheren Wintern, und Od Dinesen konnte die meisten der Infizierten mit Laekna heilen.«
Ich hätte am liebsten gesagt, dass Elias den Wirkstoff erfunden und hergestellt hatte, hielt mich aber zurück. Er hatte tatsächlich kein Problem damit, dass andere den Ruhm ernteten, solange er daran verdiente.
»Was vermuten die Behörden als Ursache für die lang anhaltende Kälte?« Mathias trat vor, plötzlich ein wenig größer als zuvor.
»Wahrscheinlich ein Meteoriteneinschlag oder ein Mega-Vulkanausbruch, bei dem Staub in die Atmosphäre ausgestoßen wurde.«
Mathias und ich wechselten einen Blick, schwiegen aber.
»Ist es in Hrafnheim auch so kalt? Ich nehme an, es ist ziemlich unwahrscheinlich, dass ein Meteorit sowohl dort als auch in Midgard eingeschlagen ist.« Typisch Luna, trotz der abgespacten Lage logisch zu denken.
Niels’ Blick verfinsterte sich. »Wir haben keinen Kontakt zu Hrafnheim. Nachdem Ragnara getötet wurde«, seine Augen flackerten schnell zu mir, »sind die Dinge ein wenig durcheinandergeraten. Die Kälte kann aber auch durch den extremen Anstieg der globalen Erderwärmung verursacht worden sein.«
Luna rieb sich die Finger. »Durch die Erderwärmung?«
»Wenn sie sehr schnell abläuft, brechen große Teile der Eisschilde ab und treiben auf uns zu. Sie kühlen alles in einem unglaublichen Tempo ab.«
Luna standen die Zweifel ins Gesicht geschrieben.
Niels schob seine Brille auf dem Nasenrücken hoch. »Das sind die Erklärungen, auf die wir hoffen.«
»Wie könnt ihr hoffen, dass ein Meteorit auf der Erde eingeschlagen ist?«
»Es dauert nur ein paar Jahre, bis sich der Staub gelegt hat. Wenn es sich hier um eine neue Eiszeit handelt, könnte sie bis zu 100000 Jahre anhalten. Wir haben nur für drei genug zu essen.«
Eine unangenehme Stille trat ein.
»Wir haben doch in letzter Zeit genug gehabt. Wir bekommen jedes Mal Fleisch zu essen.«
»Wir haben schnell festgestellt, dass das Futter für die Viehbestände nicht mehr reicht. Sie wurden zuallererst geschlachtet. Gut, dass wir in einer großen Tiefkühltruhe leben, in der wir die Tiere aufbewahren können. In den letzten Monaten haben wir reichlich Fleisch gehabt, aber das ist auch schon so ziemlich alles, was wir haben, und unsere Tiefkühlvorräte gehen bald zur Neige.«
»Wo versteckt ihr die Lebensmittel?«, fragte Mathias.
Niels zeigte auf die Karte auf dem Esstisch. »Jeweils ein Lebensmittellager steht in jeder Stadt in diesen fünf Regionen. Zum Glück haben wir sie für den Fall eines Atomkriegs behalten. Mit einer strikten Verteilungspolitik können wir bis zum nächsten Sommer über die Runden kommen. Schmalhans ist ab sofort Küchenmeister, aber Menschen sind zäh.«
»Hey!«, rief ich in den Raum hinein, und alle zuckten zusammen.
»Habt ihr nicht was ziemlich Offensichtliches übersehen?«
Der Premierminister räusperte sich. »Was soll das sein?«
Ich breitete die Arme aus. »Das hier ist der Fimbulwinter. Er ist jetzt gekommen, und nach Fimbul kommt Ragnarök. Der Untergang der Welt.«
Rebecca setzte uns vor Odinshöhe ab.
»Denkt daran, euch zu melden, wenn ihr zu Hause angekommen seid.« Arthur knallte die Autotür zu, und wir rannten durch die peitschenden Schneeflocken. Im Haus zündete Arthur eine Kerze an und schob die Klappbank im Wohnzimmer zur Seite. Ich hatte keinen Nerv mehr, noch einmal über die Wahl seines Schlafzimmers zu diskutieren, also gingen wir einfach in die Küche, wo wir schweigend aus dem Fenster starrten.
»Mathias ist bei ihnen. Er kann sie schnell ins Haus bringen, wenn ein Froststurm aufkommt.«
»Ich weiß.« Arthur wandte seinen Blick erst von Bens und Rebeccas Haus ab, als sich in ihrem Wohnzimmerfenster Licht hin und her bewegte. Er atmete aus und klopfte mir dann auf die Schulter: »Gute Nacht, Anne.« Er ging ins Wohnzimmer und verschwand hinab in die Krypta unter Odinshöhe.
Ich stieg die Treppe hoch. Bei jedem Schritt auf den Stufen wurden meine Füße immer mehr zu Eisklumpen. Wärme schlug mir entgegen, als ich die Tür zu meinem Schlafzimmer aufriss.
»Was haben sie gesagt?«
Ich stieß einen leisen Schreckensschrei aus. »Was machst du hier, Elias?«
Er lag auf meinem Doppelbett und hatte die Arme im Nacken verschränkt. Auf der Fensterbank leuchtete mein Riesenkristall und schickte Wärmestrahlen in den Raum. Elias setzte sich auf und schwang seine Beine über die Kante. »Ich habe doch einen Schlüssel für Odinshöhe.«
»Das weiß ich, aber du hast versprochen, ihn nicht zu benutzen, ohne dass ich dir Bescheid sage.«
»Du hast mich gebeten, deinen Rücken zu untersuchen. Ich dachte, das sei ein Bescheid?«
»Na gut. Wie hast du meinen Riesenkristall angemacht?«, fragte ich mit einem Stirnrunzeln.
Elias lächelte geheimnisvoll: »Er reagiert auf die, die man sehr gernhat, du musst mich also irgendwie lieben. Als ich ihn berührte, fiel mir was Wunderbares ein.« Er fixierte meinen Mund. »Eigentlich brauche ich den Kristall nicht, um mich an dieser Erinnerung zu wärmen, aber du musst dich ausziehen, so …«
»Elias!«, giftete ich, war aber nicht ernsthaft wütend. Ich drehte ihm den Rücken zu, und es dauerte eine Weile, bis ich mich von Wollpullovern, Pullis und T-Shirts befreit hatte.
»Hoffentlich kommt Arthur jetzt nicht reingeplatzt und sieht dich ausgezogen in meiner Gegenwart.«
»Er ist zum Schlafen in die Krypta gegangen.«
»Schläft er in Odinshöhe?«
»Er fühlt sich in der Gruft immer noch am wohlsten.« Ich zog mich bis auf BH und Slip aus.
Elias stellte sich dicht hinter mich. »Zieh das aus. Ich möchte mir angucken, was ich gemacht habe.«
Ich legte beides ab und warf es aufs Bett. An meine Haut war in letzter Zeit kaum Luft gekommen, also seufzte ich wohlig, als die Wärme meinen nackten Rücken traf. Es war mir egal, dass ich vor Elias ohne Klamotten stand. Er war über vierhundert Jahre alt und hatte schon alles gesehen, alles, was es in dieser Art zu sehen gab, mich ein paarmal eingeschlossen. Es verging eine Weile, ohne dass Elias ein Wort sagte. Nur sein Atmen auf meiner Haut verriet mir, dass er da war. Dann fuhr er mit der Hand über die Stelle, wo er mir mehr als acht Monate zuvor die Ansuz-Rune in den Rücken geritzt hatte. Als seine Finger über meine zarte Haut glitten, stellten sich mir die Nackenhärchen auf.
»Ich wünschte, ich könnte es rückgängig machen«, flüsterte er.
»Es tut immer noch tierisch weh. Ich habe wirklich lange versucht, mir den Schmerz zu verkneifen, aber er hört nicht auf. Du bist der einzige Arzt, den ich kenne, also …«
»Wenn du es mich gleich hättest ansehen lassen, hätte ich die Wunde mit Laekna entfernt. Jetzt wirst du diese Narbe für immer behalten.«
Ich glitt mit einem Finger über die Narbe auf meinem Brustkorb, hoch zur Schulter, wo ich kleine Brandmale in Form von Runen hatte, und weiter bis zu meiner Augenbraue, durch die sich ein weißer Strich zog. Mein Blick fiel auf meinen Unterarm, wo Gustaf die Fehu-Rune eingeprägt hatte. Es sah aus wie eine Tätowierung, war aber mit Magie gemacht.
»Ich schaue schon aus wie eine Piratin«, sagte ich, um die Stimmung aufzuheitern. »Auf eine Narbe mehr oder weniger kommt es nicht mehr an.«
»Du bist wirklich vom Leben gezeichnet. Innen und außen.« Leder knarrte, und etwas klirrte, als er in dem Beutel kramte, den er immer um den Hals trug. Nasses Gel landete auf meiner Schulter. Dann breitete sich ein Kribbeln auf meinem Rücken und bis in meine Arme aus.
»Læknir?«, fragte ich, als ich das lindernde Gefühl wiedererkannte.
»Lass mich dich jetzt ansehen.« Er strich wieder mit der flachen Hand über meinen Rücken. Kein Schmerz durchzog meine Muskeln. Nur eine angenehme Wärme und das leicht raue Gefühl seiner Hand. In meinem Nacken streifte er die silberne Kette, die ich um den Hals trug. Ich fühlte ein leichtes Ziehen, woraufhin der Anhänger meine Kehle hinaufglitt. Ich legte meine Hand auf diesen kleinen silbernen Anhänger, den Hakim mir zu meinem achtzehnten Geburtstag geschenkt hatte.
»Es tut mir leid, dass du Hakim verloren hast.«
Ich drehte mich um und sah Elias an, der immer noch die silberne Kette in der Hand hielt.
»Dir tut es wirklich leid?«
»Ich weiß, wie es ist, jemanden für immer zu verlieren.«
»Hast du ihn umgebracht?« Ich konzentrierte mich darauf, nicht zu blinzeln.
Es dauerte lange, bis Elias antwortete. »Nein«, sagte er schließlich. »Ich habe Hakim nicht getötet.«
»Weißt du, wer ihn ermordet hat?«
Elias schüttelte den Kopf. Mit den weichen Locken und dem satten, dunklen Rot seiner Lippen sah er wie ein Engel aus. Wie die Ehrlichkeit in Person.
»Ich finde raus, wer das getan hat.«
»Wie willst du das denn machen?«
»Ich kann Geister sehen, also werde ich Hakim irgendwie zu fassen kriegen und ihn fragen.«
»Hakim gehörte einem anderen Glauben an. Du kannst nicht mit ihm reden.«
»Gesetze sind dazu da, gebrochen zu werden.« Zumindest ich sah das so.
»Nicht diese Art.«
»Ich habe nicht vor, Gesetze zu befolgen, die ich nicht gemacht habe.«
»Es ist ein Naturgesetz, dem wir alle unterliegen.« Elias schaute mir in die Augen, aber vermutlich vor allem, um nicht auf meinen nackten Oberkörper hinunterzusehen. Er ließ meine Halskette los. Für eine Sekunde war sein Gesicht nicht berechnend, nur unendlich traurig. »Zieh dich wieder an, Anne. Du führst die Falschen in Versuchung.«
Ich zog mir einen Pulli über den Kopf.
»Was haben sie gesagt?«
Ich stellte mich dumm. »Wer?«
Elias bedachte mich mit einem kurzen Lächeln. »Ich nehme an, Niels Villadsen hat versucht, die Kälte mit wissenschaftlichen Phänomenen wegzuerklären?«
»Ich bin sicher, es ist der Fimbulwinter.« Die Worte hingen zwischen uns. »Sie glauben mir aber nicht. Gut, dass er drei Jahre dauert, es bleibt also noch Zeit, sie zu überzeugen.«
Elias kommentierte das nicht.
»Siehst du das auch so?«, fragte ich.
Er setzte sich schwerfällig auf mein Doppelbett. »Nicht zum ersten Mal in der Geschichte sieht es so aus, als sei das Ende nahe.«
»Sieht so aus? Im Ernst, wir haben Minusgrade im August!« Ich schaute zu dem schwarzen Quadrat von Fenster. Draußen war es stockdunkel, und der Wind heulte, während sich Eis auf der Scheibe ausbreitete.
Elias sah mich nachdenklich an. »Manchmal werde ich daran erinnert, wie jung du bist.«
»Typisch für einen Vierhundertjährigen, alles aufs Alter zu schieben. Es ist doch selbst für einen alten Mann nicht normal, dass es im Sommer so kalt ist. Das muss bedeuten, dass der Weltuntergang vor der Tür steht.«
»Nur eins kann man eindeutig über die Prophezeiungen vom Ende der Welt sagen, nämlich dass keine eingetroffen ist. Die Welt ist noch nicht untergegangen.«
Ich setzte mich neben ihn. »Ich mache mir Sorgen um die Zukunft, ganz egal wie viel davon noch übrig ist.«
»Hast du mit deiner Schwester darüber gesprochen? Die Zukunft ist ihr Fachgebiet.«
»Ich kann sie nicht erreichen«, flüsterte ich. »Irgendwas stimmt nicht.«
»Stimmt nicht?«
»Keine Ahnung, was los ist, aber sie ist irgendwie … weg.«
Elias setzte sein professionelles Gesicht auf. Er bewegte seinen Kopf vor und zurück, sodass er mich aus mehreren Blickwinkeln betrachten konnte. »Beschreib es so genau wie möglich.«
Ich zuckte die Schultern. »Normalerweise kann ich in meinem Kopf mit ihr reden, aber jetzt ist es, als gäbe es eine Straßensperre. Ich weiß nicht, ob die Hellsichtigkeit hier in der Kälte langsamer fließt. Das scheint aber doch nicht der Fall zu sein, weil ich vieles andere sehe.«
»Was zum Beispiel?«
»Ich kann zum Beispiel sehen, was du letzte Nacht gemacht hast.« Mit einem kurzen Husten schaute ich weg, bekam aber mit, dass Elias rot anlief.
Es dauerte eine Weile, bis er etwas sagte. »Du könntest überarbeitet sein«, sagte er schließlich.
»Überarbeitet?«
»Gestresst. Stress mag zwar nicht lebensbedrohlich sein, aber er wirkt sich sehr schwächend auf Menschen mit übernatürlichen Kräften aus, und du musst von allem, was dir widerfahren ist, mitgenommen sein.«
»Was meinst du damit, was mir widerfahren ist?«
»Du hast nicht aufgehört, obwohl du deine Grenze überschritten hast. Du bist gestorben …« Seine Stimme wurde brüchig. »Du bist vor etwas mehr als sechs Monaten gestorben. Das ist sehr aufreibend für den Sinn.«
»Wie kann ich meinen Stress loswerden?«
»Du musst inneren Frieden finden.«
»Wie um alles in der Welt soll ich inneren Frieden finden?«
Elias zuckte mit den Schultern.
»Wie kriegst du das hin?«
Er rieb seinen Unterarm durchs Hemd, und wieder fing ich einen Hauch von seinen Ausschweifungen in der letzten Nacht ein. »Ich bin zwar kein Beispiel, das du nachahmen sollst. Aber du kannst dich von mir behandeln lassen. Ich bin nicht nur Experte für die Heilung von körperlichen Verletzungen. Ich bin der fähigste Arzt im Land.«
»Du bist sicher auch der eingebildetste.«
»Ich bin deine beste Chance. Sag mir Bescheid, wenn du von mir therapiert werden möchtest, dann handeln wir einen guten Preis aus.«
Ich verdrehte die Augen. »Natürlich willst du dafür bezahlt werden.«
»Nichts im Leben ist umsonst. Ich bin einfach ehrlich, was mein Honorar angeht. Dabei fällt mir ein …« Er streckte eine flache Hand aus.
»Du willst wirklich einen Lohn dafür kassieren, dass du meinen Rücken wieder in Ordnung bringst? Du hast den Schaden doch selbst angerichtet.«
Ein Muskel in Elias’ Kiefer zuckte, aber er sagte nichts. Mit einem Seufzer ging ich zu meinem Schrank und fand eine kleine Ampulle, die ich noch von der Kornrade übrig und mit der Elias mich zuvor versorgt hatte. Nun war das Fläschchen mit einer roten Flüssigkeit gefüllt. Ich legte es Elias in die Hand, und er hielt es zwischen Daumen und Zeigefinger. Der Riesenkristall strahlte hindurch und warf einen warmen Schein auf sein Gesicht. »Mathias’ Blut?«
»Es ist das letzte von damals, als er erschossen wurde.«
Elias drehte es zwischen seinen Fingern. Das rote Blut rauschte, als steckte noch Leben in ihm, was wahrscheinlich auch der Fall war. Es war natürlich nicht geronnen oder braun geworden.
»Du gehst jetzt besser, bevor mein Vater dich hier findet.«
Elias steckte das Fläschchen ein. »Arthur ist zu Bett gegangen. Es ist jede Menge Zeit.« Er biss sich auf die weiche Unterlippe.
»Elias!«
»Willst du mich wirklich wegschicken? Was, wenn ein Froststurm aufkommt? Die werden immer schlimmer.«
Ich zeigte auf die Tür. »Ich glaube, du hast noch jemand anders, der oder die dich wärmt.«
»Es gibt nur eine, die mich wärmen soll.« Er kam ganz dicht zu mir.
»Elias, lass das.« Ich wich einen kleinen Schritt zurück.
Er folgte mir. »Ich wünsche dir nur Gutes. Ich wünsche uns beiden nur Gutes. Wir beide passen zusammen, und mir bleiben nur noch drei Jahre meines langen Lebens, es gibt keine andere, mit der ich meine Zeit lieber verbringen würde.«
»So typisch für dich, den Weltuntergang als Ausrede zu benutzen.«
Er ergriff meine Hand und streichelte mit seinen Fingerspitzen sanft mein Handgelenk. Es kitzelte angenehm. Mein Herz hämmerte, als Elias noch näher kam und seinen Mund an meinen Hals setzte. Sein würziger Duft stieg mir in die Nase, und ich stand stocksteif da.
»Ich bin seit über dreihundert Jahren allein«, flüsterte er.
Ich begann zu lachen: »Elias. Ich kann deine Vergangenheit sehen. Du kannst mich nicht anlügen.«
»Man kann mit anderen problemlos allein sein.« Elias’ Mund war eine dünne Linie. »Du musst mir Bescheid sagen, wenn du wegen deiner Überanstrengung meine Hilfe brauchst. Dann mache ich dir einen Freundschaftspreis.« Er sprach Freundschaft mit bitterem Sarkasmus aus. Beim Hinausgehen schloss er die Tür ein bisschen fester als nötig. Der Riesenkristall erlosch sofort, und ich blieb allein im stockfinsteren, miefigen Zimmer zurück. Ich tastete mich zu dem Kristall auf der Fensterbank vor. Er war noch warm, aber völlig dunkel. Ich schüttelte ihn, aber das erweckte ihn nicht zum Leben.
Ach, vergiss es. Es war so schön, dass der kneifende Schmerz im Rücken endlich weg war, dass ich mich sofort aufs Bett warf. Vielleicht würde ich ausnahmsweise einmal eine ganze Nacht durchschlafen können.
Aber auch in dieser Nacht sollte ich nicht zur Ruhe kommen, denn ich landete inmitten von Leichenbergen, krächzenden Krähen und flatternden Fingalken. Der Ort stank nach Schwefel, und die Luft war nasskalt. Ich hustete in dem Chaos und versuchte, mich zu konzentrieren.
Ein Mann trat heraus. Er hatte stahlgraues schulterlanges Haar und war bis auf einen einfachen Lendenschurz nackt. Die nackte Haut seines Körpers, der aussah, als sei er aus Granit gemeißelt worden, war wie bei den anderen Chaosgestalten mit Zeichen bemalt, aber er war wesentlich größer als sie. Um den Hals trug er eine Kette, die nicht mit Edelsteinen verziert war. Abgetrennte Menschenköpfe hingen wie Perlen auf der Schnur daran, und er war groß genug, um sich davon mindestens zehn umhängen zu können. In der Hand hielt er ein erhobenes Schwert, und hinter ihm folgten drei furchtbare Kreaturen.
Hel, die Todesgöttin, berührte die Menschen, an denen sie vorbeikam, ohne sie anzuschauen. Sie sanken nieder mit weißer Haut und leeren Augen. Auf der einen Seite war ihre Haut golden. Ihr dunkles Auge lag tief, und die Braue war markant. Ihre andere Seite war verfault und wimmelte von Maden. Das milchig weiße Auge quoll hervor. Die Midgardschlange hielt ihren gigantischen Kopf gesenkt und verschlang die Leichen vom Boden. Von der Schlange stieg der schwere Schwefelgestank auf. Der Wolf war so groß wie ein Lkw. Sein Fell war dick, und er sah aus wie eine Mega-Version von Monster. Fenris, dachte ich und guckte wieder zum Mann mit dem stahlgrauen Haar. Das musste Loki sein.
Jemand ging auf Loki und die Ungeheuer zu. Eine große, schlaksige Gestalt, die im Vergleich zu ihnen klein wirkte. Loki sagte etwas, doch der Mann schüttelte den Kopf. Das dunkle Haar fiel ihm in glänzenden Wellen ums Gesicht. Loki sagte noch etwas, aber der Mann kniete nieder und beugte sich vor, sodass das glänzende Haar nach vorn glitt und die nackte Haut seines Halses entblößte. Loki hob sein Flammenschwert. Es sauste nach unten und trennte den Kopf des Mannes sauber von seinem Körper.
Ich schrie, als der Kopf auf dem Boden aufschlug und auf mich zurollte. Direkt vor meinen Füßen hörte er auf zu trillern und blieb mit dem Gesicht nach oben liegen. Ich schaute auf ihn hinunter, unfähig wegzugucken. Od sah zu mir hoch. Seine schönen Augen waren in die Ferne gerichtet und die wohlgeformten Lippen leicht geöffnet.
Dann bewegte sich der Erdboden, und der Untergrund selbst rumpelte so laut, dass man hätte meinen können, ein Riesenwesen rumorte darunter. Peitschender Wind schlug mir entgegen, vermischt mit Hagel und Eisbrocken. Da der Boden abschüssig war, rutschte ich hinab durch einen Regen aus Körpern, Steinen und Blut. Mein Magen krampfte sich zusammen, als wäre ich in einem Aufzug, der nach unten schoss. Frostkaltes Wasser schlug über meinem Kopf zusammen, und eine Schlange zog mich hinab in die eisigen Wogen.
Dann wurde ich in tausend Stücke gerissen.
»Halte es auf!«, ertönte eine Stimme durch die Dunkelheit. »Halte es auf!«
Mathias’ eigene vier Wände waren nicht besonders groß, sodass es schwer vorstellbar war, dass ein Halbgott in dieser Dreizimmerwohnung mitten in Ravnssted lebte. Ich hob ein feuchtes Handtuch vom Boden auf, das leicht muffig roch.
»Du bist ja ein Schlamper.«
Mathias bekam rote Wangen, schnappte es sich und warf es in einen Plastikwäschekorb. »Hätte ich gewusst, dass du kommst, hätte ich aufgeräumt.« Er rückte einige Stapel mit Unterlagen zurecht und kickte eine Boxershorts unters Bett. »Wir sind sonst immer bei einem von euch oder im Frank’s.«
Luna warf sich aufs Bett. Der grafische Druck des kobaltblauen Kissens und ihr orangefarbenes Kleid, die lila Fingerhandschuhe und der curryfarbene Turban bissen sich. »Du kannst so schlampig sein, wie du willst. Erwarte aber nicht von uns, dass wir etwas dagegen tun.«
Ich betrachtete Mathias’ Wand, an der ein paar Poster hingen. Auf dem einen war ein Regenbogen abgebildet, auf dem anderen eine große Wiese.
Mathias merkte, dass ich sie mir anschaute. »Die hat meine Mutter vor dem Winter gekauft. Ich denke nicht so viel über sie nach.«
Mit meinem Extrasinn sah ich, wie Mathias vor den Bildern kniete und giftgrün leuchtete. Was tat er? Betete er die Poster an? Was auch immer er da machte, es sah nicht so aus, als würden sie ihn nicht beschäftigen.
»Was wollt ihr hier?«
Luna legte ihre Batiktasche neben das Kopfkissen. »Sorry. Wir überfallen dich hier einfach, aber Anne möchte was mit uns besprechen.«
Mathias beugte sich über Luna, die kichernd die Hände auf seine Brust legte. »Ihr hättet nicht gleich reinkommen müssen. Ihr hättet einfach rufen können. Mein Gehör wird mit jedem Tag besser. Du brauchst nur zu flüstern, und ich höre dich.«
»Ich liebe dich«, mimte Luna, und als Antwort gab Mathias ihr einen dicken Schmatzer auf den Mund.
Mit demonstrativ zugekniffenen Augen seufzte ich. »Seid ihr bald fertig?«
»Nicht mal annähernd«, antwortete Mathias, und ich hörte ein weiteres Kussgeräusch.
»Ähem … Ich will ja nicht stören. Aber es sind noch andere Leute hier.«
Widerwillig rissen sie sich voneinander los.
»Also gut. Was ist los?«, fragte Luna.
»Jemand – vielleicht meine Schwester – schickt mir ständig eine Vision aus der Zukunft.« Weil ich auch einen anderen Verdacht bezüglich Seréns hatte, drehte sich mir der Magen um. Ich erzählte ihnen von den Morden und den Naturkatastrophen in der Vision. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass es Ragnarök ist. Die Vision endet immer damit, dass mich jemand anfleht, das Ganze aufzuhalten, aber wie hält man den Untergang der Welt auf?«
»Ragnarök? Da musst du was anderes sehen, oder?« Mathias rollte sich auf die Seite, stemmte seinen Ellbogen in die Matratze und schob seine Hand unters Kinn. Ich sparte mir eine Antwort und schaute stattdessen Luna auffordernd an.
Sie neigte den Kopf leicht schräg. »Du willst nur mal eben den Untergang der Welt aufhalten. Das ist so typisch für dich.« Sie kratzte sich an der Stirn. »Man kann den Göttern opfern, und dann kann man den Riesen das Einmarschieren erschweren.«
»Ersteres wird nicht passieren«, sagte ich heiser, wofür ich von Mathias einen säuerlichen Blick kassierte. »Wie halten wir die Riesen auf?«
»Man muss gerissen sein, denn sie benutzen raffinierte Tricks, um überall reinzukommen. Sie versuchen, einen so zu täuschen, dass man ihnen in die Hände spielt. Also muss man auf der Hut sein. Der zweite Punkt ist, dass man maßvoll mit allem umgehen muss. Die Riesen greifen sich alles, was man verschwendet, und benutzen es gegen einen in der letzten Schlacht.«
Ich sah sie besorgt an. »Vor dem langen Winter herrschte sehr viel Verschwendung, also müssen die Riesen in alter Elektronik und billigem Zeug baden.«
»Ich kenne nur die Überlieferungen. Die besagen, dass Riesen sich mit der Kleidung warm halten, die wir nicht reparieren, sondern einfach wegwerfen, sie stellen Schuhe aus Lederresten her und ernähren sich von den weggeworfenen Lebensmitteln. Ulfberht schmiedet Waffen aus allen Eisenschrottteilen. Das kommt daher, dass sie in alten Zeiten jede Ressource nutzen mussten.«
»Ulfberht.« Ich dachte nach. »Tilarids ist ein Ulfberht-Schwert. Ihr wisst schon, das Schwert von Sverre, das er von Eskild bekommen hat.«
»Ulfberht beliefert die Riesen mit Waffen. Er schmiedet sie im ewigen Feuer von Muspelheim. Bei Ragnarök killen die Riesen die meisten Götter mit diesen Waffen.«
Mathias wurde blass, und Luna legte ihm den Arm um die Schulter. »Ich glaube nicht, dass das jetzt passiert, Schatz.«
»Wenn ich nichts opfere und es zu spät ist, um alles zu verschwenden, gibt es dann noch eine andere Chance?«
Luna dachte nach. »Ich habe gelesen, wenn Hugin und Munin sich wiedersehen, können sie den Lauf der Zeit verändern.«
Ich richtete mich auf. »Endlich etwas, womit ich was anfangen kann.«
Luna lehnte sich an Mathias. »Ich glaube, man muss das symbolisch interpretieren.«
»Das ist doch nicht symbolisch, dass die zwei Raben sich wiedersehen. Das ist ganz konkret.«
Luna schnalzte mit der Zunge. »Hugin ist die Zukunft, und Munin ist die Vergangenheit. Zusammen sind sie die Gegenwart. Das ist so was wie ein Carpe diem-Ratschlag. Du kannst dein Schicksal verändern, wenn du dich von gewohnten Denkmustern und der Angst vor der Zukunft verabschiedest. Die Wikinger hatten voll den Durchblick.«
»Es könnte auch bedeuten, dass ich und Serén zusammen den Weltuntergang aufhalten können.«
Luna zog die Bettdecke über sich.
»Oh nee.«
»Das einzige Problem ist nur, dass ich hier drinnen immer noch keinen Kontakt zu ihr kriege.« Ich tippte mir ein paarmal an die Schläfe. Wieder krampfte sich mein Magen zusammen. »Irgendwas stimmt nicht mit mir.«
Luna setzte sich ganz auf, und die Decke rutschte weg. »Irgendetwas stimmt nicht?«
Ich hustete unangenehm berührt. »Findet ihr, dass ich … mich verändert habe, seit ich wieder zurück aus Hrafnheim und Helheim bin?«
Sie betrachtete mich mit leichtem Stirnrunzeln. »Du bist vielleicht ein bisschen sexyer.«
»Ich bin sexyer geworden, weil ich gestorben bin?«
Luna stützte sich nach hinten auf die Ellbogen. »Nein, nein … Du warst schon immer sexy, aber du schimpfst einfach nicht mehr so viel.«
»Echt nicht?«
»Was denkst du denn selbst, was los ist?«, fragte Mathias.
»Ich habe gestern mit Elias gesprochen. Er hatte sich selbst zu Odinshöhe Zugang verschafft, als wir im Frank’s waren.«
»Was?! Er könnte ein Mörder sein. Er ist ein Mörder«, stotterte Mathias.
»Kein richtiger Mörder.«
»Er hat Naut Kafnar und all die Soldaten in Sverresborg umgebracht.«
»Ja, schon …«
»Und dich.«
Ich hob meinen Zeigefinger. »Aber erst als ich ihn dazu gezwungen hatte. Ist jetzt auch egal. Elias glaubt, dass ich Stress habe, und das ist anscheinend Gift für übernatürliche Fähigkeiten.«
»Es ergibt absolut Sinn, dass dich das Schicksal genau vor diese Herausforderung stellt«, sagte Luna. »Aus allem anderen kann man sich herausboxen oder davor weglaufen, aber das hier verlangt, dass du ganz buchstäblich auf dich selbst hörst.«
»Okay, aber …«
»Und du bist echt schlecht darin, auf dich selbst zu hören.«
»So, so!«
»Du musst runterkommen, wenn du deine Schwester wiedersehen willst.« Halb liegend rekelte sich Luna genüsslich, wodurch sie wie ein gefleckter Aal aussah. »Manchmal liebe ich einfach das Universum.«
Ich holte angestrengt Luft. »Was sollte ich eurer Meinung nach tun?«
»Meine Eltern können helfen. Sie haben viele in Behandlung. Mein Vater hypnotisiert sie, und meine Mutter macht Farbentherapie. Sie ist also total supergut.«
»Bei allem Respekt, Luna, mit deiner Mutter und deinem Vater kann ich innerlich nicht zur Ruhe kommen. Kennen sie jemand anders, der bei Stress helfen kann?«
»Bente vom Therapie-Zentrum. Sie ist Spezialistin für Stressbehandlungen. Ich werde sie mal fragen, ob sie Zeit hat.«
»Gut. Ich meine, danke. Mehr will ich darüber nicht reden.« Ich setzte mich an Mathias’ Schreibtisch und drehte mich auf dem Bürostuhl in Halbkreisen. »Euch scheint es nicht besonders aufzuregen, dass der Fimbulwinter da ist.«
»Wenn er denn da ist.«
»Aua, Luna …«
»Meine Eltern halten es nicht für Fimbul, und sie kennen sich mit Mythologie sehr gut aus«, unterbrach sie mich.
»Warum will niemand über die Möglichkeit nachdenken, dass der Fimbulwinter da ist?«
»Meine Eltern meinen, dass man wirklich vorsichtig mit der Aussage ›Fimbul kommt‹ umgehen muss. Historisch betrachtet hat es immer dann Hysterie und religiöse Tyrannei ausgelöst, wenn die Menschen glauben, der Untergang steht vor der Tür. Niels kennt beide Welten, und er ist der gleichen Meinung.«
»Wenn das jetzt der Fimbulwinter ist, haben wir nur noch drei Jahre Zeit.«
Luna massierte ihren Nasenrücken. »Gewohnte Denkmuster«, sagte sie leise.
»Was?«
»Ich bin so was von angenervt von den späten Interpretationen der Mythologie. Manchmal, wenn etwas oft genug wiederholt wird, vergessen alle, dass es nicht wahr ist. Das ist so ähnlich wie mit Freyja, der Liebesgöttin. Ich meine, sie herrscht über Fruchtbarkeit und Sex, aber sie ist auch Todesgöttin und Hexe, und sie ist megagefährlich. Außerdem ist sie nicht sehr viel schöner als alle anderen Götter und Göttinnen.«
»Sie hat wirklich die Schnauze voll davon, immer so romantisch dargestellt zu werden.« Ich war der Göttin begegnet, und sie hatte nicht viel von »Love, peace and harmony« gehalten. »Fimbul gibt es also gar nicht?« Ich schaute voller Hoffnung aus Mathias’ Fenster auf die Schneewehen vor dem Mietshauskomplex. Auf dem Parkplatz standen einige Autos, sie lagen aber unter Schneeschichten begraben. Benzin war kaum noch aufzutreiben, und so bewegten sich die Menschen zu Fuß oder mit dem Fahrrad vorwärts, wenn sie eine geräumte Straße finden konnten, oder in den wenigen Elektroautos, die in dieser Gegend unterwegs waren.
»Dass es einen langen Winter geben wird, der mit Ragnarök endet, ist ein älterer Mythos«, sagte Luna. »Ich glaube, er wurde mit einigen alten Volksmärchen verwechselt. In den Quellen wird Fimbul nur einmal erwähnt.«
»Wie sehen dann die Vorzeichen für Ragnarök aus?«
»Es beginnt damit, dass die Götter und Halbgötter an Stärke zunehmen. Zur gleichen Zeit kommt es zu Naturkatastrophen, Hungersnöten und Krankheiten, aber es wird nicht erwähnt, wie lange die Natur den Bach runtergeht. Freunde werden sich gegenseitig ermorden und Familienangehörige sich gegenseitig bekämpfen. Na ja, während des Fimbulwinters soll es auch Hurerei geben, obwohl ich nicht weiß, was darunter im alten Norden zu verstehen war.«
»Von welchen Quellen sprichst du?«
»Von der Prophezeiung. Von deiner Freundin Heid.«
Ich fühlte eine seltsame Verwandtschaft mit der Völva, die vor tausend Jahren gestorben war. Manchmal kam es mir vor, als würde sie durch einen Tunnel aus Zeit zu mir sprechen.
»Heid sah Ragnarök voraus, aber nicht den Fimbulwinter. Ein bisschen steht in der Vafþrúðnismál, aber was genau Fimbul oder der Schreckenswinter ist, oder wie lange er dauert, weiß niemand. Fimbul bedeutet auf Altnordisch einfach hart oder streng.«
Viel erfuhr ich,
viel versucht ich,
befrug der Weisen viel.
Wer lebt und leibt noch,
wenn der lang besungene
Schreckenswinter schwand?
Als Luna die Strophe des Eddaliedes vortrug, klingelte es in meinen Ohren, und der Raum drehte sich um mich. Ich hielt mich an der Tischkante fest und wäre fast von Mathias’ Bürostuhl gekippt. Meine beiden Freunde streckten die Arme aus, um mich aufzufangen, aber ich gab ihnen mit einem Handzeichen zu verstehen, dass es gleich vorbei sei.
»Das ist auf jeden Fall eine richtige Prophezeiung«, schnaufte ich, als ich wieder sprechen konnte. »Und jetzt ergibt es viel mehr Sinn, dass niemand glaubt, Ragnarök sei auf dem Weg, aber ich bin ziemlich sicher, dass es so ist.«
»War es nicht so, dass du oder deine Schwester von Ragnaras Hand sterben würden, bevor die Welt untergeht? Du bist ziemlich lebendig, und Ragnara ist ziemlich tot«, sagte Mathias.
Plötzlich konnte ich meine Lippen nicht mehr spüren. Vielleicht gab es noch einen Grund, warum ich Serén nicht erreichen konnte. Vielleicht hatte Ragnara aus dem Grab heraus einen Weg gefunden, sie zu töten.
»Ich träume immer wieder von Ragnarök«, sagte ich, hauptsächlich um diesen Gedanken wegzuwischen.
»Sterben die Götter?«
»Es gibt überhaupt keine Götter.«
»Dann kann es nicht Ragnarök sein«, sagte Luna.
»Warum nicht?«
»Ragnarök bedeutet Götterschicksale. Wenn es keine Götter gibt, können es kaum ihre Schicksale sein. Ragna bedeutet Die herrschenden Kräfte, und rökr bedeutet Schicksal oder Dunkelheit.«
»Hmm. Das klingt so ähnlich wie Ragnara.«
»Der Name bedeutet bloß, dass sie die Herrscherin, also Regentin war. Mein Vater sagt, sie habe den Namen Ragnara angenommen, als sie Königin wurde. Davor hieß sie Melkorka.«
Das war eigentlich egal, denn Ragnara war tot und nur darauf aus gewesen, mich zu töten; aber bei mir stellte sich ein unangenehmes Ziehen in der Magengegend ein, als ich ihren richtigen Namen hörte. Sie wurde in meinem Bewusstsein immer mehr zu einem normalen Menschen.
»Aber stimmt es denn nicht, dass Ragnarök kommt, wenn die Midgardschlange ihren Schwanz loslässt und Loki aus der Höhle flieht? Beides ist schon passiert. Ich glaube, sie rückt näher. Ich glaube, der Fimbulwinter ist da.«
»Ich denke, wir sollten echt vorsichtig damit sein, diesen Winter Fimbul zu nennen«, gab Luna zu bedenken.
»Aber etwas ist anders.« Mathias rieb sich mit seiner goldenen Hand die Augen. Luna rollte sich auf die Seite und schmiegte sich an ihn. Er streichelte abwesend ihre Schulter, ohne uns anzuschauen.
»Was ist anders?«, fragte Luna.
Mathias ließ seine Augen geschlossen, vielleicht weil es ihm schwerfiel, es zuzugeben. »Irgendetwas bewegt sich.« Er zeigte auf seine breite Brust. »Etwas in mir verändert sich. Es ist eine Kraft, die ich nur schwer kontrollieren kann.«
»Du hattest schon immer Probleme, deine Kräfte zu kontrollieren«, merkte ich an.
Er schluckte. »Ich werde immer wütender auf die Menschen.«
Ich sah ihn finster an. »Worüber bist du sauer?«
»Ihr seid nicht gottesfürchtig genug. Es ist mein Recht, dass ihr mich anbetet.«
Mathias rutschte unruhig hin und her.
Ich musste grinsen. »Du bist ein neunzehn Jahre alter Gymnasiast, Mathias. Niemand will dich anbeten.«
»Ich schon.« Luna knutschte ehrfurchtsvoll seine Kieferpartie bis zu seinem Ohr ab, knurrte dann an seinem Hals und kitzelte ihn, als wäre er ein Kleinkind.