Manne: ausgerechnet Sisselsheim - Beate Weirich - E-Book

Manne: ausgerechnet Sisselsheim E-Book

Beate Weirich

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Beschreibung

Manne Sollinger nimmt sich eine Auszeit von ihrem Beruf als Lehrerin und zieht zu ihrer Tochter Julia in die verwaiste Einliegerwohnung von Opa Gerhard. Doch das Zusammenleben mit der Helikoptermutter und ihren beiden zickigen Töchtern wird von Tag zu Tag schwieriger. Die Mädels setzen alles daran, die lästige Großmutter lieber heute als morgen loszuwerden. Als es unweigerlich zum Eklat kommt, tritt Manne die Flucht nach vorne an. Sie landet in einem verwunschenen Häuschen und bei Jakob. "Ausgerechnet Sisselsheim" ist ein Buch für Frauen, die Spaß daran haben, die ebenso energische wie planlose Protagonistin bei ihren ersten Schritten in ein Leben abseits vom beruflichem Alltag zu begleiten. Ein Buch zum Schmunzeln, Kichern, Nicken, Kopfschütteln, Augenrollen und manchmal auch zum tief Luft holen. Im Reisegepäck sollte es auch nicht fehlen, denn es ist bestens geeignet, um Wartezeiten zu überbrücken, oder einen verregneten Urlaubstag aufzuhübschen. Eine inspirierende Lektüre für Frauen über fünfzig, die ihr Leben noch einmal auf neue Füße stellen wollen und für Frauen unter fünfzig, die schon mal einen Blick in die Welt dieser komischen Alten riskieren.

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Für alle Frauen, die noch einmal neu anfangen, obwohl man ihnen sagt, dass sie für so einen Unsinn zu alt sind.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel Eins

Kapitel Zwei

Kapitel Drei

Kapitel Vier

Kapitel Fünf

Kapitel Sechs

Kapitel Sieben

Kapitel Acht

Kapitel Neun

Kapitel Zehn

Kapitel Elf

Kapitel Zwölf

Kapitel Dreizehn

Kapitel Vierzehn

Kapitel Fünfzehn

Kapitel Sechzehn

Kapitel Siebzehn

Kapitel Achtzehn

Kapitel Neunzehn

Kapitel Zwanzig

Kapitel Einundzwanzig

Kapitel Zweiundzwanzig

Kapitel Dreiundzwanzig

Vier Wochen später

Eins

Manne wickelte ihre letzte Tasse in Zeitungspapier, um sie in den Umzugskarton neben ihrem Küchentisch zu packen, als es plötzlich klingelte.

"Wer will denn so spät noch ..." murmelte sie, während sie die Tasse in den nächstbesten Karton stopfte. Vielleicht hatte die junge Frau von nebenan ihren Müll hinuntergebracht und dabei die Tür ins Schloss gezogen. Sicherheitshalber zog sie ein sauberes Hemd über das verschwitzte T-Shirt und fuhr mit beiden Händen durch die schnörkellose Kurzhaarfrisur, bevor sie zur Wohnungstür ging.

"Ja bitte?", meldete sie sich durch die Gegensprechanlage, während sie ihr Hemd zuknöpfte.

"Stör ich, oder kann ich kurz hochkommen?", tönte die Stimme ihrer jüngeren Kollegin Anja aus dem winzigen Lautsprecher.

"Du störst nie", antwortete Manne, während sie den Türöffner betätigte und das Treppenlicht einschaltete. Im Lauf der Jahre war sie so etwas wie ihre beste Freundin geworden, die sie im Notfall sogar um Mitternacht noch aus dem Bett klingeln durfte, aber in den Sommerferien sollte es eigentlich keine Notfälle geben.

"Alles okay?", fragte sie, als Anjas Gesicht über dem Treppenabsatz auftauchte.

"Bei uns ist alles in Ordnung. Und wie sieht es bei dir aus?"

"Alles bestens."

"Weißt du inzwischen schon, wo du ..." Sie folgte Manne in die Wohnung und nahm Kurs auf das Wohnzimmer. Auf der Schwelle blieb sie plötzlich stehen. "Wo sind denn deine ganzen Möbel?"

"Verkauft, verschenkt oder in den Müll geworfen. Komm mit in die Küche, da ist noch fast alles beim Alten."

"Ich komme gleich." Während Manne den Wasserkocher füllte, wanderte Anja durch alle Räume, als müsse sie sich davon überzeugen, dass sich ihre Freundin keinen Scherz mit ihr erlaubt hatte.

Als das Wasser im Kocher zu summen anfing, fischte Manne zwei Tassen aus dem Karton. "Kaffee oder Tee? Ich hab aber nur noch löslichen Kaffee und keine Milch mehr da."

"Lieber Tee", tönte Anjas Antwort aus dem Schlafzimmer.

"Okay." Manne kramte in der Kiste, die unter einem offenen Schrank stand. "Schwarzen Tee, Pfefferminztee oder ...?"

"Ich trink dasselbe wie du", unterbrach Anja die Aufzählung. "Jetzt sag schon, wo deine Sachen geblieben sind."

"Weg." Manne hängte in jeden Becher einen Teebeutel und goss Wasser darüber.

"Echt jetzt? Dein Wohnzimmer ..."

"... hat das Sozialkaufhaus genommen, genau wie meine Klamotten und das Geschirr. Den Bücherschrank und meinen Schreibtisch hat ein holländischer Antiquitätenhändler gekauft. Ich hab mich echt gewundert, wie viel Geld er dafür bezahlt hat."

"Und deine vielen Bücher? Deine DVDs? Deine CDs?"

"Verkauft, verschenkt oder weggeworfen", wiederholte Manne.

"Wenn sie nicht in einem der sieben Kartons sind, die ich mit in mein neues Leben nehme." Sie schob einen der Becher zu Anja hinüber. "Magst du Zucker?"

Anja schnupperte an dem tiefroten Gebräu. "Apfeltee?"

Manne nickte. "Jasmin hat mir ein Päckchen aus der Türkei mitgebracht."

"Dann brauch ich keinen Zucker." Schweigend rührten sie in ihren Tassen, doch Anja konnte die Stille offenbar schon nach zwei Minuten nicht mehr ertragen. "Wie geht es jetzt weiter? Du wolltest die Wohnung doch untervermieten und nächstes Jahr zurückkommen."

"Wie du siehst, habe ich meine Pläne geändert. Ich habe eine Nachmieterin gesucht, meine Wohnung ausgemistet und alles, was ich unbedingt behalten will, in sieben Kisten gepackt."

"Nur sieben Kisten?" Anja war immer noch fassungslos.

"Sieben Kisten, meinen Lieblingssessel, meinen Futon und eine Tasche mit meinem Bettzeug. Mehr brauche ich nicht." Sie pustete den Dampf von der Oberfläche ihres Tees und nippte vorsichtig daran. Natürlich war er noch immer zu heiß zum Trinken. "Genau genommen hätte ich nicht mal meinen Sessel mitnehmen müssen, aber ein bisschen Sentimentalität leiste ich mir einfach."

"Und was wird aus deiner Motorrad-Reise? Du wolltest doch einen Platz finden, an dem du in Ruhe alt werden kannst."

"Dieser Platz hat mich gefunden. Ich ziehe zu meiner Tochter."

"Wie bist du denn auf die Idee gekommen?"

"Julia ist auf die Idee gekommen. In ihrem Haus gibt es eine schicke kleine Einliegerwohnung, die mit allem ausgestattet ist, was ein Mensch braucht. Bis vor einem halben Jahr hat ihr Schwiegervater darin gewohnt, aber der ist Ende Januar gestorben, seitdem steht sie leer. Julia hat mich gefragt, ob ich nicht bei ihr einziehen will."

"Ich dachte, du und Julia ..." Hilflos zog Anja die Schultern hoch.

Offenbar wusste sie nicht, wie sie den angefangenen Satz beenden sollte.

"Wir haben nicht das beste Verhältnis zueinander", half Manne aus.

"Aber das wird sich ändern. Ich bin vor über dreißig Jahren nach Köln gekommen, weil ich den Kleinstadtmief nicht mehr ertragen konnte. Julia ist bei meinen Eltern geblieben, weil sie um keinen Preis der Welt in einer Großstadt wohnen wollte. Das waren vermutlich nicht die besten Voraussetzungen für ein gutes Verhältnis, aber ich wäre in Sisselsheim zugrunde gegangen und sie in Köln."

"Und jetzt willst du da hinziehen?" Anja schüttelte den Kopf. "Ich wette einen Schokobecher im teuersten Eiscafé der Stadt gegen einen Milchshake bei der Bude am Bahnhof, dass du spätestens in einem Jahr wieder in Köln und an der Herbert-Reichmeyer bist.

Ausgerechnet Sisselshausen ..."

"Sisselsheim", verbesserte Manne sie. "Es heißt Sisselsheim und ist ein nettes Städtchen im Dunnbergkreis mit Supermärkten, Ärzten, Apotheken, einem Krankenhaus, Metzgereien, Bäckereien, einem Drogeriemarkt, einem Schuhgeschäft, einigen Kneipen und einer Boutique. Verglichen mit Köln, ist dort alles so günstig, dass ich es mir leisten kann, meine Stelle zu kündigen und in den zwei Jahren bis zur Rente von meinen Ersparnissen zu leben." Sie wischte einen unsichtbaren Krümel vom Tisch. "Julia hat mit zehn Jahren entschieden, dass sie bei ihren Großeltern bleiben will, seither habe ich sie nur noch in den Ferien gesehen. Ich habe nicht miterlebt, wie aus dem süßen Pummelchen ein hübsches Mädchen und aus dem Mädchen eine attraktive junge Frau wurde. Inzwischen ist sie mit einem erfolgreichen Geschäftsmann verheiratet und die Mutter zweier Töchter, die ich auch nicht kenne. Wenn es noch ein Abenteuer gibt, das ich auf keinen Fall verpassen sollte, muss ich nur mein Single-Dasein aufgeben, um meine Tochter und meine Enkelinnen endlich kennenzulernen." Das musste genügen! Selbst ihrer Freundin wollte sie nicht auf die Nase binden, dass sie in letzter Zeit öfter als gewöhnlich an Walli gedacht hatte.

"Bist du sicher, dass du nicht einfach dein Single-Dasein aufgeben und nach dem passenden Mann zum gemeinsamen Altwerden suchen solltest?"

"Ich soll mir einen Mann suchen? Ist das dein Ernst oder willst du eine alte Frau veräppeln?" Manne lachte schallend. "Die letzten ernsthaften Versuche habe ich gemacht, als ich in deinem Alter war." Kopfschüttelnd winkte sie ab. "Aber Walli hat nicht mal gemerkt, wie sehr ich in ihn verliebt war."

"Wer ist denn dieser Walli?", wollte Anja wissen. "Kenne ich den zufällig auch?"

"Walli war unser Schulleiter, als ich in der Herbert-Reichmeyer angefangen habe. Das war lange vor deiner Zeit." Sie zögerte kurz, entschied sich dann aber doch, die ganze Geschichte zu erzählen.

"Walli hat für unsere Schule gelebt. Er hat dafür gesorgt, dass die maroden Werkstatträume renoviert wurden, und dass wir die Turnhalle des Gymnasiums nebenan mitbenutzen durften. Als uns eine Hausmeisterstelle gestrichen wurde, hat er nach Feierabend oder an den Wochenenden selbst Hand angelegt. In den Ferien hat er sogar Klassenräume gestrichen, wenn es nötig war. Die Feste bei ihm zu Hause waren legendär, und wenn jemand Hilfe brauchte, war Walli für uns da. Mir hat er dabei geholfen, mein Hochbett zu bauen, und Fritz hat drei Monate bei ihm im Gästezimmer gewohnt, weil seine Frau ihn vor die Tür gesetzt hatte."

"Was hat Wallis Frau dazu gesagt?"

"Walli war nicht verheiratet, sonst hätte ich mich garantiert nicht in ihn verliebt. Er hat immer von einer Jugendliebe namens Barbara erzählt, die er suchen gehen wollte, sobald er pensioniert wäre."

"Und? Hat er sie gefunden?"

"Er kam nicht mehr dazu, sie zu suchen. Weil kein anderer Schulleiter für unsere Berufsschule gefunden wurde, ist er länger geblieben. Zuerst hat er ein Jahr angehängt, dann noch eins und noch eins. Als sie ihn mit siebzig endlich doch in den Ruhestand schicken mussten, ist er wegen irgendwelcher Magenbeschwerden zum Arzt gegangen. Der hat ihn ins Krankenhaus geschickt. Die haben festgestellt, dass er Bauchspeicheldrüsenkrebs hatte. Sechs Wochen später war er tot."

"Meine Güte, wie schrecklich." Anja presste beide Hände auf den Mund.

"Ich glaube, er fand es gar nicht schrecklich. Ich hab ihn noch mal im Hospiz besucht, da hat er gesagt, dass für ihn alles so passt, und dass es gar keine Barbara gibt."

"Wenn Walli deine große Liebe war, kann ich verstehen, dass du es lieber mit deiner Tochter probierst. Sag mal ..." Ein Lächeln erhellte Anjas Gesicht. "Soll ich dich bei deinem Familien-Abenteuer unterstützen? Ich kann dir helfen, den unerlösten Kram auszuräumen, der zwischen euch steht."

"Wie willst du mir denn dabei helfen?"

"Ich könnte dich coachen. Ich mache doch die Ausbildung zum systemischen Familiencoach. Solche Geschichten sind genau unser Thema. Wir hören uns an, was unsere Klienten in ihren familiären Beziehungen belastet und helfen ihnen, ihre Stresspunkte in einem neuen Licht zu betrachten. Meistens braucht es gar nicht mehr, um die Beziehungen nachhaltig zu verbessern."

"Hm ..." Manne zog ihre Stirn in Falten. "Ich weiß nicht, ob ich mir so ein Coaching überhaupt leisten kann."

"Wenn ich deine Fallgeschichte für meine Ausbildung verwenden darf, kostet dich das gar nichts."

"Und wie soll das gehen? Du bist in Köln und ich in Sisselsheim."

"Mit einer fremden Klientin würde ich das gar nicht erst versuchen, aber wir kennen uns gut genug, dass wir es mit einem Telefon-Coaching probieren können. Hast du schon eine Adresse und eine Telefonnummer, unter der ich dich erreichen kann?"

"Überraschung!" Manne ging zur Garderobe, kramte ein flaches Kästchen aus der Innentasche ihrer Motorrad-Jacke und ließ es aufklappen. "Julia hat mir ihr altes Smartphone geschenkt und ein WhatsApp-Konto eingerichtet."

"Ich glaub's nicht." In gespieltem Erstaunen riss Anja die Augen auf.

"Manne Sollinger ist endlich im einundzwanzigsten Jahrhundert angekommen. Wenn du jetzt den Eingang in die moderne Welt der Kommunikation gefunden hast, kannst du eigentlich auch hierbleiben, und deine Enkelinnen beim Chatten kennenlernen. Die jungen Leute machen das heute alle so."

"Nee, lass mal gut sein." Lachend schüttelte Manne den Kopf.

"Morgen früh um neun kommt mein Schwiegersohn mit seinem Transporter. Er bringt die Mädchen mit. Ich habe ihnen nämlich versprochen, dass wir noch eine Abschiedstour durch Köln machen, bevor wir die Kisten, meinen Sessel, den Futon und mein Moped einpacken und Kurs auf Sisselsheim nehmen."

Zwei

Am nächsten Morgen wurde Manne von einem anhaltenden Klingeln unsanft aus dem Schlaf gerissen. War das ihre Türglocke?

Konnten das tatsächlich schon Eberhard und die Mädchen sein?

Hatte sie das Läuten ihres Weckers verschlafen?

Das graue Dämmerlicht in ihrem Schlafzimmer verriet Manne, dass die Sonne noch nicht über die gegenüberliegenden Hausdächer geklettert war. Es war gerade erst sechs Uhr!

Nein, das konnte niemand sein, der zu ihr wollte. Vielleicht hatte sich jemand in der Klingel geirrt.

Als sie sich mit einem Seufzen der Erleichterung auf die andere Seite drehen wollte, läutete es wieder. Offenbar war sie doch gemeint.

"Ich komme schon." Mit nackten Füßen tappte sie über den kalten Linoleum-Belag im Flur. Erst als sie durch den Glaseinsatz in der Tür sah, dass der frühe Besucher bereits vor der Wohnung stand, wurde ihr bewusst, dass sie auch sonst nicht viel an hatte. Im Vorbeigehen griff sie das erstbeste Kleidungsstück von der Garderobe, es war die Jacke ihrer Motorradkombi, und zog sie über, bevor sie die Sicherheitskette vorlegte und die Tür einen Spalt breit öffnete.

"Wer ...?" Doch das Männergesicht mit dem glatt rasierten Gesicht, den lackschwarzen, dezent gewachsten Haaren und dem jungenhaften Grinsen war ihr nicht fremd. "Guten Morgen, Eberhard."

"Guten Morgen, liebe Schwiegermama." Seine Augen strahlten, als würde er sich tatsächlich darüber freuen, sie zu sehen. "Ich soll dir ausrichten, dass dein Umzugswagen vor der Tür steht."

"Hoffentlich nicht. Vor dem Haus ist Halteverbot." Sie klappte die Tür wieder zu und hängte die Kette aus, bevor sie zum zweiten Mal öffnete. "Moin, Eberhard."

"Keine Sorge." Sein verschmitztes Lächeln wurde eine Spur breiter.

"Für solche Fälle habe ich immer einen Müllsack und ein Schild mit der Aufschrift Wartungsarbeiten unter dem Fahrersitz liegen."

Manne nickte anerkennend. "Ich wusste gar nicht, dass meine Tochter einen Mann mit kriminellen Neigungen geheiratet hat."

"Schwiegermama." In gespieltem Entsetzen riss er seine Augen auf.

"Ich bin Autohändler. Was erwartest du von mir!"

"Guter Einwand. Wo hast du denn den Rest der Bande gelassen?"

Sie reckte den Hals, um über seine Schulter ins Treppenhaus zu spähen. "Wir hatten doch ausgemacht ..."

"Ja, das hatten wir", unterbrach er sie mit einem dramatischen Seufzen. "Und jetzt ist halt alles ganz anders. Hast du Julias Nachricht nicht gelesen?"

Sie schüttelte den Kopf.

"Dann noch mal in Kurzform: Ich habe gestern noch einen wichtigen Kundentermin reingekriegt, und als wir entschieden hatten, dass ich zu Hause bleibe, und Julia mit dem Bus zu dir hoch fährt, gab es plötzlich Sturm in der Suppenschüssel. Meggie will nicht mehr mit, weil ihre Reitstunde jetzt doch wieder wichtiger ist, Gwen will nicht mit, wenn ihre große Schwester zu Hause bleiben darf, und Julia kann nicht mit, weil die Mädchen nicht allein bleiben sollen. Also musste ich doch fahren, und weil ich um elf wieder im Autohaus sein muss, bin ich so früh gekommen. Julia wollte dir das alles schreiben." Er zog die Schultern hoch. "Irgendwas wird wohl dazwischengekommen sein."

"Ach so." Manne nickte mechanisch und lächelte. Sie wollte sich nicht anmerken lassen, wie enttäuscht sie darüber war, dass eine Reitstunde wichtiger war als ein Tag mit der neuen Oma.

"Also dann ..." Sie spürte einen Druck wie von einer Faust in ihrem Magen. Bevor sich dieser Druck in Traurigkeit verwandeln konnte, nahm sie Zuflucht zu einem der flapsigen Sprüche, die sie sich für solche Gelegenheiten zurechtgelegt hatte. "Dann muss es halt ohne Sentimentalitäten gehen. Nur ein schneller Abschied ist ein guter Abschied." Ihr Lachen klang zu laut, um echt zu sein, aber es tat seinen Zweck. Der Druck verschwand so plötzlich, wie er gekommen war.

"Julia hat gesagt, außer deinem Moped müssen wir nur ein paar Kisten mitnehmen?" Eberhard rieb sich die Hände, als würde er sich darauf freuen, ihre Umzugskartons die steile Stiege hinunterzuschleppen.

"Mein Moped, sieben Kisten, meinen Sessel und meinen Futon."

"Futon? Was ist ein Futon?"

"Eine Matratze. Keine Sorge, das ist kein großes, sperriges Ding, sondern eine Rolle, die man bequem auf den Rücksitz eines Kleinwagens packen könnte."

"Meinetwegen." Eberhard zog die Schultern hoch. "Aber du kannst deine Futon-Rolle auch dalassen. Die Wohnung ist vollständig eingerichtet und auf der neuen Matratze hat mein Vater höchstens zweimal geschlafen, bevor er das Krankenbett gebraucht hat."

Manne wiegte ihren Kopf hin und her, als würde sie den Vorschlag ernsthaft in Erwägung ziehen. "Ich nehm den Futon trotzdem mit."

"Ich bring die Kisten runter. Brauchst du im Bad länger als zwanzig Minuten? Sonst müsste ich doch einen anderen Parkplatz suchen."

"Bis du die Kisten im Auto hast, bin ich angezogen, und der Futon ist auch verpackt", entgegnete sie, obwohl sie ungern auf eine Dusche verzichtete, bevor sie morgens das Haus verließ.

Eberhard zog die Augenbrauen hoch. "Wenn du das schaffst, spendiere ich uns ein Frühstück. Wenn nicht, geht das Knöllchen auf deine Rechnung. Auf los gehts los!" Er schnappte sich die erste Kiste und rannte damit hinaus, als gäbe es tatsächlich einen Wettbewerb zu gewinnen.

Manne begnügte sich notgedrungen mit Zähneputzen und Katzenwäsche. Als Eberhard mit schweren Schritten die Treppe hoch stapfte, um den dritten Umzugskarton zu holen, war sie dabei, alles, was noch im Bad gestanden hatte, in eine Reisetasche zu stopfen.

"Müsste es in einem Haus mit vier extrahohen Stockwerken nicht einen Aufzug geben?", keuchte Eberhard, während er die nächste Kiste hochwuchtete.

"Nach modernen Baubestimmungen vermutlich schon. Aber dieses Haus stammt aus dem vorletzten Jahrhundert."

"Und damals war es noch üblich, Sklaven zu halten?"

Bevor ihr eine schlagfertige Erwiderung einfiel, war er schon auf dem Weg nach unten.

"Fertig", tönte es gut gelaunt aus dem Flur, als Manne dabei war, die störrische Wurst des Futons mit einem Packriemen zu bändigen.

"Auch fertig", triumphierte sie. "Einigen wir uns auf unentschieden?"

"Unentschieden ist der Sieg der Feiglinge. Wir können in die Verlängerung gehen."

Sie tat so, als hätte sie seine letzten Worte nicht gehört. "Hilfst du mir bitte mal?"

"Dazu bin ich hier. Wo steckst du denn?"

"Im Schlafzimmer, letzte Tür rechts."

Seine Schritte kamen rasch näher und stockten plötzlich. "Wo ...?"

"Hier." Sie kniete auf der Futonrolle, um den Packriemen enger zuzuziehen. "Du wirst dich doch in der kleinen Wohnung nicht ..."

"Ich glaub's ja nicht." Schallendes Gelächter übertönte ihre Worte.

"Meine Schwiegermama, eine in Ehren ergraute Berufsschul-Lehrerin, schläft im Kinderbett. Bitte sag, dass das nicht wahr ist."

"Ein Kinderbett", schnaubte Manne. "Das ist ein handgefertigtes ..."

Doch dann fiel ihr ein, dass sie und Walli das Hochbett tatsächlich gebaut hatten, um die zehnjährige Julia davon zu überzeugen, dass das Leben bei ihrer Mutter auch etwas zu bieten hatte.

Anstatt etwas zu erklären oder sentimentalen Gedanken nachzuhängen, schob sie die Futonrolle über die Bettkante. "Stell sie in den Gang, wir können sie gleich zusammen runtertragen."

"Die packe ich auch alleine." Eberhard schulterte die Rolle und stapfte los. "Ich verstehe zwar immer noch nicht, warum du dieses Ding unbedingt mitnehmen willst, Schwiegermama, aber ich verspreche dir hoch und heilig, dass ich es in den Bus packe und nicht in die Mülltonne." Er sagte noch mehr, aber alle weiteren Worte verhallten ungehört im Treppenhaus.

Sie ließ das Bettzeug über die Leiter nach unten gleiten, kletterte hinterher und stopfte alles in eine Tasche. Bevor sie ihre Schuhe angezogen hatte, um Eberhard zu folgen, war der schon wieder auf dem Weg nach oben.

"Letzte Runde", rief er ihr aus dem Treppenhaus entgegen. "Oder hast du noch mehr gefunden, was unbedingt mitmuss?"

Sie schüttelte den Kopf, aber das konnte er natürlich nicht sehen.

"Nur noch die Tasche mit dem Bettzeug und meinen Sessel."

"Den bringen wir gleich als Nächstes runter. Wo ...?"

"Im Wohnzimmer, zweite Tür rechts."

"Wenn der Sessel im Bus ist, sehen wir auch, ob ich für dein Moped noch mal umpacken muss. Ach du liebes Lottchen!"

Als Manne ihrem Schwiegersohn in das ehemalige Wohnzimmer gefolgt war, sah sie ihn kopfschüttelnd vor dem alten Ohrenbackensessel stehen, den einer ihrer ersten Schüler zur Gesellenprüfung neu aufgebaut, mit kanariengelbem Leder bezogen und mit leuchtend blauen Kedernähten verziert hatte.

"Ist das ein Designerstück oder der Trostpreis bei einem Ikea-Malwettbewerb? Der Fernsehsessel, den wir für meinen Vater gekauft haben ..." Doch als ihre Blicke sich begegneten, winkte er ab. "Egal!

Das musst du mit Julia ausmachen. Wir nehmen ihn erst mal mit."

Der Sessel war so schwer und sperrig, dass er in der ersten Kurve des Treppenhauses stecken blieb.

"Den können wir nicht mitnehmen", stellte Eberhard entschieden fest, als es ihnen nach einigem Vor und Zurück, Kippen und Drehen nicht gelang, den Sessel durch den Engpass zu manövrieren. "Der passt da nicht durch."

"Der muss da durch", entgegnete Manne. "Wenn er hochgekommen ist, muss er auch wieder runter gehen."

"Lass ihn doch einfach hier."

"Nein!"

"Der Fernsehsessel von meinem Vater ..."

"Vergiss es!"

Hinter ihnen tauchten die beiden Sportstudenten aus der Dachgeschoss-Wohnung auf. Sie retteten die Situation und Mannes Sessel, indem sie ihn über ihre Köpfe, damit auch über das Treppengeländer stemmten, und das gute Stück ohne abzusetzen bis zu dem Bus mit dem Autohaus-Logo trugen.

"Prima." Eberhard nickte zufrieden. "Und für dein Moped reicht es auch noch. Kannst du das gleich mal holen, vielleicht passt es ja quer vor die Tür."

Manne schnaubte. "Das ist ein Motorrad, kein Mofa."

"Woher soll ich das wissen." Er rollte mit den Augen. "Du redest doch immer von deinem Moped."

"Ich rede von meinem, nicht von irgendeinem Moped." Ihr lag bereits eine bissige Bemerkung auf der Zunge über den Unterschied zwischen dem gemeinem Fünfzig-Kubik-Moped und dem Kosenamen, den die Männer und Frauen, die zu alt waren, um sich Biker zu nennen, ihren schweren PS-Klassikern gaben. Doch die schluckte sie wieder hinunter, als ihr einfiel, dass Eberhard ihre BMW tatsächlich noch nie gesehen hatte. Er war in all den Jahren höchstens zwei- oder dreimal nach Köln gekommen, und sie war in der Regel mit dem Zug nach Sisselsheim gefahren, weil Julia angeblich Todesängste ausstand, wenn sie ihre Mutter mit diesem Ding auf der Autobahn wusste.

"Höchste Zeit, dass ich euch miteinander bekannt mache."

Obwohl Manne nie ohne Helm und Schutzkleidung fuhr, konnte sie der Versuchung nicht widerstehen. Anstatt die alte BMW die Rampe von der benachbarten Tiefgarage hinaufzuschieben, schwang sie sich in den Sattel und betätigte den Kickstarter. Mit einem leisen Räuspern erwachte der Motor zum Leben. Sie legte den ersten Gang ein und ließ die Kupplung so langsam kommen, dass die BMW im Schritttempo hinaus auf den Gehsteig und zum Bus rollte.

"Eine R100!" Eberhard nickte anerkennend. "Ist die echt, oder ist das ein Nachbau?"

"Waschecht", bestätigte Manne voller Besitzerstolz. "Baujahr einundneunzig."

"Warum hat mir mein angetrautes Eheweib verschwiegen, dass du auf meinem Teenager-Traum spazieren fährst?"

"Sie könnte ein Motorrad nicht von einem Moped unterscheiden, wenn sie direkt vor ihrer Nase stünden."

"Da könnte was dran sein. Darf ich mal um ein paar Ecken fahren?"

"Nur wenn du mir versprichst, dass du Julia nichts verrätst, sonst reißt sie mir den Kopf ab. In ihren Augen ist das Verleihen eines Mopeds mindestens so strafbar wie Drogendealerei."

"Da kannst du recht haben."

"Warte, ich hol dir wenigstens einen Helm."

Eberhard winkte ab und schwang sich in den Sattel der R100. Mit einigen Rumplern und Hopsern, die Manne verrieten, dass er lange nicht mehr gefahren war, ließ er sie vom Gehsteig auf die Straße rollen, wo um diese Zeit zum Glück nicht viel Verkehr war.

Manne war noch einmal in die Wohnung gelaufen, um das Bettzeug und ihr Handy zu holen.

Ping. Ping. Ping, ping, ertönte es, noch bevor das Display hell genug geworden war, um die neuen Nachrichten im Familien-Chat zu lesen. Julia hatte ihr gestern tatsächlich noch mitgeteilt, dass ihre Töchter alle Pläne über den Haufen geworfen hätten, und Eberhard drei Stunden früher als geplant kommen musste.

Mit der nächsten Nachricht hatte Meggie ein Selfie mit Sonnenblumen geschickt. Hallo Oma, tut mir leid, dass es mit dem Besuch nicht klappt, stand darunter. Ich freu mich auf dich.

Angesichts der unaufschiebbaren Reitstunde fiel es Manne schwer, die freundlichen Worte zu glauben. Ein vertrautes Motorengeräusch ließ sie aufblicken. Sie klappte das Handy zu und steckte es in ihre Gesäßtasche, als Eberhard die BMW neben ihr ausrollen ließ.

"Ein Prachtstück!" Er strahlte übers ganze Gesicht. "Leihst du sie mir gelegentlich als Hingucker für mein Straßenfenster. Du kannst so lange auch unseren Leihwagen fahren. Der hält zwar keinem Vergleich mit dem Schätzchen stand, aber es ist wenigstens auch ein BMW. Schade, dass ich sie mir nicht mal für eine Runde um den Dunnberg leihen kann, aber das Donnerwetter, das dann fällig wäre, wollen wir alle beide nicht riskieren." Während er redete wie ein Wasserfall, bockte er die Maschine auf, öffnete die Hecktür seines Busses und zog eine Schiene heraus. "Zum Glück habe ich die dabei."

"Warte mal, das geht nicht." Ihr war gerade noch rechtzeitig eingefallen, dass sie um neun zur Wohnungsübergabe verabredet war.

"Ich kann nicht einfach den Schlüssel in den Briefkasten werfen, weil ich noch Geld von meiner Nachmieterin kriege. Selbst, wenn alles ganz flott geht, kommen wir nicht vor halb zehn hier weg."

"Dann schaffe ich meinen Termin nicht mehr."

"Weißt du was? Du fährst mit dem ganzen Kram nach Hause, und ich komme mit meinem Moped nach, wenn hier alles geregelt ist."

Eberhard zog die Stirn in Falten. "Bist du sicher, dass du die lange Strecke ..."

"Ganz sicher! Ich fahre durch die Eifel, da war ich schon ewig nicht mehr."

"Aber ..." Eberhard zog die Schultern hoch und ließ sie gleich wieder fallen. "Julia und die Mädchen werden enttäuscht sein. Sie haben sich so auf dich gefreut."

Manne beschränkte sich auf ein nichtssagendes Achselzucken.

Schließlich hatten Julia und die Mädchen auch ihre Pläne geändert, ohne zu fragen, ob sie enttäuscht war.

"Wir hatten ausgemacht ..."

"Ja, das hatten wir", unterbrach sie ihn, während sie ihre Motorradkombi und den Helm wieder aus dem Bus kramte. "Und jetzt ist es halt anders."

Drei

Als Eberhards Wagen um die nächste Ecke bog, war es halb acht.

Manne spielte mit dem Gedanken, sich noch ein halbes Stündchen hinzulegen, und ihre Dusche nachzuholen. Dann fiel ihr ein, dass ihr Bett oder wenigstens der gemütlichere Teil des Bettes, schon unterwegs war, und dass sie ihr Handtuch zum Bettzeug gepackt hatte.

Sie könnte zum Frühstücken in die Bäckerei auf der Hauptstraße gehen, aber das würde nicht einmal eine Stunde dauern. Und wenn sie mit ihrem Frühstück hinunter zum Rhein fuhr?

"Lieber nicht!" Sie konnte zwar ihr Rosinenbrötchen in die Packtasche stecken, aber der Kaffeebecher würde nicht heil da unten ankommen. Da fiel ihr Saschas Motorradschuppen ein. Dort gab es zu jeder Tages- und Nachtzeit Kaffee, und gegen ein belegtes Brötchen hätte er sicher nichts einzuwenden.

Vor mehr als zwanzig Jahren hatte sie ihre BMW in dem winzigen Laden im Hinterhof eines fünfstöckigen Wohnhauses gekauft. Sobald TÜV-Termine, Reifenwechsel oder kleinere Reparaturen fällig gewesen waren, hatte sie sie immer hierhergebracht. Es war nicht mehr als recht und billig, dass sie Sascha einen letzten kurzen Besuch abstattete, bevor sie auf Nimmerwiedersehen verschwand.

In der überbauten Einfahrt wurde das Grummeln des Motors zu einem Donnergrollen. Ein Mann mit zotteligem Bart, ölverschmiertem T-Shirt und speckiger Lederkappe tauchte am Garagentor auf.

"Moin, Manne", begrüßte er sie, noch bevor sie ihren Helm abgezogen hatte. Er erkannte seine Kunden am Klang ihrer Maschinen.

"Was steht an?" Mit prüfenden Blicken umkreiste er die BMW.

"Fährste endlich mal wieder mit deinem Möhrchen in Urlaub? Soll ich noch mal einen Blick darauf werfen?"

Sie schüttelte den Kopf. "Eigentlich sollte alles in Ordnung sein. Ich bin nur noch mal vorbeigekommen, um zwei Brötchen gegen eine Tasse Kaffee zu tauschen und Tschüss zu sagen."

"Hm." Sascha blickte von dem Motorrad auf und sah sie an. "Das klingt ziemlich endgültig. Musst du untertauchen?"

Lachend schüttelte Manne den Kopf. "So schlimm ist es nicht. Ich habe ein Angebot bekommen, das ich nicht ausschlagen konnte."

"Und was wird aus mir? Ohne den einen oder anderen Tipp von dir kann ich meine Geschäfte mit dem organisierten Spießbürgertum glatt vergessen."

Sie lachten über die Anspielungen auf seinen Lieblingsfilm.

"Jetzt nochmal im Ernst. Wo geht's denn hin?"

"Sisselsheim."

"Sisselsheim? Nie gehört. Kommste mit rein?"

Sie folgte dem bärtigen Hünen durch ein düsteres Treppenhaus in seine Wohnung im ersten Stock. Das vordere Zimmer hatte er zum Büro umfunktioniert. Dort brodelte wie immer die Kaffeemaschine.

"Sisselsheim ist nicht mal so weit weg", erklärte Manne, während sie zwischen den vielen Rechnungen, Stundenzetteln und Hochglanzprospekten auf dem Tisch einen Platz für die Brötchentüte frei räumte. "Du fährst rheinaufwärts bis Mainz, dort biegst du rechts ab."

Nachdenklich wiegte er den Kopf hin und her. "Und was treibst du dort?"

"Ich ziehe zu meiner Tochter und ihrer Familie?"

"Echt jetzt?" Er starrte sie an, als würde er an ihrem Verstand zweifeln. "Du ziehst in eine WG?"

"Nicht direkt. Meine Tochter und ihr Mann haben eine Einliegerwohnung im Haus, die ist letzten Winter leer geworden."

"Verstehe. Organisiertes Spießbürgertum."

Zurück in der Wohnung war es für die Schlüsselübergabe immer noch zu früh, aber sie könnte Julia anrufen. Als sie ihr Handy aus dem Garderobenschränkchen fischte, sah sie, dass die in der letzten halben Stunde schon dreimal versucht hatte, sie zu erreichen.

Sie betätigte die Rückruftaste und ...

"Sag mal, Mama, was sind denn das wieder für Extratouren? Und warum bist du nicht ans Telefon gegangen?"

"Guten Morgen, liebe Tochter", entgegnete Manne in dem Ton, mit dem sie dreißig Jahre lang Schüler an die Regeln der Höflichkeit erinnert hatte.

"Ich habe einen Namen", fauchte Julia.

Ich auch, dachte Manne, aber sie beschloss, dieses Thema nicht zu vertiefen. "Ich war um die Ecke einen Kaffee trinken, und hatte mein Handy nicht dabei."

Julia verkniff sich die scharfe Erwiderung, die ihr vermutlich schon auf der Zunge gelegen hatte. "Weil ich dich nicht erreichen konnte, habe ich Eberhard angerufen, der hat mir gesagt, dass du mit dem Motorrad kommst? Schaffst du das bis zum Mittagessen? Eigentlich essen wir um halb eins, aber wenn dir das zu knapp wird, kann ich es auch um eine halbe Stunde verschieben."

"Ich ähm ..." Manne schüttelte den Kopf, aber das konnte ihre Tochter natürlich nicht sehen. "Nein." Gedankenverloren drehte sie das Blatt mit dem Übergabeprotokoll um, griff nach dem Kugelschreiber, den sie vorsorglich daneben gelegt hatte und zog eine dünne Linie parallel zum Rand des Blattes. Sie kurvte so vorsichtig um die Ecke, als würde sie mit dem Moped aus den schmalen Straßen ihres Stadtviertel auf die Hauptstraße einbiegen.

"Wie, nein?"

"Nein, ich werde es nicht schaffen. Ich kann meinen Schlüssel erst um neun abgeben und ..."

"Dann hast du noch drei Stunden. Von Köln bis zu uns braucht man doch keine drei Stunden!"

"Durch die Eifel können es auch mal vier Stunden werden. Mit Pausen fünf oder sechs." Ihre Kugelschreiber-Linie mäanderte über das ganze Blatt, die Kurven wurden allmählich enger.

"Dann nimm doch die Autobahn."

"Hast du eine Vorstellung, wie es samstags da zugeht!"

"Och Mama!" Julias Stimme klang wie die eines schmollenden Teenagers. "Ich habe zur Feier deines Einzugs Kalbsbraten mit frischem Gemüse, Oliven, Grilltomaten und Mozzarella vorbereitet."

Sie dachte nur einen Moment lang ernsthaft darüber nach, einzulenken. "Wenn ihr eure Pläne von einem Tag auf den anderen über den Haufen werft, müsstet ihr eigentlich Verständnis dafür haben, dass ich mir für den Start in mein neues Leben nun auch etwas anderes ausgedacht habe." Mit energischen Strichen malte sie ein dickes Ausrufezeichen über das ganze Blatt. "Der Kalbsbraten kann sicher noch bis morgen warten."

Die Tochter ihrer langjährigen Vermieterin und die junge Frau, die nicht nur Mannes Wohnung, sondern auch ihre Küche, die Garderobe, das Hochbett und den Kleiderschrank übernehmen wollte, waren pünktlich um neun da. Die Übergabe lief problemlos. Die drei Frauen hakten auch eine Checkliste ab, auf deren Rückseite der Kugelschreiber über kurvige Eifelstraßen gerollt war und eine klare Entscheidung getroffen hatte.

Als Manne kurz darauf ein letztes Mal die schmale, steile Treppe hinunter ging, stellte sie erstaunt fest, wie viel leichter sie sich fühlte, wenn nichts in ihrer Tasche klapperte. Der Schlüsselbund mit dem abgegriffenen Lederanhänger war schon vor zwei Wochen schmächtiger geworden, als sie ihre Schulschlüssel abgegeben hatte. Jetzt hing nur noch der Motorradschlüssel daran.

"So schön, schön war die Zeit", summte sie, sperrte das Lenkradschloss auf und schaltete die Zündung ein. "Dort, wo die Blumen blüh'n, dort, wo die Täler grün, da war ich einmal zu Hause ..."

Erschrocken hielt sie inne. Hatte sie so ganz ohne Schlüssel auch kein Zuhause mehr? Was, wenn es mit Julia doch nicht klappte ...?

"Jetzt dreh bloß nicht gleich durch," sagte sie mit ihrer strengsten Oberlehrerstimme, während sie ihre Packtaschen sicherte, den Nierengurt enger schnallte und ihren Helm aufsetzte. "Es wird nichts schiefgehen! Im schlimmsten Fall suche ich mir für den Anfang eine Pension. Ich werde schon nicht auf eine Parkbank umziehen müssen."

Sie schwang sich in den Sattel, legte den ersten Gang ein und ließ die Maschine im Schritttempo vom Gehsteig rollen.

Der Kölner Ring war um diese Zeit so voll, dass sie nicht einmal ausscheren konnte, um den Golf einer alten Dame zu überholen, der mit achtzig von ihr her kroch. Dass ihr dabei noch eins dieser Monster-Autos, die aussahen, als wären sie für einen Wüstenkrieg gemacht, am Auspuff klebte, machte das Fahren nicht angenehmer.

"Entspann dich, Manne", ermahnte sie sich. "Es sind nur fünfzig Kilometer, dann hast du die Straßen für dich."

Um sich von dem Stress zwischen der Golf-Oma und dem Wüstenpanzer abzulenken, fing sie wieder an, zu singen: "Easy Rider, die Straße ruft nach dir. Du bist frei!"

Als das Autobahnkreuz Bonn auf den Hinweisschildern immer präsenter wurde, überlegte sie kurz, ob sie nicht doch auf die A 61 abbiegen und über die Autobahn nach Sisselsheim fahren sollte, um Julia und die Mädchen zu überraschen. Aber dann fuhr sie an der Abfahrt vorbei. Schließlich war das der erste Tag ihres neuen Lebens. Was sollte aus diesem Leben werden, wenn sie den ersten Tag dem Speiseplan der Familie Achmann opferte?

Leider waren die Landstraßen nicht leerer als die Autobahn. Der sonnige Ferientag hatte zahllose Ausflügler in die Eifel gelockt, die mit ihren Familienkutschen durch die Kurven schlichen oder in endlosen Motorradkarawanen durch die Ortschaften röhrten. Manne war mindestens zehn Jahre nicht mehr hier gewesen, mit Wehmut erinnerte sie sich an die schlecht ausgebauten Straßen, über die sie damals noch mit Siggi und seiner Motorrad-Clique gefahren war.

Zum Glück gab es den kleinen Landgasthof mit dem guten Kaffee und dem frischen Apfelkuchen noch. Inzwischen war er nicht mehr klein und ganz sicher auch kein Geheimtipp mehr. Der Parkplatz auf der ehemaligen Kuhweide war voll und vor dem leuchtend weißen Gartenzaun stand ein Motorrad neben dem anderen.

Am Ende der Reihe war zwischen einer Bandit und einer großen Honda noch Platz. Sie ließ die BMW im Leerlauf in die Lücke rollen.

Kurz vor dem Zaun bremste sie und ließ sie dabei auf ihr linkes Bein kippen, das sie bereits dem Boden entgegengestreckt hatte. Auf dem abschüssigen Boden kam der Vorderreifen ins Rutschen und das Gewicht der Maschine lag plötzlich auf ihrem Oberschenkel.

Mit einem raschen Hopser und dem Einsatz ihres eigenen Gewichts konnte sie die BMW wieder aufrichten, aber nun drohte sie zur anderen Seite zu kippen. So schnell sie konnte, schwang Manne den rechten Fuß über den Sattel, stemmte ihn gegen den Hinterreifen und zog ihr Moped gerade noch rechtzeitig hoch, bevor es gegen die Bandit kippen konnte. Als die BMW wieder einigermaßen sicher stand, zitterten ihre Knie. Sie musste tief Luft holen, bevor sie es wagte, mit der rechten Hand nach der Sitzunterkante zu greifen, um die Maschine auf ihren Ständer zu ziehen. Manne ließ noch das Lenkradschloss einrasten, trat einen Schritt zurück und sah sich unauffällig um. Zum Glück schien keiner der vielen Gäste bemerkt zu haben, dass die Moped-Oma beinahe eine Katastrophe ausgelöst hätte. Wenigstens verstummten keine Gespräche, niemand drehte sich nach ihr um.

Als sie den Garten mit langen Bänken unter gewaltigen Kastanien betrat, zog sie die Aufmerksamkeit einer gemischten Gruppe in ihrem Alter auf sich. Die Männer und Frauen in Motorradklamotten bedeuteten ihr, zu ihnen an den Tisch zu kommen.

"Wo kommst du denn her?", erkundigte sich der Mann, der am Kopfende des Tisches saß.

Manne brauchte einen Moment, um sich daran zu erinnern, dass es unter Mopedfahrern üblich war, sich zu duzen. War sie tatsächlich schon so lange nicht mehr auf Tour gewesen?

"Köln. Und ihr?"

"Bergisches Land", antwortete eine der Frauen. "Die meisten von uns jedenfalls. Aber wir haben auch ein Pärchen aus dem Rheinland und zwei Fahrer aus dem Ruhrpott dabei."

"Die Quotenpottis." Einer der Männer lachte und prostete Manne mit seiner Bierflasche zu.

"Alkoholfrei", sagte er dabei. "Aber nicht schlecht."

Eine Kellnerin kam an den Tisch und fragte nach den Bestellungen.

"Zwei Mal den Salat und neun Mal das Mittagessen", entgegnete der Mann am Kopfende.

"Und für mich noch mal so ein Bier", ergänzte der Quotenpotti.

"Für mich noch einen großen kalten Kaffee."

"Und für mich eine Apfelschorle, aber eine kleine."

Die Kellnerin notierte alles, bevor sie sich an Manne wandte: "Gehören sie auch dazu?"

"Natürlich gehört sie dazu", entschied der Mann am Kopfende.

Die Kellnerin nickte und schlug eine neue Seite ihres Notizblocks auf. "Was wollen Sie trinken?"

"Haben sie alkoholfreies Radler?"

"Bring ich Ihnen. Dazu das Mittagessen oder den Salatteller? Alles andere dauert länger."

"Was ist denn das Mittagessen?"

"Ein halbes Grillhähnchen mit Pommes."

"Dann nehme ich den Salatteller." Sie hatte noch nie gern mit vollem Bauch auf dem Moped gesessen..

Manne erfuhr, dass die Gruppe heute noch bis Belgien fahren würde und in Malmedy ein Quartier gebucht hatte.

"Willste nicht mitkommen?", erkundigte sich der Quotenpotti. "Wir finden sicher noch ein freies Bett für dich."

"Du meinst, du würdest sie gerne mit in deins nehmen?", frotzelte sein Nachbar.

"Ein Versuch ist es immerhin wert", entgegnete der Potti. "Frauen, die dir nicht nur die Sissybar polieren und den Rücken warm halten, sondern selbst ihren Hobel laufen lassen, sind rar. Wenn man mal eine trifft, muss man direkt zugreifen."

"Na klar, mit der Plauze brauchst du den Sozius für deinen eigenen Hintern", stichelte eine der Frauen mit einem Blick auf den Bierbauch des Mannes. Alle lachten, am lautesten der Angesprochene.

Die Truppe war Manne sympathisch. "Ist ein echt gutes Angebot", entgegnete sie mit einem bedauernden Achselzucken. "Aber ich hab schon eine Verabredung."

Angefeuert von seinen Kumpels unternahm der Quotenpotti noch den einen oder anderen Versuch, sie zum Mitkommen zu überreden. Erst als die Kellnerin das Essen brachte, verstummten die Gespräche, und der glücklose Eroberer widmete sich hingebungsvoll seinem Grillhähnchen.

Die Gruppe verabschiedete sich kurz nach dem Mittagessen. Das Röhren, das wenig später bis in den Garten dröhnte, verriet Manne, dass mindestens sechs oder sieben Harleys vom Parkplatz auf die Straße manövriert wurden.

Als die Kellnerin das schmutzige Geschirr zusammenstellte, orderte Manne noch eine Tasse Kaffee. Mit einem wohligen Seufzen ließ sie sich tiefer in ihren Stuhl rutschen, streckte ihre Beine aus, drehte das Gesicht in die Sonne und schloss die Augen.

PING! Das harte, metallische Geräusch neben ihrem Ohr, ließ sie erschrocken auffahren. Ping. Es dauerte einen Moment, bis sie realisierte, dass das Ping aus der Jacke kam, die an ihrem Stuhl hing, und dass es zu ihrem Handy gehörte.

Als sie es herausgekramt hatte, fand sie zwei Nachrichten von Julia:

Ich weiß nicht, wo deine Kisten hingehören, stand in der ersten. Du hast sie nicht beschriftet.

Und in der zweiten: Soll ich sie schon für dich ausräumen? Es ist ja nicht viel. Gwen will mir dabei helfen.

Nein, bitte nicht, tippte Manne. Das mache ich nachher selbst. Die Idee, dass ihre Tochter und ihre Enkelin die Sachen durchstöbern und ihre Unterwäsche inspizieren könnten, gefiel ihr nicht. Stell die Kisten einfach irgendwo hin.

Das nächste Ping ließ nicht lange auf sich warten: Ist es okay, wenn ich unser Winterbettzeug vorläufig noch in Opa Gerhards Kleiderschrank lasse?

Manne erinnerte sich daran, dass dieser Kleiderschrank eine ganze Schlafzimmerwand gefüllt hatte. Lass die Sachen, wo sie sind, antwortete sie. Ich glaube, der Schrank ist groß genug.

Als sie ihren Kaffee getrunken hatte und schon wieder im Aufbruch begriffen war, meldete sich ihre Tochter noch einmal: Was soll ich eigentlich mit dieser Matratzenrolle anfangen?

Mit einem tiefen Seufzen zog Manne ihre Handschuhe noch einmal aus, um eine Antwort zu tippen: Gar nichts. Stell sie einfach irgendwo hin. Ich kümmere mich um meinen Kram, wenn ich da bin.

Obwohl ihr Rücken und wenig später auch ihr Hintern schmerzte, ihre Beine allmählich steif wurden und ihre Schultern vermuten ließen, dass morgen ein Muskelkater fällig sein würde, versuchte Manne die Fahrt durch die schattigen Täler und über die baumbestandenen Höhen der Eifel zu genießen. Ein Teil ihres Denkens kreiste jedoch beharrlich um die Frage, ob es wirklich eine gute Idee war, zu ihrer Tochter zu ziehen. Sie hätten sich wenigstens etwas mehr Zeit lassen sollen und ...

"Halt, Stopp!", ermahnte sie sich. "Bleib bei der Sache und denk daran, dass du keine Knautschzone hast." Um den Kopf wieder freizubekommen, sang sie so laut, dass es im Helm dröhnte: "Flieger, grüß mir die Sonne. Grüß mir die Sterne und grüß mir den Mond ..."

Vier

Das letzte Stück war Manne doch über die Autobahn gefahren und erreichte kurz vor vier Sisselsheim. Bisher war sie immer mit dem Zug nach Volkersheim gefahren und am Bahnhof abgeholt worden.

Als Beifahrerin hatte sie nicht so genau auf die Strecke geachtet.

Deshalb fuhr sie ganz langsam durch das kleine Gewerbegebiet.

Schließlich wollte sie nicht an Julias Haus vorbeirauschen. Das Autohaus mit der hohen, verglasten Front war natürlich nicht zu übersehen, aber die Einfahrt zum Privathaus lag etwas versteckt zwischen einer Koniferenhecke und den Kundenparkplätzen.