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Der Roman folgt dem Lebensweg von zwei Schulkameraden in der DDR von 1965 bis 1990. Er gewährt uns Einsichten in die Motive, Gefühle und Kämpfe auf dem Weg von der Jugendzeit bis ins etablierte Alter. Die fiktiven Handlungen und Personen spiegeln das Leben der Oberschicht der DDR wider. Ein Protagonist wird Arzt der andere Spitzenfunktionär der SED. Der Autor kann hier aus eigenem Erleben realistische Bilder vermitteln. Er hat in der DDR gelebt und weiß wovon er spricht. Das Buch ist spannend und sehr unterhaltsam verfasst. Viele ehemalige DDRler finden sich hier wieder, die BRD - Bürger erfahren Wissenswerter über das Leben im realen Sozialismus.
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Seitenzahl: 148
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Lieben Dank Sabine Drewes für deine wertvolle Mitwirkung. Ich widme dir die Seiten 156 bis 158 dieses Buches.
Dieser Roman ist eine Fiktion, es hätte aber auch tatsächlich so passieren können. Der Autor wurde inspiriert durch reale Ereignisse und Personen und seine eigenen Erinnerungen.
Er erhebt keinen Faktizitätsanspruch.
Das gilt auch für Fälle, wenn hinter den Romanfiguren Urbilder erkennbar sein sollten.
Sollten Menschen glauben, sich wiederzuerkennen, ist das nicht die Absicht des Autors, sondern zufällig. Schon gar nicht ist es sein Ziel, Personen lächerlich zu machen. Vielmehr will er Lesern, die auf Grund ihres Alters oder ihres Lebensumfeldes den realen Sozialismus nicht kennenlernen konnten, die Möglichkeit bieten, von seinen Erfahrungen und Internem Wissen zu partizipieren.
Horst in Holstein 2024
1. Fiasko
2. Der Spätentwickler
3. Vater und Sohn
4. Vertrauen und Verantwortung
5. Feindschaften
6. Das falsche Pferd gesattelt
7. Der Aufbruch
8. Vertrauen
9. Konfrontation
10. Der Schock
11. Krise
12. Der Erzeuger
13. Alles für das Volkswohl?
14. Freunde
15. Im Zentrum der Macht
16. Die Sprache des Blutes
17. Das Spiel
18. alea jacta est
19. Die Zukunft
20. Mit Gottes Segen
21 Die Negation
22 Himmlischer Frieden
23 Die Machtfrage
Über Dieter Wittkes Füße huschte ein Schatten. Seine Augen suchten ängstlich die Vorratskammer ab. Auf den Schiffen soll es ja viele Ratten geben. Er wollte fluchtartig den Raum verlassen, als ein kleines schwarzes Zwergkaninchen über den Gang hoppelte. Eine hohe sächsische Männerstimme rief klagend: „Rudi, mein Guter, wo biste denn?“
Dieter nahm das kleine Fellbündel vorsichtig auf die Hände und brachte es dem Rufer. Dessen Freude und Dankbarkeit waren groß und nicht gespielt.
Der Bootsmann hatte das Geschehen schmunzelnd verfolgt. Er bot Dieter eine Karo an: „So sind sie alle, unsere rauen Seebären. Sie dürfen eigentlich keine Tiere an Bord halten. Aber mach was, wenn die Einsamkeit groß und die Sehnsucht nach etwas Weichem noch größer ist, kannst du das den Männern nicht verbieten. Du findest hier fast jede Art von Kleintieren. Kaninchen, Meerschweinchen, Wellensittiche, Fische und noch mehr. Ich schreite nur ein, wenn die Viecher gefährlich sein können. Bei Rudi mache ich mir das allerdings keine Sorgen.“
Nicht nur die Schiffsratten bereiteten Dieter Kummer, auch das Dröhnen der schweren Schiffsdieselmotoren belästigte ihn tags und nachts in alle Ecken des Fang- und Verarbeitungsschiffes der DDR - Hochseeflotte. Der stählerne Schiffsleib hatte die Wirkung eines riesigen Resonanzkörpers. Das Dröhnen des schweren Motors hatte sich in seinem Gehirn eingenistet und er befürchtete, dass es ihn sein Leben lang anhaften würde.
Er war neu an Bord, seine erste Fahrt führte ihn zu den Fanggebieten des Atlantik bei Labrador. Über 4000 Kilometer Schwerarbeit lagen vor den 2.100 PS des Hauptmotors. Der schaffte ein Reistempo von acht Knoten, also etwa 15 Kilometer in der Stunde. Dieter Wittke war kein Mathetalent. Doch dass die Anreise zu den Fanggebieten rund zwei Wochen beanspruchen würde, konnte er sich zusammenreimen.
So schnell wie bisher, hatte er in seinem jungen Leben noch nie bereut, einen neuen Job angenommen zu haben, der ihn auf diesem Sklavenschiff malträtierte. Er hatte gegen den Willen seiner Eltern auf das Abitur verzichtet. Er hielt sich für einen intelligenten Jungen, konnte sich aber mit dem Lernen nicht anfreunden. Schlechte Noten waren seine täglichen Begleiter. Er wurde zum Versager abgestempelt. Diese Stellung im Klassenkollektiv entsprach nicht seiner Selbsteinschätzung. Er war ein großer, kräftiger Mann von 19 Jahren mit einem gewissen Charisma, das aber noch zur vollen Blüte reifen musste.
Für seine Lebensplanung war es von großem Nachteil, dass er sein Pferd falsch sattelte. Er fühlte sich nicht als fauler Versager, sondern als missverstandenes Genie. Er hatte die Nase gestrichen voll, von der ständigen Gängelei durch Lehrer und Eltern. Sie sollten schon noch erleben, dass er es zu etwas Großem bringen würde. Präzise Vorstellungen von diesem mystischen Großem hatte er noch nicht. Er vertrat die Meinung, ein Mann wie er müsste das Große nicht suchen, das Große würde ihn finden.
Da kam ihm die Werbung, in der Hochseefischerei viel zu verdienen, gerade recht. Hier konnte er seine körperliche Kraft demonstrieren. Keiner, der ihn wegen schlechter Schulnoten nervte. Und hier konnte er so richtig Geld verdienen. Immerhin dreimal so viel wie ein Fabrikarbeiter, 2.000 Mark. Jeden Monat. Das war doppelt so viel wie ein Lehrer erhielt.
Und jetzt das. Er war keine zehn Stunden an Bord und wollte am liebsten wieder ausheuern. Aber das war unmöglich. Der Dampfer war in Fahrt und keiner konnte ihn stoppen. 100 Tage musste er durchhalten. Dann kam die Ablösung, und er konnte nach Hause fliegen. Zwar hatte er einen Jahresvertrag unterschrieben. Den konnte er aber annullieren. Papa und Mama hatten beste Beziehungen. Die würden ihm schon helfen.
Als ungelernter Neuanfänger konnte Dieter keine Privilegien erwarten. Seine Kajüte war im Unterschiff, wo die Schaukelei am stärksten und die Luft am schlechtesten war. Er musste sie mit zwei Männern teilen.
Er legte sich in seine Koje, aber sobald er die Augen schloss, fuhr sie mit ihm Karussell. Er sprang erschrocken auf, um sich zu übergeben. Doch den Weg zur Toilette schaffte er nicht. Seine Zimmerkollegen grienten: „Macht nichts, ist nur die Seekrankheit, in ein bis zwei Wochen bist du damit durch. Du musst nur immer trockenes Brot essen und viel trinken, ansonsten macht dein Kreislauf schlapp.“ Dieter war nicht in der Verfassung, gutgemeinte Ratschläge anzunehmen. Er knurrte nur, die sollten ihre Klugscheisserei für sich behalten.
Kuddel hieß nicht Kuddel, sondern Heinz Eberhard. Aber mit seinem Taufnamen hatte ihn lange keiner mehr genannt, dass er ihn fast schon selber vergessen hatte. Kuddel war nicht gerade sauber und roch penetrant nach Fisch. Ihm war von der Natur nicht nur ein einfältiger Verstand, sondern auch ein großes Herz zugeteilt worden. Der Neue tat ihm leid. Außerdem hatte er bei Kuddel wegen der Rettung seines Zwergkaninchens Rudi einen großen Stein im Brett. Nun eignen sich Männer mit dieser genetischen Prägung nicht für die Ausübung von Führungspositionen. Sie können aber treu wie Gold sein. Wenn sie erst mal jemanden ins Herz geschlossen haben, kann der Betroffene sich nur schwer ihrer Zuneigung entziehen.
Kuddel übernahm bereitwillig die Reinigung der Kajüte von Dieters Erbrochenem. Als Dieter vom Leiter der Produktion zur Reinigung der Tran - Kessel eingeteilt wurde, eine miserable Arbeit, die traditionell den Neuen aufgebürdet wurde, erklärte sich Kuddel freiwillig bereit, ihn zu vertreten. Nun wollte Kuddel aber auch etwas menscheln. Dieter war nicht so unbedarft, um diesen Wunsch zu verstehen und zu erfüllen. Er lud seine Zimmerkameraden auf einen Umtrunk ein. Der hochprozentige Wodka und sein ausgeprägter Narzissmus lösten seine Zunge bald mehr als ihm später lieb war.
Kuddel fragte, warum er so einen schlechten Job übernommen habe. Er sehe mehr wie ein Abiturient als ein Hilfsarbeiter aus. Hätte Dieter eine psychologische Ausbildung oder mehr Lebenserfahrung besessen, hätten bei dieser Frage seine Alarmglocken angeschlagen. Kuddel sehnte sich nach sozialer Anerkennung und machte sich zum Diener eines in seinen Augen hochgebildeten Abiturienten, um von dessen Glanz etwas abzubekommen. Niemals, unter keinen Umständen, durfte sich sein Idol über Kuddels Unwissenheit lustig machen. Der Schaden könnte katastrophale Ausmaße annehmen.
Dieter Wittke fühlte sich durch Kuddels Frage provoziert. Seine Verärgerung richtete sich aber zum Glück nicht gegen den Fragenden, sondern gegen die Penne, die Erweiterte Oberschule von Rostock. Besonderen Hass empfand er für seinen Klassenkameraden Rainer Bosse. Schon leicht lallend beschwerte er sich bei zwei einfachen Fischereiarbeitern über die Filzokrati in der DDR: „Rainer Bosse ist der einzige Sohn sehr wohlhabender und einflussreicher Eltern. Der Herr Vater ist Professor der Medizin und Direktor einer Universitätsklinik. Der liebe Papa hat einen Einzelvertrag. Damit kann er nicht nur sehr viel Geld verdienen und wertvolle und rare Konsumgüter wie Autos oder Farbfernseher kaufen, nein er kann damit auch seinen beschränkten Sprössling beim Medizinstudium unterbringen.“
Kuddel war mit der Protektion der DDR - Elite nicht vertraut und erkundigte sich, was so ein Einzelvertrag bedeutete. Dieter war nun in seinem Element, er befand sich in einer stark alkoholisierten Stimmung und war nicht mehr Herr seiner Worte und seines Handelns. „Das kann ich dir verklaren“, antwortete er in einem miserablem Plattdeutsch, „die Einzelverträge wurden 1949/1950 beschlossen. Diese Verträge bekamen nur Akademiker, also welche von der Intelligenz. Für jeden dieser elitären DDR - Bürger wurde ein besonderer Vertrag ausgearbeitet. Keiner gleicht dem Anderen. Festgelegt wurde ein sehr hohes Gehalt. Einige erhielten sogar ein freies Konto. Das bedeutete, sie konnten so viel Geld von der Bank abheben wie sie wollten. Nun frage ich dich, wie das mit dem Charakter der DDR als Arbeiter - und - Bauern - Staat zusammen passt?“
Kuddel konnte Dieter nicht mehr folgen. Er war betrunken und müde und schlief noch im Sitzen ein. Der nächste Morgen begann sehr früh mit der ersten Hole. Das Fangnetz war nur halbvoll. Nicht genug, die Kollegen waren nicht zufrieden. Dieter war zur Produktion eingeteilt worden. Bei minus 15 Grad musste er Dorsche nachfilettieren. Eine Arbeit, die mehr als schwer war. Zwar hatte die Sowjetunion eine Filettiermaschine konstruiert, aber sie war von keiner guten Qualität. Sechs Stunden Arbeit unter Deck lagen vor Dieter. Sie kamen ihm wie eine Ewigkeit vor. Dann hatte seine Mannschaft sechs Stunden Pause. Danach wieder sechs Stunden nachfilettieren, und so weiter. Woche für Woche.
Dieter war sich nicht klar, wie er das überleben sollte. Da wurde er vom Parteisekretär des Hochseefischereibootes einbestellt.
Nicht alle meiner geneigten Leser werden wissen, was diese Funktion charakterisierte. Der Autor verspürt nur wenig Lust, das ausgiebig zu erklären. Nur soviel: Das Boot hatte ca. 90 Besatzungsmitglieder. Der unwichtigste und mächtigste war der Parteisekretär der SED. Er war der Aufpasser der Partei, dass keiner in den Westen abhaute und nervte alle mit seiner politischen Propaganda. Aber keiner traute sich, dem Man seine Meinung zu sagen. Der hatte die Macht, das unbequeme Besatzungsmitglied von der Seefahrt wegen politischer Unzuverlässigkeit auszuschließen, oder ihn vor ein Gericht zu stellen und für Jahre hinter Gitter zu bringen.
Dieter war nicht so naiv, sich wegen der Vorladung beim Parteisekretär keine Sorgen zu machen. Sein Vater war der Parteisekretär des Fischkombinates. Dadurch wusste er um die Gefahren, die vom Parteispitzel ausgingen.
Der Parteisekretär des Schiffes war ein erfahrener Funktionär. Auch er war nicht frei von Zwängen, ständig saßen ihm die Kreis- und Bezirksleitung im Nacken. Er begrüßte Dieter jovial. Aber das bedeutete per se keine Entspannung. Er bot Dieter einen Kaffee und eine Zigarette an und kam ohne Umwege zur Sache: „Ich habe von eurer gestrigen Sauftour gehört. Gar nicht gut, mein Junge, gar nicht gut. Du kannst doch nicht die Politik unseres sozialistischen Heimatlandes verunglimpfen. Die Einzelverträge waren eine unverzichtbare staatliche Maßnahme, um die Leistungsträger der DDR von der Flucht in den Westen abzuhalten. Ansonsten würden uns noch viel mehr Ingenieure, Ärzte und Wissenschaftler fehlen. Und wir brauchen die Intelligenz, ohne diese klugen Menschen hätten wir keine Überlebenschance.“
Dieter beherrschte als gelernter DDR - Bürger die erforderlichen Rituale, um ohne Schaden aus dieser Sache rauszukommen. Er entschuldigte sich für sein falsches Verhalten und versprach, das würde nie wieder geschehen.
Der Parteisekretär war zufrieden. Aber einige saure Gurken musste Dieter noch unzerkaut schlucken. Der Parteisekretär klopfte Dieter auf die Schulter: „Brav, mein Junge, man merkt das klassenbewusste Elternhaus. Ich schlage dir jetzt etwas vor, du musst das nicht annehmen. Erstens meine ich, du gehörst nicht in die Produktion dieses Monsters. Ich brauche jemanden für den Schreibkram. Ich kann dir nicht 2000 Mark bieten, aber 1200 sind auch nicht schlecht. Zweitens erwarte ich von dir, dass du als Aufklärer des Sozialismus den Klassenfeind bekämpfst. Das bedeutet, du machst mir Meldung, wenn sich subversive Elemente auf unserem Schiff rumtreiben. Und drittens erwarte ich von dir, dass du Kandidat unserer glorreichen Partei wirst.“
Dieter durfte nicht lange überlegen. Der Parteisekretär duldete kein Zögern. Aber vielleicht war das ja der erste Kontakt mit seinem Schicksal. aus einer politischen Karriere kann auch etwas Großes wachsen. Er bedankte sich herzlich beim Parteisekretär für das Vertrauen und versprach sein Bestes für den Aufbau des Sozialismus zu leisten.
Hartwig Ecke war auf seinem Rundgang durch das Gebäude der Erweiterten Oberschule Rostock. Als Direktor war er sehr stolz, in diesem denkmalgeschützten Anwesen Verantwortung für hunderte Schüler und Lehrer zu tragen. Vor dem Klassenraum der 12 C verharrte er unwillkürlich. Lärm drang in den Korridor. Direktor Ecke wusste, dass der Deutschlehrer Hans Meyer in der 12 c Unterricht hatte. Er war der Klassenlehrer. Der Direktor wollte sich nicht einmischen und lenkte seine Schritte zu seinem Büro, als die Tür aufflog und die gesamte Klasse in heller Empörung auf den Schulhof lief. Der Direktor kam buchstäblich unter die Füße der empörten Abiturienten.
Eine Schülerin im ultrakurzen Minirock übernahm mit lauter Stimme die Rolle der Wortführerin: „Wir lassen uns diese Ungerechtigkeit nicht gefallen. Ich rufe alle Klassen zum Schülerstreik auf. Wir gehen erst wieder zum Unterricht in die Klassenräume, wenn diese Bevorzugung rückgängig gemacht wurde.“
Der Direktor war mehr als irritiert. Sowas hatte er noch nicht erlebt. Insgeheim fand er es nicht schlecht, dass sich seine Schüler politisch engagierten. Besonders beeindruckte ihn das Selbstbewusstsein von Sabine.
Es war eben eine neue Generation auf die Bühne getreten. Die Welt war offener und transparenter geworden. Im Rundfunk und Fernsehen konnte auch die DDR-Jugend das Verhalten der Altersgenossen in den westlichen Staaten verfolgen. Viele nahmen sich das zum Vorbild. In der Mode und Musik dominierten die westlichen Einflüsse.
Hans Meyer stellte sich neben seinen Direktor und berichtete, wie es zu diesem Aufruhr gekommen war: „Es geht um den Schüler Rainer Bosse. Du weißt schon, der Vater ist Professor und Klinikdirektor. Jetzt wurde bekannt, dass der Filius einen Studienplatz in der Humanmedizin erhalten hat. Trotz seiner miserablen Leistungen. Ein Kind aus einfachen Verhältnissen, muss einen Notendurchschnitt von 1,0 haben, um die Zulassungskommission zu überzeugen. Bosse hat einen Schnitt von 3,8. In Bio eine geschmeichelte 4.“ Dem Direktor war das Problem bekannt. Er zuckte mit den Schultern: „Was sollen wir machen, der Vater hat einen Einzelvertrag. Das berechtigt ihn, für seinen Sohn einen Studienplatz seiner Wahl zu beanspruchen.“
Meyer: „Man sollte das den Schülern erklären. Die würden verstehen, dass diese Einzelverträge notwendig sind, um Spitzenkader in Wissenschaft und Gesundheitswesen in der DDR zu behalten.“
Ecke: „Um Gottes Willen. Bloß nicht. Diese Jacke ziehe ich mir nicht an. Das bringt hundertprozentig Ärger. Davon habe ich schon genug.“
Meyer war damit nicht einverstanden: „Ich finde es nicht in Ordnung, wie du unsere junge Generation behandelst. Wir haben als Lehrer nicht nur einen Bildungsauftrag, sondern auch einen Erziehungsauftrag. Das neue Jugendgesetz der DDR fordert von uns, der Jugend Vertrauen und Verantwortung entgegenzubringen. Hörst du, Vertrauen. Wir können unsere Nachfolger nicht wie unsere Feinde behandeln.“
Er drehte sich brüsk um und ließ Ecke stehen. Wenn der glaubt, er warte nur auf dessen Befehle, dachte sich Meyer. Dann irrt der sich.
Mittlerweile glich der Schulhof Wallensteins Lager. Nur ohne dreißigjährigen Krieg. Die Schüler der unteren Klassen trauten sich nicht, den Aufruf zum Streik zu befolgen. Die älteren Jahrgänge hatten Bier, Brause und Würstchen gekauft. Bald zogen Rauchschwaden über den Schulhof, Zeugen der Grilllust und des Hungers.
Der erste Rostocker Schulstreik erschütterte die Genossen der SED und der Staatssicherheit. Anstatt sich sachlich mit den Schülern zu unterhalten, demonstrierten sie ihre Macht und ließen ein Kommando der Bereitschaftspolizei anrücken. Emsig wie die Ameisen rannten die Leute von der Stasi in Lederjacke und die Leute von der SED mit Parteiabzeichen zu den in kleinen Gruppen versammelten Jugendlichen.
Der 1. Sekretär der SED - Bezirksleitung hatte die Weisung erteilt, den Ungehorsam mit harter Hand zu brechen. Das bedeutete in erster Linie, den Abiturienten zu drohen, ihnen die Studienzulassungen wegen politischer Unzuverlässigkeit zu entziehen. Für die Rädelsführer wären auch Strafverfahren möglich. Die Gewaltandrohung funktionierte. Die Schüler wussten, das war kein Spaß. Der Schülerstreik verdorrte wie eine Blume im Sommerwind. In den Seelen der Schüler ließ das brüske Vorgehen tiefe Narben zurück. Sie brachen wieder auf, als sich das Volk der DDR gegen Hass und Gewalt wehrte.
Dieter Wittke gehörte schon nicht mehr der Schulklasse 12 c an, als die Affäre Schulstreik geschah. Er bereute das. Denn Rainer Bosse war sein größter Widersacher. Er frotzelte ihn ständig wegen seiner schlechten Schulnoten. Zu oft verlor Dieter die Selbstbeherrschung und ging hysterisch mit seinen Fäusten auf Bosse los. Zu schade, dass Dieter beim Schulstreik gegen Bosse fehlte. Zu gern hätte er ihm heimgezahlt, was er ihm an Leid zugefügt hatte.
Aber da irrte Wittke. Der Schulstreik ging Bosse nichts an. Er hatte keine Veranlassung, sich wegen seiner Privilegien zu schämen oder zu verteidigen. Was geschah, erfolgte im Rahmen der geltenden Gesetze der DDR. Rainer Bosse hielt es für eine positive Tat, dass er sich für ein Medizinstudium entschieden hatte, um damit dem Volk der DDR zu dienen. Ohne diese Privilegien für die DDR – Elite wären viele Akademiker außer Landes gegangen und der Volkswirtschaft und dem Gesundheitswesen hätten wertvolle Fachkräfte gefehlt. Bosse fühlte sich als Held, der sich für sein Volk aufopferte, nicht als Parasit.
Horst Wittke kochte vor Wut. Er hatte sich aber so gut unter Kontrolle, dass seine Gemütsverfassung Außenstehenden verborgen blieb. Wer in seiner Partei nach oben kommen wollte, und das wollte Horst Wittke unbedingt, musste dieses Janusgesicht einsetzen können. Schuld an seiner schlechten Stimmung war Ernst Bauer, 1. Sekretär der SED – Kreisleitung Rostock. Ernst Bauer war ein Rudiment aus der Ära der Roten Front Kämpfer. Er war der mächtigste Mann in Rostock, einer Bezirkshauptstadt mit fast 200.000 Einwohnern. Sein Lebensweg hatte keine gehobene Ausbildung ermöglich. Damit stand er nicht alleine da. Viele Genossen seiner Altersgruppe in den Leitungen der Partei hatten eine Universität nie von innen gesehen. Sie agierten auf der Basis überholter politischen Parolen. Wer ihnen dabei nicht folgte, keinen Kadavergehorsam zeigte, wurde ausgemustert.
Zu Bauers Machtbereich gehörten große Werften, Schwermaschinenbaubetriebe, die Universität