Marionetten - Arthur Schnitzler - E-Book

Marionetten E-Book

Arthur Schnitzler

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Beschreibung

Obwohl die drei Einakter, die 1906 als Marionetten veröffentlicht wurden, nicht von Anfang an als Zyklus konzipiert waren, weisen sie eine Reihe von Gemeinsamkeiten auf, und auch die Textgenese der jeweiligen Stücke zeigt mehrfache Verzweigungen auf. Hauptthema in allen drei Einaktern ist das zweideutige Verhältnis zwischen Mensch und Marionette. Alle drei Stücke können als theatrale Parodien auf das naturalistische Illusionsdrama des neunzehnten Jahrhunderts gelesen werden.

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Arthur Schnitzler

Marionetten

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Marionetten

I. Der Puppenspieler

Personen.

[Stücktext]

II. Der tapfere Cassian

Personen.

[Stücktext]

III. Zum großen Wurstel

Personen.

[Stücktext]

Impressum neobooks

Marionetten

I. Der Puppenspieler

Studie in einem Aufzug

Personen.

Georg Merklin.

Eduard Jagisch, Oboespieler.

Anna, seine Frau.

Beider Sohn, acht Jahre alt.

Ein Dienstmädchen.

[Stücktext]

Bescheiden, aber behaglich eingerichtetes Zimmer. Zwei Fenster, Blick auf Dächer, Hügel, blaßblauer Frühlingshimmel. Rechts Eingangstür, links auch eine Tür.

Eduard Jagisch von rechts. Schmächtiger, bartloser Mann von etwa 40 Jahren, bescheiden und nett gekleidet; im Gehaben ein wenig befangen, liebenswürdig. Gleich hinter ihm Georg Merklin, etwa 50 Jahre, ziemlich ergrauter Vollbart, dichtes graues Haar; abgetragener Überzieher mit aufgestelltem Kragen, dunkle, etwas fettig glänzende Beinkleider, weicher Hut, staubige, vertretene Schuhe, aber in seinem Auftreten eine gewisse, auch äußere, Vornehmheit.

EDUARD. Ja, nun wären wir zu Hause. Tritt ein, Georg, ich heiße dich willkommen. Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich den Zufall preise, wie sehr ich mich freue ... Er legt Hut und Überzieher auf das Sofa. So. – Willst du nicht ablegen?

GEORG hält seinen Überzieher mit einiger Absichtlichkeit fest. Danke, danke.

EDUARD betrachtet die Kleidung Georgs; über sein Gesicht gleitet ein Zug von Mitleid, das er aber nicht merken lassen will. Ja, du hast recht, es ist etwas kühl. Aber natürlich, man heizt doch nicht mehr Ende April – nicht wahr? Willst du nicht Platz nehmen? Georg bleibt stehen. Nun, Georg, weiß du auch, wie lange es her ist? Mehr als elf Jahre ... jawohl, mehr als elf Jahre haben wir einander nicht gesehen. Und das Sonderbare ist, daß es gerade gestern elf Jahre waren.

GEORG. Gestern?

EDUARD. Ja, ich weiß, daß es gerade der achtundzwanzigste April war. Denn der Abend, an dem wir das letzte Mal zusammen waren, ist mir gewissermaßen unvergeßlich geblieben und hat noch in der Erinnerung einen seltsamen Zauber.

GEORG. Fern.

EDUARD. Da geht nun eine so lange Zeit hin, in der man gar nichts voneinander gewußt hat – und nun trifft man einander zufällig auf der Straße. Und so hätte man vielleicht sein ganzes Leben in der gleichen Stadt leben können, ohne einander zu begegnen.

GEORG. Allerdings.

EDUARD. Aber ohne meine Schuld. Denn was mich anbelangt, so habe ich dich gesucht, habe nach dir geradezu geforscht – zum mindesten in den letzten drei Jahren, seit ich wieder aus Amerika zurück bin. Es lag mir sehr daran, dich wieder zu finden.

GEORG der auf demselben Fleck stehen bleibt, sich im Zimmer umsieht, gleichgültig. Warum?

EDUARD. Warum? Ich sehnte mich nach dir – jawohl! Begreifst du das nicht? Denke doch, wie viel wir in früherer Zeit miteinander verkehrten; besonders in der letzten Zeit meines Wiener Aufenthaltes. In meinem kleinen Zimmer in der Nußdorfer Straße war es, wo du uns dein Stück vorlasest ...

GEORG am Fenster. Ein hübscher Blick.

EDUARD. Ja, das find' ich auch. Darum bin ich so weit herausgezogen. Trotzdem es manchmal seine mißlichen Seiten hat, insbesondere wenn ich spät abends aus der Oper nach Hause fahren muß, bei schlechtem Wetter. Wenn es schön ist, geh' ich manchmal zu Fuß, auch im Winter. Es dauert doch nicht mehr als drei Viertelstunden. Und dafür ist man dann geradezu auf dem Lande. Es ist sogar ein kleiner Garten bei dem Haus; zwar dürfen wir ihn nicht betreten, aber es ist doch für das Kind von Vorteil, wenn es so den Kopf nur zum Küchenfenster hinauszustrecken braucht, um den Duft der Blumen ...

GEORG wendet sich plötzlich nach ihm um. Du bist verheiratet?

EDUARD ein wenig erschrocken, daß er sich zu früh verraten hat. Allerdings bin ich das.

GEORG. Ja, warum sagst du mir denn das nicht gleich?

EDUARD. Ich wollte dich eigentlich überraschen. Ja, hm ... nun ist es heraus.

GEORG. Schon lang?

EDUARD. Nun, wie man's nimmt. Jedenfalls steht es fest, daß meine Frau soeben unsern Buben von der Schule abholt, und unser Bub' ist acht Jahre alt – jawohl.

GEORG. Ah!

EDUARD. Ja. Und ich darf sagen, daß ich glücklich bin – vollkommen glücklich – schattenlos glücklich.

GEORG kopfschüttelnd. Glücklich ... Ich würde nicht wagen, ein solches Wort so kühn hinauszuschmettern. Das ist vielleicht eine Art, Unheil heraufzubeschwören.

EDUARD. Ich fürchte kein Unheil mehr.

GEORG. Du hast dich sehr verändert.

EDUARD vergnügt. Findest du?

GEORG. Wenn ich mich erinnere, was du damals für ein ängstlicher, verschüchterter, ja man kann sagen, armseliger Bursche gewesen bist ...

EDUARD. Oh!

GEORG. Ja, bleiben wir dabei: ein gedrückter, armseliger Bursche. Und jetzt! ...

EDUARD. Nun, ich habe eben das Gefühl, daß alles Unglück hinter mir liegt. Jetzt kommt nichts Böses mehr. Ich weiß es. – Nun ja, der Tod. Aber der kommt für uns alle. Ich denke nicht an ihn. Und übrigens, ich versichere dir, hat der Tod nichts Schreckliches mehr, wenn man einmal Weib und Kind hat, die einen beweinen werden. Ich weiß nicht, wie du über diese Dinge denkst.

GEORG. Ich habe weder Weib noch Kind – stehe also dem Tod ohne Sympathie gegenüber. – Warum siehst du mich so an? Wie findest du, daß ich ausschaue?

EDUARD. Gut, gut – vorzüglich!

GEORG. Grau.

EDUARD. Grau ... Nun, auch ich beginne – sieh nur, hier an den Schläfen. Und du bist ja beinahe zehn Jahre älter als ich.

GEORG. Ich kannte einen, der mit siebenundzwanzig Jahren schneeweiß war.

EDUARD. Natürlich – Merlet! Ich kannt' ihn ja auch ... schneeweiß. Ich treff' ihn noch zuweilen, aber man kennt sich nicht mehr ... Ja, das Leben! – Er war ja auch an jenem Abend, an jenem unvergeßlichen Abend, in unserer Gesellschaft.

GEORG beinahe vor sich hin. Grau sein beweist nichts. Auch die Jahre beweisen nichts. Gibt es nicht Menschen, die noch mit sechzig oder siebzig Jahren Väter werden – oder Feldzüge mitmachen? Kann man solche Leute alt nennen? Nein. Nur eines beweist, daß man alt ist – der Tod. Alt sind nicht die Hundertjährigen; alt sind, die morgen sterben müssen. Zum Fenster hinausweisend. Diese junge Dame ist uralt, wenn sie an der nächsten Ecke tot zusammenstürzt.

EDUARD zu ihm hin. O, ich dachte, du erblickst meine Frau, sie muß nämlich jeden Augenblick kommen ... Nein, nein, sie ist es nicht.

GEORG. Es hätte mir auch leid getan.

EDUARD. Leid – warum denn?

GEORG. Nun, ich habe Grund, mit solchen Bemerkungen vorsichtig zu sein.

EDUARD. Wie meinst du das?

GEORG. Ich will dir eine Geschichte erzählen, die mir vor ein paar Jahren auf der Eisenbahn passiert ist. Es war früh um sechs, ein Wintermorgen. Mir gegenüber sitzt ein Mensch, lehnt in der Ecke und schlummert. Ich kenn' ihn nicht, ich hab' ihn nie gesehen, er interessiert mich nicht im allergeringsten. Plötzlich geht mir der Gedanke durch den Kopf: Stirb! Und mit diesem Gedanken seh' ich ihn eine geraume Weile an. Er schläft weiter und rührt sich nicht. Ich blicke wieder zum Fenster hinaus in die beschneite Landschaft, wie es meine Art ist, und vergesse den Kerl vollkommen. Wir kommen in Wien an. Ich erhebe mich, steige aus, der andere nicht. Der andere bleibt sitzen, regungslos. Ich rufe Leute herbei – man trägt ihn hinaus – er war tot ... tot. Die Ärzte nannten es Herzschlag.

EDUARD. Jedenfalls ein sonderbarer Zufall.

GEORG. Zufall? – Weißt du denn, wie viel Tag für Tag auf der Welt geschieht, weil es irgend jemand insgeheim wollte – oder auch nur leichtfertig aussprach? Ahnst du etwas von der geheimnisvollen Macht, die in schöpferischen Naturen steckt? – Ich begab mich zu einem Kommissär und teilte ihm den Sachverhalt mit. »Setzen Sie mich ins Gefängnis, Herr,« sagte ich, »denn offenbar bin ich es, der diesen Herrn ermordet hat. Dabei empfinde ich nicht die geringste Reue.« Aber der Kommissär setzte mich nicht ins Gefängnis – er sah mich so einfältig an wie du und entließ mich wieder.

EDUARD freudig. Ja du bist es! Du bist der Alte! Georg, Georg! – Wo nur meine Frau heute, gerade heute so lange bleibt! Wie erstaunt wird sie sein ... Du kannst dir ja denken, daß ich häufig von dir gesprochen habe, Georg. Aber darf ich dir nicht eine Zigarre anbieten?

GEORG. Danke, nein, danke; ich rauche nicht mehr. Ich habe mir diese überflüssigen Dinge abgewöhnt. Nein, nein, laß nur, ich würde es nicht mehr gut vertragen.

EDUARD. Wie du willst. Aber setz' dich wenigstens. Und sag' mir endlich, was du denn die ganze Zeit über gemacht hast. Ich kann es so gar nicht begreifen, daß man nichts mehr von dir gehört hat, daß du so gut wie –

GEORG. Daß ich verschollen war. Nun ja, sprich's nur aus. Ich versichere dir, es tut gar nicht weh, verschollen zu sein. Und ich glaube nicht, daß Menschen meiner Art überhaupt etwas Besseres zustoßen kann.

EDUARD. Aber ... damals schien es doch – wir erwarteten alle ... Du warst doch auf dem Wege, etwas Großes zu werden.

GEORG. Wer sagt dir, daß ich es nicht geworden bin? Müssen es denn die andern merken? Wenn du heute deine Oboe verkauftest, oder wenn deine Finger und Lippen gelähmt würden, daß du nicht mehr blasen könntest – wärest du ein geringerer Virtuose als zuvor? Oder nimm an, du hättest keine Lust mehr und würfest sie einfach zum Fenster hinaus, deine Oboe, weil ihr Klang dir nicht genügte – wärst du dann kein Künstler mehr? Oder wärst du nicht vielmehr erst recht einer, wenn du's zum Fenster hinuntergeworfen hättest, das Instrument, das so ohnmächtig war im Vergleiche zu der göttlichen Musik in deinem Hirn?

EDUARD. Ohnmächtig – ja! Sieh, was du da sagst, ich hab' es öfters gefühlt.