Mariposa - Bis der Sommer kommt - Nicole C. Vosseler - E-Book

Mariposa - Bis der Sommer kommt E-Book

Nicole C. Vosseler

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Beschreibung

Ein Flügelschlag in eine andere Welt

Jake ist auf die schiefe Bahn geraten und muss seinen Community Service in Mariposa antreten, einem gottverlassenen Ort am Rande des Yosemite-Parks in Kalifornien. Dort trifft er auf Nessa, ein sonderbares Mädchen mit roten Haaren, weißer Haut und dunklen Augen. Sie lebt mit ihrer Familie zurückgezogen im Wald, und obwohl sich Jake über sie lustig macht, bekommt er sie nicht mehr aus dem Kopf. Ganz offensichtlich erwidert sie seine Gefühle, doch ihre Familie und die ganze Kommune, der sie angehört, sind strikt dagegen, dass die beiden sich treffen. Denn Nessa ist tatsächlich nicht ganz von dieser Welt …

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Nicole C. Vosseler

Bis der Sommer kommt

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen. Kinder- und Jugendbuchverlagin der Verlagsgruppe Random House

1. Auflage 2015© 2015 der deutschsprachige Ausgabe cbj Kinder- und Jugendbuchverlagin der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.Alle Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: Formlabor, Hamburg, unter Verwendung von Bildern von © Shutterstock/Subbotina Anna, Ihnatovich Maryia, Angie Makes, DaniielKK · Herstellung: AJSatz: Uhl + Massopust, AalenISBN: 978-3-641-12176-1V002www.cbj-verlag.de

Für alle, die den Tag herbeisehnen,an dem sie ihre Flügel entfaltenund fliegen lernen.

Mein Kokon wird zu eng, Farben kitzeln mich,meine Fühler tasten nach der Luft.Ein dämmriger Raum, zu klein für Flügel,schmäht das Kleid, das ich trage.Die Macht des Schmetterlings mussdie Fähigkeit zu fliegen sein,majestätischen Auen Gunst gewährendund leichthin über den Himmel streifend.So rätsel ich über den Fingerzeig,und muss das Zeichen entschlüsseln,manch einen schweren Fehler begehen,falls endlich ich den göttlich Faden aufgreif.Emily Dickinson

Kann der Flügelschlag eines Schmetterlings wirklich einen Tornado am anderen Ende der Welt entfesseln?

Ich habe viel darüber nachgedacht – später, nachdem mein Leben durcheinandergewirbelt worden war wie Herbstblätter im Sturm.

Dass nach dem Ende des Winters manches für mich anders werden würde, hatte ich immer gewusst. Veränderungen, die mir ein bisschen Angst machten, aber auf die ich mich mehr als alles andere freute.

Ich hatte mein ganzes Leben Zeit gehabt, mich darauf vorzubereiten.

Nur auf die Zufälle war ich nicht vorbereitet, die der Herbst mit sich brachte.

Zufälle, die eigentlich nichts mit mir zu tun hatten. Die in ihrer Summe jedoch so weite Kreise zogen, dass sie mein Leben streiften und aus seiner vorgezeichneten Bahn warfen.

Es war dieser eine Herbst, in dem wir früher nach Hause zurückkehrten als in den Jahren davor. Nicht viel, nur ein paar Wochen, aber ein Rest Sommer lag noch in der Luft.

Ein heißer Sommer war es gewesen, der die Gräser in den Tälern der Sierra Nevada zu Stroh ausblich. Nach Sonne und Staub und warmem Stein roch es, nach dürren Blättern und trockenen Kiefernnadeln.

Und nach Rauch, ätzendem, beißendem Rauch.

Nicht mehr als der Flügelschlag eines Schmetterlings war diese eine winzige Entscheidung, die ich an jenem Herbsttag traf. Aus Neugierde und ohne groß zu überlegen.

Im Rückblick denke ich, es war diese Laune eines Augenblicks, die mein Leben später aus dem Gleichgewicht brachte. Die mir im Lauf des Winters weitere, irgendwann nicht mehr ganz so kleine Entscheidungen aufzwang.

Bis ich vor der Wahl stand, den Weg weiterzugehen, der mir vorherbestimmt war.

Oder den schützenden Kokon abzustreifen, in dem ich mein bisheriges Leben verbracht hatte.

In den Abgrund zu springen und zu hoffen, dass meine neuen Flügel tragen würden.

Ich. Nessa.

Mariposa [mari‘posa]

Kleinstadt in Kalifornien

Höhe über dem Meeresspiegel: 1.953 ft

Einwohnerzahl: 1.769

Kreisstadt von Mariposa County

Bars / Saloons: 3

WIFI Hotspots: 2

Bushaltestellen: 3

Tankstellen: 1

Geldautomaten: 4

Ampeln: 0

Kirchengemeinden: 24

(von »Apostolic Power House« über »Lighthouse Fellowship«

bis »Living Water: Pentecostal Church of God«)

Entfernung nach San Francisco, Kalifornien: 170 Meilen

Entfernung nach Los Angeles, Kalifornien: 288 Meilen

Entfernung nach Las Vegas, Nevada: 466 Meilen

40 Meilen südwestlich des Yosemite Nationalparks gelegen.

Ungefähr.

Kommt darauf an, wen man fragt.

1Jake

Rauch. Überall Rauch.

Meine Augen brannten. Mein Hals war wundgekratzt, selbst durch das Bandana hindurch, das ich mir vor Mund und Nase gebunden hatte. Feucht klebte es auf meinem Gesicht; unter der Jacke, den Zipper bis oben hin zugezogen, kochte ich in meinem eigenen Saft.

Die einzigen Geräusche waren das Zischen, das Knistern und Prasseln, das aus allen Richtungen kam. Das Fauchen der Flammen irgendwo hinter mir, wo die Bäume zum Himmel loderten wie Fackeln. Manchmal das weit entfernte Knattern eines Helikopters. Das wummernde Dröhnen eines Flugzeugs.

Ich legte den Kopf in den Nacken.

Ein helles Scheibchen schimmerte durch die Rauchwolken hindurch. Die Sonne, knochenbleich gegen den Widerschein des Feuers.

Wie nach der Apokalypse.

Ich hatte keinen Plan, wo ich war. Wie ich hier wieder rauskommen sollte. Mit halbwegs heiler Haut. Nicht als Beef Jerky.

Ganz in meiner Nähe knackste es. Aus dem Augenwinkel bemerkte ich einen Schatten, der durch den Rauch flog. Ein Tier, das sich genauso verirrt hatte wie ich?

Mit dem Rücken des Arbeitshandschuhs wischte ich mir über die Augen, rieb dabei Ruß hinein und blinzelte heftig.

Wie ein Mädchen sah dieser Schatten aus. Ein Mädchen, das zwischen den Bäumen hindurchrannte.

Mach, dass du fortkommst!Hier brennt alles lichterloh!

Ich hatte gut reden.

Meine Beine waren schwer, als ich ansetzte, ihr nachzulaufen. Die Axt rutschte mir zwischen den Fingern des Handschuhs hindurch, und ich ließ sie einfach fallen.

Wie durch Jell-O bewegte ich mich. Glühend heißes Jell-O. Während sie leichtfüßig über den Boden hüpfte, blass leuchtend und schattenhaft zugleich. Ihre langen Haare züngelten über ihren Rücken wie Flammen. Ein Leuchtfeuer, dem ich hinterherstolperte, durch den Qualm hindurch.

Auch dann noch, als es sich immer weiter von mir entfernte.

Hinter einem mächtigen Baumstamm verlor ich sie. Etwas, das an mir vorüberflatterte, hatte mich abgelenkt.

Ein Schmetterling.

Verwirrt folgte ich ihm mit meinem Blick.

Genau wie dem zweiten, dem dritten, die vor meiner Nase herumtänzelten, dann durch den Rauch davonsegelten.

Ich rieb mir wieder über das Gesicht, dieses Mal mit dem Ärmel, und wankte dann weiter. Wie ferngesteuert. Dorthin, wo die Schmetterlinge verschwunden waren und der Rauch sich allmählich aufzulösen begann. Wo es nach und nach heller wurde und der Wald sich zu einer Lichtung öffnete.

Jetzt konnte ich Stimmen hören, laut und aufgeregt; sie riefen meinen Namen.

Ich taumelte vorwärts und riss das Bandana herunter.

Hier. Hier.

Ich hustete, um meine verklebten Stimmbänder freizubekommen. Mehr als nur ein heiseres Krächzen rauszukriegen.

»Hier. Hier! Ich bin hier!«

Verschwommen sah ich jemanden auf mich zustürmen.

Woodgate. Es musste Woodgate sein.

Zum ersten Mal war ich erleichtert, diesen Öko zu sehen. Diesen Baumumarmer.

»Tickst du noch ganz richtig?«, brüllte er mir entgegen.

Sein penetrantes Dauergrinsen war weggewischt; er schubste mich kräftig, einmal, zweimal, bevor er mich packte und schüttelte.

»Keine Alleingänge, hab ich gesagt! Wenn du dich unbedingt umbringen willst, dann nicht in meiner Schicht! Nicht unter meiner Aufsicht!«

Ich wollte ihm frech ins Gesicht lachen, doch es geriet zu einer Grimasse. Meine Beine waren aus Gummi, und ich rang nach Luft.

»Die Sanis sollen dich gleich durchchecken.«

Eine Hand in meine Jacke gekrallt, die andere auf meiner Schulter, zerrte er mich fort.

Ich warf einen Blick zurück.

Zwischen den Nadelbäumen waberten Rauchschwaden hervor, quollen in schmutzigen Blumenkohlwolken über den Wipfeln heraus, von flackerndem Feuerschein gespenstisch beleuchtet.

Das Mädchen.

Irgendwo da drin ist noch ein Mädchen.

Ich hatte den Mund schon aufgemacht, als ich begriff, wie behämmert sich das anhören musste. Alle Straßen und Wege, die in diesen Teil des Nationalparks führten, waren seit zwei Tagen abgeriegelt. Nur Ranger, Feuerwehrmänner und freiwillige Helfer kamen noch rein. Keiner war so bescheuert, dort auf eigene Faust herumzugeistern. Außer mir vielleicht.

Der Rauch hatte mir das Hirn vernebelt. Ich konnte kein Mädchen gesehen haben. Und noch viel weniger wollte ich etwas von Schmetterlingen faseln.

»Meine Anweisungen waren ja wohl klar und deutlich«, knurrte Woodgate neben meinem Ohr. »Wie konntest du Idiot uns aus den Augen verlieren?«

Ich hatte nicht den leisesten Schimmer.

Ich fragte mich sowieso, wie ich überhaupt hier hatte landen können. In dieser verfluchten Pampa, in der es nichts gab außer Bergen und Bäumen.

In Yosemite.

2Nessa

Müde schleppte ich mich nach Hause.

Alle paar Schritte verfingen sich die groben Sohlen meiner Stiefel im Rocksaum und brachten mich ins Stolpern. Bis ich in den Pfad einbog, der sich zwischen wilden Hecken hindurchzwängte, konnte ich mich kaum noch auf den Beinen halten.

Nur mein Pulsschlag wollte sich nicht beruhigen. Sturmgleich brauste er in meinen Ohren, pochte dumpf in meiner Kehle. Als hätte ich einen Falter verschluckt, der mit seinen staubigen Flügeln schlug, um sich zu befreien, und mir dabei die Luft zum Atmen nahm.

Mit einem erleichterten Seufzen trottete ich auf das Holzhaus zu, das sich zwischen wuchernden Sträuchern und alten Bäumen und hinter einem schmutziggrauen, verwitterten Zaun versteckte.

Ein Rascheln, dicht neben mir; eine Hand schoss aus dem Gebüsch hervor, packte mich und zog mich durch eine Lücke im Geäst.

»Wo warst du?!«

Ein drohendes Grollen vibrierte in Haydens Stimme, tiefer noch als im vergangenen Jahr, wie weiter seinen knochigen Hals hinabgerutscht. Seine Augen, in ihrer Härte schwarz glänzende Kiesel, bohrten sich in meine.

»Du riechst, als wärst du durch den Kamin gekrochen, und du bist voller Ruß. Sag jetzt bloß nicht, dass du zum Feuer gelaufen bist!«

Sein schmales Gesicht war blasser als sonst, die Sommersprossen auf seiner Nase glimmernd wie Goldstaub. Ich sah ihm an, wie viel Kraft es ihn kostete, nicht die Beherrschung zu verlieren. Ich merkte es an der Art, wie seine überschlanken Finger meinen Arm umklammerten, fester als unbedingt nötig.

Es hatte lange gedauert, bis wir als Kinder lernten, heftige Gefühle im Zaum zu halten. Ich tat mich bis heute schwer damit, ich war auch noch ein bisschen jünger als er.

Ich senkte den Kopf und presste die Lippen zusammen.

»Nessa!« Er schüttelte mich leicht. »Warst du dort?«

Ich deutete ein Nicken an.

Er ließ mich los, und ich schielte unter den Lidern hervor.

Mit gespreizten Fingern fuhr er sich durch die Haare. Sein ausgeleiertes Sweatshirt rutschte dabei hoch und enthüllte die scharfen Hüftknochen, auf denen die Cordhose gerade noch so Halt fand. Den harten, nach innen gezogenen Bauch mit dem Nabelgrübchen. Alle hatten wir an Gewicht verloren während unseres Trecks den Sommer über; es würde Wochen dauern, bis wir wieder etwas davon zulegten.

Er ließ die Hände sinken, und seine Haare fielen ihm zurück ins Gesicht. Genauso dicht und glatt wie meine waren sie, nur heller, mehr erdbeerblond als rot.

»Warum machst du so was?« Verwundert klang er. Beinahe traurig.

Ich schwieg. Ein wenig Trotz war dabei, weil ich mich ärgerte, dass er sich eben so aufgespielt hatte. Nur weil er die Aufgaben ernst nahm, die er als einziger Mann im Haus mit diesem Herbst übertragen bekommen hatte, war er noch keiner der Ältesten, und überhaupt hatte allein Ma hier das Sagen.

Aber ich wusste auch gar nicht, wie ich ihm das Sehnen erklären sollte, ein einziges Mal ein solches Feuer aus der Nähe zu sehen. Nicht nur die Überreste der kleinen Waldbrände eines jeden Sommers, der von den Rangern gezielt eingesetzten Feuer: Baumstämme, die sich als verkohlte Streichhölzer in den Himmel reckten, und Strauchskelette wie versteinerte Asche, während aus der nackten Erde bereits frisches Grün spross.

»Es ist ja nichts passiert«, murmelte ich schließlich.

Ich dachte an den Jungen, der mich dort gesehen hatte, und der Falter in meiner Kehle, gerade zur Ruhe gekommen, begann von Neuem zu flattern.

»Nein«, gab Hayden trocken zurück. »Du hast nur vergessen, dass du heute mit Dana nach Merced fahren wolltest.«

Erschrocken sah ich zum Haus hin. »Ist sie …«

»Sie ist mit Lantana und den Kindern gefahren.«

Ein klammes Gefühl machte sich in mir breit. Seit ich ganz klein gewesen war, war ich mit Ma zu Belinda’s Beads gefahren, um Material zu kaufen. Ich liebte dieses Lädchen, das hinter seiner Fassade in Rosa und Pistaziengrün einer Schatzkammer glich, in der Perlen über Perlen in allen Farben um die Wette schimmerten und glitzerten. Wie konnte ich das nur vergessen haben?

Hayden hob die angerostete Gartenschere vom Boden auf.

»Ich hab gesagt, du wärst in die Stadt gegangen. Dich in den Läden umschauen. Ideen sammeln.«

Unter dem scharfen Schnippen der Schere fuhr er damit fort, die Sträucher zurückzuschneiden, die übers Jahr ihre gierigen Laubarme nach dem Haus ausgestreckt hatten.

»Danke«, raspelte ich aus enger Kehle.

Seine hellen Brauen zusammengekniffen und einen festen Zug um den Mund, nickte Hayden, ohne mich anzusehen.

»Geh dich mal besser duschen und umziehen. Sie sind sicher bald zurück.«

Ich wollte mir einreden, dass die Unbeholfenheit zwischen uns normal war. Teil des holprigen Übergangs zwischen unserem Leben im Sommer und dem im Winter, bis sich wieder eine gewisse Routine eingestellt hätte. Doch ich spürte, dass Hayden genauso viel darüber nachdachte, was uns im kommenden Jahr erwarten würde, wie ich.

Niedergeschlagen schlich ich die Stufen der Veranda hinauf. Das Holz war an einigen Stellen abgesplittert, an anderen morsch. Von der Hauswand schälte sich die dunkelgrüne Farbe in dicken Spänen und pellte die darunterliegenden Schichten anderer Grüntöne mit ab. Spuren der Generationen, die das Haus vor uns bewohnt hatten. Im Frühling wollte Hayden die Renovierung in Angriff nehmen. Vielleicht würde sogar einer der Ältesten dableiben, um ihm dabei zu helfen; insgeheim hoffte ich, dass es mein Vater sein würde.

»Nessa.«

Ich drehte mich um.

Zu seiner ganzen schlaksigen Größe aufgerichtet, sah Hayden mich an. Einen sehnsüchtigen Glanz in den Augen, die wieder so weich wirkten, wie ich es von ihm kannte, in der Farbe von reicher, satter Erde.

»Hat es sich denn gelohnt?«

Weil ich seit zwei Tagen an nichts anderes mehr denken konnte als an den brennenden Wald, hatte ich die Fahrt nach Merced verpasst. Ich gönnte Lissa und Mitch, dass sie in diesem Jahr mitdurften, aber ich hatte mich selbst um das gebracht, was für mich das Schönste in jedem Herbst war.

Ich wollte schon den Kopf schütteln, da erinnerte ich mich an das Fauchen der Flammen und an die Hitze des Feuers. An den überwältigenden Geruch von Rauch, von brennenden Kiefernnadeln und kokelndem Holz. Diese berauschende Mischung aus Verlockung und Gefahr, die mein Herz auf eine ganz neue, fremde Art höher schlagen ließ, und an das Gefühl des Waldbodens unter meinen nackten Füßen.

Ich nickte.

Das kleine Lächeln, das sich auf Haydens Gesicht abzeichnete, zeigte mir, dass er mich verstand.

Und für den Moment war es zwischen uns wieder wie früher.

Während ich mir den Ruß aus den Poren schrubbte, den Brandgeruch aus den Haaren spülte, bis der Boiler leer war, und danach meine Sachen in die altersschwache Waschmaschine stopfte, versuchte ich, die Bilder zu verscheuchen, die sich in meinem Kopf festgehakt hatten. Auch dann noch, als ich aus meinem schlechten Gewissen heraus die Werkstatt bis in den letzten Winkel ausfegte, die Tische abrieb und das Werkzeug auspackte, überprüfte und wenn nötig ölte.

Die eines Jungen in dunkler Jacke, ein Tuch vor Mund und Nase gebunden.

Mit Haaren so blond wie sommergebleichtes Gras, und Augen, die blau waren wie der Lake Tahoe.

Es gelang mir nicht.

3Jake

Ich knallte die Tür des Motelzimmers hinter mir zu.

Als ich unter der Dusche gewesen war, hatte Gonzalez sich die Fernbedienung gekrallt und zappte seither mit glasigem Blick durch sämtliche Kanäle, um irgendwo Frauen mit möglichst wenig Klamotten zu erwischen. Okay, hier blieb ihm vermutlich keine Alternative. An sich nicht mein Problem.

Außer, dass er ESPN als einzigen Kanal dabei ausließ.

Die Hände in den Taschen meines Hoodies vergraben, polterte ich die Treppen hinunter, in den zur Straße hin offenen Hof.

»Guten Abend, Jake. Gehst du noch aus?«

Mr Fields lud gerade Kisten aus dem Kofferraum seines Yukon; was ich von deren Inhalt erspähen konnte, war wohl für das Frühstück im Wisteria Arbors gedacht.

Ich hatte nicht die geringste Ahnung, warum die Fields ein Zimmer für Typen wie Gonzalez und mich zur Verfügung stellten. Bezahlte der State of California entsprechend viel dafür? Oder sahen sie darin einen wohltätigen Dienst an der Gemeinschaft? Hätte ich ihnen zugetraut.

»Abend, Mr Fields. Wissen Sie vielleicht, wo ich hier irgendwo Sport gucken kann?«

Und ein Bier dazu kriege.

Das Bassettgesicht von Mr Fields verzog sich besorgt. »Ist etwas mit dem Fernseher auf dem Zimmer?«

»Neenee. Stress mit meinem Zimmergenossen.«

»Ach so.« Er schmunzelte.

»Guten Abend, Jake.«

Mrs Fields, wie ihr Mann eine Fleecejacke über einem karierten Oberteil, die grauen Haare in fast dem gleichen praktischen Kurzhaarschnitt wie er, kam aus dem kleinen Haus, in dem Rezeption und Frühstücksraum untergebracht waren.

»Wenn du magst, kannst du gerne bei uns fernsehen. Oder, Brantley?«

Meine Nackenhaare stellten sich auf.

Mr Fields lachte dröhnend. »So stellt man sich in dem Alter garantiert einen gemütlichen Abend vor, Carol! Mit alten Leuten wie uns vor dem Fernseher zu sitzen.«

Er reichte eine Kiste Äpfel an seine Frau weiter und deutete dann auf die Straße hinaus.

»Links runter gibt’s auf der anderen Straßenseite eine Sports Tavern. Das Golden Nugget. Hat jede Menge Flatscreens, auf denen ESPN läuft, und du kannst dort auch was essen. Sind wohl zu Fuß so fünf Minuten.«

»Vielen Dank«, rief ich ihm im Gehen zu. »Schönen Abend noch.«

Ich konnte ja, wenn ich wollte.

Auf dem Bürgersteig steckte ich mir eine Zigarette an, und der Tabakrauch mischte sich mit dem Brandgeruch, der vom Nationalpark herüberwehte.

Der Anblick der grün gestrichenen Tankstelle gegenüber mit den beiden mannshohen Plastikbären neben den Zapfsäulen ließ mich wieder mal die Stirn runzeln.

Grizzly Gas Station. Wer kam denn auf so was?

Das Stück der Hauptstraße rechts von mir kannte ich. An der übernächsten Ecke, wo in einem Hexenhaus auf der Wiese ein Internetcafé mit Öffnungszeiten nach Laune des Chefs untergebracht war, sammelte Woodgate jeden ekelhaft frühen Morgen Gonzalez und mich mit seinem SUV ein. Und mit seiner nervtötenden guten Laune, die ich um diese Zeit noch weniger vertrug als sonst; zu Hause war ich selten vor elf aus dem Bett gekrochen.

Das war das Beste, was mir meine Solotour im brennenden Wald eingebracht hatte: vom Doc für ein paar Tage krankgeschrieben zu werden, vorsichtshalber. Erst Montag würde ich Woodgates Grinsen wieder ertragen müssen.

Ich fischte mein Handy aus der Jeans. Gerade mal ein Balken Empfang.

Lou und die anderen hingen um die Zeit sicher gerade zusammen ab. Wie immer. Auch ohne mich.

Mein Daumen flog über die Tasten.

Hey Bro! Was geht?!!

Ich drückte auf senden, und der Balken verschwand.

Netzverbindung verloren.

Fluchend schwenkte ich das Handy in alle Richtungen, aber der Empfang blieb weg.

Jedes Mal das gleiche idiotische Spiel.

Die Straße hinunter, die behauptete, ein Highway zu sein, sahen die Häuser aus wie die bunt angestrichene Kulisse eines Westerns, mal abgesehen von den dicht bepflanzten Blumenkübeln davor; überall hing das Sternenbanner. Auf meiner Seite war der Bürgersteig erhöht und führte unter von Holzsäulen gestützten Vordächern hindurch.

Ein großes Werbeschild für UGG-Boots. Antiquitäten. Kunsthandwerk. Souvenirs. Wandersachen.

49er Club. Dine & Dance. Square Dance oder was?

An einem Schaukasten blieb ich stehen und warf einen Blick auf die ausgehängten Zettel, um herauszufinden, ob hier überhaupt mal irgendwas los war.

Oh ja, genau so spannend hatte ich mir das vorgestellt. Alle zwei Wochen Mariposa Art Hop in den Räumen der Handelskammer (»Komm und erlebe unseren kreativen Spirit!«), Kaffeestunde für Veteranen und Ehegatten jeden Montag im Happy Burger Diner, und – Achtung, Highlight! – ein hawaiianisches Luau in der Community Hall von Greeley Hill übernächsten Samstag. Fantastisch, da steppte der Bär … Sogar ein wöchentliches Pfannkuchenfrühstück der Feuerwehr gab es, für fünf Dollar pro Nase.

Ein weiterer Aushang versprach für nächsten Freitag ein »Familien-Fun-Event« mit der Geschichtenerzählerin der Extraklasse Alison Wonderland, ebenfalls in der Community Hall von Greeley Hill.

Wo immer das auch sein mochte.

Und unter Yosemite Outdoor Adventures waren Termine für geführte Wanderungen und Exkursionen in den Park aufgelistet; der letzte Termin war schon fast zwei Monate her.

Nur auf der Fahrbahn war gut was los, hauptsächlich SUVs und Pick-ups, ihre Scheinwerfer, die rot glühenden Rücklichter Leuchtspuren in der blauen Dämmerung.

Sonst war alles tot, dabei war es noch nicht mal acht.

Elende Pampa.

Stars and Stripes flankierten auch die Veranda des Golden Nugget. Die Stimmen der Kommentatoren von ESPN schwappten mir entgegen, als ich die Tür aufriss, und Musik.

Countrymusik.

Durch das gedimmte Licht steuerte ich die Bar in der Mitte an, pflanzte mich auf einen der Hocker und zog mir den Hoodie über den Kopf.

»Hi, Hon. Was kriegst du?«

Eine Frauenstimme, jung und zuckrig. Mein Kopf ruckte hoch.

»Hall-loooh«, raunte ich mit hochgezogenen Brauen.

Das erste weibliche Wesen hier unter dreißig und ohne Zahnspange.

Große blaue Augen. Nettes Lächeln. Bisschen Farbe im hübschen Gesicht, aber nicht angemalt. Lange dunkle Locken.

Genau mein Typ.

Ich setzte mein lässigstes Lächeln auf. »Ein Bier bitte.«

Sie begutachtete mich, ein Blick, dem ich gelassen standhielt. Ich besaß zwar einen frisierten Führerschein, brauchte ihn aber so gut wie nie; ich hatte das unverschämte Glück, deutlich älter auszusehen als siebzehn, dabei aber absolut harmlos.

»Corona oder Budweiser?«

»Bud.«

»Hier, Hon. Cheers.«

»Danke.«

Ich nuckelte an meinem Bier und schenkte meine Aufmerksamkeit zur Hälfte einem Zusammenschnitt der jüngsten Footballspiele, zur anderen Hälfte der Bedienung, die an der Theke mit Gläsern und Flaschen hantierte. Anfang, Mitte zwanzig war sie wohl, und was Stretchhose und Glitzerpulli ahnen ließen, sah vielversprechend aus.

Meine Augen wanderten durch den Raum. »Rustikal« eingerichtet mit viel hellem Holz, Stühle mit geschnitzten Lehnen an den Tischen inklusive. Wandmalereien von irgendwelchem Historienkram, dazwischen alte, gerahmte Fotos und Schießeisen.

The wild, wild West.

Fehlten nur noch Cowboyhüte, gezackte Sporen an Stiefelhacken und draußen ein angebundener Gaul.

Yihaah.

Der Laden war mäßig besucht, hauptsächlich von Einheimischen, die irgendwie alle gleich aussahen. Harte Kerle mit sonnengebräunten Gesichtern in Karohemden oder T-Shirts der Giants, die ESPN verfolgten und über den Waldbrand diskutierten. An einem der Tische saß ein Ehepaar in Wanderklamotten vor leer gegessenen Tellern; auf einer ausgebreiteten Karte fuhren ihre Zeigefinger die bunt markierten Routen durch den Park nach.

Wer war so bekloppt, hier freiwillig sein Wochenende zu verbringen?

Aus dem Nebenzimmer dudelte ein Spielautomat herüber, und auf dem hektisch blinkenden Flipper stützte sich ein Typ in meinem Alter ab. Eine halbe Portion, die mit dem verwaschenen T-Shirt einer Band und Nietenarmbändern auf Rocker machte. Eine unordentliche dunkelbraune Mähne hing ihm ins spitze Gesicht, aus dem er neugierig zu mir herüberschielte.

Ich sah weg und konzentrierte mich wieder auf die Bedienung, die gerade eine Runde Drinks mixte. In Gedanken spielte ich noch ein paar bewährte Aufhänger für Smalltalk durch, als sie den Kopf hob und über das ganze Gesicht strahlte.

»Hiii«, kiekste sie begeistert durch den halben Laden.

»Hi, Kellie.«

Die tiefe Männerstimme kam mir irgendwie bekannt vor.

»Hi, Jake. Geht’s gut?« Eine Hand senkte sich auf meine Schulter. »Ich darf doch.«

Ohne meine Antwort abzuwarten, hockte er sich neben mich.

Der Waldschrat. Woodgate.

Ich verschluckte mich fast an meinem Budweiser.

»Hallo, Josh«, girrte Kellie, lehnte sich mit durchgedrückten Schultern über die Theke und strich über sein Handgelenk, das locker auf dem Tresen lag. »Schön, dass du vorbeischaust.«

Die zwei hatten was am Laufen? Nee, oder?

Sie warf einen Seitenblick auf die Bierflasche in meiner Hand.

»Sag mir jetzt bitte nicht, dass das einer deiner Schützlinge ist«, flüsterte sie und zwinkerte verschwörerisch.

Meine Wangen brannten.

»Geht schon in Ordnung. Nehm ich auf meine Kappe.«

Ein angedeutetes Grinsen auf dem markigen, sonnengebräunten Gesicht, zog er die Hand unter ihren Fingern hervor und ratschte den Zipper seiner Jacke auf.

»Gibst du mir bitte auch ein Bud?«

»Wie steht’s dort draußen?« Kellie nickte in Richtung des Nationalparks, als sie die Flasche öffnete und vor ihn hinstellte. »Gibt’s was Neues?«

»Ist unter Kontrolle. Morgen oder übermorgen kriegen wir’s wahrscheinlich ganz gelöscht.«

Der hingerissene Blick, mit dem sie Woodgate dabei geradezu auffraß, löste bei mir Brechreiz aus.

Was fand sie bloß an dem?

Zugegeben, er war noch kein total alter Knacker, nicht viel älter als Kellie, und ohne seine dämliche Waldläuferuniform in Grün und Grau sah er gar nicht so übel aus. Während er sich aus der Trekkingjacke pellte und sie an den Haken unter der Tischplatte hängte, zeigte das Longsleeve ein breites Kreuz, wie das eines Schwimmers, und ziemlich viel Muskeln. Deutlicher ausgeprägt als meine, das musste ich neidlos anerkennen. Entweder lag’s am Job oder er verbrachte seine Freizeit mit Fitness.

Ich griff mir die laminierte Speisekarte und tat so, als könnte ich mich nicht zwischen Rib Eye Steak und Fish and Chips entscheiden.

»Die Burger hier sind ganz okay«, drückte mir der Waldschrat ungefragt aufs Gehör. »Aber in Eugenes Diner sind sie um Längen besser.«

»Hey, das hab ich gehört!«, rief Kellie gespielt verärgert und schlug mit einem Geschirrtuch nach ihm.

Woodgate lachte, und ich verdrehte die Augen.

»Cheers.« Er hielt mir seine Bierflasche unter die Nase.

Mit einem übermäßig kräftigen Klonkk stieß ich meine dagegen.

»Keinen Kräutertee?«, konnte ich es mir nicht verkneifen.

Verblüfft sah mich Woodgate über sein Bud hinweg an und grinste.

»Bin ich krank?«

Um meine Mundwinkel zuckte es; ich spannte sie schnell wieder an.

Woodgate beobachtete Kellie, die einen Stiernacken im Karohemd mit Budweiser versorgte und dabei ein Schwätzchen hielt. An seinem Kieferknochen bewegte sich ein Muskel, als ob es in ihm arbeitete, dann drehte er sich auf dem Hocker halb zu mir um.

»Ist ganz gut, dass wir uns noch mal über den Weg gelaufen sind, bevor du Montag zum Dienst zurückkommst«, sagte er leise. »Ich krieg das nämlich nicht aus dem Kopf. Deinen Alleingang vorgestern. Ist dir auch nur halbwegs klar, wie gefährlich das war?«

Den Unterarm auf der Theke, rieb er mit dem Daumen über den Flaschenhals und musterte mich abwartend, seine dunklen Augen unter den starken Brauen noch schmaler als sonst.

Ich zuckte mit den Schultern und trank einen großen Schluck.

»Kann das sein …« Er atmete tief durch und fuhr sich mit einer Hand durch seine kurz geschnittenen braunen Haare. »Kann es sein, dass du uns absichtlich verloren hast? Die Nähe zum Feuer bewusst gesucht hast?«

Diesen Tonfall kannte ich. Vorsichtig herantastend. Verständnis heuchelnd. Lauernd.

Das Gelaber der Lehrer und des Counselors an der Highschool hatte genauso geklungen. Die blöden Fragen der Sozialtussen, die unangemeldet vor der Tür standen. Sich mit gerümpfter Nase umschauten, unnötig lange die leeren Pizzakartons und schmutzigen Socken auf dem Boden in Augenschein nahmen. Den Riss im Polster der Couch, aus dem die Füllung hervorquoll. Die zerknüllten Bierdosen, den übervollen Aschenbecher und die Tür mit dem Fliegengitter, die schief in den Angeln hing, bevor sie sich mit spitzem Mund Notizen auf dem Klemmbrett machten.

White Trash, war das Urteil in ihren Augen zu lesen.

Nur eine schmale und wackelige Stufe über dem Abschaum der Trailer Parks.

Knapp.

Ich spülte den beißenden Geschmack in meinem Mund mit einem kräftigen Zug Budweiser hinunter.

»Ich kenn das, Jake. Das Gefühl, unsterblich zu sein. Sich mit Naturgewalten messen zu wollen. Ich kenne den Kitzel, der von der Gefahr ausgeht. Um sich den Kick zu holen. Überhaupt wieder irgendwas zu fühlen. Aufmerksamkeit zu kriegen.«

Bla. Bla. Bla.

»Hast du dich deshalb freiwillig für den Einsatz gemeldet? Ich bin nicht nur dein Boss in diesem Projekt, Jake. Dein Aufpasser. Ich bin auch deine Vertrauensperson. Du kannst jederzeit mit mir über alles …«

Ich sprang von meinem Hocker auf, warf ein paar zerknüllte Dollars auf den Tresen und schnappte mir Hoodie und Bierflasche.

»Leck mich!«

Der Schließer am Eingang, der die Tür beharrlich im Zeitlupentempo und vor allem geräuschlos hinter mir zuschob, versaute mir meinen effektvollen Abgang.

Draußen trat ich ein paar Mal mit voller Wucht gegen eine der Säulen aus Holz und brachte damit die blinkenden Lichterketten über mir zum Zittern.

Ich zündete mir eine Zigarette an und blies bei jedem Zug den Rauch heftig aus, um Dampf abzulassen. Die kühle Abendluft machte mir Gänsehaut auf Armen und Rücken, während ich innerlich brodelte vor Wut.

»Hast mal Feuer?«

Der Typ vom Flipper war neben mir aufgetaucht, eine Selbstgedrehte im Mundwinkel.

»Danke.«

Er inhalierte tief und reichte mir mein Zippo zurück. Ein Zwerg war das, einen ganzen Kopf kleiner als ich.

»Du bist nicht aus der Gegend, oder?«

Er hatte eine seltsame Stimme, hoch, fast fistelig, dabei kratzig. Wie noch nicht ausgewachsen und doch schon von zu vielen Zigaretten vernarbt.

Ich lachte auf. »Ne, sicher nicht!«

»Wo kommst du her?«

»L. A.«, floss es genüsslich über meine Lippen.

Ich weidete mich an seinen aufgerissenen Augen und dem offen stehenden Mund, konnte in seinem Gesicht die Spiegelung des Films sehen, der in seinem Kopf ablief.

Hollywood. Stadtautobahnen und Palmen. Malibu, Santa Monica und Venice Beach.

Skater, die gestählten Bodys der Surfer und braun gebrannte Beachbabes auf Rollerblades.

Californication und Navy CIS L. A.

Luxusviertel und schicke Villen, Ghettos und graffitibeschmierte Betonbunker und Schießereien zwischen Straßengangs. Gangsta Rapper mit viel Bling-Bling, scharfen Bräuten und dicken Schlitten.

Sonnenuntergang am Strand und eine funkelnde Skyline.

»Ohne Scheiß?« Heiser war er vor Ehrfurcht.

»Ohne Scheiß.«

Ich sah keinen Grund, sein Bild von L. A. geradezurücken.

»Machst du hier Urlaub?« Seine Augen klebten auf meinem Gesicht, während er an seiner Zigarette zog. »Bei uns im Yosemite?«

»Bin ich bescheuert?«

»Was machst du sonst … Heyhey, warte, ich weiß!«

Er schnippte mit den Fingern.

»Du bist einer von den Jungs aus dem Modellprojekt, oder? Wurde viel drüber geredet. Stand auch was in der Zeitung.«

Ich zuckte nichtssagend mit den Schultern.

Ein Grinsen zog seinen dünnen Mund in die Breite. »Was hast du denn ausgefressen?«

Eine Menge. Ist immer alles gutgegangen. Nur ein einziges Mal eben nicht.

Die roten und blauen Lichtblitze des Streifenwagens flackerten vor meinen Augen. In meinem Kopf hallte die raue Stimme des Cops wider, der mich anbellte, bevor er mich packte und mir die Arme auf den Rücken drehte. Die Karosserie des Autos presste sich hart gegen meinen Wangenknochen, und kalter Stahl schloss sich um meine Handgelenke.

Ich war drauf und dran, damit zu prahlen. Das Ganze noch aufzupimpen.

Jake Keane, der obercoole Macker. Rebel without a cause.

Fast & Furious.

Ich bekam es nicht hin. Wie er mich anstarrte, sensationsgierig, fast bewundernd, hätte ich mich geschmeichelt fühlen müssen; stattdessen war es mir unangenehm.

»Ist doch egal.« Ich warf meine Kippe auf den Holzboden und trat sie aus.

Die Zigarette im Mundwinkel, knöpfte der Zwerg seine Jeansjacke mit Lammfellkragen zu und vergrub die Hände in den Hosentaschen.

»Ich arbeite bei meinem Onkel. An der Grizzly Gas. Wenn du Bock hast, komm doch mal vorbei. Ich geb dir eine Cola aus und wir können abhängen oder so.«

»Hast du keine Freunde?«, ätzte ich und kippte Bier nach.

»Doch«, kam es hastig von ihm; zu schnell, um überzeugend zu sein. Ein vorsichtiges Grinsen blitzte auf seinem Gesicht auf. »Aber ein Kotzbrocken wie du fehlt noch in meiner Sammlung.«

Ich musste loslachen, und erleichtert stimmte er mit ein.

Schweigend musterten wir uns ein paar Augenblicke, irgendwie verlegen.

»Ich bin Jake.«

»Travis. Travis Beaver.«

Mit hochgezogenen Brauen beäugte ich die Hand, die er mir entgegenstreckte. Man konnte es auch übertreiben.

Er ließ sie wieder sinken.

Meine Wut war verraucht, aber das fiese Gefühl in meinem Bauch, das Woodgates Gelaber hinterlassen hatte, blieb. Gonzalez schwor Stein und Bein, dass die bunten Pillen, die er in San José vertickte, von den Bullen einkassiert worden waren, als sie ihn hopsnahmen, und zwischen seinen Klamotten hatte ich auch nichts gefunden.

»Weißt du, wo ich hier Gras herkrieg?«

»Gras?«

Travis’ struppige Brauen rutschten in Richtung Haaransatz, während er seine Zigarette brav im Aschenbecher ausdrückte.

»Dope. Pot. Hasch«, erklärte ich ungeduldig. »Marihuana, Mann!«

Travis begann zu lachen, ein hohes, keckerndes Lachen.

»Gras!«, wieherte er und schüttelte den Kopf. »Nach Gras fragst du! Oh Mann! Das einzige Gras, das du hier rauchen könntest, sind die Süßgräser auf den Wiesen!«

Klasse. Ich würde Lou überreden müssen, mir ein Päckchen zu schicken.

»Bei Alk sind wir hier nicht so streng wie im Rest von Kalifornien, aber sonst …« Travis deutete auf die Straße hinaus, auf einen weißen SUV mit Aufschrift, der gemächlich vorbeirollte. »Da fährt gerade unser Sheriff. Sheriff Buller. Pünktlich auf die Minute, wie immer. Kannst deine Uhr danach stellen. Mehrmals am Tag. Immer dieselben Runden.«

Das Gefühl in meinem Bauch wurde richtig übel; mein Bedarf an Kontakt mit Cops und Co. war fürs Erste gedeckt.

»Willkommen in Mariposa!«

Mit seinem keckernden Lachen klopfte mir Travis auf den Rücken, bevor er über die Veranda davonschlenderte.

Ich steckte mir die nächste Zigarette an, und während ich mein Bud austrank, starrte ich auf die Straße hinaus.

Ich vermisste die Straßen von Green Meadows. Den Geruch nach Beton und rostigem Metall in der Hitze des Tages, nach verdorrtem Unkraut und Benzin. Den angriffslustigen, atemlosen Beat der Stadt. Lou und Ace und meine anderen Kumpels. Breanna und ihre Kids. Sogar Denny, seltsamerweise.

Sechs Monate. Sechs verfluchte Monate saß ich hier fest.

In diesem Kaff am Arsch der Welt.

4Jake

»Und was machst du da so?«

Die eng stehenden Augen zusammengekniffen, trank Travis einen Schluck Cola.

Wir hockten auf dem niedrigen Betonabsatz an der Schmalseite der Tankstelle, weit genug von den Zapfsäulen entfernt, dass wir hier rauchen konnten.

Den Blick auf den Maschendrahtzaun und die braune Ödnis eines umgegrabenen Grundstücks dahinter gerichtet, zuckte ich mit den Schultern.

»Meistens Müll einsammeln. Manchmal auch kleinere Baumarbeiten. Mit Säge und Axt und so.«

»Klingt ja spannend.«

Eine geseufzte Bemerkung, irgendwo zwischen Mitleid und Spott.

In einem verächtlichen Laut blies ich die Luft aus.

»Weil Tankbelege rauslassen, Kühlschränke auffüllen und Autoscheiben putzen so ein aufregender Job ist.«

Mit dem Daumen deutete ich auf das Schild hinter uns an der Wand, das den Weg zu den Toiletten auf der Rückseite wies.

»Kloschüsseln schrubben nicht zu vergessen.«

»Hey«, rief Travis gekränkt. »Die Tanke ist eine Goldgrube! Die nächste ist in El Portal, und danach gibt’s erst wieder welche in Wawona, Tuolumne Meadows und Crane Flat!«

Ich zuckte noch einmal mit den Schultern, drehte die fast leere Colaflasche in den Händen und betrachtete meine ausgelatschten Chucks.

Keine Ahnung, warum ich doch auf Travis’ Angebot, mal an der Grizzly Gas vorbeizuschauen, eingestiegen war. Vielleicht, weil ich nicht noch einen Sonntag zwischen den grellgeblümten Vorhängen und Bettüberwürfen des Motelzimmers verbringen wollte. In der Gegenwart von Gonzalez, der sich endgültig zum Herrscher über die Fernbedienung erklärt hatte, auf seinem Bett zwischen siffigen Klamotten herumgammelte und die Raumluft mit abartigen Chipssorten, Dr Pepper und deren fatalen Auswirkungen auf seine Verdauung verpestete.

Travis jedenfalls hatte sich ehrlich gefreut, als ich unter dem Gebimmel der Türglocke hereinschneite, und sein Onkel Mason, ein Kerl wie ein Stahlschrank, hatte mich begrüßt wie den verlorenen Sohn. Lachend hatte er mir mit einer seiner schaufelähnlichen Hände die Rechte zerquetscht, während er mir mit der anderen so fest auf die Schulter schlug, dass mir kurz die Knie wegknickten.

Ich beobachtete den regelmäßigen Strom an Autos, der die Hauptstraße hinauf und hinunter floss, während die Bürgersteige leer gefegt waren.

»Ist ja nicht besonders viel los hier.«

»Das täuscht«, widersprach Travis zwischen zwei Schlucken Cola. »Ist gerade das Mittagsloch. Heute Morgen hatten wir schon gut zu tun, und gegen Abend wird’s auch wieder mehr. Tagestouristen und Wochenendausflügler, die nach Hause zurückfahren. Im Sommer ist hier von früh bis spät die Hölle los.«

Ich musste grinsen. »Ne, ich meinte in Mariposa. Was stellt ihr hier abends denn so an?«

»Abends?«

Wie Travis die Brauen zusammenzog, hatte etwas Ratloses.

»Also, ich geh immer ins Golden Nugget. Kennst du ja schon. Manchmal auf einen Burger oder eine Pizza zu Eugene. Auf dem Parkplatz davor ist Freitag und Samstag Party. Vor dem Liquor Store. Da stehen alle mit den Autos, Scheiben runtergefahren, Anlage aufgedreht, und trinken was.«

»Klingt gut«, sagte ich hoffnungsvoll.

»Na ja.« Travis schien neben mir zu schrumpfen. »Ich geh da nie hin. Sind alles Kids von der Highschool oder schon Ältere, die vorglühen, bevor sie in irgendeinen Club nach Merced fahren. Davon kenne ich keinen so richtig.«

»Auch die Schule geschmissen?«

In einem Aufwallen von Sympathie hob ich meine Flasche, zum Anstoßen unter Gleichgesinnten.

»Hä?« Travis Kopf ruckte hoch. »Nenee. Hab den Abschluss seit diesem Sommer in der Tasche. Aber ich will auf kein College. Ich will hier nicht weg.«

Die Flasche, die ich eben ansetzen wollte, verharrte auf halbem Weg in der Luft.

»Warum das denn?!«

Travis sah mich verdutzt an.

»Wieso nicht? Mir gefällt’s hier. Ist ja nicht nur der Tankstellenjob. Wir machen manchmal auch Abschleppdienst und Autoreparaturen. Hab ich Spaß dran und ist gut verdientes Geld.«

Ich schüttelte den Kopf und kippte den Rest Cola hinunter.

»Wenn ich frei hab, geh ich im Park klettern oder so mal in den Wald. Manchmal auch angeln.«

Jetzt war es an mir, Travis verdutzt anzugucken. »Wozu?«

»Weil’s cool ist. Kannst ja mal mitkommen.«

Er stand auf und streckte die Hand nach meiner leeren Flasche aus.

»Willst du noch eine?«

Ich nickte und kramte in meiner Hosentasche herum, aber Travis winkte ab.

»Lass stecken. Geht aufs Haus.«

»Danke«, murmelte ich möglichst lässig, wie nebenbei.

Die paar Kröten, die ich für den Community Service bekam, waren dazu gedacht, mich an den Tagen, an denen ich nicht im Park aß, selbst zu versorgen, Kleingeld für Waschmaschine und Trockner im Wisteria Arbors mit eingerechnet. Im winzigen Lebensmittelkramladen des Yosemite Village bekam ich zwar zehn Prozent Rabatt, aber das galt blöderweise nicht für Zigaretten; ich war froh um jeden Dollar, der übrig blieb.

»In Mariposa ist mehr los, als du denkst. Wirst sehen«, warf Travis mir grinsend zu, bevor er um die Ecke verschwand.

Das Brausen der vorüberfahrenden Autos verdichtete sich zu einer Melodie in meinem Kopf; lautlos sang ich sie mit. Ein Rhythmus schob sich darunter und pulsierte durch meine Adern. Sachte nickte ich mit dem Kopf dazu, trommelte mit den Fingern auf den Betonabsatz und wippte mit den Knien.

In meinen Oberschenkeln zwickte es; ächzend stemmte ich mich in die Höhe, schüttelte die Beine aus und streckte meine schmerzenden Muskeln. Ich hatte mich immer für ziemlich trainiert gehalten, aber der Dienst im Park schaffte mich.

In der ersten Woche dachte ich noch, ich hätte es ganz gut erwischt. Besser als Suarez, Mickelson und Carney, die im Park wohnten und morgens um sieben damit anfingen, im Visitor Center Toiletten zu putzen und Böden zu wischen. Inzwischen beneidete ich sie fast, wenn sie in unserer Runde erzählten, was sie die Woche über so gemacht hatten und wie es ihnen damit ging.

Ich bohrte die Fäuste in die Taschen meiner verratzten Jeans und kickte gegen das Fundament der Tankstelle.

Auch so eine Plage: samstags genauso früh aufstehen und in den Park fahren zu müssen wie unter der Woche, um mit den anderen und den Betreuern im Kreis zu sitzen und zu reden.

Reden.

Was für ein Bullshit.

Das große Los hatte eindeutig Washington gezogen, der im Deli des Yosemite Village Vollkornbrot, Truthahn und Käse zu Sandwiches stapelte und die Regale mit Schokolade und Müsliriegeln auffüllte; dabei war er hier, weil er den Neuen seiner Ex beinahe ins Koma geprügelt hatte. Während der Waldschrat Gonzalez und mich triezte, wo er konnte, uns das Unterholz nach jedem noch so winzigen Fitzelchen Plastik oder Alu absuchen ließ. Bis ich nach dem Abendessen im Park durchgeschwitzt und auf allen vieren zu Woodgates SUV kroch; ein paar Mal war ich während der Rückfahrt sogar eingenickt.

Die Sonne, so viel gleißender als zu Hause, knallte vom klarblauen Himmel herunter und brannte mir im Gesicht. Ich blinzelte über die Straße hinweg, zu den fahlbraunen Hügeln hinüber, mit Strauchbüscheln übersät wie Aknepusteln. Dahinter – Meilen und Abermeilen nichts als Wälder und Felsen und Berge. Ungezähmte, unbezähmbare Wildnis.

Ich kapierte nicht, warum Travis hier nicht wegwollte. Aus dieser Einöde, in der sogar die Kids zu schlafmützig für irgendwelche Action waren und die Luft glatt und scharf, wie poliertes Glas.

Ohne den Staub, der L. A. in goldenes Licht tauchte, die großspurige Geometrie der Stadt zum Strahlen brachte und ihre Kanten schliff. Ohne die beißende, aufputschende Droge aus Autoabgasen, heißem Asphalt und dem Chlor der Swimmingpools.

Ich war auf Entzug.

Ein bulliger Wagen in Matschbraun, mehr Panzer als Pick-up, fuhr von der Straße ab und schaukelte unter asthmatischem Motorgeröchel auf die Tankstelle zu.

Ich schlenderte um die Ecke. Der Dodge hatte mindestens zwanzig Jahre auf seinem rostgesprenkelten, von Schrammen und Beulen vernarbten Buckel, wenn nicht mehr. Eine Frau stieg aus, ihr langer Zopf in derselben krassen Farbe wie Breannas Haare nach einem missglückten Experiment mit stechend riechenden Flüssigkeiten.

Wie die vertrocknete Schale einer Orange.

Etwas Sonderbares ging von ihr aus, selbst für einen Ort wie Mariposa, etwas, das ich nicht richtig greifen konnte. Vielleicht, weil sie in ihrem langen Rock und dem übergroßen Strickpulli zu zerbrechlich wirkte, um mit so einer schwerfälligen Karre klarzukommen. Blass war sie, fast durchscheinend, aber wie sie sich die Zapfpistole griff und damit hantierte, hatte etwas Zupackendes, Zähes. Durch das offene Seitenfenster unterhielt sie sich lebhaft mit dem Beifahrer, den ich nicht sehen konnte, weil die Frontscheibe spiegelte. Was unter dem Surren der Zapfsäule von ihrer Stimme zu mir herüberdrang, klang nach Silber und Kristall.

Energisch hängte sie die Zapfpistole ein und schraubte den Tankdeckel zu; genauso energisch marschierte sie auf das Tankstellenhäuschen zu, kramte dabei in ihrer quer umgehängten Stofftasche und die Beifahrertür ging auf.

Feuer. Haare wie Feuer.

Einen Geschmack von Rauch und Asche auf der Zunge, starrte ich das Mädchen an, das sich neben der Zapfsäule bückte und wieder aufrichtete, dann versteinerte. Und zurückstarrte.

Fast unheimlich war die Ähnlichkeit zwischen ihr und der Fahrerin des Dodge. Wie ein und dieselbe Person, einmal in noch frischen, kräftigen Farben, einmal über die Jahre ausgeblichen und abgeschmirgelt; Mutter und Tochter, eindeutig.

Travis bewegte sich in mein Gesichtsfeld, rief mir aufgekratzt etwas zu.

Onkel … Abend … Macaroni and cheese … Lieber Chili?

Mehr kam nicht bei mir an. In meinen Ohren rauschte es; es fauchte wie der heiße Santa-Ana-Wind an der Küste.

Was auch immer sich gerade bei mir ausgeklinkt hatte – als Travis sich neben mich stellte und mir mit einem Ellenbogenstoß eine Cola hinhielt, schnappte es zurück.

»Du tropfst!«, rief ich dem Mädchen zu.

Mit einem Kopfrucken wies ich auf den triefenden Fensterwischer in ihrer Hand.

Ein nasser Fleck hatte sich auf ihrem Rock ausgebreitet; Wasser perlte von ihren Schuhspitzen und sammelte sich in einer kleinen Pfütze.

Mein Lachen hallte grell in meinem Kopf wider, machte mir ein flaues Gefühl im Bauch.

In ihrem Gesicht flammte es auf. Tropfen spritzten umher, als sie hastig mit dem Wischer zu hantieren begann, das Wasser aus dem Schwamm über die Frontscheibe schwappte, sie mit dem Abzieher die Überreste zerplatzter Mücken und Fliegen nur noch fester gegen das Glas presste.

»Ist das nicht eigentlich dein Job?«

Travis verzog das Gesicht und öffnete zischend seine Cola.

»Nicht bei denen. Die haben’s lieber, wenn man Abstand hält.«

Das Mädchen pfefferte den Wischer zurück in den Eimer und sprang hinter die spiegelnde Scheibe. Scheppernd schlug die Tür hinter ihr zu.

»Die?«, kam es als lahmes Echo von mir.

Über seine Cola hinweg zwinkerte Travis mir zu.

»Eins der Geheimnisse von Mariposa.«

Stumm sah ich zu, wie die Frau mit dem orangegelben Zopf wieder in ihren Wagen stieg. Der Anlasser jaulte auf; hustend sprang der Motor an und unter Gerassel rollte der Dodge auf die Straße zu.

Travis stupste mich an. »Und – isst du jetzt heute Abend mit uns?«

»Klar«, murmelte ich.

Der Dodge fädelte sich in eine Lücke im Verkehr ein und gab röhrend Gas. Im Sonnenlicht blitzte die Scheibe auf der Beifahrerseite klar auf; dahinter schimmerte ein blasses Gesicht. Ein Paar Augen, die meine festhielten und dann wieder in der Spiegelung verloschen.

»Lieber Mac and cheese oder doch Chili?«

Wie das Intro eines Songs, das einem unaufhörlich im Kopf herumspukt.

Nur ein paar Beats, ein Gitarrenriff.

Ohne dass man es greifen könnte.

So fühlte es sich an, als ich dem Dodge hinterherschaute.

5Nessa

»Arme Lissa«, murmelte ich, als ich neben Hayden in die ruhige, von hohen Bäumen gesäumte 10th Street einbog, viel später, als wir eigentlich vorgehabt hatten.

Gleich nach dem Frühstück hatte Lissa sich in der Küche übergeben, und während Lantana sie mit einer Wärmflasche ins Bett steckte und tröstete, ich sauber machte und Ma Kräutertee mischte und aufbrühte, hatte Hayden Mitch abzulenken versucht, dessen Gesicht ebenfalls schon eine grünliche Färbung angenommen hatte. Bis wir endlich loskamen, war es schon fast Mittag.

»Spätestens in ein paar Tagen hat sie’s überstanden. Uns ging es früher doch auch nicht anders.«

Ich wusste, dass Hayden recht hatte; trotzdem hatte es mir wehgetan, Lissa so leiden und kläglich weinen zu sehen.

Ich erinnerte mich noch gut an das Reißen in meinem Bauch. An die Wellen von Übelkeit, die mich als Kind irgendwann in den ersten Wochen des Herbstes immer wieder fortspülten. Bis mein Magen gelernt hatte, die Umstellung von unserer Kost den Sommer über auf die des Winters zu verkraften. Ein Preis, den wir für unsere Art zu leben zahlten.

Fast über Nacht hatten sich die ersten Blätter von mattem Grün zu Bernstein gefärbt. Nicht mehr lange, und die Laubwälder hier im Tal würden feurig golden und rot leuchten, bevor das Farbenspiel verglühte, dumpfes Braun und Grau übrig blieb, das dunkle Oliv der Nadelbäume und borstiger, immergrüner Sträucher.

Meine Schritte verlangsamten sich.

»Ich … ich glaube, ich warte draußen auf dich.«

Abrupt blieb Hayden stehen.

Eines unserer festen, unverrückbaren Rituale in jedem Herbst: die Plastikkarten mit unseren Namen und einer langen Nummer aus der Schublade zu holen und in die County Library zu gehen. Früher mit Ma, die mit uns die Bücher aussuchte, seit letztem Jahr allein.

Seine Augen wanderten zwischen mir und dem verwinkelten weißen Gebäude unter schiefergrauem Dach hin und her.

»Warum?«

Ich zuckte mit den Schultern.

»Wir haben so viele Bücher zu Hause, die ich noch nicht gelesen habe.«

Bücher, von vorigen Generationen sorgfältig zusammengetragen und wie ein Schatz gehütet, als es noch keine County Library gab; Ma erzählte oft voller Stolz, dass sie die Erste von uns gewesen war, die als Kind einen Büchereiausweis besessen hatte. Nach all den Sommern in einem verlassenen, ungelüfteten Haus mürbe und muffig gewordene Bücher, ihr Inhalt zu verstaubt, als dass sie noch einen Reiz auf mich ausübten.

Ich konnte Hayden kaum in die Augen schauen.

Sein Blick unter gerunzelter Stirn hatte etwas Bohrendes, flackerte dabei jedoch unruhig, fast unsicher.

»Und was willst du solange machen?«

Ich lächelte und blinzelte in den blauen Himmel.

»Mich an der Sonne freuen.«

Das wenigstens war die Wahrheit; zumindest so dicht dran, soweit ich mich momentan selbst noch verstehen konnte.

Wie Hayden den Schwerpunkt von einem seiner langen, dünnen Beine auf das andere verlagerte, verriet seine Zerrissenheit.

»In Ordnung«, gab er zögerlich von sich.

»Du brauchst dich auch nicht zu beeilen«, warf ich ihm schnell hinterher, als er sich umdrehte und auf das säulengestützte Vordach zuging. »Vielleicht komme ich noch nach!«

Er nickte nur, den Blick gesenkt, wie enttäuscht, sein sonst gemächlicher Schlenderschritt jedoch plötzlich zielstrebig, beinahe schwerelos.

Mit einem sanften Klicken schnappte die Glastür hinter ihm zu.

Den Kopf in den Nacken gelegt, schloss ich die Augen, beobachtete die schillernden Kreise, die das warme Sonnenlicht über die Innenseite meiner Lider tanzen ließ wie Seifenblasen.

Ich versuchte, mir den Sommer vorzustellen.

Einen reinen, echten Sommer. Nicht den schon kupfern gefärbten Nachglanz an der Schwelle zum Herbst.

Einen Himmel, so blau wie jetzt, oder noch blauer. Eine Sonne, die heiß herunterbrannte, die Luft zum Glühen brachte und bis weit, weit unter meine Haut drang. Ein kurzes Kleid zu tragen oder vielleicht ein dünnes Hemdchen und Jeans; ich hätte so gerne eine Jeans gehabt. Zu spüren, wie mein Blut sich aufheizte und Schweiß über mein Gesicht, meinen Rücken rann, ohne fürchten zu müssen, dass ich mich dabei überhitzte.

Barfuß über warme Erde zu springen. Durch Gras zu laufen. In einem See schwimmen zu gehen. Laue, balsamische Nächte in sanftem Sternenglanz und milden Sommerregen.

Etwas davon musste ich in den ersten drei Sommern meines Lebens kennengelernt haben, hier, in Mariposa. Ohne dass ich mich daran erinnern konnte; ich wusste nur davon, weil Ma mir davon erzählt hatte. Wie ein auswendig gelerntes Wort für etwas, das man nie gesehen, nie erlebt hat.

Meine Sommer bestanden aus einem Geschmack überwältigender Süße, manchmal ein bisschen krautig. Einem schwindelerregenden Farbenrausch, der mich in den ersten Tagen danach alles fahl und blass sehen ließ, bis meine Augen wieder feinere Nuancen wahrnahmen. Aus einem absoluten, vollkommenen Gefühl der Freiheit, an dessen Rändern immer eine Ahnung von Gefahr sirrte.

Das war alles, woran ich mich jedes Jahr im Herbst noch erinnerte.

Ein Brummen näherte sich, machte unmittelbar vor mir halt und erstarb, und ich öffnete die Augen.

Zwei Bücher in der Hand, stieg ein Mann aus dem Auto, das er auf dem Parkplatz abgestellt hatte. Während er auf seinen Schlüssel drückte und die Türen unter einem elektronischen Tschilpen verriegelte, musterte er mich mit hochgezogenen Brauen; nicht herablassend, aber belustigt.

»Schönes Wetter heute, nicht?«

Ich deutete ein Nicken an und flüchtete, die Straße hinunter. Erst als ich die County Library hinter mir gelassen hatte und um die Ecke gebogen war, ging ich langsamer.

Hübsche Häuser gab es hier, entweder noch neu oder gut gepflegt. Licht und freundlich sahen sie aus, nicht nur durch ihren weißen oder zartgelben Anstrich. So viel Raum, so viel Luft umgab jedes dieser Häuser; trotz der hohen Bäume, der Sträucher in den großen Gärten lagen sie offen zur Straße hin.

Als hätten ihre Bewohner nichts zu verbergen.

Ich reckte den Hals, um vielleicht durch ein geöffnetes Fenster oder eine Tür einen Blick hineinzuwerfen. Herauszufinden, ob es darin so aussah wie in den Magazinen, die in der Bücherei auslagen.

Zu spät bemerkte ich die Frau, die auf der Veranda eines der Häuser mit ihren Topfpflanzen beschäftigt war und zu mir herüberschaute. Sie richtete sich auf, strich sich mit dem Handrücken eine Haarsträhne aus der Stirn und nickte mir schließlich zu. Freundlich, aber auch mit einer gewissen Scheu.

Ein Teil von mir wollte möglichst unauffällig weitergehen, ein anderer umkehren. Ihrem neugierigen Blick entfliehen. Mich unsichtbar machen.

Hin- und hergerissen zwischen zwei entgegengesetzten Richtungen stolperte ich über meine eigenen Füße, konnte mich gerade noch fangen.

»Alles okay bei dir, Sweetie?«

»Ja. Alles in Ordnung. Danke.«

Nichts war in Ordnung.

Nicht nur, dass ich mit meinen brandroten Haaren auf eine Meile Entfernung als eine von uns gezeichnet war – ich hatte dazu noch das unglaubliche Talent, ständig unangenehm aufzufallen.

Mich zum Gespött zu machen.

Ich floh, in Richtung des einzigen Ortes, der mir außer unserem Zuhause Sicherheit versprach.

Zwischen den Bücherregalen der County Library konnte ich unsichtbar sein. Ausblenden, dass wir anders waren. Dort waren wir einfach nur eine lesehungrige Familie, die ausgeliehene Bücher immer pünktlich zurückgab und die man nie ermahnen musste, leise zu sein.

»Hi?« Eine tiefe Stimme, erstaunt, fast fragend.

Ich lief unbeirrt weiter, ich konnte nicht gemeint sein, ich kannte hier niemanden.

»Hey, warte! Warte doch mal! Ich will dich was fragen!«

Mitten im nächsten Schritt fror ich ein.

Du tropfst!

Meine Wangen wurden heiß. Ich war mir nicht sicher, noch nicht einmal, ob ich es wirklich wissen wollte, trotzdem drehte ich mich langsam um.

»Ich weiß nicht, ob du dich erinnerst – wir haben uns an der Grizzly Gas gesehen. Letzte Woche.«

Wie hätte ich das vergessen können.

Diese Augen, selbst im Rauch des brennenden Walds noch leuchtend blau, die an der Tankstelle jedoch zugefrorene Seen gewesen waren.

Offen blickten sie jetzt, wie der Himmel über mir, aber ich traute diesem Jungen nicht über den Weg.

Ich senkte den Kopf und ließ die Bündchen meiner grünen Kapuzenjacke weiter über meine Hände rutschen, ballte sie zu Fäusten. Wappnete mich gegen eine weitere spöttelnde Bemerkung, einen erneuten Ausbruch hässlichen Gelächters, bereit, ihm im nächsten Augenblick den Rücken zuzukehren und wegzugehen.

Die Sohlen meiner Stiefel waren wie mit dem Asphalt verschmolzen.

»Geht’s da zur County Library?«

Ein paar zusammengerollte Blätter in der kräftigen Hand, wies er hinter mich.

Ich nickte.

»Vielleicht weißt du das zufällig … Die kostenlosen Internet-Terminals dort – kann ich da einfach so dran?«

Ich schüttelte den Kopf.

Obwohl Mrs Applewhite früher, als wir noch klein gewesen waren, Hayden und mir Lollys aus dem bauchigen Glas auf ihrem Schreibtisch zugesteckt hatte, wenn Ma gerade nicht hinschaute, und uns dabei durch ihre dicke Brille hindurch zuzwinkerte, hielt sie sich streng an ihre eigenen Vorschriften. Und Ma unterschrieb Hayden und mir das Formular nicht, darin blieb sie hart.

»Verdammt.«

Mit der Papierrolle klopfte er ungeduldig gegen sein Bein; durch den ausgefransten Riss in seiner Jeans konnte ich eine starke Kniescheibe erkennen und ein Stück Oberschenkelmuskel.

Mühselig trug ich im Geiste Wort für Wort zusammen, bis ich endlich den Mund aufbekam.

»Du brauchst einen Büchereiausweis. Den kannst du dir dort umsonst machen lassen und dann die Terminals nutzen. Solange du noch keine achtzehn bist, brauchst du dafür aber die schriftliche Genehmigung deiner Eltern.«

Steif und langweilig hörte ich mich an, als ob ich eines der Informationsblätter der Bücherei vorlas.

»Ach so. Okay.« Ein erleichtertes Grinsen blitzte aus seiner Stimme hervor.

Eine volle Stimme war es, tief vibrierend und weich, mit gerade so viel an Kantigkeit, dass sie nicht allzu soft klang. Von weit unten aus seinem Brustkasten strömte sie herauf, an dem das fadenscheinige graue T-Shirt breite Schultern und kompakte Muskeln nachzeichnete; der ausgeleierte Ausschnitt ließ massive Schlüsselbeine sehen, einen starken Hals.

Den Kopf schräg gelegt, blickte er zu mir herunter, und so etwas wie ein Lächeln kräuselte seinen Mund.

»Du musst nicht zufällig auch in diese Richtung?«

Ich schüttelte wieder den Kopf, heftiger dieses Mal.

»Verrätst du mir noch, wie du heißt?«

Nessa.

Ich musste es zu leise gesagt, vielleicht auch nur gedacht haben, denn mit gerunzelter Stirn umfasste er eine seiner Ohrmuscheln.

»Wie?«

In seinen Augen funkelte es, und unwillkürlich bogen sich meine Mundwinkel aufwärts.

»Nessa«, wisperte ich.

»Jake.«

Laute, die die Widersprüche seines Gesichts einfingen und spiegelten. Die schwere Kinnlinie, die weit auseinanderstehenden, hohen Wangenknochen, an denen jedoch nichts Scharfes war. Und dagegen seine gerade, ein bisschen zu lange und spitze Nase, die ihm etwas Freches gab. Wie sein flacher Mund, der fein gezeichnet war, aber hart wirkte, selbst wenn ein Lächeln ihn umspielte.

Ein Widerspruch, der sich wiederholte, als er, der kraftstrotzend mit beiden Beinen fest auf der Erde stand wie eine Eiche, eine Hand in der Jeanstasche vergrub und die entsprechende Schulter hochzog.

»Ich hab das Wochenende frei. Du hast nicht irgendwann mal Lust auf einen Kaffee oder so?«

Ich starrte ihn nur an; das war das Letzte, womit ich gerechnet hätte. Ich wusste nicht, was ich darauf sagen sollte. Sagen wollte.

»Nessa.«

Ich fuhr herum.

Eine von den Kanten und Ecken der Bücher ausgebeulte Stofftasche über der Schulter, hielt Hayden weitere Bücher in der Armbeuge an sich gedrückt, unter zusammengezogenen Brauen unverhohlene Missbilligung im Blick.

»Morgen«, flüsterte ich Jake rasch zu. »Vor dem Sugar Pine Café. Um zehn.«

Hayden stellte sich dicht hinter mich, legte mir eine Hand auf die Schulter; zum ersten Mal in meinem Leben empfand ich Widerwillen bei einer Berührung von ihm.

»Hi«, ließ Jake betont locker fallen.

Seine Augen wanderten zwischen Hayden und mir hin und her.

Eine greifbare, giftig zischelnde Spannung lag zwischen den beiden in der Luft. Unwillkürlich duckte ich mich.

»Wir müssen gehen«, sagte Hayden.

Unter dem Druck seiner Hand setzte ich mich in Bewegung.

»Bis dann?«, hörte ich Jakes Stimme; er klang irritiert.

Ich traute mich nicht, mich nach ihm umzudrehen.

»Da, hab ich dir mitgebracht.« Schroff hielt mir Hayden den kleinen Bücherstapel hin.

»Danke.«

Ich presste die Bücher vor meine Brust, aber in Wirklichkeit drückte ich etwas anderes wie einen Schatz an mich.

Jake.

Sugar Pine Café. Morgen.

Wortlos bog Hayden in die Bullion Street ein, schweigend trottete ich neben ihm her. Immer wieder schielte ich zu ihm hinauf. Nur langsam wich die Verärgerung auf seinem Gesicht einem grüblerischen Ausdruck.

»Hayden …«, begann ich zaghaft.

»Ich glaube nicht, dass ich dazu etwas zu sagen brauche«, fiel er mir schneidend ins Wort.

Nein. Ich kannte die Regeln.

Von denen die oberste, die wichtigste war, Fremde nicht zu nahe kommen zu lassen.

Unser Geheimnis zu bewahren.

6Jake

»Bye, Eugene«, rief Travis, als er die Tür des Diners aufschob.