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Elf Jahre nach der Unabhängigkeit Algeriens schwelt es an der Côte d’Azur. Bei Teilen der Marseiller Polizei gehört Rassismus zum guten Ton. Der Mord an einem französischen Busfahrer wirkt wie ein Signal zur Eskalation, Scharfmacher schüren die Pogromstimmung, ein Junge wird auf offener Straße niedergemäht. Man ermittelt halbherzig und schlampig – bis Commissaire Daquin auf den Plan tritt. Doch er ist kein Marseiller …
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Seitenzahl: 450
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Dominique Manotti
MARSEILLE.73
Aus dem Französischen von Iris Konopik
Ariadne 1247
Argument Verlag
www.argument.de
Titel der französischen Originalausgabe: Marseille 73
© Éditions Les Arènes, Paris, 2020
Deutsche Erstausgabe
Alle Rechte vorbehalten
© Argument Verlag 2020
Glashüttenstraße 28, 20357 Hamburg
Telefon 040/4018000 – Fax 040/40180020
www.argument.de
Umschlag: Martin Grundmann, unter Verwendung einer alten Postkarte
Lektorat: Else Laudan
ISBN (Buch) 978-3-86754-247-0
ISBN (Epub) 978-3-86754-836-6
ISBN (Mobi) 978-3-86754-837-3
Willkommen zu einem Abstecher in die Geschichte des Rassismus. Während die Côte d’Azur in der Sommersonne glitzert, das Werftgelände in La Ciotat vom Arbeitslärm widerhallt, der Duft von Couscous durch die Gassen von Marseille zieht und im alten Hafen versenkte Leichen auftauchen, liegt die militante Kolonialpolitik Frankreichs kaum mehr als ein Jahrzehnt zurück. Pieds-Noirs, Algerienheimkehrer, finden sich in allen Strukturen der Stadt und reiben sich an der Anwesenheit maghrebinischer Arbeitskräfte. In der Polizeizentrale Évêché tobt ein Kleinkrieg zwischen den Etagen, chauvinistische Seilschaften mauscheln und verwalten ihre Pfründe. Doch auch die Gegenseite schläft nicht …
Commissaire Théo Daquin ist der lange Arm Dominique Manottis, mit ihm greift sie in die Vergangenheit und knöpft sich die Gemengelage vor, die in Frankreich den radikalen Nationalismus zur Blüte trieb. Im Spannungsfeld schwelender sozialer Konflikte, selbsternannter Scharfrichter und mehr oder weniger subtil hetzender Medien muss Daquin mit seinen Inspecteurs alle Register ziehen, um die Wahrheit ans Licht zu bringen. Der politisierten Leserin drängen sich bei der Lektüre Parallelen zu Ermittlungspannen um die NSU-Morde auf, und das ist nicht die einzige schmerzhafte Aktualität in diesem historischen Roman policier. Manotti erweckt die sich bekriegenden Interessen zum Leben, gießt sie in Figuren, deren Treiben und Streben sich zu einem fesselnden Ermittlungsthriller fügt, zutiefst noir, hochpolitisch und so rasant wie sinnlich. Großes Kino. Else Laudan
Ein Personenverzeichnis sowie eine Erläuterung zur Organisation der Marseiller Polizei 1973 hat Dominique Manotti diesem Roman nachgestellt. Wir haben für deutsche Leser*innen ein Glossar mit Begriffen, Organisationen und Abkürzungen ergänzt (im Text fett markiert).
1973. Grasse, reizendes provenzalisches Städtchen mit seinen Blumen, seinen Düften, seinen dreißigtausend Einwohnern und knapp tausend zugewanderten Arbeitskräften, häufig aus Tunesien, Landarbeiter, Bauarbeiter, allesamt Schwarzarbeiter.
Im Herbst 1972 beschließt die französische Regierung, die migrantische Bevölkerung strenger zu kontrollieren als bisher. Der Runderlass Marcellin-Fontanet verlangt, dass Einwanderer, die sich in Frankreich niederlassen wollen oder dort bereits ansässig sind, einen Arbeitsvertrag und eine »anständige« Wohnung vorweisen müssen, ehe sie eine Aufenthaltserlaubnis erhalten und so »legalisiert« werden. Damit wechseln 86 Prozent der Immigranten in Frankreich von der Rubrik »Schwarzarbeiter« in die Rubrik »illegale Arbeitskräfte« und bilden von einem Tag auf den anderen eine neue Kategorie, die der »Sans-Papiers«, der »Illegalen«: ab Sommer ’73 Abschiebekandidaten.
Als der Termin näherrückt, an dem das Gesetz in Kraft treten soll, wirft sich die nationalistische rechtsextreme Bewegung Ordre nouveau in die Bresche, die die Regierung geschlagen hat, und lanciert am 9. Juni 1973 die landesweite Kampagne »Stoppt die wilde Einwanderung«.
In Grasse wie andernorts fühlen sich die eingewanderten Arbeiter bedroht. Sie haben weder Arbeitsvertrag noch anständige Unterkunft. Am 11. Juni 1973 halten sie in der Altstadt, wo viele von ihnen in Bruchbuden leben, eine Versammlung unter freiem Himmel ab und beschließen, am nächsten Tag für Arbeitsverträge und anständige Unterkünfte zu streiken. Über Nacht bedecken sich die Mauern der Stadt mit Schwarzweißplakaten, der Slogan »Stoppt die wilde Einwanderung« trägt den Stempel des Ordre nouveau.
Viele folgen dem Streikaufruf für den 12. Juni, zwei- bis dreihundert Streikende versammeln sich am Morgen vor dem Rathaus von Grasse. Sie verlangen, dass der Bürgermeister eine Delegation empfängt, die ihm ihre Forderungen vortragen soll.
Statt die Delegation zu empfangen, ruft der Bürgermeister die Feuerwehr, lässt die Arbeiter mit Wasserwerfern auseinandertreiben und fordert zur Verstärkung die Bereitschaftspolizei CRS (Compagnies Républicaines de Sécurité) an.
Am Nachmittag schlendern Gruppen von Streikenden durch die Altstadt, wo viele von ihnen wohnen, und diskutieren. Gegen 16 Uhr gehen die CRS-Truppen mit Schlagstöcken heftig gegen sie vor, die Handwerker und Händler von Grasse bewaffnen sich mit Knüppeln und schließen sich den CRS an. Die Jagd auf Immigranten bis in die Häuser hinein dauert den ganzen Abend und einen Teil der Nacht. Bilanz: fünf Schwerverletzte, zweihundert Verhaftungen.
Am nächsten Tag gründen die Einwohner von Grasse ein »Wachsamkeitskomitee der Händler und Handwerker«, dessen erklärtes Ziel lautet: »die tausende Müßiggänger loswerden, die dem guten Ruf der Stadt schaden«.
Der Bürgermeister (ein Politiker der Mitte) verkündet der einberufenen Presse: »Diese Demonstrationen von Immigranten sind absolut skandalös und stören die öffentliche Ordnung. Es ist nicht minder skandalös, dass sie nicht mit größerer Härte niedergeschlagen werden.« Er fügt hinzu: »Es ist wirklich unerträglich, wissen Sie, so von ihnen überschwemmt zu sein.«
L’Express, seinerzeit das wichtigste überregionale Nachrichtenmagazin, berichtet über die Ereignisse unter dem Titel: »Die Hexen von Grasse. Etwas Folgenschweres ist im Entstehen begriffen, und es trägt einen Namen: Rassismus.«
Freier Tag für Commissaire Théodore Daquin. Sein erster seit Anfang August. Als jüngstem Commissaire und letztem Neuzugang in der Brigade Criminelle, der Einheit für Schwerverbrechen, hat man ihm während der Urlaubszeit, zwischen dem Weggang des alten Chefs, der Ende Juli wegen Inkompetenz gefeuert wurde, und der für den 20. August geplanten Ankunft des neuen Chefs, die Leitung des Bereitschaftsdiensts aufgebrummt. Er arbeitet im Tandem mit Inspecteur Principal Michel, einem alten Hasen, der schon mit einem Bein im Ruhestand ist. Eintönige Arbeit zwischen einer halbkomatösen Behörde und einer Stadt unter Spannung.
Er hat es sich in einem Liegestuhl auf seinem Balkon bequem gemacht, mit einer Tasse Espresso und einem guten Buch, Der Tag der Eule von Sciascia. Palermo-Marseille, Parallelen, Unterschiede. Noch nicht die große Hitze, der Vieux-Port zu seinen Füßen, Notre-Dame-de-la-Garde gegenüber, weiß vor einem riesigen blauen Himmel. Lass los, vergiss die Stadt am Rande des Nervenzusammenbruchs, genieß den Augenblick.
Telefonklingeln. Er steht knurrend auf, hebt ab.
»Théo?« Die Stimme von Vincent.
»Bist du schon aus dem Urlaub zurück?«
»Ja. Meine Kanzlei hat mich gestern Abend angerufen, Schlägerei mit Schusswechsel zwischen Kleinganoven, ein Toter, eine schöne Gelegenheit, mich zu bewähren, meine Karriere wird durchstarten, wenn ich erfolgreich bin. Ich habe mich verführen lassen und bin gestern Nacht zurückgekommen. Lädst du mich für heute Abend zu dir zum Essen ein?«
»Einverstanden, aber es gibt Vorratskost, ich improvisiere mit dem, was ich dahabe, ich habe absolut keine Lust, einkaufen zu gehen.«
»Das wird perfekt, wie immer. Ich muss Schluss machen, ich hab zu tun, bis heute Abend.«
Daquin legt auf. Vincent, ehemaliger Kommilitone von der Pariser Jurafakultät, in den Jahren, als ihre Generation den Sittenaufstand probte und einige, darunter Daquin, Vincent, viele ihrer Freunde, das Glück entdeckten, zu ihrer Homosexualität zu stehen. Nicht an der Jurafakultät, zu traditionalistisch als Milieu, aber Paris bot so viele andere Gelegenheiten …
In Marseille sieht das anders aus. Vincent, der im Begriff ist, sich als Anwalt in einer auf die Verteidigung von Gangstern spezialisierten großen Kanzlei der Stadt zu etablieren, ein sicheres und angesehenes Berufsfeld, legt Wert darauf, sich nicht zu kompromittieren, und behandelt ihre Liebesaffäre mit höchster Diskretion. Er hat Daquin lang und breit erklärt, dass ein junger Commissaire von siebenundzwanzig, obendrein Pariser, in Marseille seine Homosexualität nicht öffentlich zeigen, nicht einmal erahnen lassen darf, andernfalls wird er aus der Polizei und der Stadt verstoßen. Deshalb unterhalten die beiden Männer eine heimliche, episodische, lauwarme und bequeme Affäre, während sie auf bessere Zeiten warten. Heute Abend wird er Vincent wiedersehen, er fühlt sich mit einem Mal wie unter Hausarrest. Frustrierend.
Er geht zurück zum Balkon, um wieder in sein Buch abzutauchen. Stopp, Warnlicht. Vincent, auf die Verteidigung von Großgangstern spezialisierte Kanzlei, »gestern Abend Schlägerei, Kleinganoven, ein Toter, schöne Gelegenheit, meine Karriere wird durchstarten«, er selbst hat nichts davon gehört, da ist etwas faul … Neugier. Das ist immerhin mein Job, selbst im August … Er greift nach dem Quotidien de Marseille, der auf dem Couchtisch liegt und den er fest vorhatte nicht zu lesen, blättert darin. Wie es sich für das Wochenende vom 15. August gehört, war gestern nichts los. Oder fast nichts. Auf Seite 2 (bedeutsamer als die Lokalnachrichten auf Seite 5) unter der Überschrift »Zoff in Vallon des Tuves«:
»Auslöser für die Prügelei war eine junge Frau … Es fielen Schüsse … Ein Toter, ein Verletzter … beide gebürtig aus Algerien …«
Vincent und seine Kanzlei sollen sich für diese Geschichte interessieren? Unendlich unwahrscheinlich. Aber dann, in der letzten Zeile des Artikels: »… der Chef der Sûreté ist am Tatort.« Man fährt so schweres Geschütz auf wegen einer Prügelei unter Nordafrikanern um ein Mädchen? Ganz sicher nicht. Steckt also etwas anderes dahinter? Vincents Einsatz bei diesem Fall rückt wieder in den Bereich des Möglichen.
Er ruft Inspecteur Michel an, der die Tagesbereitschaft allein sicherstellt. Ja, er ist über Vallon des Tuves auf dem Laufenden, ja, er hat den Staatsanwalt erreicht, nein, nichts für uns, eine Schlägerei zwischen rivalisierenden Banden mit bösem Ende, der Staatsanwalt und der Chef der Sûreté haben sich darauf geeinigt, die Sûreté mit der Ermittlung zu beauftragen. »Du kannst weiterfaulenzen.«
Unnötig, heute ins Zentralkommissariat im Évêché zu gehen, ich werde nicht mehr in Erfahrung bringen. Vincent wird später nicht widerstehen können zu plaudern, sich wichtig zu machen … Er versenkt sich wieder in die Lektüre vom Tag der Eule.
Vincent kommt gegen Abend, eine Flasche Champagner in der Hand. Die Männer setzen sich auf den Balkon und köpfen die Flasche. Vincent erzählt von seinem Urlaub auf den Balearen, Daquin hört nicht zu, betrachtet ihn. Ein schöner Mann. Er erinnert sich an ihren ersten Sex. Nicht in Paris, sondern in Marseille, das Treffen begann auch da auf dem Balkon bei einer Flasche Champagner. Er spürt wieder die Wonne der ersten Berührung des mageren, starkknochigen Gesichts, des muskulösen Körpers ohne einen Hauch Fett, des hübschen Hinterns. Er weiß, dass diese tief unter den vorstehenden Brauenbögen liegenden blauen Augen grau werden, wenn die Begierde wächst. Daquin liebt das Vergnügen, den Körper wiederzuentdecken, den seine Hand schon gestreichelt hat, die Empfindungen, die ihn zum Beben gebracht haben. Schätze dies Vergnügen nicht gering, Théo. Vergiss nicht, du bist für die Einsamkeit nicht gemacht. Er trinkt den Champagner aus, steht auf.
»Ich koche uns ein Spaghettigericht. Ich brauche eine Viertelstunde.«
»Vor oder nach der Liebe?«
»Dieselbe Frage hast du mir bei unserer ersten Verabredung vor sechs Monaten gestellt …«
»Und du hast geantwortet …«
»Erst die Liebe, dann das Kochen.«
Zwei Stunden später sitzen sie zusammen vor einer Schüssel Spaghetti mit Knoblauch, Piment und Olivenöl. Vincent ist euphorisch.
»Diese Spaghetti, die Krönung eines goldenen Tages.«
»Vallon des Tuves lässt sich gut an?«
Vincent schreckt auf. »Der Staatsanwalt sagte, er würde nichts verlautbaren …«
»Gerüchte verbreiten sich schnell im Haus. Aber ich dachte, du interessierst dich nur für die Verbrecherelite.«
»Die Verbrecherelite hat auch Handlanger, die sich in ihrer Freizeit zu Dummheiten hinreißen lassen, und ich wiederum muss mich bewähren.«
Noch ein Glas Côtes-du-Rhône, und Vincent geht etwas mehr aus sich heraus: »Das Schwierigste für mich ist, meinen Klienten zu einem Schuldbekenntnis zu überreden. Die Leute in der Gegend kennen ihn, haben ihn wiedererkannt, ihn schießen sehen, und er besteht darauf, irgendwelchen Unsinn zu erzählen. Wenn er sich vor dem Schwurgericht in Aix schuldig bekennt, erwirke ich mildernde Umstände für ihn. Mein Klient stand drei Arabern gegenüber, als er geschossen hat. Drei Araber auf einem Haufen, das macht Angst, alle Geschworenen werden dem zustimmen. Also Notwehr und Bewährung. Und das wäre eine hervorragende Visitenkarte für meine künftige Karriere.«
Eine Verteidigung, die stinkt und wahrscheinlich funktioniert. »Deine Karriere … Weißt du noch, dass wir dich an der Uni den idealen Schwiegersohn nannten?«
Vincent verzieht das Gesicht, böse Erinnerung an erlittene Schikanen.
»Wir hatten recht. Karrieretechnisch gebe ich dir einen Rat: Verheirate dich. Schleunigst.«
Daquin durchquert das Panier-Viertel und steigt in der herrschenden Hitze hinauf zum Évêché. Seine Inspecteurs kommen heute aus dem Urlaub zurück, und der neue Chef der Brigade Criminelle rückt an. Der Betrieb nimmt wieder Fahrt auf. Er läuft schnell und erreicht den Vorplatz der Kathedrale. Das Meer ist da, sich immer gleich, glitzernd in der Sonne, zudringlich. Es hinterlässt einen scharfen Geschmack auf seinen Lippen. Er wendet sich um. Vor ihm die kantige, massige Silhouette des ehemaligen Bischofspalasts, klassische Architektur, die den Neubau verdeckt, einen Kubus aus Beton und Glas, der zur Vergrößerung des Zentralkommissariats errichtet wurde. Die geordnete, klassische Fassade bildet einen auffallenden Kontrast zur Struktur des Innenraums, einem Labyrinth aus endlosen Fluren, Sackgassen, Treppen, die von einem Gebäude ins andere führen, überall fahles Licht, der Geruch nach schmutzigem Staub. Da ist ein untergründiger Gleichklang zwischen der Anlage der Gebäude und der Architektur der Machtnetzwerke, die darin ansässig sind, haufenweise offizielle, halboffizielle, geheime, mafiöse Gestalten, Garanten einer allgegenwärtigen Macht und Überwachung hinter der Fassade von Polizeiapparaten, die beinahe beruhigend, weil althergebracht sind. Zum ersten Mal sieht Daquin den Évêché als kohärentes Universum.
Genug getrödelt, er nimmt einen tiefen Atemzug und betritt das Gebäude.
Die Teamchefs der Brigade Criminelle sitzen um den Besprechungstisch. Commissaire Principal Percheron betritt den Raum. Mitte vierzig, breite Statur, wenn nicht leicht klobig, fleischiges Gesicht, schwarze Augen, schwarzer Bürstenschnitt. Er setzt sich, stellt sich in aller Kürze vor: »Vor meiner Berufung an die Spitze der Marseiller Brigade Criminelle war ich bei der in Montpellier. Wir hatten ein paar gemeinsame Dossiers, bestimmten Fällen werde ich hier wiederbegegnen.«
Dann kommt er zur Sache. »Ich habe eine großartige Woche mit der Führung der Marseiller Kriminalpolizei verbracht, um mich mit den aktuellen Fallakten vertraut zu machen. Seien wir ehrlich miteinander. Ehrlichkeit innerhalb der Abteilung, untereinander, ist ein wesentlicher Grundsatz, und ich werde ehrlich mit Ihnen sein. Ich bin hier, weil die Brigade Criminelle in der Krise ist. Man muss gar nicht bis zum Frühjahr ’72 zurückgehen mit der Ermordung eines unserer besten Ermittler durch einen immer noch flüchtigen Gangster – die Brigade Criminelle hat gerade das Fiasko im Mordfall Jeremy Cartland in Pélissanne erlebt. Ich will jetzt nicht die ganze Affäre nochmals ausbreiten. Aber ich rufe Ihnen in Erinnerung, wie sie endet: Scotland Yard kreuzt bei uns auf, um die Ermittlung von vorn aufzurollen, unsere Regierung duldet diese Einmischung, und zu guter Letzt spricht die englische Justiz den Cartland-Sohn, unseren mutmaßlichen Täter, frei. Unsere Abteilung wurde in ihren Grundfesten erschüttert. Wir werden unsere Glaubwürdigkeit wiederherstellen, ich vertraue Ihnen, vertrauen Sie mir.«
Daquin, der Percheron gegenübersitzt, stellt fest, dass der Funke nicht überspringt. Er empfindet keine Wesensverwandtschaft, mehr noch, er verspürt spontan tiefes Misstrauen. Es ist immer ein schlechtes Zeichen, wenn ein Chef mit seiner Ehrlichkeit als Kardinaltugend hausieren geht und von seinen Untergebenen Vertrauen einfordert.
Jeder berichtet über den Stand seiner aktuellen Fälle. Dann ergreift Percheron wieder das Wort.
»Vergangene Woche bei unserem Gedankenaustausch hat der Direktor betont, wie wichtig der Susini-Prozess ist, der Anfang 1974 vor dem Schwurgericht von Aix-en-Provence stattfinden soll. Und er hat mich überzeugt. Susini und acht Komplizen sind angeklagt, die Stadt Marseille zwischen 1969 und ’70 mit einer wahren Schwemme schwer bewaffneter Raubüberfälle überflutet zu haben, jedes Mal mit erheblicher Beute. Wir haben in Marseille eine sehr starke Gemeinde von rund einhunderttausend Pieds-Noirs, die Algerien bei Kriegsende, also bereits vor über zehn Jahren, Hals über Kopf verlassen haben und immer noch voll Nostalgie in der Erinnerung leben. Und in dieser Erinnerung spielt Susini eine zentrale Rolle. 1961, gegen Ende des Algerienkrieges, da ist er noch sehr jung, lehnt er es ab, dass Frankreich die algerische Unabhängigkeit anerkennt und damit sein Algerien, Französisch-Algerien, verrät. Er greift zu den Waffen, um es zu verteidigen, gründet mit einigen Gleichgesinnten eine geheime Untergrundorganisation, die OAS, die mit Bombe und Gewehr die Verräter in der französischen Armee und die algerischen Feinde gleichermaßen attackiert. Für die Pieds-Noirs sind sie romantische Helden. Der Algerienkrieg und der Krieg der OAS enden mit einem Blutbad und dem überstürzten Exodus von neunhunderttausend Europäern, aber die Pieds-Noirs, jedenfalls viele von ihnen, nehmen Susini das nicht übel, sie vergessen das Blut und bewahren die Erinnerung an einen gemeinsamen Traum, eine Art herzliche Verbundenheit, Brüderlichkeit, selbst dann noch, als die OAS in Algerien jede Hoffnung aufgeben muss und ihre Attentate und Morde noch jahrelang auf französischem Boden fortsetzt, diesmal gegen die Regierung, die sie verraten hat. Und der Prozess gegen Susini und seine Bande wird vor den Augen der gesamten Pied-Noir-Gemeinde von Marseille stattfinden. Der Direktor hat recht, wir müssen für einen reibungslosen Ablauf sorgen. Inspecteur Benoit und Inspecteur Varin waren an der Verfolgung und Verhaftung der Bande beteiligt, sie kennen das Dossier gut, aus erster Hand. Ich schlage vor, dass wir ihnen die Prozessvorbereitung übertragen …«
Einhellige Zustimmung.
»Wir brauchen einen sehr ruhigen Prozess. Keine Ausschreitungen in der Bevölkerung, Zeugen, die ihre Aussagen gut vorbereitet haben, keine Patzer, und deren persönliche Sicherheit gewährleistet ist. Bei Soldaten auf verlorenem Posten weiß man nie … Hier kann man gern noch eine Schippe drauflegen. Und bei alledem die Presse gut pflegen. Ziel ist, dass jeder versteht: Die Helden sind wir, die wir die Gangster verfolgt, allesamt verhaftet und in der Stadt wieder für Ruhe und Ordnung gesorgt haben, und nicht die Susini-Bande, die ihren Krieg mit einer Serie von bewaffneten Überfällen besiegelt und in Geldgier versinkt. Wir werden Benoit und Varin jede erdenkliche Hilfe angedeihen lassen.«
Meinungsbild, einstimmig angenommen. Percheron macht weiter.
»Noch etwas anderes. Unsere Kollegen von der Regionaldienststelle in Toulon haben uns kontaktiert. Sie überwachen seit einiger Zeit die UFRA … Sind alle im Bilde? Nein? Die ›Vereinigung der französischen Algerienheimkehrer‹, eine Interessenvertretung der Pieds-Noirs, nicht die größte, aber die umtriebigste, mit Sitz im Departement Var und einer ausgeprägten Neigung zur Illegalität. Unseren Kollegen zufolge ist eine bewaffnete Gruppe aus dem UFRA-Umfeld bei einem Notar aufgetaucht und hat mit Waffengewalt die Versteigerung der schuldenhalber beschlagnahmten Habe eines ihrer Mitglieder verhindert. Einen Monat später traten sie erneut in Aktion, um die Zwangsräumung bei einem Pied-Noir-Landwirt zu verhindern, der seine Pacht nicht bezahlt hatte. Unsere Kollegen haben die Gelegenheit genutzt, um ein paar UFRA-Mitglieder wegen unerlaubten Waffenbesitzes zu verhaften, und während der Hausdurchsuchung bei einem von ihnen haben sie einen kompletten kleinen Chemiebaukasten gefunden, mit dem sich eine recht hübsche Bombe basteln lässt. Im aktuellen Kontext, nach den Ereignissen in Grasse und bei dem angespannten Klima in der Region, fürchten unsere Kollegen, dass es auf die eine oder andere Weise knallt. Der Staatsanwalt von Toulon hat entschieden, ein Ermittlungsverfahren einzuleiten. Und die Kollegen haben in den Adressbüchern der verhafteten Personen ein paar Marseiller Adressen gefunden, deshalb bitten sie uns, Verbindung aufzunehmen und Informationen auszutauschen. Ich weiß, dass mein Vorgänger sehr zurückhaltend war, was die Beziehungen zur Dienststelle in Toulon betrifft. Aber mir scheint, dass wir in der aktuellen Situation diese Anfrage nicht übergehen können. Daquin, ich dachte, Sie und Ihr Team könnten sich um dieses Dossier kümmern. Sie nehmen Kontakt auf und wir schauen zusammen, was sich möglicherweise daraus ergibt.«
Vorschlag akzeptiert.
Als die Sitzung beendet ist, nimmt der Chef Daquin mit in sein Büro und übergibt ihm die Kontaktdaten der Touloner Kollegen, bei denen er sich melden soll. In vertraulichem Ton fügt er hinzu: »Um deutlich zu sein. Wir unterstützen unsere Kollegen in Toulon im Rahmen des Ermittlungsverfahrens, das der dortige Staatsanwalt eröffnet hat, aber bis dato gibt es in Marseille keine Ermittlung. Wir müssen umso vorsichtiger sein, als ich mir habe sagen lassen, dass sich im Dunstkreis der UFRA Kollegen aus unseren Reihen befinden. Ich will keine Konflikte hier im Haus. Außerdem darf man diese UFRA-Leute nicht alle in einen Topf werfen. Gewisse Aktivisten drohen die Spannungen im Zusammenhang mit der Einwanderung aus Nordafrika zu verschärfen, indem sie auf Provokation und Gewalt setzen. Die muss man mäßigen. Andere können uns zukünftig helfen, diese spezielle Bevölkerungsgruppe, die uns bereits eine Menge Probleme bereitet, im Zaum zu halten. Diese Kollegen kennen die Immigranten gut. Ich möchte, dass Sie die Anfrage aus Toulon nutzen, um mir ein genaues Bild der UFRA hier in Marseille zu zeichnen. Wen müssen wir fürchten, auf wen können wir uns möglicherweise stützen. Sie sehen, es ist ganz einfach.«
»Ich sehe es und finde es nicht ganz so einfach, aber wir nehmen das umgehend in Angriff.«
Daquin trifft sich mit seinem Team, den Inspecteurs Grimbert und Delmas, in dem kleinen Büro auf der Etage der Kriminalpolizei, das sie sich zu dritt teilen. Zwei Männer, mit denen er seit seiner Ankunft in Marseille zusammenarbeitet, die er schätzt, denen er vertraut. Zwei sehr unterschiedliche Männer. Grimbert ist fünfunddreißig und hat bereits fünfzehn Jahre Berufserfahrung bei der Marseiller Polizei. Er ist in Malta geboren, das Produkt des unwahrscheinlichen Aufeinandertreffens eines Deutschen auf der Flucht vor dem Nazi-Regime und einer Malteserin. Die Familie kam unmittelbar nach Kriegsende nach Marseille, dann zog der Vater weiter. Grimbert ist also waschechter Marseiller, und seine Kenntnis des Terrains ist für das Überleben des Parisers Daquin unverzichtbar. Delmas, knapp fünfundzwanzig, ist vor sechs Monaten aus dem Südosten gekommen, zeitgleich mit Daquin, und versucht sich ins Metier einzuarbeiten, in die Stadt, das Leben. Das Wiedersehen nach dem zweiwöchigen Urlaub der Inspecteurs findet bei einem Espresso statt – Daquin hat gleich bei Dienstantritt die Anschaffung eines Espressokochers durchgesetzt – und ist herzlich.
Dann liefert er eine knappe Zusammenfassung der Besprechung. Die UFRA, die laufende Ermittlung in Toulon, die von der Touloner Kriminalpolizei durchgeführten Verhaftungen, mögliche, wahrscheinliche Komplizenschaften hier in Marseille, und nicht zu vergessen die Warnung von Percheron, im Dunstkreis der UFRA gebe es Polizisten aus unseren Reihen, deshalb Vorsicht, bloß keine Wellen.
»Grimbert, Sie müssen mir zwei Dinge erklären. Erstens, warum finde ich unseren neuen Chef nicht sympathisch?«
»Weil Sie einen guten Riecher haben, Commissaire. Percheron, dem bin ich auf seinem vorigen Posten in Montpellier begegnet, das ist eine effiziente und aalglatte Bestie, zu jeder Gewalt und jedem Manöver fähig, um in der Hierarchie aufzusteigen.«
»Also Obacht. Daraus ergibt sich meine zweite Frage. Warum schickt er uns auf diese wacklige Mission zwischen Toulon und Marseille, Beitrag zu einem Ermittlungsverfahren, aber nicht wirklich, folglich ziemlich halsbrecherisch?«
»Weil Sie Pariser sind und weil ich als Schutzpolizist angefangen habe, als Uniformierter bei der Police Urbaine, wo ich immer noch gute Kontakte habe, das weiß er, also misstraut er uns beiden, und wenn wir baden gehen, wäre er darüber nicht weiter traurig. Man muss auch die polizeiinternen Machtkämpfe zwischen Korsen und Pieds-Noirs bedenken, die sind verheerend. Wussten Sie, dass Percheron ein Pied-Noir ist?«
»Nein, woher sollte ich das wissen?«
»Ich schließe die Hypothese nicht aus, dass er uns Informationen über die UFRA sammeln schickt mit dem einzigen Zweck, innerhalb der Vereinigung gezielt Alliierte auszuwählen, um seinen Einfluss im Évêché zu festigen.«
»Verstanden. Machen wir trotzdem unseren Job?«
»Ja, Commissaire. Unsere Kollegen in Toulon haben nicht unrecht, der Algerienkrieg ist hier in der Region nicht zu Ende, das Feuer kann jederzeit wieder ausbrechen, und in Marseille steht es nicht gut. Wir werden unseren Job also so gut wie möglich machen.«
»Delmas?«
»Ich ziehe mit.«
»Sehr gut. Aber wir wollen nichts überstürzen, wir machen die Dinge der Reihe nach und so, dass wir die Kontrolle behalten. Um Fallen zu umgehen. Womit fangen wir an?«
»Wir haben nichts über die Marseiller Zweigstelle der UFRA. Wir müssen uns ein paar Informationen beschaffen, ehe wir die Touloner besuchen, sonst laufen wir Gefahr, dass man uns überfährt oder wir uns lächerlich machen.«
Daquin beauftragt Delmas, alle Informationen über die UFRA-Zweigstelle in Marseille zusammenzutragen, die in diversen Behördenakten, Pressespiegeln und anderweitig verfügbar sind, und dabei auch einen Blick in die Verbrecherkartei zu werfen. Und Grimbert wird versuchen, die »Polizisten aus unseren Reihen im Dunstkreis der UFRA« zu identifizieren, falls es sie gibt. Da er die Marseiller Polizei gut kennt, ruft er, bevor er in Aktion tritt, den Dicken Marcel an, um eine Verabredung zu treffen. Der Dicke Marcel ist eine Figur, deren Erlaubnis unabdingbar ist, will man sich in den Abteilungen der Police Urbaine bewegen. Er bestellt Grimbert für den nächsten Tag zum Mittagessen bei Étienne, ihrer gemeinsamen Kantine.
Daquin durchstreift die Gegend um das Vereinslokal der UFRA Marseille, ohne dabei viel zu gewinnen. Das Lokal mit Fensterfront zur Straße besteht aus einem Warteraum und einem Büro. Eine sehr hübsche junge Frau empfängt und berät die wenigen Personen, die kommen, es ist nicht viel los, offenbar macht sie den Bürodienst allein. Um interessante Informationen zu finden, müsste ich wissen, wonach ich suche. Ich komme wieder, wenn es so weit ist.
Grimbert hat sein Gespräch mit dem Dicken Marcel akribisch vorbereitet. Improvisation kommt nicht infrage. Um die Nachforschungen anzustellen, die ihm vorschweben, braucht er des Dicken stillschweigende Zustimmung, und das ist nicht einfach. Der Dicke Marcel hat keine klar definierte Führungsverantwortung, er begnügt sich mit dem Dienstgrad eines Brigadier-Chef mit unbestimmten Funktionen. Er taucht in keinem Organigramm auf, aber im Alltag der Police Urbaine geht nichts an ihm vorbei. Denn der Dicke Marcel kennt ihn weit besser als die amtierende Chefetage. Jeder redet mit ihm über seine Abteilung, seine Arbeit, seine Probleme, sein Leben. Quasioffiziell ruft er seine »Räte« zusammen, bedächtige Leute, womöglich etwas ausgelaugt, also ohne persönliche Ambition, die aus unterschiedlichen Abteilungen kommen und vor allem einer der mächtigen Einflussgruppen angehören, die sich in der Polizei organisiert haben – die Gewerkschaft Force Ouvrière, die Freimaurer, der SAC, die Vereine der Pieds-Noirs … –, und das Vertrauen ihrer Berufskollegen genießen. Er gibt ihnen an Informationen weiter, was zu diskutieren er für zweckdienlich hält, und gemeinsam versuchen sie polizeiinterne Konflikte zu entschärfen, für einen friedlichen Ablauf des Alltags zu sorgen. Ihre Analysen und Vorschläge werden von Marcel an die offiziellen Führungskräfte weitergeleitet, die sie meist aufgreifen und finden, dass sie gut damit fahren. Der Dicke Marcel arbeitet seit fünfzehn Jahren so, und im Großen und Ganzen hat die Marseiller Polizei auf diese Weise einiges überlebt: die Machtergreifung de Gaulles, die viel von einem Staatsstreich hatte; die Schaffung des schlagkräftigen Ordnungsdiensts SAC durch die gaullistische Staatsmacht, der wenig pingelig in seinen Methoden war und die offizielle Polizei unterwanderte; die Aufgabe Algeriens 1962, gefolgt von Attentaten und dem von der OAS geführten Minibürgerkrieg; der Massenzuzug von hunderttausend Repatriierten in der Stadt, darunter viele Polizisten aus der ehemaligen Kolonie, die auf direktem Weg in die Polizei des Mutterlands integriert wurden. Die jüngsten Erschütterungen: Im Mai 1968 beantwortet die gaullistische Staatsmacht die Proteste der Studenten und Arbeiter mit der Amnestierung aller Strafgefangenen der OAS, wahrscheinlich um Verbündete gegen »die linken Chaoten« zu gewinnen, die Gefängnisse leeren sich, viele der Begnadigten, und nicht die geringsten, lassen sich in der Region Marseille nieder. Epidemie von Überfällen, Tiefschläge und Einflusskämpfe innerhalb der Polizei, neue Probleme … Dann, 1969, ist de Gaulle weg, und jetzt wissen alle, dass an der Regierung in Paris Politiker beteiligt sind, die mit Französisch-Algerien und der OAS sympathisieren. Daraufhin leben in Marseille die Spannungen zwischen den korsischen Altmeistern und den Pied-Noir-Herausforderern, die ihre Stunde für gekommen halten, auf allen Ebenen des Polizeiapparats wieder auf. Und der Dicke Marcel ist sich der Gefahren, die ihn umgeben, sehr wohl bewusst. Deshalb nicht unfroh, über »all das« mit Grimbert zu reden, einem Burschen, den er ganz jung als Schutzpolizist in die Polizei hat eintreten und dann recht schnell aufsteigen sehen. Er hatte ihn schon früh bemerkt und erwogen, ihn zu einem seiner »Räte« zu machen, vielleicht sogar einem Vertrauten. Aber Grimbert hat ihn enttäuscht, als er das interne Auswahlverfahren zum Inspecteur durchlief und zur Kriminalpolizei wechselte. Die Kriminalpolizei, das sind Intelligenzler, keine Bullen. Trotzdem hat Marcel sich eine gewisse Zuneigung für ihn bewahrt, wie für einen brillanten Sohn, der immer nur macht, was er will.
Bei Étienne zwängen sich Grimbert und der Dicke Marcel an einen kleinen Tisch. Marcel wendet dem Raum den Rücken zu, was bedeutet: Nicht stören. Supion für den einen, Fleischbällchen für den anderen, zwei Bier. Kein Vorgeplänkel, die Zeit läuft, Grimbert kommt sofort zum Kern der Sache.
»Mein Team hat von der Kriminalpolizei Toulon einen Wink bekommen, die Kollegen stellen im Umfeld der UFRA die Zunahme von Gewalttaten fest, immer häufiger bewaffnet. Sie fürchten, es könnte sich um eine Art Testlauf für den Aufbau einer gut strukturierten Untergrundorganisation mit terroristischen Aktivitäten handeln. Sie fragen, wie es bei uns aussieht, hier in Marseille und insbesondere bei der Marseiller Polizei.«
»Warum sprichst du mich darauf an? Bildest du dir ein, ich weiß es und verrate es dir?«
»Nein. Aber ich glaube, dass auch du dir Sorgen machst, Marcel. Hinter dieser Art Organisation steckt ein Machtkampf, es geht um die Macht innerhalb der Polizei, deine Macht. Wenn Polizisten sich systematisch an einem mehr oder weniger geheimen Netzwerk außerhalb deiner Kontrolle beteiligen, wirst du irgendwann abserviert, und das weißt du.«
Marcel schweigt, Grimbert sieht ihm beim Denken zu. Dann entschließt er sich zum Reden.
»Was hast du bei der Kriminalpolizei verloren? Du fehlst mir, Grimbert. Was willst du?«
»Ich informiere dich, dass ich herumzuschnüffeln gedenke. Du weißt es und behinderst mich nicht.«
»Und du hältst mich auf dem Laufenden, Schritt für Schritt.«
Grimbert nickt und lächelt.
»Étienne, zwei Espresso.«
Sobald er Marcel verlassen hat, ruft Grimbert seine Frau an.
»Es wäre eine gute Idee, deine Freundin Françoise heute oder morgen zum Abendessen einzuladen, sie hat Ferien, es sollte klappen.«
Mélanie Grimbert ist eine blühende Frau. Sie ist Lehrerin, sie liebt ihren Beruf, sie liebt die zwei hübschen Bengel, die sie mit Grimbert fabriziert hat, sie liebt Grimbert selbst, ein zuverlässiger Mann und mit seiner Arbeit hinreichend ausgelastet, um ihr in der Familie die Schlüsselhoheit zu überlassen. Das ist es durchaus wert, ihm hin und wieder unter die Arme zu greifen, so wie heute Abend. Sie hat die Jungs zum Abendessen und Übernachten zu Freunden geschickt und Françoise eingeladen, ihre Freundin aus Kindertagen, die in der Verwaltung der Marseiller Polizeipräfektur arbeitet und in den Sechzigerjahren damit beauftragt war, die Eingliederung der aus Algerien heimgekehrten Pied-Noir-Polizisten in den Polizeiapparat des Mutterlands zu beaufsichtigen.
Die zwei Frauen schwätzen bei einem Weißwein-Apéritif, Françoise, eine hübsche kraushaarige Brünette im Blümchenkleid, lässt sich mit einem Lächeln auf den Lippen ungeniert die Knabbereien schmecken, Grimbert, im Sofa versunken, Aufmerksamkeit in der Schwebe, gönnt sich einen Whisky.
Man setzt sich zu Tisch. Mélanie bringt eine Daube à la niçoise, der Rinderschmortopf ist ihre Spezialität, und füllt die Teller. Erste Bissen in anerkennendem Schweigen. Dann beginnt Mélanie, die die Szene am Nachmittag mit Grimbert geprobt hat, über ihre Schüler zu sprechen, es läuft recht gut dieses Jahr, aber mit gewissen Eltern haben die Lehrkräfte ihre Schwierigkeiten.
»Funktionäre von Repatriiertenvereinen haben in der Elternvertretung das Ruder übernommen und machen uns mit allem möglichen Blödsinn das Leben schwer, ohne dass wir dahinterkommen, was sie wirklich wollen.« Grimbert hat sich in den aktiven Ruhemodus versetzt. Nicht nötig, Druck zu machen. Françoise wird anbeißen, das weiß er, sie liebt die Erinnerung an jene Jahre. »Sie lassen all ihren echten oder eingebildeten Frust an uns aus, das ist anstrengend.«
»Wir hatten damals auch einige Probleme, weißt du. Wir sind zunächst dem Grundsatz gefolgt, die eingegliederten Polizisten auf alle Abteilungen zu verteilen, um zu verhindern, dass sich homogene Zellen bilden. Aber viele von ihnen haben versucht, über die Schiene Versetzung-Beförderung zueinanderzukommen, zusammen fühlten sie sich wohler, und da gab es manchmal Ärger.«
Grimbert ist jetzt hellwach, Françoise lächelt ihm zu.
»Hast du die Geschichte neulich mitbekommen von diesen zwanzig Pied-Noir-Bullen in Nizza, die die Kontrolle über ein Funkstreifenteam übernommen hatten? Sie verständigten sich auf Arabisch oder Spanisch und klauten aus den Haushalten, zu denen sie gerufen wurden, alles, was nicht niet- und nagelfest war.«
»Ja, gerüchtehalber. In Marseille hat es so was noch nie gegeben.«
»Da bin ich mir nicht so sicher. Ich habe von einer Untersuchung gehört, die im Dezernat Interne Ermittlungen heißläuft …«
Grimbert merkt sich das. Tauschobjekt im Handel mit Marcel?
»Wir hatten in meiner Abteilung mehrere Hinweise bekommen, es gab viel Ärger mit einer Gruppe von Pieds-Noirs im Kommissariat des 15. Arrondissements, das war nach meinem Ausscheiden, ich habe nie erfahren, worum es genau ging.«
Grimbert zuckt nicht mit der Wimper, maximale Alarmbereitschaft. »Da muss ich schon bei der Kriminalpolizei gewesen sein, ich habe auch nie was darüber gehört.«
Dann wendet sich das Gespräch Françoise’ Tochter zu, die so alt ist wie Mélanies Söhne, unerschöpfliches Thema. Grimbert wartet geduldig, dass Françoise auf den Punkt zurückkommt, der ihn interessiert, was sie auch tut, als die Pflaumentarte auf den Tisch kommt.
»Weißt du, Mélanie, man darf nicht alles so schwarzsehen. Eure Scherereien werden sich langfristig erledigen. Ich hatte in meiner Abteilung ein paar echte Erfolge. Man muss den richtigen Hebel finden. Ich hatte einen Schutzpolizisten, der aus Algier kam. Dort hat er ehrenamtlich einen Sportverein für Kollegen geleitet. Nach dem, was er erzählte, hat er sich voll eingebracht, er kannte viele Leute, hatte viele Freunde. Hier war er plötzlich allein, verunsichert, mit Alkohol- und Gewaltproblemen, er hat sogar angefangen, seine Frau zu verprügeln, und um ein Haar wäre er aus dem Dienst entlassen worden. Ich habe mich um ihn gekümmert. Ich fand einen Schießclub, der der Stadt gehörte und aufgegeben worden war. Ich habe ihm vorgeschlagen, dass er ehrenamtlich die Leitung übernimmt. Er war einverstanden, hat den Club neu aufgebaut, ein spektakulärer Erfolg. Jeden Sonntag hat er für seine Freunde ein Abendessen ausgerichtet. Vor meinem Ausscheiden hat er mich zweimal dazu eingeladen. Es war sehr nett. Um die zwanzig Kumpel, Musik, seine Frau und seine Tochter kochten für die ganze Mannschaft Riesengerichte vom Typ Couscous. Genau wie drüben, sagten sie. Es wurde reichlich geredet und getrunken, alles nostalgische Anhänger von Französisch-Algerien, klar, aber diese Momente der Geselligkeit und des Unter-sich-Seins machten sie glücklich. Für meinen Kandidaten war das der Hebel. Er hat sich in sein berufliches Umfeld gut integriert. Man muss dazusagen, dass seine Frau ihm sehr geholfen hat. Sie ist Katholikin und eine fleißige Kirchgängerin, mit der dazugehörigen Opferbereitschaft. Inzwischen ist er Brigadier.«
Pied-Noir, Brigadier … Picon, der Mann, dem er ein-, zweimal begegnet ist, als er noch bei den Uniformierten war, und von dem er später im Zusammenhang mit Marcels Entourage gehört hat?
»Sprichst du von Brigadier Picon?«
»Ja. Kennst du ihn?«
»Nein, bin ihm im Évêché über den Weg gelaufen, mehr nicht.«
Eine Problemgruppe von Pieds-Noirs im 15. Arrondissement, Picon und sein Schießsportverein als möglicher Sammelpunkt, ich habe meinen Abend nicht vergeudet. Danke, Mélanie.
Ausgestattet mit der Erlaubnis vom Dicken Marcel, unverzichtbar beim Navigieren im Polizeiapparat, geht Grimbert zur Personalabteilung. Die Freundin seiner Frau hat ihn einer Kollegin empfohlen, er wird freundlich empfangen und so diskret wie möglich in einer Regalecke untergebracht. Er vertieft sich ins Personalregister vom Kommissariat des 15. Arrondissements seit 1961, erstellt eine Liste der Neuzugänge durch Versetzung ab 1962, findet die Namen von vier Polizisten, die 1964 etwa zur gleichen Zeit eintreffen. Fabiani, Solal, Girard, Picon. Er holt sich von jedem Einzelnen die Personalakte. Alle vier sind 1962 repatriierte Schutzpolizisten, drei unterschiedlichen Kommissariaten zugewiesen, gleich 1963 beantragen sie ihre Versetzung ins 15. Arrondissement. Warum gerade das 15.? Freie Stellen? Vielleicht. Er macht weiter. Fabiani kommt 1965 zur Sûreté, durchläuft 1969 das interne Auswahlverfahren zum Inspecteur und wird zur Kriminalabteilung der Sûreté versetzt, wo er immer noch arbeitet. Picon wird 1966 zum Sous-Brigadier befördert, Girard und Solal 1969. Zu diesem Zeitpunkt wird Picon zum Brigadier befördert und dem Zentralkommissariat im Évêché zugewiesen. Grimbert sieht darin die Handschrift des Dicken Marcel. Dann, 1970, wird Girard vom Polizeidienst ausgeschlossen. Keinerlei Information zu den Gründen für diese Sanktion. Der Ärger, den Françoise erwähnt hat? 1970, das ist nicht so lange her, Grimbert durchforstet sein Gedächtnis. 1969–70, die Riesenaffäre um die Raubüberfälle der Susini-Bande. Susini, Nummer zwei der OAS, im Exil, 1968 begnadigt, Aufenthalte in Marseille, Pied-Noir, die Überfälle. Könnte der Ausschluss von Girard mit einer Komplizenschaft mit der Susini-Bande zusammenhängen? Die Geschichte ist noch virulent, da der Prozess nächsten Januar stattfindet. Ich wage einen Versuch, habe nichts zu verlieren.
Zurück zur Kriminalpolizei, um Benoit und Varin zu befragen, die mit der Vorbereitung des Prozesses betraut sind. Gleich nach seinen ersten Sätzen unterbrechen die beiden Männer Grimbert.
»Ultraheikle Geschichte. Die Susini-Bande besteht aus acht Leuten, alles harte Hunde, darunter ein paar Mörder der OAS, keine Spaßvögel, und auf ihr Konto gehen neun fette Überfälle. Die Commissaires, die die Ermittlung geleitet und unter deren Befehl wir gearbeitet haben, bekamen Todesdrohungen und wurden auf eigenen Wunsch versetzt. Das ist der Grund, warum der Prozess so schwer zu organisieren ist. Es gibt echte Sicherheitsprobleme. Diese Geschichte ist eine Bombe. Darum haben wir keine Lust, darüber zu reden.«
»Ich interessiere mich für Girard, nicht für Susini, und ihr kennt mich, ich habe mich noch nie unfreiwillig verquatscht.«
Benoit entschließt sich. »Bei ihrem größten Überfall, dem auf die Banque nationale de Paris im Belle-de-Mai-Viertel, war die ganze Bande als Polizisten verkleidet, was ihr die Arbeit erheblich erleichtert hat. Uniformen, die ein bisschen zu neu waren, picobello. Wer hat sie ihnen geliefert? Ein Kleinganove hat spontan Girard bezichtigt, wir haben seine Spur mehrere Monate lang verfolgt, und wir haben es geschafft, die ganze Bande zu schnappen. Girard ist im Knast, in Sicherheit, und sein Prozess wurde von dem gegen die Bankräuber abgekoppelt, damit er diskret ablaufen kann. Bis zu seinem Prozess hältst du die Klappe, Grimbert, hermetisch.«
»Ich halt die Klappe.«
Girard also, vom Kommissariat des 15. Arrondissements, aufs Engste verstrickt mit den echten Schwergewichten der OAS. Keine Ahnung, ob Marcel davon weiß. Ich werde ihn nicht darauf ansprechen. Nicht jetzt, meine gute Beziehung zu Benoit und Varin erhalten. Stellt Girard im 15. einen Einzelfall dar oder ist die ganze Mannschaft auf der gleichen Wellenlänge? Die Sache wird tatsächlich interessant.
Das Team Daquin zieht Bilanz in Sachen UFRA-Ermittlung. Grimbert hat zwei ernst zu nehmende Fährten, die man verfolgen kann.
»Das Kommissariat des 15. Arrondissements ist möglicherweise mit der Susini-Bande verquickt …«
Das macht Eindruck auf Daquin und Delmas. Man hat es mit der Spitzenklasse zu tun.
»Eine andere Fährte: Brigadier Picon, dem ich mal begegnet bin. Ich war noch bei den Uniformierten, als er 1962 kam. Er ist kein guter Bulle, nicht zuverlässig, nicht sorgfältig, nicht geduldig. Aber er verfügt über eine Form von Schläue und ein Gespür für Kontakte, was ihm erlaubt hat, Karriere zu machen. Er gehört zum engen Kreis vom Dicken Marcel, der ihn als Brücke zu den Pieds-Noirs braucht.«
»Und wie wird der Dicke Marcel reagieren?«
»Keine Sorge. Ich war bei ihm. Ich habe meinen Passierschein.«
»Jetzt Sie, Delmas.«
»Ich habe mich für Asensio interessiert, den UFRA-Verantwortlichen für das Departement Bouches-du-Rhône. Sagen wir, ein Werdegang wie aus dem Bilderbuch. Er hatte eine schöne Weinhandelsfirma in Oran, verheiratet, kinderlos. Seine Frau stirbt 1960. 1961 kommt er mit der ersten Heimkehrerwelle nach Marseille. Da ist er fünfundvierzig und hat alles verloren, als er Algerien verließ, aber er geht vor der großen Welle und lässt sich in Marseille nieder. Weniger als ein Jahr später: Geniestreich, er tut sich mit einem Korsen zusammen – ungewöhnlich für einen Pied-Noir –, um eine Peugeot-Konzession zu erwerben. Umso ungewöhnlicher, als sein Partner, Battiste Paolini, ein Vertrauter von Charles Pasqua ist, diesem Gaullisten der ersten Stunde und Mitgründer des SAC, des gaullistischen Ordnungsdiensts. Der führte damals einen geheimen und brutalen Krieg gegen de Gaulles Gegner, zu deren erbittertsten die Männer der OAS gehören, die wiederum eng mit dem Pied-Noir-Milieu verflochten sind. Paolini wird sehr schnell eine wichtige Figur im SAC. Ich habe in der Presse Artikel und Fotos gefunden. Als guter Korse erweist er den Guérini-Brüdern einige Dienste, den Bossen der Marseiller Unterwelt, was leichte Spuren in seinem Strafregister hinterlässt. Unterdessen baut Asensio seine Beziehungen zu den Pied-Noir-Verbänden aus und freundet sich mit Alvarez an, dem Gründer der UFRA. Ich war in der Handelskammer, wo ich ein Dokument gefunden habe, das ein Loblied auf die Peugeot-Konzession singt und uns außerdem ein paar Orientierungspunkte gibt. Die Firma wächst, diversifiziert sich. 1965, als Pasqua Marseille verlässt, um nach Paris ›aufzusteigen‹, reist Paolini nach Abidjan, um dort eine Verkaufsniederlassung für Peugeot-Neu- und Gebrauchtwagen aufzumachen. Zwei Jahre später gründet er eine Tochterfirma in Marseille, die Luxusautos mit Chauffeur-Leibwächter vermietet und sechs oder sieben Wagen besitzt. Die Kundschaft besteht aus durchreisenden Milliardären, die in der Region und bis in die Umgebung von Nizza unterwegs sind. Das Geschäft scheint zu brummen.
Um auf Asensio selbst zurückzukommen, so hat er keine Geldsorgen. Er bewohnt ein Appartement in einem Gebäude der UFRA, das hat er gekauft, als der Verein sich im selben Haus eingerichtet hat. Die Sekretärin, Nadia Mokhrani, wohnt ebenfalls dort. Ich frage mich, ob nicht ein Finanzschwindel dahintersteckt …«
Daquin unterbricht ihn. »Oder etwas anderes. Nadia Mokhrani ist eine sehr schöne Frau.«
»Richtig. Ich habe ein bisschen gegraben, um herauszufinden, in welcher Beziehung sie zu Asensio steht. Ich war überrascht. Vor 1967 habe ich nichts über sie gefunden. Zu diesem Zeitpunkt ist sie fünfzehn und Asensio wird ihr gesetzlicher Vormund, und zwar dank einem surrealistischen Procedere: Über das Mädchen existieren keinerlei Daten zur Person, sie kommt aus dem Nichts, kein gesetzlicher Elternteil am Horizont, aber dank zahlreicher Fürsprecher, darunter Alvarez, der UFRA-Geschäftsführer, geht der Vorgang glatt durch. Asensio übernimmt im gleichen Jahr die Leitung der Vereinsniederlassung im Departement Bouches-du-Rhône, Alvarez und er werden unzertrennlich. Jetzt ist Nadia einundzwanzig, sie ist volljährig, und sie hat gerade einen französischen Ausweis bekommen.«
»Asensio und Alvarez, eine politische oder eine geschäftliche Verbindung?«
»Beides ist möglich und dürfte sich kombinieren lassen.«
»Sehr guter Start, vielversprechend. Sie haben beide genug für ein Treffen mit den Toulonern. Wie wir weitermachen, schauen wir nach Ihrer Rückkehr. Ich übernehme es, Percheron zu informieren und ihn um technische Ausrüstung zu bitten.«
Daquin sucht Percheron in seinem Büro auf. Die beiden Männer sitzen einander gegenüber, Percheron mit steifem Oberkörper, nach hinten gelehnt, in der Defensive. Die Antipathie ist eindeutig gegenseitig. Daquin umreißt in aller Kürze die zwei Ermittlungsrichtungen seines Teams.
»Fährten, noch keine Ergebnisse. Meine beiden Inspecteurs sind heute in Toulon, um unsere Kollegen zu treffen.«
»Gut. Ich erneuere meinen Rat: Vorsicht, was die Marseiller Polizisten betrifft.«
»Ist notiert. Weiß der Staatsanwalt von Marseille von der Mission, mit der Sie uns betraut haben?«
»Ich habe ihn informiert. Er wird den Staatsanwalt von Toulon kontaktieren. Er hält es für verfrüht, in Marseille ein Ermittlungsverfahren zu eröffnen …«
»Da hat er recht.«
»… und sollte es Ärger geben, haben wir seine Rückendeckung.«
Daquin lächelt skeptisch. »Ich habe verstanden. Außerdem brauche ich technische Unterstützung. Für den Anfang die Telefonüberwachung der Marseiller Vereinsniederlassung und der Privatleitung ihres Geschäftsführers.«
»Die beschaffe ich Ihnen. Ergibt sich logisch aus dem Kontext des Auftrags, den ich Ihnen erteilt habe. Sie haben sie bis morgen. Aber mehr ist bis auf Weiteres nicht drin.«
»Ich bräuchte auch einen guten Fotoapparat, um die Leute zu identifizieren, die das Vereinslokal aufsuchen. Und vielleicht Abhörwanzen.«
»Fotoapparat ja. Abhörwanzen nein. Das gehört nicht zu den Gepflogenheiten der Brigade Criminelle.«
»Genauso wenig wie die Sorte Auftrag, die Sie uns erteilt haben. Wir agieren an der Grenze zur Geheimdienstarbeit.«
Die beiden Männer Auge in Auge, angespannt. Daquin denkt: ›Spuck’s aus, sag mir, warum du uns in diese Scheiße schickst. Willst du die Kontrolle behalten und misstraust dem Geheimdienst, der sich deinem Einfluss entzieht? Willst du uns reinreiten?‹, und das sieht man ihm an.
»Gut, belassen wir es dabei, Daquin. Und halten Sie mich auf dem Laufenden.«
Daquin geht in die Abteilung Abhörtechnik, um zu prüfen, ob die von Percheron versprochene Telefonüberwachung bereits steht. Das ist noch nicht der Fall. Dann wartet er auf seine Inspecteurs, die aus Toulon zurück sind. Die beiden treffen zusammen ein, Daquin betrachtet sie, lächelt ihnen zu.
»Legen Sie los, ich sehe, dass Sie mir etwas zu erzählen haben.«
Delmas macht den Anfang. »Unsere Kollegen fühlten sich vor unserem Kommen ziemlich alleingelassen. Sie haben Alvarez mehrfach festgenommen wegen verbotenen Waffenbesitzes, tätlicher Angriffe und diverser Umtriebe, sie haben ihn fünfmal in Polizeigewahrsam gehabt, jedes Mal lässt man ihn auf Befehl aus Paris binnen vierundzwanzig Stunden wieder frei. Er wird geschützt, und von den Bonzen der Regionaldienststelle Marseille kam nie Unterstützung. Jetzt haben sie beobachtet, dass Joseph Ortiz, eine historische Figur der OAS, in Toulon aufgekreuzt ist. Alvarez und er sind ständig zusammen. Unsere Kollegen haben den Verdacht, dass es um Waffenkäufe für mehr oder weniger informelle Gruppen der UFRA-Bewegung geht. Und zu guter Letzt hat einer ihrer Vertrauensinformanten ihnen von einem Projekt erzählt, nämlich dass Alvarez in der Nähe von Brignoles ein militärisches Trainingscamp errichten will. Sie finden, zusammen mit dem Arsenal zum Bombenbau, das sie bei einem Alvarez-Vertrauten gefunden haben, ist das im aktuellen Klima der Gewalt ziemlich viel.«
Grimbert knüpft an: »Unsere Fährten interessieren sie. Sie haben uns bestätigt, dass die zwei Namen, die sich in Adressbüchern von mehreren Touloner Eiferern wiederfinden, Picon und Asensio sind. Wir sind auf einer Wellenlänge. Wenn wir den Auftrag bekommen, diese Arbeit weiterzuführen, dürften wir vertrauensvolle Beziehungen haben.«
»Perfekt. Da können wir ansetzen. Weiter geht’s. Ich war bei Percheron. Wir bekommen zwei Telefonüberwachungen, bei der UFRA und bei Asensio, einen Fotoapparat und das war’s. Abhörwanzen kommen nicht infrage. Das ist sehr wenig.«
»Von Percheron darf man keine Wunder erwarten. Ihm liegt mehr an der Unterstützung der Pied-Noir-Vereine als an der Verfolgung ihrer gesetzeswidrigen Aktivitäten.«
»Wir werden sehen. Erst mal rücken wir weiter vor. Grimbert, Sie gehen Ihren Spuren nach. Delmas, Sie haben mit Asensio angefangen. Bleiben Sie dran. Kümmern Sie sich nicht um Finanzmauscheleien, das ist zu kompliziert für uns. Ich werde Inspecteur Costa von den Finanzdelikten aufsuchen, wir haben im März beim Erdöl-Fall gut zusammengearbeitet. Sie versuchen mehr über Asensios Leben in Erfahrung zu bringen, über seine Beziehung zu Nadia Mokhrani, die nach allem, was Sie uns bereits erzählt haben, ziemlich undurchsichtig zu sein scheint, sowie über den Vereinsbetrieb der UFRA Marseille. Wir müssten uns Einsicht in ihre Mitgliederkartei verschaffen, dann wäre Percheron zufrieden.«
Daquin hat sich für fünfzehn Uhr mit Inspecteur Costa im Dezernat für Finanzdelikte verabredet. Der Mann geht gemächlich auf die fünfzig zu, kleines Bäuchlein und beginnende Glatze. Er empfängt Daquin mit einem Lächeln. Ihre Zusammenarbeit hat er in guter Erinnerung.
»Immer noch so kämpferisch, Commissaire Daquin?«
»Um ehrlich zu sein, ist das gesamte Team in letzter Zeit etwas erschlafft.«
»Das Marseiller Klima vielleicht?«
»Kann gut sein. Aber derzeit starten wir eine etwas interessantere Ermittlung. Deshalb bin ich gekommen.«
»Legen Sie los.«
»In dieser Ermittlung taucht die Peugeot-Konzession von Asensio und Paolini auf, ob am Rande oder nicht, das hängt davon ab, was wir finden werden. Wir haben weder die Mittel noch die Kompetenz, um den finanziellen Aspekten nachzugehen, aber wir fragen uns, ob diese Firma vollkommen vorschriftsmäßig arbeitet.«
Costa lächelt nicht mehr, er überlegt. »Wir haben da ebenfalls unsere Zweifel und beobachten sie. Im Moment haben wir nichts, die Firma wird sehr gewissenhaft geführt. Wir haben unsere Ermittlung gerade auf die Elfenbeinküste ausgeweitet.«
Costa unterbricht sich. Er betrachtet Daquin, um zu sehen, ob er über die afrikanischen Ableger der Peugeot-Konzession im Bilde ist.
Daquins Hirn rotiert, dann erinnert er sich. »Ja, Paolini und die Niederlassung für Neu- und Gebrauchtwagen …«
Also, sagt sich Costa, wissen sie mehr, als er mir erzählt, ich kann den Handel fortsetzen. »Das wird unsere Ermittlung vielleicht in die Gänge bringen. Aber im Moment kann ich Ihnen nichts sagen.«
»Wenn Sie etwas finden, könnten Sie uns dann ein Zeichen geben?«
»Das mache ich, aus Freundschaft zu Ihnen, Commissaire, und zu Grimbert. Grüßen Sie ihn von mir.«
Delmas hat seinen Nachmittag damit verbracht, einen Observierungstag rund um die UFRA vorzubereiten, indem er akribisch die Zugänge, die Öffnungszeiten, das Besucheraufkommen in den Vereinsräumen und in den umliegenden Cafés erkundet hat. Er geht zurück zum Évêché, bespricht sich mit Daquin: Die Observierung wird für Montag angesetzt. Danach wartet er am Ausgang ihres Büros im Speicherhafen auf seine Lebensgefährtin. Im Anschluss Kino mit Freunden. Seit er mit einer Marseillerin zusammenlebt, beginnt er die Stadt zu lieben.
Über die gesamte Titelseite:
14:30 Uhr, Rocade du Jarret: In einem Anfall von Wahnsinn schneidet ein Mann dem Busfahrer am Steuer die Kehle durch und verletzt vier Fahrgäste mit Messerstichen. Nach kurzem Handgemenge wird er von mehreren Zeugen überwältigt, darunter der ehemalige französische Boxmeister Gratien Lamperti. Wie es heißt, hat der Busfahrer seinen Angreifer lediglich aufgefordert, seine Fahrkarte zu entwerten.
Foto des Unglücksbusses.
Sehr heftige Reaktionen von den Beschäftigten der Marseiller Verkehrsbetriebe. Arbeitsniederlegungen seit gestern. Heute Generalstreik.
Fotos von Opfer und Mörder.
Über die gesamte letzte Seite:
Es ist 14:30 Uhr, Émile Guerlache, 49, vier Kinder, lenkt seinen Bus 439EV13 der Linie 72 von der Place Bougainville zur Strandpromenade. An der Haltestelle Jarret-Mayer steigt Salah Bougrine zu, stempelt seinen Fahrschein ab, setzt sich. Der Bus fährt an. Bougrine zieht ein großes Messer aus der Tasche, nähert sich dem Fahrer von hinten und schneidet ihm mit einem einzigen Schnitt die Kehle durch. Das Blut spritzt auf die Windschutzscheibe, der Fahrer bricht zusammen, Bougrine stürzt sich auf den Körper. Im Bus bricht Panik aus. Die Fahrgäste springen auf, drängeln durcheinander, der Bus fährt führerlos weiter, der Algerier sticht wahllos auf die Mitfahrenden ein, der Boden ist glitschig vor Blut, der Bus prallt gegen den Mittelstreifen und kippt halb auf die Seite, die Türen verklemmen sich, die Fahrgäste fallen übereinander. Ein vorbeikommender Autofahrer, Ex-Boxmeister Gratien Lamperti, hält an, bewaffnet sich mit einer Handkurbel, schafft es in den Bus und schlägt Bougrine nieder. Das Bezirkskommissariat und die Sûreté-Einheit zur Bekämpfung der Bandenkriminalität treffen am Tatort ein und übernehmen den bewusstlosen Täter. Er wird ins Krankenhaus Hôtel-Dieu gebracht. Bougrine hatte 2500 Francs bei sich. Was er in Marseille zu tun hatte, ist nicht bekannt.
Das Opéra-Viertel im Zentrum von Marseille, Heimat der Bars, Nachtclubs und Prostituierten, ist ausgestorben, alles geschlossen. Es ist noch zu früh. Nur Le Foudre hat geöffnet, die Bar der Familie Pereira, eine Flucht von engen, dunklen Räumen, die Ausstattung ganz in Holz, pseudorustikal, und allenthalben Porträts des portugiesischen Diktators Salazar. Die Familie Pereira hat aus ihren Anschauungen nie einen Hehl gemacht. Diskrete Kollaborateure während der deutschen Besatzung, dann in den Sechzigern entschieden pro Französisch-Algerien und antigaullistisch.
Der Sohn, Dario Pereira, hat bei einem Mord und Attentaten der OAS in der Region wiederum diskrete, aber hochgeschätzte Hilfe geleistet. Man hat nie etwas beweisen können, pflegt er zu sagen, trotzdem zog er es vor, vier Jahre nach Portugal ins Exil zu gehen, und kehrte nach der Amnestie von 1968 zurück. Heute dient sein Café-Bar-Restaurant als Treffpunkt der Pied-Noir-Bewegung, die hier bis zum Rausch Nostalgie und Anisette Cristal tankt. Die Mutter kocht – sehr gut – für den engsten Kreis, und der Sohn stockt seine Einkünfte mit einer kleinen Sicherheitsfirma auf, deren Dienste Bürgermeister Gaston Defferre systematisch nutzt.
Heute Morgen sind Pereiras Vertraute spontan schon zu frühester Stunde gekommen, um Neuigkeiten zu erfahren. Ein Dutzend Männer drängen sich um drei Tische, und Mutter Pereira serviert ihnen ein reichliches Frühstück. Es wird heftig diskutiert.
»Die Situation ist ideal … Wir müssen die Gelegenheit mit beiden Händen beim Schopf packen … Vor uns eröffnet sich ein Boulevard, da müssen wir reindrängen …«
»Und konkret, was machen wir?«
Pereira schlägt vor, dem Beispiel von Grasse zu folgen und ein Verteidigungskomitee zu gründen.
»Mit dem Slogan ›Die Sicherheit der Marseiller verteidigen, eine öffentliche Aufgabe, die der Staat nicht mehr zu bewältigen vermag‹, das klingt stark, oder?«
»Ja, klingt gut, aber nicht zu vergessen: ›Stoppt die wilde Einwanderung‹, das hatten sie in Grasse auch, der Bougrine passt gut zum Bild eines illegalen Einwanderers.«
»Im Büro vom Front National gibt es einen Vorrat an Ordre-Nouveau-Plakaten mit diesem Slogan, die können wir abholen. Und wo der Ordre Nouveau nach seiner Schlacht gegen die linken Zecken in Paris gerade verboten wurde, müssen wir nur die Signatur unten am Plakat abschneiden, das geht mit einer Papierschneidemaschine.«
Der Vorschlag stößt auf allgemeine Zustimmung. Einer der Männer erklärt sich bereit, die Plakate zu organisieren, Pereira wird wegen der Schneidemaschine eine Druckerei auftreiben. Und mobilisiert fürs Plakatekleben seine Sicherheitsfirma.
»Das sind Spezialisten. Morgen ist die ganze Stadt tapeziert.«
»Und wir rufen zu einer Demo auf. Wir kontaktieren alle befreundeten Organisationen und die Presse. Das wird unser Komitee zum Leben erwecken. Ich kümmere mich um das Kommuniqué und die Kontakte.«
»Wann soll die Demo stattfinden? Die Beerdigung von Guerlache ist am Dienstag, es darf nicht auf ihre Kosten gehen.«
»Am Tag drauf? Mittwoch, der 29.? Bis wir uns organisiert haben …« Angenommen.
An diesem Punkt der Diskussion kommt Madame Pereira, die auf dem Markt ihren Tageseinkauf erledigt hat, mit den Zeitungen zurück. Le Quotidien de Marseille und Le Méridional. Die Männer stürzen sich auf den Méridional, ihre persönliche Tageszeitung. Pereira liest ein paar Passagen aus dem Leitartikel von Chefredakteur Gabriel Domenech vor.
»Genug! Genug! Genug!« »Natürlich wird man uns sagen, der Mörder sei geistesgestört, schließlich braucht es eine Erklärung, nicht wahr … Wahnsinn ist keine Entschuldigung … Wir haben genug von den algerischen Dieben, den algerischen Einbrechern, den algerischen Maulhelden, den algerischen Störenfrieden, den algerischen Syphiliskranken, den algerischen Vergewaltigern, den algerischen Irren, den algerischen Mördern. Wir haben genug von dieser wilden Einwanderung, die von der anderen Seite des Mittelmeers den gesamten Abschaum in unser Land bringt … Man muss ein Mittel finden, um sie zu brandmarken und ihnen den Zutritt zu französischem Boden zu verwehren.«
Applaus. Der schreibt verdammt gut, dieser Domenech.
Während der Nacht bedecken sich die Mauern von Marseille mit Schwarzweißplakaten »Stoppt die wilde Einwanderung« und schnell hingesprühten Graffiti in leicht verlaufener schwarzer Farbe: »Marseille hat Angst«. Ohne die Signatur einer Organisation entwickeln diese Slogans eine gefährliche Kraft, der Schrei eines Volkes.
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