Martin & Jack - Frida Nilsson - E-Book

Martin & Jack E-Book

Frida Nilsson

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Beschreibung

Martin hat einen einzigen großen Traum: endlich seinen Vater zu finden. Als der alte Hund Jack vom Hof gejagt wird, auf dem Martin bei einem hartherzigen Bauern lebt, beschließt der Junge, Jack zu folgen. Denn der Hund ist der Einzige, der Martin vielleicht zu seinem Vater führen kann. Und er weiß so einiges von der Welt, im Gegensatz zu Martin, der den Hof noch nie verlassen hat und nicht mal lesen kann. Eine abenteuerliche Reise beginnt. Weitere Gefährten schließen sich ihnen an. Doch dann stellt sich heraus, dass sie verfolgt werden … Frida Nilsson erzählt in ihrer Abenteuergeschichte vom Kampf für Gleichheit und Gerechtigkeit, von der Sehnsucht nach Liebe und von der Suche nach einem Zuhause.

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FRIDA NILSSON

Martin & Jack

Von Hundebesitzern, Katzenjägern und der Suche nach dem Glück

Aus dem Schwedischenvon Friederike Buchinger

Mit Bildernvon Torben Kuhlmann

Inhalt

Hundebesitzer

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Katzenjäger

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Hundebesitzer

1

»Als wir beide uns auf den Weg gemacht haben, da habe ich mich wirklich lebendig gefühlt«, hatte Jack damals zu mir gesagt. Es war jene Nacht in Hult gewesen, als wir in dem Heuschober schliefen und er mit dieser Unruhe im ganzen Körper aufgewacht war. Er hatte vom kleinen Leben geträumt, wie er versucht hatte, es irgendwie festzuhalten, es ihm aber nicht gelungen war. Seine Pfoten zitterten immer noch, als er mir davon erzählte, und sein Atem stank nach fauligen Zähnen. Aber dann hatte er mit den Schultern gezuckt und darüber gelacht. So war er eben. Wollte mich nicht mit seinem Kummer belasten. Man könnte sagen, er trug eine große Sorge um das Wohl der anderen in sich.

Hätten wir geahnt, wie beschwerlich unsere Reise werden würde, wer weiß, ob wir es wirklich gewagt hätten, uns auf den Weg zu machen. Aber man kann ja vorher nie wissen, was für ein Abenteuer einem bevorsteht. Und wenn man so darüber nachdenkt, dann ist das ein großes Glück. Denn sollte das kleine Leben hinter der nächsten Ecke warten, beeilt man sich besser.

Aber vielleicht fange ich mit meiner Geschichte lieber ganz von vorn an, damit du weißt, worum es geht: Jack war der Hund auf Norrängen, einem Bauernhof im Kirchspiel Kila in Sörmland. Er lebte dort schon länger als ich. In den ersten Jahren hatte er noch beide Augen gehabt. Ich muss etwa sechs gewesen sein, als er eines Tages plötzlich auf dem rechten Auge erblindete. Ich erinnere mich noch, wie wir ihn vor dem Holzschuppen fanden. Er hielt sich winselnd die Pfoten vors Gesicht – und als er uns ansah, wussten wir, dass es gar nicht gut um ihn stand. Das eine Auge war rot unterlaufen und trüb und es schien auf einmal größer zu sein als das andere. Grüner Star heißt diese Krankheit, die er bekommen hatte, und so etwas tut wohl sehr weh. Wir mussten den Doktor holen, der Jack mit Äther betäubte und das Auge entfernte, weil Hunden in solchen Fällen nicht anders zu helfen war. Ich rannte weg und verkroch mich so lange im Kuhstall.

Pär Pärsson war ziemlich verärgert darüber, dass Jack auf einmal einäugig war, denn es gehörte schließlich zu den Aufgaben eines Hundes, das Haus zu bewachen. Eigentlich wollte Pär Pärsson ihn wohl damals schon vom Hof jagen. Aber Jack schaffte es, den Bauern so lange zu bearbeiten, bis er bleiben durfte. Und wo hätte er auch hingesollt? Sein Platz war im Flur unter der Treppe, dort hatte er sein kleines Eckchen mit einer Decke und ein paar Habseligkeiten. Er sammelte Zeitungen, was Pär Pärsson ziemlich albern fand. Aber solange Jack seine Käseblätter in Ordnung hielt und sie nicht im ganzen Haus herumflogen, durfte er sie behalten. Ab und zu ging Jack zum Kaufmann und erbettelte sich alte Ausgaben. Als diese Geschichte hier ihren Anfang nahm, nannte er einen Stapel von vierzig, fünfzig Zeitungen sein Eigen. Seine Abende verbrachte er oft damit, darin herumzublättern. Ich dachte natürlich, er würde sich die Bilder anschauen.

Ich selbst war im Alter von einem Jahr nach Norrängen gekommen. Meine Mutter war an der Schwindsucht gestorben und mein Vater war nicht mehr in der Lage gewesen, sich um mich zu kümmern. Deshalb hatte Pär Pärsson die Vormundschaft für mich übernommen. Ich weiß nicht mehr viel aus diesen ersten Jahren, aber ich erinnere mich, dass ich noch ziemlich klein war, als ich schon anfing, mich von dort wegzusehnen. Pär Pärsson war ein harter Mann. Ich fand, dass er mich viel zu viel auf dem Hof schuften ließ, und ich war oft wütend auf ihn. Ich malte mir meinen richtigen Vater aus, stellte mir vor, wo er wohl lebte, wie er aussah und all solche Dinge. Ich redete mir ein, dass er sehr arm war und nur darum keine andere Wahl gehabt hatte, als mich wegzugeben. Dass er irgendwo in einer bescheidenen kleinen Hütte saß und sich genauso sehr nach mir sehnte, wie ich mich nach ihm. Manchmal hatte ich schlimme Träume. Träume, in denen er verschwand, in denen ich seinen Rücken über den Boden davonschweben sah, ohne Arme und ohne Beine. Manchmal wachte ich auf, nass geschwitzt und schreiend – und einmal rannte ich hinaus aufs Feld, obwohl es mitten in der Nacht war. Ich hatte wohl irgendwie die Vorstellung, dass ich versuchen musste, ihn einzuholen. Ich weiß noch, dass es eine sehr warme Nacht war. Mein Inneres brannte wie Feuer und das Zirpen der Grillen dröhnte in meinem Kopf wie Kirchenglocken. Nach einer Weile holte Pär Pärsson mich ein.

»Was zur Hölle treibst du hier draußen?«, brüllte er und hob mich hoch.

»Lass mich los! Ich will zu meinem Vater!«, schrie ich. Ich trat um mich und biss ihn, kratzte ihn überall, wo meine Finger ihn erwischten. Da setzte er mich wieder ab und verpasste mir eine Ohrfeige, dass mir der Kopf danach erst recht dröhnte. Als wir ins Haus zurückkamen, hatte ich Fieber.

Kurz darauf erfuhr ich, dass Pär Pärsson einen Briefumschlag in seiner Kammer hatte. Er zeigte ihn mir und erzählte, dass er diesen Umschlag in seiner Kommode aufbewahrte, seit er mich im Waisenhaus abgeholt hatte. In dem Kuvert steckte ein Dokument, aus dem hervorging, wie mein Vater hieß und wo er wohnte.

»Wenn du dich anständig verhältst und ein braver Junge bist, dann öffnen wir den Umschlag an deinem siebzehnten Geburtstag und lesen gemeinsam, was dort steht«, sagte er. »Danach kannst du jederzeit gehen und deinen Vater suchen.«

»Ich will den Brief jetzt öffnen!«, sagte ich. »Jetzt auf der Stelle!«

Er schüttelte den Kopf.

»O nein«, sagte er. »Erst, wenn du alt genug bist. So lauten die Bestimmungen. Und nun hör mir gut zu, Martin: Wenn du dich NICHT anständig verhältst, wenn du bockig bist, dich unmöglich aufführst und wegläufst, dann werfe ich den Umschlag vielleicht auch einfach ins Herdfeuer! Hast du mich verstanden?«

Bei diesen Worten durchfuhr mich ein eisiger Schauer. Ich begriff, dass es unendlich wichtig war, von diesem Moment an nicht mehr herumzuschreien oder bockig zu werden. Und dass ich alles tun musste, was ich nur konnte, damit der Name meines Vaters und seine Anschrift nicht im Feuer landeten.

»Ja-ha, überleg dir, was du willst«, sagte Pär Pärsson. Er legte den Umschlag zurück in die Schublade, es war die zweite von oben. Dann klopfte er auf das Holz, als wäre die Kommode eine Kuh, eine, die vier eckige, blau lackierte Mägen hatte, in denen sich sämtliche Geheimnisse der Welt verbargen. »Überleg dir sehr gut, was du willst.«

So vergingen die Jahre und nach und nach fielen mir die ersten Milchzähne aus. Meine Haare wurden dicker, meine Arme und Beine wurden dünner, ja, es veränderte sich ziemlich viel. Aber an den Umschlag in der blauen Kommode dachte ich noch immer. Man könnte sagen, dass er zu meinem Leuchtturm geworden war. Besonders im Winter, wenn alles so dunkel und düster war und es sich manchmal einfach nur sinnlos anfühlte, aufzustehen, war der Gedanke an den Umschlag wie ein Licht, das mir an einem nasskalten Morgen den Weg zum Stall erhellte. Während ich ausmistete und unsere vier Kühe molk, sagte ich mir: An dem Tag, an dem ich erfahre, was in dem Dokument steht, bin ich fertig mit alldem hier. An dem Tag werde ich von hier verschwinden.

Manchmal, wenn Pär Pärsson und Jack unterwegs waren, zog ich die Schublade auf und betrachtete den Umschlag. Ich nahm ihn in die Hand und roch daran – und ich schlug meinen Kopf gegen die Kommode, weil ich den Umschlag nicht einfach aufreißen und selbst lesen konnte, was darin stand. Das Gesetz besagte, dass man spätestens in dem Jahr eingeschult werden sollte, in dem man neun wurde. Ich hatte im Januar Geburtstag gehabt und das hieß, dass ich im Herbst endlich in die Schule kommen würde. Die meisten Gleichaltrigen gingen schon seit zwei Jahren zur Schule, aber Mündel wie mich behielt man gern so lange wie möglich zu Hause auf dem Hof. Der Gedanke war ja, dass sie sich dort nützlich machten und so ihre »Schulden abarbeiteten«. Mit anderen Worten: Ich war ein Analphabet – ein vornehmes Wort für einen, der keinen blassen Schimmer vom ABC hat. Ein paar Mal war ich kurz davor gewesen, den Umschlag trotzdem aufzureißen, nur um die Buchstaben zu sehen, die den Namen meines Vaters bildeten. Aber die ganze Zeit hörte ich das Herdfeuer in meinem Rücken knistern und es war doch so wichtig, nichts zu tun, was aufsässig erscheinen konnte. Und wenn ich mich anständig benahm und ein braver Junge war, dann würde ich ja noch früh genug bekommen, was ich mir so sehr wünschte.

Nun will ich aber erzählen, wie es dazu kam, dass Jacks Zeit auf dem Hof zu Ende ging. Das Ganze nahm seinen Anfang an einem Tag im Mai, als Pär Pärsson Hechte fangen wollte. Er liebte die Hechtjagd, aber anders als andere Menschen nahm er dafür keinen Knüppel, sondern eine Fahrradkette. Diese Kette hing an einem ganz bestimmten Nagel an der Wand im Schuppen und wurde nur heruntergenommen, wenn das letzte Stündlein der Hechte geschlagen hatte. Es war fast ein bisschen feierlich, wie ein Julbock aus Stroh, den man nur an Weihnachten herausholt.

Unser Kahn lag am Ufer eines kleinen Sees, nicht weit vom Hof entfernt. Pär Pärsson saß wie immer im Bug, den Blick fest aufs Wasser gerichtet. Sobald er einen Hecht erspähte, hob er die Hand. Das bedeutete, dass ich, der fürs Rudern zuständig war, langsamer werden sollte. Dann schwang er die Fahrradkette hoch über seinen Kopf und schlug blitzschnell zu – und wenn er richtig traf, war der Hecht betäubt und er musste ihn nur noch aus dem Wasser ziehen. Danach übergab er den Hecht an Jack, der ihn in einen Korb im Fischkasten packte. Zwischendurch musste man den Korb schütteln, um frischen Sauerstoff ins Wasser zu bringen. Es war ja wichtig, die Hechte am Leben zu halten, damit sie in der warmen Sonne nicht anfingen zu stinken.

Ein paarmal sagte Pär Pärsson, nun wäre ich an der Reihe, mein Glück zu versuchen. Aber ich hasste diese Kette. Mir wurde flau, wenn er zuschlug, und mir wurde flau, wenn er einen zitternden Fisch aus dem Wasser holte und, ohne eine Miene zu verziehen, an Jack weiterreichte. Pär Pärsson war sauer auf mich, weil ich mich weigerte. Er sagte, irgendwann müsse ich mich überwinden, denn man könne sich nicht sein Leben lang wie ein Kleinkind aufführen. Aber ich wollte trotzdem nicht und schließlich ließ er mich in Ruhe.

Gegen vier Uhr nachmittags waren wir zurück am Steg. Pär Pärsson vertäute den Kahn. Er hatte sieben prächtige Hechte im Korb, ein Fang, mit dem er sehr zufrieden war. Jetzt freute er sich darauf, nach Hause zu gehen und die Fische auszunehmen. Jack hob den Korb aus dem Fischkasten, um ihn auf den Steg zu hieven – aber wenn man nur ein Auge hat, dann fällt es einem schwer, Abstände einzuschätzen. Und statt den Korb auf dem Steg abzusetzen, ließ er ihn direkt daneben los und mit lautem Platschen landete das ganze Ding im Wasser.

»Verflixt«, sagte Jack.

Pär Pärsson bekam einen Tobsuchtsanfall. Er brüllte und schrie und Jack duckte sich, wohl weil er dachte, er würde Prügel kassieren. Aber Pär Pärsson sprang ins Wasser, um zu versuchen, wenigstens ein paar der benommenen Hechte wieder einzufangen. Ohne Erfolg. Stattdessen stolperte er und wurde ganz und gar nass. Um ehrlich zu sein, sah er ziemlich lächerlich aus, wie er da im Wasser herumstrampelte. Die Hechte waren längst alle entkommen.

Auf dem Weg nach Hause war die Stimmung natürlich sehr schlecht. Pär Pärsson stapfte wortlos vorweg. Ich folgte ihm mit dem leeren Korb. Als Letzter, so weit hinter uns, dass er kaum noch zu sehen war, kam Jack. Er hielt sich den ganzen Abend fern und ließ sich auch nicht blicken, als es Essen gab. Pär Pärsson schien in Gedanken versunken. Er starrte stundenlang aus dem Fenster und schwieg. Nicht, dass mich das gestört hätte. Ich war lieber still, als die ganze Zeit »ja«, »doch«, »nein« auf sein übliches Gerede über den Hof, die Arbeit und das Wetter antworten zu müssen.

Als der Abwasch erledigt war, ging ich nach draußen. Es war ein schöner Frühlingsabend und ich wollte allein sein. Ich hatte keine Ahnung, wo Jack steckte. Manchmal verschwand er in den Wald, wenn er Ärger bekommen hatte. Ich schaute zu dem Weg, der durch die Felder in die Ferne führte, und dachte dasselbe, was ich schon tausendmal gedacht hatte: Ich habe nicht ein Leben, sondern drei. Das erste endete, als ich an diesen Ort hier kam. Das zweite wird enden, wenn ich von hier fortgehe. Und das ist der Moment, in dem mein drittes Leben beginnt. Dann werde ich der richtige Martin sein, der Martin, der seinen richtigen Vater sucht, und dann ist Schluss mit der Falschheit. Dann ist Schluss mit ja, doch, nein. Ich werde richtig reden, meine Meinung sagen und endlich rosige Wangen bekommen. Ich werde einer von denen sein, die strahlen.

»Martin?«

Ich zuckte zusammen. Pär Pärsson war aus dem Haus gekommen, ohne dass ich es gemerkt hatte. Ich wurde rot, bildete mir ein, er wüsste, was ich mir gerade ausgemalt hatte, aber das war natürlich Unsinn. Er schob die Hände in die Hosentaschen, schaute einen Augenblick nach unten. Er wirkte bedrückt.

»Ich habe beschlossen, dass der Hund gehen muss«, sagte er.

»G-gehen?«

»Genug ist genug. Über zehn Jahre hat er hier gewohnt und ist mir immer nur zur Last gefallen. Jetzt sollen sich andere um ihn kümmern.«

Als er sagte, dass sich andere um ihn kümmern sollten, meinte er damit, dass für Jack nun die Zeit gekommen war, von Almosen zu leben. Einem Hund, der kein Obdach hatte, dem blieb nichts anderes übrig, als von Tür zu Tür zu gehen. So wurde er in jedem Haus mit einer Kleinigkeit versorgt und statt einem allein schulterten viele gemeinsam die Last, wie es damals hieß.

»Ja, aber er ist doch so alt«, sagte ich.

»Das spielt keine Rolle«, antwortete Pär Pärsson. »Wäre ich klug gewesen, hätte ich ihn schon längst vom Hof gejagt, schon damals, als er das Auge verloren hat. Doch da war ich zu schwach und habe ihm erlaubt zu bleiben. Aber nun sind andere an der Reihe.«

Ich schüttelte den Kopf. Für gewöhnlich widersprach ich nie, wenn mein Vormund etwas entschieden hatte, aber ich war wohl so überrumpelt, dass es mir einfach herausrutschte:

»Aber wie zum Kuckuck soll das denn gehen? Ich meine, wie soll er denn noch mal ganz von vorn anfangen? Was, wenn er irgendwo landet, wo er sich kaputtschuften muss? Unten in Håga war ein Hund, der sich auf dem Kartoffelacker den Rücken gebrochen hat, und seine Leute haben nicht mal den Doktor gerufen …«

»Es ist nur recht und billig, dass jemand anders übernimmt«, fiel Pär Pärsson mir barsch ins Wort und diesmal hatte er die Stimme erhoben. Nun war mir alles klar. Er erklärte nicht, warum, und er erwähnte auch nicht, was unten am Steg vorgefallen war. Aber ich wusste ja, wie sehr er die Hechtjagd liebte. Wusste, wie ehrfürchtig er die Fahrradkette jedes Mal vom Nagel in der Schuppenwand nahm, wusste, dass er sonst immer pfiff, wenn wir mit dem Korb voll zappelnder Fische den schmalen Fußweg nach Hause gingen. Ja, Jack war ihm oft zur Last gefallen und hatte ihn einiges gekostet. Aber die Hechte, die in alle Richtungen geschossen und entkommen waren, hatten das Fass zum Überlaufen gebracht. Er drehte sich um und ging zurück ins Haus. Ich blieb stehen und schaute zum Weg, der durch die Felder in die Ferne führte. Die Schwalben riefen und zogen ihre Bahnen am Himmel. Ein Knacken am östlichen Gartentor weckte meine Aufmerksamkeit. Es war Jack, der aus dem Wald zurückkam. Er sagte nichts und ich blieb ebenfalls stumm. Lautlos ging er an mir vorbei zum Haus.

2

Es vergingen ein paar Tage, bis Jack erfuhr, dass er den Hof verlassen sollte. Da er dachte, dass er Pär Pärsson vielleicht noch umstimmen konnte, gab er sich wahnsinnig viel Mühe: Er machte Scherze, versuchte, sich einzuschmeicheln, und war so hilfsbereit, dass es schon unangenehm war. Doch als ihm dämmerte, dass es diesmal ernst war, dass es wirklich nichts mehr gab, woran er sich festklammern konnte, da wurde er wortkarg und grüblerisch.

An dem Abend, als Jack seine Sachen packte, verzog sich Pär Pärsson nach draußen in den Tischlerschuppen. Er war schmaler geworden. Der Anblick des jämmerlichen Hunds, der wie ein Gespenst durchs Haus schlich, habe ihm den Appetit verdorben, sagte er. Ja, er hatte wohl doch so etwas wie ein Gewissen.

Jack hatte eine zerschlissene Reisetasche mit Holzgriff bekommen. Und mit dieser Tasche stand er jetzt in der Nische unter der Treppe und stopfte sie voll. Er hatte nicht viel, er besaß ja fast nur seine Zeitungen. Vergilbte, fleckige Blätter mit Reihen voller schwarzer Dingerchen. Diese Dingerchen bildeten zusammen Wörter und die Wörter bildeten Sätze, das wusste ich. Aber wie sie das taten, das war mir immer noch ein Rätsel.

»Willst du die wirklich alle mitschleppen?«, fragte ich. »Wird dir das nicht zu schwer?«

Jack schwieg einen Moment. Dann sagte er nur kurz:

»Die müssen mit.«

Er fuhr mit der Pfote über eine zerknitterte Titelseite. Er tat mir leid. Wir hatten uns nie richtig nahgestanden, aber er war immer freundlich zu mir gewesen. Und es war ja eigentlich reines Pech, dass ihm diese Sache mit dem Auge in die Quere gekommen war. Ich hatte das Bedürfnis, etwas Nettes zu sagen.

»Warum zum Teufel musst du eigentlich diesen Grünen Star haben?«, fragte ich.

Er lachte leise. »Ja, warum zum Teufel habe ich den nur.«

Dann stopfte er weiter Zeitungen in seine Tasche. Er schien seine Ruhe haben zu wollen. Aber ich blieb bei ihm. Ich war wütend. Ich dachte daran, wie hart und unversöhnlich mein Vormund war. Ich hatte gehört, dass längst nicht alle Hunde so freundlich waren wie Jack. Es gab auch solche, die sich bewaffnet in den Wäldern herumtrieben. Unredliche Kerle, die stahlen und mordeten. Ich hatte schon Bilder von ihnen in Jacks Zeitungen gesehen, Steckbriefe hießen diese Personenbeschreibungen. Das bedeutete, dass der Bezirkswachtmeister hinter ihnen her war, um sie hinter Schloss und Riegel zu bringen.

»Du musst dich vor Räubern in Acht nehmen«, sagte ich.

Jack schauderte. Wahrscheinlich hatte er dasselbe gedacht. Denn natürlich war es nicht leicht, sich allein auf den Straßen durchzuschlagen, wenn man schon so alt war. Ich konnte mir vorstellen, dass einer wie er bestimmt leichte Beute war.

»Mit ein bisschen Glück findest du schnell eine neue Bleibe«, sagte ich. »Es gibt genug Höfe im Kirchspiel, die immer jemanden brauchen, der ordentlich anpacken kann.«

Da schwieg er wieder. Eine ziemlich lange Weile blieb er still, dann sagte er:

»Ich werde mich nicht bei den Bauern im Kirchspiel umhören.«

»Nicht?«

Er schüttelte den Kopf.

»Ja, aber … wen willst du denn dann fragen?«

Jack zögerte. Später erfuhr ich, dass er dieses Geheimnis, diesen Traum, schon sehr lange mit sich herumgetragen hatte. Hätte Pär Pärsson ihn nicht vom Hof gejagt, dann hätte er ihn wohl nie in die Tat umgesetzt, aber nun, dank der Sache mit den Hechten, war ihm die Entscheidung abgenommen worden. Er fing an, die Zeitungen zu dursuchen, die er schon eingepackt hatte, fand sofort die richtige und kam damit zu mir in den Flur, weil es dort heller war. Dann faltete er die Zeitung auf. Ich hatte das Bild vorher noch nie gesehen. Es zeigte eine Dame in einem schwarzen Kleid, das von oben bis unten mit Spitzen besetzt war. In den hochgesteckten Haaren trug sie eine Seidenblume. Sie war zweifellos stinkreich, aber das Auffallendste war, dass sie umringt von Hunden auf einem Sofa saß. Es waren unglaublich viele und einer sah struppiger aus als der andere. Jack legte eine raue Kralle auf die großen Buchstaben, mit denen der Text begann.

»Witwe Nilson hat sich dem Wohl der Hunde verschrieben«, las er vor. Dann fuhr er mit den mittelgroßen Buchstaben fort: »In der Villa Solsäter ermöglicht sie ihnen ein Leben in Sicherheit und Würde.«

»Kannst du lesen?«, fragte ich erstaunt – denn wie ich ja schon erwähnt habe, hatte ich immer gedacht, Jack würde sich nur die Bilder ansehen, wenn er in seinen Zeitungen blätterte. Da Hunde so gut wie nie zur Schule gehen durften, war es sehr ungewöhnlich, dass einer lesen und schreiben konnte.

»Ja, das kann ich«, sagte Jack.

»Woher denn?«, fragte ich.

»Ich habe es mir selbst beigebracht.«

»Selbst beigebracht?«

»Ja.«

»Aber … warum hast du das nie erzählt?«

Er schüttelte kurz den Kopf.

»Manche Dinge behält man besser für sich«, antwortete er.

»Hä?«, fragte ich. »Wie meinst das?«

»Na, ich glaube nicht, dass der Bauer davon begeistert wäre. Man sollte seinen Platz in der Gesellschaft kennen, wie es so schön heißt. Weiß du, in diesen Blättern hier steht eine Menge über die große, weite Welt. Dinge, die ein Hund vielleicht nicht wissen sollte, wenn es nach der Meinung gewisser Leute geht. Ich wollte nicht, dass er mir die Zeitungen wegnimmt.«

Jack senkte den Blick und las weiter, wählte einzelne Abschnitte hier und da aus. Offenbar war es so, dass die Dame auf dem Foto einer dieser großherzigen Menschen war, die das Bedürfnis hatten, mit ihrem Vermögen Bedürftigen zu helfen. Sie besaß ein prächtiges Haus am Ufer des Lummersees und dieses Haus stand allen Hunden offen, die dort bei ihr wohnen wollten. Sie bekamen bei ihr Unterricht und ordentliches Essen und am Abend durften sie in dem großen Garten herumstreunen und an den Rosen und Fliederbüschen schnuppern. Jeder von Flöhen zerstochene, verstoßene Straßenhund des Landes war bei ihr willkommen.

Jack sah mich mit seinem dunklen, glänzenden Auge an.

»Ich habe diese Zeitung so lange aufbewahrt«, sagte er. »Es ist ein ordentlicher Fußmarsch bis dorthin. Aber jetzt ist es endlich so weit.« Und dann verzog er sein Maul zu einem breiten, zahnlosen Lächeln und er sah sehr glücklich und furchtbar ängstlich zugleich aus.

Da durchfuhr mich der Gedanke, wie gleich wir waren, er und ich, und ich sagte:

»Eines Tages haue ich auch von hier ab. Aber ich muss warten, bis ich alt genug bin.«

Langsam faltete er seine Zeitung wieder zusammen. Schien mir gar nicht richtig zuzuhören.

»Dann gehe ich zu meinem Vater«, fuhr ich fort. »Pär Pärsson hat seinen Namen und seine Adresse in einem Umschlag, der in der blauen Kommode liegt. Den öffnen wir an meinem siebzehnten Geburtstag. Und dann kann mir das alles hier gestohlen bleiben.«

»Was du nicht sagst, soso. Aha«, murmelte Jack und verschwand wieder in seiner Treppennische. Er packte weiter. Ich war ein wenig gekränkt, weil er so gleichgültig wirkte. Aber ich sagte nichts mehr, sondern ließ ihn in Ruhe. Wenig später kam Pär Pärsson vorbei.

»Gut, gut«, brummte er, als er sah, dass Jack fast fertig war. »Na, es wird auch wirklich Zeit, dass du von hier verschwindest.«

Jack antwortete, dass er früh am nächsten Morgen aufbrechen würde, und Pär Pärsson brummte wieder und war damit zufrieden.

Dann war es Nacht. Wie gewöhnlich lag ich in der ausgezogenen Küchenbank und schlief, als ich plötzlich davon geweckt wurde, dass mich jemand stupste. Hastig setzte ich mich auf. Im Halbdunkel sah ich Jack neben meinem Bett stehen.

»Was ist denn?«, fragte ich.

Er hielt seine Reisetasche in den Pfoten.

»Ich gehe jetzt«, sagte er.

»Jetzt schon?«, fragte ich verwirrt.

»Ich wollte dir nur Lebwohl sagen und … dann wäre da noch eine Sache.«

Er spähte ängstlich zur Tür, die zur Pär Pärssons Kammer führte.

»Martin«, sagte er, »verflixt, ich weiß nicht, wie ich … Es ist alles so lange her. Als ich dich zum ersten Mal gesehen habe, hattest du Windeln an.«

»Ich habe schon geschlafen, ich bin müde«, sagte ich, denn auf solches Gerede hatte ich jetzt wirklich keine Lust.

Wieder warf Jack einen wachsamen Blick zur Kammertür.

»Es gibt etwas, das ich dir noch erzählen muss«, sagte er. »Ich durfte nie mit dir darüber sprechen und … ehrlich gesagt dachte ich, du hättest das Ganze längst vergessen. Aber als wir uns vorhin unterhalten haben, ist mir klar geworden, dass … Ich kann einfach nicht gehen, ohne es dir zu sagen. Das wäre nicht richtig.«

»Ohne mir was zu sagen?«

»Dieser Umschlag«, flüsterte Jack, »mit dem Namen deines Vaters, den ihr öffnet wollt, wenn du alt genug bist …«

»Ja?«

Das Fenster spiegelte sich viereckig in Jacks dunklem Auge.

»Diesen Umschlag gibt es nicht«, sagte er.

Ich sah ihn stumm an. Dann schnaubte ich.

»Wenn du mitten in der Nacht von hier abhauen willst, dann tu das. Aber komm mir nicht mit Lügen. Adieu.«

Dann war ich kurz davor, noch »alter Köter« oder eine andere Gemeinheit hinterherzuschieben, denn zum ersten Mal war ich wirklich wütend auf ihn. Aber ich ließ es bleiben, legte mich wieder hin und drehte ihm einfach nur den Rücken zu. Jack zögerte einen Augenblick. Dann nahm er seine Reisetasche und ging.

Als ich hörte, wie die Haustür zugezogen wurde, bekam ich Panik. Sie schwappte wie Säure durch meinen Körper, zwang mich dazu, mich wieder aufzusetzen. Mein Herzschlag musste durchs ganze Haus hallen. Ich hatte das Gefühl, wie ein Geist über Norrängen zu schweben. Als ich mit meinen Geisteraugen durch das Dach nach unten blickte, sah ich Martin in der ausgezogenen Küchenbank sitzen, starr vor Angst und dumm, und als ich zum südlichen Gatter schaute, sah ich Jack, der gerade den Hof verlassen hatte und in die Nacht verschwand. In diesem Moment schien die Zeit stillzustehen. Ich sprang auf und schlich zur Kammertür. Mein erster Gedanke war, Pär Pärsson zu wecken, aber dann besann ich mich. Ich schlich mich stattdessen auf dem anderen Weg in seine Kammer, und zwar durch die Tür im Flur, denn gleich neben dieser Tür stand die blaue Kommode. Leise wie eine Maus zog ich die zweite Schublade von oben auf. Darin lagen zwei Schafscheren und ein pechschwarzer Schuber, in dem eine ebenso pechschwarze Bibel steckte, außerdem ein kleines Kästchen mit Pär Pärssons Manschettenknöpfen und einige Bündel mit Briefen. Es fiel mir nicht schwer, den richtigen Umschlag zu finden. Ich wusste genau, wie er aussah, ich hatte ihn ja unzählige Male herausgenommen, wenn ich allein im Haus war, hatte ihn in der Hand gehalten und mich verachtet, weil ich nicht lesen konnte, was darin stand. Er war verschlossen, aber unbeschriftet, hatte weder eine Briefmarke noch war er adressiert.

Vom Bett, in dem Pär Pärsson lag, drang Schnarchen herüber. Ich machte mir nicht die Mühe, die Schublade wieder zu schließen, sondern verließ die Kammer und rannte in die fahle Nacht hinaus.

Hinter der ersten Wegbiegung, am Fuß des Hügels, der im Winter immer im Schnee versank, holte ich Jack schließlich ein. Er hatte mich schon von Weitem kommen hören, war stehen geblieben und hatte die Reisetasche abgestellt. Die Luft war kühl, dampfender Atem quoll aus meinem Mund, als ich ihn erreichte, den Umschlag mit dem Finger aufriss und den Brief herauszog, der darin steckte.

»Lies mir das vor«, sagte ich und drückte Jack das Blatt in die Pfoten.

Jack ließ den Blick über die blauen Buchstaben wandern.

»Gegen schweren Durchfall werden Kreide oder Wermut verabreicht. Die Medikamente sollten dem Pferd möglichst in fester Form gegeben werden«, sagte er.

»Was?«, fragte ich.

Jack las weiter:

»Tritt trotz der oben genannten Mittel keine Besserung ein, wird empfohlen, das Tier zur Ader zu lassen.« Er zuckte mit den Schultern. »Ja, und dann steht da noch der Name des Tierarztes und ein Datum.« Er las alles noch einmal, leise für sich. »Ich kann mich noch erinnern«, sagte er. »Wir hatten Probleme mit einer alten Stute. Pär Pärsson hatte nach dem Tierarzt rufen lassen, aber der konnte nicht kommen. Stattdessen hatte er seinen Lehrling mit diesem Brief geschickt. Aber es war schon zu spät, das Pferd war gestorben. Du musst damals ungefähr vier gewesen sein.«

Ich riss ihm den Brief aus der Pfote und starrte den Text an.

»Bist du sicher?«, fragte ich. »Bist du ganz sicher, dass hier steht, wie man Durchfall bei Pferden behandelt?«

»Ganz sicher«, antwortete Jack.

Da dachte ich kurz nach und dann sagte ich:

»Er muss sie verwechselt habe. Also, Pär Pärsson, natürlich hat er die Umschläge durcheinandergebracht. Der richtige muss irgendwo in einem der Bündel in der Kommode stecken.«

»Es gibt keinen Umschlag«, sagte Jack. »Hörst du, was ich sage, Martin? Als ich dich zum ersten Mal gesehen habe … du hattest noch Windeln an …«

»Sei still!«, brüllte ich. Ich bohrte meinen Zeigefinger hart in seine knochige Brust. »Als Pär Pärsson mich abgeholt hat, haben sie ihm einen Umschlag mitgegeben«, sagte ich. »Darin steht der Name und die Anschrift meines Vaters und diesen Umschlag darf ich aufmachen, wenn ich alt genug bin. So wird das gemacht. So lauten die Regeln.«

»Aber die Regeln besagen auch, dass die leiblichen Eltern anonym bleiben dürfen, wenn sie das wollen. Dann wird dem neuen Vormund kein Umschlag ausgehändigt«, sagte Jack. Er zuckte wieder mit den Schultern. »Und dein Vater hatte sich dafür entschieden, von seinem Recht auf Anonymität Gebrauch zu machen. Ich weiß es. Denn ich habe dich damals im Waisenhaus abgeholt und nicht Pär Pärsson.«

»Du?«, fragte ich.

Er nickte.

»Du hattest furchtbare Angst, als der Zug gepfiffen hat. Du warst noch so klein. Hattest noch Windeln an.« Er rieb sich mit der Pfote über die Höhle, wo das rechte Auge gewesen war. Manchmal juckte es dort wohl. »Pär Pärsson hatte alles per Post in die Wege geleitet«, sagte er. »Und als der Tag gekommen war, brachte er mich mit dem Pferdeschlitten zum Bahnhof. Die Zugreise dauerte fast den ganzen Tag. Es war schön, mal ein bisschen rauszukommen. Und ich muss sagen, dass ich dort nur freundlichen Menschen begegnet bin. In dem Waisenhaus, meine ich. Ich bin noch nie so gut behandelt worden wie damals.«

»Wie schön für dich!«, heulte ich. »Wie wunder-, wunderschön für dich, dass du so gut behandelt wurdest!«

Ich hätte ihn am liebsten umgebracht. Ihn und diese Leute vom Waisenhaus und Pär Pärsson und sogar den Tierarzt. Ich hätte sie alle umbringen können. Es fühlte sich an, als hätten sich alle gegen mich verbündet, um mich gemeinsam an der Nase herumzuführen, als hätten sie sich jahrelang krummgelacht, während ich mich zum Gespött gemacht hatte.

Natürlich merkte Jack, dass ich vor Wut brodelte.

»Ich denke, ich muss dich wohl um Entschuldigung bitten«, sagte er. »Es ist so lange her, dass du über deinen Vater gesprochen hast. Ich dachte, du hättest dir das Ganze aus dem Kopf geschlagen.«

»Was genau bedeutet das eigentlich?«, fragte ich. »Dieses Recht auf Ano-irgendwas.«

»Recht auf A-no-ny-mi-tät. Das bedeutet, dass die Einrichtung weder seinen Namen noch seine Anschrift in ihrem Archiv aufbewahrt, weil er, nun, wie soll ich das sagen … weil er es so wollte.«

»Weil er es so wollte«, wiederholte ich, um es wirklich zu verstehen, um die brennende, bohrende Bedeutung dieser Worte wirklich zu begreifen. Ich sah Jacks graues Gesicht an, sah seinen krummen Körper und die Reisetasche neben seinen Pfoten. Diese Reisetasche war das absolut lächerlichste Ding, das man einem wie ihm hätte geben können. Eine richtige Alte-Tanten-Tasche, eins von diesen bauchigen Modellen mit großem Blumenmuster. Nein, dachte ich, Jack hatte es nicht verdient, erwürgt zu werden, genauso wenig wie Pär Pärsson, die Leute aus dem Waisenhaus oder der Tierarzt. Verdient hatte es nur mein Vater. Der Mann, um den ich abends allein im Bett geweint hatte, wegen dem ich mitten in der finsteren Nacht durch die Felder gerannt war, weil ich ihn suchen wollte. Der Mann, den ich mir als einen guten und liebenswerten Menschen ausgemalt hatte, als einen, der seit all den Jahren nur auf den Tag wartete, an dem ich strahlend und glücklich auf ihn zugestapft kommen und sagen würde: »Guten Tag, Vater!«

Aber meinen Vater konnte ich nicht umbringen, denn niemand wusste, wo er war. Er hatte sich dazu entschieden, anonym zu bleiben.

»Weißt du«, sagte Jack, »ich kann gut verstehen, dass dich das aufwühlt. Aber eigentlich ist es gar nicht so schlimm. Mit mir hat sich Pär Pärsson immer schwergetan. Aber dich, dich mag er.«

»Aber ich mag Pär Pärsson nicht!«, schrie ich. »Pär Pärsson ist ein Teufel! Schon als kleines Kind wollte ich immer nur weg! Was zur Hölle soll ich denn jetzt tun?«

»Das weiß ich auch nicht«, sagte Jack. »Ich weiß es wirklich nicht.« Dann nahm er seine Reisetasche und ging. Im fahlen Mondlicht warfen die Bäume dünne Schattenstriche auf den Weg. Es sah aus, als würde er über einen sehr langen Flickenteppich davonspazieren. Er war schon ein Stück gegangen, als er sich noch einmal umdrehte.

»Ich glaube, er war traurig«, sagte er.

»Was?«

»Dein Vater. Man konnte es ihm ansehen.«

»Was meinst du?«, fragte ich und lief ihm nach. »Was meinst du damit, dass man es ihm ansehen konnte? Bist du ihm begegnet?«

»Aber ja«, sagte Jack. »Er war da. Sagte kein Wort. Nur die Leute vom Waisenhaus haben geredet und du, du hast ziemlich viel geschrien. Aber hinten im Zimmer saß ein blonder Mann, ein ziemlich schmucker Kerl, wenn du mich fragst. Er hat dich die ganze Zeit mit einem Blick angesehen, den ich nie vergessen werde. Eine Weile dachte ich sogar, er würde aufspringen und dich von meinem Schoß reißen. Aber irgendetwas hat ihn davon abgehalten. Ich weiß nicht, was es war.«

Ich spürte, wie ein Orkan durch meinen Körper fegte, hörte den Sturm in meinen Ohren rauschen.

»Was zum … Du hast ihn gesehen?«

»Aber ja«, sagte Jack wieder.

Ich dachte nicht lange nach. Vielleicht dachte ich auch überhaupt nicht nach. Ich traf einfach eine Entscheidung.

»Warte hier«, sagte ich zu ihm. »Geh nirgendwohin, hörst du? Ich bin gleich zurück.«

Dann rannte ich mit klopfendem Herzen wieder den Hügel hinauf. Nebel zog in dünnen Schwaden über die Felder. Im Osten war schon ein heller Streifen zu erahnen. Ich schwitzte und fror zugleich.

Als ich ins Haus kam, raffte ich alle Kleider zusammen, die mir gehörten, und stopfte sie in einen Sack. Dann steckte ich mein Messer ein, das Pär Pärsson mir zum neunten Geburtstag geschenkt hatte. Ein klappbares Taschenmesser mit Hornschaft. »Teuer«, hatte er gesagt.

Danke dafür, Bauerntrottel, dachte ich. Danke, dass du mich in schwarzen Nächten geschlagen hast, als ich traurig und verängstigt war. Danke, dass du gesagt hast, ich wäre faul, als ich müde war und mich vom Rübenverziehen ausruhen wollte. Danke, dass du mich zum Melken geschickt hast, obwohl ich Schnupfen hatte. Danke, dass du mir all die Jahre mit dem Umschlag des Tierarztes vor der Nase herumgewedelt hast, damit ich den Mund halte und gehorsam bin. Danke, dass du mich ausgetrickst hast. Auf Wiedersehen!

Dann zerknüllte ich den Brief, warf ihn auf den Boden und rannte zurück zu Jack. Es war der 12. Mai des Jahres 1910, und als wir das Dorf verließen, huschte die schwarze Katze des Kaufmanns vor uns über die Straße. Noch heute, während ich diese Zeilen schreibe, bin ich überzeugt, dass diese Katze ein Vorbote für all die Prüfungen und Verhängnisse war, die uns schon bald ereilen sollten.

3

Jack sollte mir meinen Vater zeigen. Das war der Plan, den ich mir zurechtgelegt hatte. Er war ihm begegnet und wusste, wie er aussah. Seitdem waren nur acht Jahre vergangen, Vater sah im Großen und Ganzen vermutlich noch ziemlich genauso aus wie damals.

Das Waisenhaus, aus dem Jack mich abgeholt hatte, befand sich in Kumla, einer kleinen Gemeinde, die nicht allzu schwer zu durchsuchen sein würde. Und wenn ich meinen Vater gefunden hatte, konnte Jack seine Reise an den Lummersee zu dieser Frau mit der Blume in den Haaren fortsetzen. Dort konnte er dann bleiben, Bücher lesen, an Rosen schnuppern, sich am Hintern kratzen und tun und lassen, was er wollte – aber zuerst mussten wir nach Kumla.

Mein Vater hatte traurig ausgesehen. Das war gut. Das taute diese eisige Anonymitätssache auf, machte alles um hundert Grad wärmer. Jack hatte sogar gedacht, dass mein Vater aufspringen und mich von seinem Schoß herunterreißen würde. Das war gut, oh, so gut – und es passte genau zu meiner Vorstellung, dass mein Vater mich nur deshalb hatte weggeben müssen, weil er so arm gewesen war. Und vielleicht verhielt es sich ja sogar so, überlegte ich mir, dass er gar nicht anonym bleiben wollte, sondern von den Leuten im Waisenhaus dazu überredet worden war? Vielleicht machte man das so bei armen Menschen?

Jack fand es dumm von mir, dass ich abgehauen war. Auf den ersten Kilometern versuchte er immer wieder, mich zum Umkehren zu überreden. Aber ich weigerte mich, und da er wegen der ganzen Geschichte mit dem Umschlag ein ziemlich schlechtes Gewissen hatte, gab er sich schließlich geschlagen und versprach, mir zu helfen. Er schätzte, dass wir höchstens ein, zwei Wochen für den Weg nach Kumla brauchen würden, wenn wir es gemächlich angehen ließen. Das erste Stück sollten wir uns von der Landstraße fernhalten, da waren wir uns einig, denn wir wollten ja nicht riskieren, dass Pär Pärsson uns mit dem Pferdewagen einholte. Zu jener Zeit gab es unzählige Pfade und verschlungene schmale Wege in unserem lang gestreckten Land, über die Jahre in den Boden getrampelt von all jenen, die seit Ewigkeiten hier wohnten, seit die Götter die Welt aus dem Körper des Riesen Ymir erschaffen hatten. Der gefürchtetste Feind der Götter war der Fenriswolf. Sie hatten ihn mit einer Schlinge um den Hals gefesselt, aber wenn Ragnarök, der Weltuntergang, kam, dann kam auch der Wolf wieder frei.

Inzwischen war es Vormittag geworden. Wir hatten die letzten Rübenäcker des Dorfs schon vor einigen Stunden hinter uns gelassen und waren im Wald. Ich fand es hier ziemlich gruselig. Der Wind rauschte in den Baumkronen wie die Stimmen von tausend Toten und unter unseren Füßen schlängelten sich die Kiefernwurzeln wie Blindschleichen. Ich dachte an die bösen Hunde. An die, deren Bilder ich in Jacks Zeitungen gesehen hatte. Ich fragte mich, ob sie wohl im Unterholz lauerten und uns beobachteten. Mit den Pfoten über die Klingen ihrer Messer strichen und nur darauf warteten, aus dem Gebüsch zu springen. Dann hieß es für uns: Rennt um euer Leben!

Jack schien keine Angst zu haben. Er pfiff, blinzelte hoch zum Himmel und ließ die Reisetasche in seiner Pfote munter hin und her schlenkern. Die kaputte Schnalle klimperte leise bei jeder Bewegung.

»Wer hätte das gedacht«, sagte er, »dass du und ich mal auf Wanderschaft gehen würden. Was sagst du dazu, Martin?«

»Tja«, sagte ich.

Jack pfiff wieder ein Weilchen vor sich hin und sagte dann:

»Wenn wir an einer Hütte vorbeikommen, bitten wir um eine Mahlzeit. Oder bist du nicht hungrig?«

»Doch«, sagte ich.

Und so marschierten wir weiter und auf den Vormittag folgte der Mittag und auf den Mittag der Nachmittag und Jacks Magen knurrte immer lauter. Er versuchte, sich zu räuspern, damit ich es nicht hörte. Jack hatte einen gesegneten Appetit, das war auch eines der Dinge, die Pär Pärsson mit der Zeit immer mehr geärgert hatten.

Zum Beispiel hatte Jack gern die Reste von meinem Teller aufgegessen, hatte Schwarte, Knorpel und verbrannte Kartoffeln in Windeseile in sich hineingeschlungen. Und das missfiel Pär Pärsson, weil er es gierig fand.

Endlich, als die Sonne schon fast unterging, sahen wir eine Hütte. Sie lag auf der anderen Seite eines großen Moors.

»Und jetzt, mein Freund«, sagte Jack, »jetzt müssen wir uns hübsch machen.« Er spuckte in seine Pfoten und bemühte sich, das struppige Fell auf seinem Kopf zu bändigen. Dann marschierten wir schnurstracks durchs Moor und wurden nass bis an die Oberschenkel. Die Spinnen, die ihre Netze ins Wollgras gesponnen hatten, brachten sich hastig in Sicherheit, als sie uns kommen sahen.

Das Häuschen war ärmlich. Es war aus Holzbrettern, Torf und Pappe zusammengezimmert und sah aus, als würde es zusammenfallen, wenn man nur kräftig genug pustete. Jack musste lange an die Tür klopfen, aber schließlich ging sie einen Spaltbreit auf. Eine alte Frau streckte ihre lange, schwarz gesprenkelte Nase heraus.

»Wer ist da?«, krächzte sie.

»Guten Tag, schöne Frau!«, sagte Jack und verbeugte sich. »Habt Ihr einen Schluck Kaffee und eine Kleinigkeit zu essen für zwei hungrige Wanderer?«

Die Alte musterte uns von Kopf bis Fuß. Sie hatte wässrige, tränende Augen und ihr Blick war ziemlich misstrauisch.

»Nur wenn ihr keine Räuber seid«, sagte sie.

»Aber nicht doch, gute Frau, das sind wir nicht«, sagte Jack. »Das schwöre ich auf Ehre und Gewissen.«

»Mja«, sagte die Alte, »wenn das so ist.«

Sie ließ uns eintreten, und wenn diese Hütte von außen armselig ausgesehen hatte, dann war das nichts im Vergleich zu dem Elend, das uns drinnen erwartete. Boden und Decke waren morsch, überall löste sich die Tapete von den Wänden und der rußige Kamin hatte Risse. Noch nie in meinem Leben hatte ich so viel Schmutz gesehen. Ich wusste noch nicht einmal, wo ich meinen Sack abstellen sollte.

Jack versuchte, sich nichts anmerken zu lassen.

»Lieber ein bisschen Dreck hier und da als die Hölle auf Erden«, sagte er und setzte sich auf eine Zuckerkiste, die krachend unter ihm zusammenbrach. Er entschuldigte sich tausendmal mit vielen Verbeugungen und rieb sich den Po, während die Alte die Holzsplitter aufkehrte. Dann brachte sie jedem von uns einen Becher Kaffee, Brot und Speck.

Kurz darauf schlich eine kleine Hündin mit Augen, so schwarz wie Kohle, aus einer dunklen Ecke hervor. Sie kletterte auf die Küchenbank und schnappte sich ein Stückchen Brot. Lonna hieß sie und die Alte hieß Moor-Hanna. Ihr Häuschen nannte sie Dånsjö-Hütte, so wie die Gegend, in der es stand. Moor-Hanna sagte, im Sommer ließe es sich hier ganz gut aushalten, aber im Winter sei es so kalt in der Hütte, dass sie morgens oft mit gefrorenem Rotz an ihrer alten Nase aufwachen würde.

»Ja, es ist nicht einfach, arm zu sein«, sagte Jack und schüttelte den Kopf. Dann erzählte er von all den Zeitungen in seiner Reisetasche und er berichtete, dass er auf dem Weg in die Villa Solsäter war, um seine letzten Tage dort in Ruhe und Frieden zu verbringen. Er erzählte vom bekömmlichen Essen dort, von den Blumen im Garten und dem ganzen anderen Pipapo. Moor-Hanna lachte heiser und schaukelte auf ihrem Stuhl und Lonna saß kerzengerade da und hörte zu. Jack redete weiter.

»Aber wenn ich noch jung wäre! Teufel noch eins, dann würde ich nach Stockholm reisen und auf die Barrikaden gehen.«

»Was heißt das?«, fragte ich und biss in mein hauchdünnes Speckstück.

»Das sagt man so«, sagte Jack. »Das bedeutet, dass man gegen die Ungerechtigkeit protestiert.« Und dann erklärte er uns, dass dort in Stockholm das Stimmrecht gefordert wurde. Nicht nur für die Herren mit Hüten, sondern für das ganze Volk. Für Mörder, Idioten, Frauen, ja, ALLE sollten das Stimmrecht bekommen und es gab sogar manche, die meinten, dass auch HUNDE ein Stimmrecht haben sollten.

»Stell dir das mal vor«, sagte Jack und sah Lonna aufmunternd an. »In ein paar Jahren darfst du vielleicht auch zur Wahlurne gehen! Was sagst du dazu?« Er tätschelte ihr den Kopf und lächelte beim Anblick ihrer kleinen struppigen Erscheinung. »Wir armen Schlucker müssen zusammenhalten!«, sagte er. »So steht es in den Zeitungen. Niemand weiß, was die Zukunft für uns bereithält.«

Da stand Moor-Hanna wie auf ein geheimes Zeichen auf und holte eine Flasche hervor. Sie konnte nämlich mit Branntwein zaubern, und wenn wir wollten, sagte sie, dann würde sie uns ein paar Dinge über die Zukunft erzählen.

Ungläubig sah Jack die Flasche an.

»Kann der Schnaps uns wirklich verraten, ob Hunde das Stimmrecht bekommen werden?«, fragte er.

»Njaaa, nein«, schnarrte Moor-Hanna, »aber er kann dir so manches darüber verraten, wie es dir im Leben ergehen wird. Und dem Jungen auch.«

Jack wirkte nicht sehr überzeugt, aber ich fand, das klang spannend, und Moor-Hanna holte ohne Umschweife ein Glas und stellte es auf den Tisch. Mit gesträubtem Fell sah Lonna zu, wie das Glas bis zum Rand gefüllt wurde. Dann saß die Alte da und starrte in den Branntwein, aber nach einer Weile schüttelte sie den Kopf und sagte:

»Es will nicht.«

Sie kippte den ganzen Schnaps auf einmal hinunter und schenkte sich einen neuen ein. Dann starrte sie noch durchdringender in die trübe Flüssigkeit, aber nach einer Weile sagte sie, dass es auch diesmal nicht klappte – und trank alles in einem Zug aus. So ging es noch eine ganze Zeit lang weiter und Jack zischte mir seufzend ins Ohr, dass das ja wohl reiner Humbug war. Moor-Hanna wurde immer betrunkener. Und je betrunkener sie wurde, umso schlimmer standen Lonna die Haare zu Berge.

Aber schließlich erschien dort unten im Glas wohl doch noch die Zukunft, denn plötzlich fuhr ein Ruck durch Moor-Hanna. Sie richtete sich auf und saß stocksteif da. Die Augen rollten in ihren wässrigen Höhlen hin und her und sie verkündete mit dumpfer, leiernder Stimme:

»Der Hund muss in Finsternis wandern, aber der Junge wird entgegen der Sonne Lauf im Kreis herumgehen – und wer das tut, wird ein großer, erfolgreicher Mann oder endet als verirrte Seele, die niemals Ruhe findet!«

Jack sah sie eine oder zwei Sekunden an.

»Was für ein hanebüchener Unsinn. Das bedeutet rein GAR NICHTS.«

Moor-Hanna wurde wütend. Sie sagte, sie habe schon mit Branntwein gezaubert, lange bevor seine Straßenköter-Eltern auch nur ein Auge aufeinander geworfen hatten – sie wisse sehr wohl, was sie da tat!

Jack schnaubte.

»Sie saufen, gute Frau«, sagte er. »Das ist alles.«

»Ach ja?«, krächzte Moor-Hanna und sprang so hastig auf, dass ihr Stuhl umkippte. Lonna schoss mit einem Satz davon und versteckte sich hinter dem Korb mit Brennholz. Da saß sie und zitterte vor Angst und Anspannung, während die Hausherrin anfing, sich mit Jack zu prügeln. Und es wurde wirklich ein furchtbar unangenehmes Spektakel. Moor-Hanna war ja knüppelvoll, weshalb es für Jack ein Leichtes war, sich die Alte vom Leib zu halten. Sobald sie mit ihren zu Klauen gekrümmten Fingern auf ihn zustürmte, schubste er sie weg und mit jedem Mal, das Moor-Hanna gegen die Wand prallte, wurde sie noch wütender. Aber plötzlich fiel sie hin und stieß ein lautes Geheul aus.

»Au, au, mein Rücken!«, jammerte sie. »Mein Rücken! Ich glaube, er ist gebrochen!«

»O Herrgott«, sagte Jack und bückte sich, um ihr aufzuhelfen, aber das hätte er besser nicht getan. Denn Moor-Hanna hatte ihn ausgetrickst, und als sie wieder auf den Beinen war, da hielt sie das Fleischermesser in der Hand, das in dem ganzen Durcheinander auf dem Boden gelandet war. Mit einem Schrei rammte sie die Klinge in Jacks Richtung und verfehlte seinen Bauch nur um Haaresbreite.

»Ihr seid ja verrückt, Frau!«, heulte er.

»Verzieh dich!«, schrie Moor-Hanna und scheuchte ihn nach draußen in die schwarze Nacht. Dann scheuchte sie mich hinterher, knallte die Tür zu und schloss hinter sich ab.

Jack rüttelte an der Klinke.

»Meine Tasche!«, schrie er. »Meine Zeitungen!«

»Da kann mein Hund draufpinkeln, dann macht sie meinen Nachttopf nicht schmutzig«, antwortete Moor-Hanna und lachte gehässig. Dann hörten wir nichts mehr. Wahrscheinlich hatte sie wieder angefangen zu zaubern.

Jack zog sich vor Wut die Ohren lang.

»Was für ein Teufel!«, sagte er. »Was für ein teuflisches altes Weib!«

»Ja-a«, sagte ich.

»Was zur Hölle machen wir denn jetzt?«, schimpfte Jack.

»Von hier verschwinden, nehme ich an«, sagte ich.

»Niemals!«, fauchte Jack. »Ich will meine Zeitungen wiederhaben und damit Ende.« Er seufzte und kratzte sich am Kopf. »Wir müssen die Nacht im Moor verbringen, bis sie morgen früh wieder ausgenüchtert ist«, sagte er. »Etwas anderes bleibt uns nicht übrig.«

»Mhm, einverstanden«, antwortete ich und so verließen wir zaghaft den kleinen, überdachten Hauseingang, um uns einen Schlafplatz zu suchen. Wir stolperten über Wurzeln, Grasbüschel und durch Wasserlöcher und Jack stieß sich die Pfoten an einem großen blöden Stein.

»Aua, verdammt«, sagte er.