Mary Shelley: Frankenstein - Mary Shelley - E-Book

Mary Shelley: Frankenstein E-Book

Mary Shelley

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Beschreibung

Der junge Wissenschaftler Victor Frankenstein will das Geheimnis des Lebens ergründen. In nächtelangen Experimenten erschafft er aus Leichenteilen ein künstliches Wesen und haucht ihm Leben ein. Doch als seine Kreatur die Augen öffnet, ist er von deren Hässlichkeit so entsetzt, dass er sie verstößt. Obwohl intelligent und zu tiefen Gefühlen fähig, wird das Geschöpf bei seiner verzweifelten Suche nach menschlicher Nähe überall mit Abscheu und Gewalt zurückgewiesen. Seine wachsende Verbitterung richtet sich schließlich gegen seinen Schöpfer: Es beginnt eine dramatische Verfolgungsjagd durch Europa bis in die Eiswüste der Arktis. Mary Shelleys 1818 erschienener Roman ist weit mehr als eine Schauergeschichte: In eindringlichen Bildern erkundet sie die Grenzen wissenschaftlichen Forschens, die Sehnsucht nach Liebe und die zerstörerische Kraft der Einsamkeit.

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Mary Shelley

Frankenstein

Der neue Prometheus

Copyright © 2024 Novelaris Verlag

1. Auflage

ISBN: 978-3-68931-139-1

Inhaltsverzeichnis

Einführung

1. Brief

2. Brief

3. Brief

4. Brief

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

Cover

Table of Contents

Text

Einführung

Die Herausgeber der »Meisternovellen« haben mich vor Veröffentlichung meines »Frankenstein« gebeten, ihnen einiges über dessen Entstehung zu berichten. Ich entspreche diesem Wunsche umso lieber, als mir dadurch Gelegenheit geboten ist, allgemein die so häufig an mich gerichtete Frage zu beantworten, wie ich als Frau dazukäme, einen so entsetzlichen Stoff zu erdenken und zu bearbeiten. Ich stelle mich ja allerdings nicht gern in den Vordergrund; aber da diese Erklärung mehr oder minder nur ein Anhang zu meinem Werk ist und ich mich nur auf das beschränken werde, was unbedingt mit meiner Autorschaft zusammenhängt, kann man mir kaum persönliche Eitelkeit zum Vorwurf machen.

Es ist meines Erachtens nichts Außerordentliches, daß ich, als Kind zweier literarischen Berühmtheiten, ziemlich früh im Leben am Schreiben Gefallen fand. Schon als ganz kleines Mädchen wußte ich mir keinen besseren Zeitvertreib als das »Geschichtenschreiben«. Bis ich allerdings noch ein schöneres Vergnügen fand, das Bauen von Luftschlössern, das Versenken in Wachträume, das Verfolgen von Gedankenreihen, die sich aus erfundenen Ereignissen ergaben. Meine Träume waren auf alle Fälle schöner und phantastischer als das, was ich niederschrieb. Denn beim Schreiben folgte ich mehr den Spuren anderer, als daß ich meine eigenen Gedanken wiedergab. Ich machte mich selbst nie zur Heldin meiner Erzählungen. Denn das Leben erschien mir in Bezug auf mich selbst als nichts Romantisches und ich konnte mir nicht vorstellen, daß außergewöhnliche Leiden oder merkwürdige Ereignisse in meinem Dasein eine Rolle spielen sollten. Und so konnte ich in meiner Phantasie Geschöpfe entstehen lassen, die mir damals weit interessanter waren als meine eigenen Gefühle.

Dann aber wurde mein Leben ereignisreicher und die Wahrheit trat an die Stelle der Dichtung. Allerdings war mein Mann ängstlich darauf bedacht, daß ich meiner literarischen Abstammung Ehre mache und selbst zu einer Berühmtheit werde. Er erregte in mir den Wunsch, einen literarischen Ruf zu erringen; ein Ziel, gegen das ich heute vollkommen gleichgültig geworden bin.

Im Sommer 1816 bereisten wir die Schweiz und ließen uns in der Nähe Lord Byrons nieder. Wir verbrachten mit ihm herrliche Stunden auf dem See oder an dessen Ufern. Der einzige unter uns, der seine Gedanken schriftlich niederlegte, war Lord Byron. Er hatte eben den dritten Gesang seines »Childe Harold« in Arbeit. Diese Verse, die er uns nach und nach zu Gehör brachte, schienen uns ein Ausfluß all der uns umgebenden Naturschönheit, verklärt durch den Glanz und den Wohllaut seiner Kunst.

Ein feuchter, unfreundlicher Sommer fesselte uns viel ans Haus. Da fielen uns gelegentlich einige Bände deutscher Gespenstergeschichten in die Hände.

»Wir wollen alle eine Gespenstergeschichte schreiben,« schlug da Lord Byron vor, und alle stimmten wir diesem Vorschlage bei. Wir waren unser Drei. Der Urheber des Gedankens begann eine Geschichte, von der er ein Fragment am Schlusse seines »Mazeppa« verwendete. Shelley, der es besser verstand, Gedanken und Gefühle in die schönsten, glänzendsten Verse zu bringen, die unsere Sprache kennt, als eine Geschichte zu erfinden, erzählte ein Jugenderlebnis.

Ich selbst gab mir Mühe, eine Geschichte zu erdenken, die es mit den von uns gelesenen aufnehmen könne. Eine Geschichte, die das tiefste Entsetzen im Leser hervorrufen, das Blut stocken und das Herz heftiger klopfen lassen sollte.

Oft und lange diskutierten Lord Byron und Shelley, während ich als bescheidene aber aufmerksame Zuhörerin dabei saß. Eine der philosophischen Hauptfragen, die diskutiert wurden, war die nach dem Ursprünge des Lebens und ob es je möglich sei, ihm auf den Grund zu kommen. Man besprach die Experimente Darwins. Es handelt sich für mich nicht darum, daß der Gelehrte diese Experimente wirklich vornahm, sondern um das, was darüber gesprochen wurde. Darwin hatte in einer Glasdose ein Stückchen Maccaroni aufbewahrt, das dann aus irgend welchen Ursachen willkürliche Bewegungen zu machen schien. Jedenfalls glaubte ich nicht, daß auf diesem Wege Leben erzeugt werden könne. Aber vielleicht wäre es denkbar, einen Leichnam wieder zu beleben, was ja auf galvanischem Wege bereits geschehen ist, oder die Bestandteile eines Lebewesens zusammenzufügen und ihm lebendigen Odem einzuhauchen.

Unter diesen Gesprächen wurde es tiefe Nacht. Als ich mein Haupt auf die Kissen bettete, konnte ich nicht einschlafen; ein halbschlummerndes Nachsinnen bemächtigte sich meiner. Phantastische Bilder tauchten ungebeten vor mir auf und erreichten einen selten hohen Grad von Lebendigkeit. Ich sah mit geschlossenen Augen den bleichen Jünger der schrecklichen Wissenschaft vor dem Dinge knieen, das er geschaffen. Ich sah das schreckliche Zerrbild eines Menschen ausgestreckt daliegen und dann sich plump, maschinenmäßig regen. Furchtbar müßte es auf den Menschen wirken, wenn es ihm gelänge, den Schöpfer in seinem wunderbaren Wirken nachzuahmen. Der Erfolg müßte den Künstler aufs tiefste erschrecken, so daß er entsetzt der Stätte seiner Arbeit entflieht. Er müßte hoffen, daß der schwache Lebensfunke, den er entzündet, sich selbst überlassen, wieder erlösche; daß das Ding, dem er eine Art Leben eingehaucht, wieder in die Materie zurücksinke; und er müßte einschlafen in dem Gedanken, daß das Grab sich wieder schlösse über dem häßlichen Leibe, den er als Triumph des Lebens bisher betrachtet hatte. Er schläft, aber nicht tief; er öffnet plötzlich die Augen – an seinem Bette steht das Ungeheuer, hält die Vorhänge auseinander und starrt auf ihn mit seinen gelben, wässerigen, aber aufmerksamen Augen.

Auch ich öffnete erschreckt die Lider. Die Idee hatte mich derart gefangen genommen, daß es mich eiskalt überlief und ich vergebens mich bemühte, das gespenstische Bild meiner Phantasie wieder mit der Wirklichkeit zu vertauschen. Ich erinnere mich noch heute ganz genau an das dunkle Zimmer mit seiner Täfelung, auf der sich durch die geschlossenen Gardinen fahl das Licht des Mondes spiegelte. Ich wußte, daß draußen spiegelglatt der See lag und die Alpen ihre Häupter starr zum Himmel erhoben; aber trotzdem konnte ich meines Phantasiegebildes nicht ledig werden. Ich mußte versuchen an Anderes zu denken. Da fiel mir meine Gespenstergeschichte ein, meine unglückselige Gespenstergeschichte! Oh könnte ich doch eine erfinden, die meine Leser ebenso erschüttern würde wie mich das Gesicht jener Nacht!

Wie ein Licht flammte es in mir auf. Ich habe sie! Was mich erschreckte, soll auch andere erschrecken. Ich habe nur den unheimlichen Halbtraum jener Nacht zu beschreiben.

Anfangs dachte ich daran, nur eine kurze Erzählung zu schreiben. Aber dann fesselte die Idee mich so stark, daß ich sie weiter ausgesponnen habe. Und nun, du unheimliches Kind meiner Muse, gehe hinaus und wirb dir Freunde!

London, 15. Oktober 1831.

M. S.

1. Brief

An Frau Saville, London

St. Petersburg, den 11. Dez. 18..

Es wird Dir Freude bereiten, zu hören, daß kein Mißgeschick den Anfang des Unternehmens betroffen hat, dessen Vorbereitungen Du mit solch trüben Ahnungen verfolgtest. Ich bin gestern hier angekommen, und das Erste, was ich tue, ist, meiner lieben Schwester mitzuteilen, daß ich mich wohl befinde und daß ich mit immer wachsenden Hoffnungen dem Fortgang meines Unternehmens entgegensehe.

Ich bin ein gutes Stück weiter nördlich als London, und wenn ich so durch die Straßen Petersburgs schlendere, pfeift mir ein eisiger Wind um die Wangen, der meine Nerven erfrischt und mich mit Behagen erfüllt. Begreifst Du dieses Gefühl? Dieser Wind, der aus den Gegenden herbraust, denen ich entgegenreise, gibt mir einen Vorgeschmack jener frostigen Klimate. Dieser Wind trägt mir auf seinen Flügeln Verheißungen zu und meine Phantasien werden lebhafter und glühender. Ich versuche vergebens, mir klar zu machen, daß der Pol eine Eiswüste sein muß; immer stelle ich ihn mir als eine Stätte der Schönheit und des Entzückens vor. Dort, Margarete, geht die Sonne nicht unter; ihre mächtige Scheibe streift am Horizont und verbreitet ein mildes Licht. Was dürfen wir erwarten von diesem Lande der ewigen Sonne? Vielleicht entdecke ich dort den Sitz jener geheimnisvollen Kraft, die der Magnetnadel ihre Richtung verleiht, und bin imstande, die Unrichtigkeit so mancher astronomischen Beobachtung und Hypothese zu beweisen. Meine brennende Neugierde will ich mit dem Anblick von Ländern befriedigen, die nie eines Menschen Auge noch sah, Erde werde ich betreten, die nie vorher eines Menschen Fuß betrat. All das erscheint mir so verlockend, daß ich Not und Tod nicht fürchte und die mühselige Reise mit den freudigen Gefühlen eines Kindes antreten werde, das mit seinen Gespielen das erste Mal ein Boot besteigt, um den benachbarten Fluß zu befahren. Und selbst wenn alle meine Vermutungen mich täuschen sollten, werde ich wenigstens darin ein erhabenes Ziel finden, eine Passage nahe dem Pole zu jenen Ländern zu entdecken, deren Erreichung heute noch Monate in Anspruch nimmt, oder dem Geheimnis des Magnetismus näher zu kommen, was ja doch nur durch eine Reise geschehen kann, wie ich sie unternehmen will.

Diese Betrachtungen haben die ganze Rührung verfliegen lassen, die sich meiner bei Beginn dieses Briefes bemächtigt hatte, und ich glühe vor himmelstürmendem Enthusiasmus. Nichts vermag der Seele so sehr das Gleichmaß zu verleihen als eine ernste Absicht, ein fester Punkt, auf den sich das geistige Auge richten kann. Diese Expedition war schon ein Wunsch meiner frühen Jugendjahre. Ich habe mit heißem Kopfe die mannigfachen Beschreibungen der Reisen gelesen, die die Entdeckung einer Passage durch die den Pol umgebenden Meere nach dem nördlichen Teile des Stillen Ozeans bezweckten. Du erinnerst Dich vielleicht, daß solche Reisebeschreibungen den Hauptbestandteil der Bibliothek unseres guten Onkels Thomas bildeten. Jene Werke waren mein Studium, dem ich Tage und Nächte widmete, und je mehr ich mich mit ihnen befreundete, desto tiefer bedauerte ich es, daß mein Vater auf dem Sterbebett meinem Onkel das Versprechen abgenommen hatte, mich nicht Seemann werden zu lassen.

Sechs Jahre sind es nun, daß ich den Plan zu meinem jetzigen Unternehmen faßte. Ich erinnere mich noch, als sei es gestern gewesen, der Stunde, in der ich mich der großen Aufgabe widmete. Ich begann damit, meinen Körper zu stählen. Ich nahm an den Fahrten mehrerer Walfischfänger in die Nordsee teil; ich ertrug freiwillig Kälte, Hunger und Durst und versagte mir den Schlaf; ich arbeitete zuweilen härter als der letzte Matrose und widmete dann meine Nächte dem Studium der Mathematik, der Medizin und jenen physikalischen Disziplinen, von denen der Seefahrer Nutzen erwarten darf. Zweimal ließ ich mich als gemeiner Matrose auf einem Grönlandfahrer anwerben und entledigte mich erstaunlich gut meiner selbstgewählten Aufgabe. Ich muß gestehen, ich empfand einen gewissen Stolz, als mir der Kapitän die Stelle eines ersten Offiziers auf seinem Schiffe anbot und mich allen Ernstes beschwor, zu bleiben. So hoch hatte er meine Dienste schätzen gelernt.

Habe ich es also nicht verdient, liebe Margarete, eine große Aufgabe zu erfüllen? Ich könnte ein Leben voll Reichtum und Luxus führen, aber ich habe den Ruhm den Annehmlichkeiten vorgezogen. O möchte mir doch eine ermunternde Stimme sagen, was ich zu erwarten habe! Mein Mut ist groß und mein Entschluß steht fest; aber mein Selbstvertrauen hat oft gegen tiefste Entmutigung anzukämpfen. Ich habe eine lange, schwierige Reise vor mir, deren Anforderungen meine ganze Kraft beanspruchen, und ich soll ja nicht nur mir selbst den Mut erhalten, sondern auch noch den anderer anfeuern.

Gegenwärtig haben wir die für das Reisen in Rußland vorteilhafteste Jahreszeit. In Schlitten fliegt man pfeilschnell über den Schnee. Die Kälte ist nicht lästig, wenn man sich genügend in Pelze gehüllt hat, und das habe ich mir schon angewöhnt. Denn es ist ein bedeutender Unterschied, ob Du an Deck spazieren gehst oder stundenlang unbeweglich auf einen Sitz gebannt bist, so daß Dir das Blut tatsächlich in den Adern erstarrt. Ich habe absolut nicht den Wunsch, auf der Poststraße zwischen Petersburg und Archangel zu erfrieren.

Dorthin will ich in vierzehn Tagen oder drei Wochen abreisen. Ich beabsichtige, dort ein Schiff zu mieten und unter den an die Walfischfängerei gewöhnten Leuten die nötige Anzahl von Matrosen anzuwerben. Ich werde kaum vor Juni abfahren können. Aber wann werde ich zurückkehren? Wie könnte ich wohl diese Frage beantworten, liebste Schwester? Wenn ich Erfolg habe, können viele, viele Monate, vielleicht Jahre vergehen, ehe wir uns wiedersehen. Wenn es mißlingt, sehen wir uns vielleicht eher wieder oder nie mehr.

Leb wohl, Margarete. Der Himmel schenke Dir seinen reichen Segen und schütze mich, daß es mir auch fernerhin vergönnt sei, Dir meine Dankbarkeit für all Deine Liebe und Güte zu beweisen.

Stets Dein treuer Bruder

R. Walton.

2. Brief

An Frau Saville, London

Archangel, 28. März 18..

Wie langsam hier doch die Zeit vergeht, mitten in Eis und Schnee! Der zweite Schritt zur Ausführung meines Planes ist getan. Ich habe ein Schiff gemietet und bin daran, meine Matrosen zu heuern. Die, welche ich schon angeworben habe, scheinen mir Leute zu sein, auf die man sich verlassen kann und die unbegrenzten Mut besitzen.

Aber etwas fehlt mir, Margarete, ein Freund. Wenn ich von dem Enthusiasmus meiner Erfolge glühe, dann habe ich keinen Menschen, mit dem ich meine Freude teilen kann; und habe ich Mißerfolge, dann ist niemand da, der mir zuspricht und mich wieder aufmuntert. Ich werde meine Gedanken dem Papier anvertrauen, das ist wenigstens etwas; aber immerhin ist es doch ein armseliges Mittel zur Aufnahme unserer Gefühle. Ich bedürfte eines Mannes, einer gleichfühlenden Seele. Du wirst mich vielleicht sentimental schelten, aber ich kann nichts dafür, ich brauche einen Freund. Ich habe niemand um mich, der, zugleich vornehm und mutig, gebildet und verständig, von denselben Neigungen wie ich, imstande wäre, meinen Plänen zuzustimmen oder davon abzuraten. Welch guten Einfluß könnte ein solcher Freund auf Deinen armen Bruder haben! Ich bin zu unüberlegt und verliere bei Schwierigkeiten zu rasch die Geduld.

Was helfen aber alle Klagen? Auf dem weiten Ozean werde ich ebensowenig einen Freund finden wie hier in Archangel mitten unter Kaufleuten und Seefahrern. Nicht als ob ich sagen möchte, daß diese rauhen Naturen ohne jegliches menschliche Fühlen wären. Mein Leutnant zum Beispiel ist ein Mensch von außerordentlichem Mut und unvergleichlicher Tatkraft, geradezu begierig nach Ruhm. Oder wenn ich mich deutlicher ausdrücken muß, begierig, in seinem Beruf Hervorragendes zu leisten. Er ist Engländer und hat sich mitten in seinem Berufe, fern von aller Kultur, einige feine menschliche Regungen zu bewahren gewußt. Ich lernte ihn zuerst an Bord eines Walfischfängers kennen. Da er hier in Archangel keine geeignete Beschäftigung zu haben schien, war es mir ein leichtes, ihn für mich zu gewinnen.

Der Maat ist ein Mann von vorzüglichen Anlagen und auf dem Schiffe beliebt wegen seiner Milde und der vornehmen Behandlung der Mannschaft. Dieser Umstand, verbunden mit seiner untadeligen Ehrlichkeit und seinem rücksichtslosen Mut, brachten mich zu dem Entschluß, den Mann anzuwerben. Meine einsam verbrachte Jugend, der Einfluß, den Du in meinen späteren Jahren auf mich geübt, haben mein Gemüt derart verfeinert, daß mir der übliche rohe Ton an Bord ein Greuel ist; ich habe ihn von jeher für unnötig gehalten. Es ist daher sehr begreiflich, daß ich mich der Dienste eines Mannes versicherte, der zugleich wegen seiner Herzensgüte als auch wegen des großen Einflusses auf seine Untergebenen bekannt war.

Meine Gefühle kann ich Dir nicht beschreiben, die mich beseelen, jetzt, wo ich so nahe der Erfüllung meiner Träume bin. Es ist unmöglich, Dir auch nur annähernd die Empfindungen zu schildern, die alle meine Reisevorbereitungen begleiten. Ich bin im Begriff, unerforschte Landstriche zu betreten, die Heimat des Nebels und des Schnees; aber ich werde nicht nach Albatrossen jagen, deshalb sei um meine Sicherheit nicht besorgt.

Werde ich Dich erst wiedersehen, wenn ich nach langer Fahrt durch ungeheure Ozeanweiten einmal an der Südspitze von Afrika oder Amerika herauskomme? Solche Erfolge darf ich ja gar nicht erwarten; aber ich bringe es jetzt nicht über das Herz, die Kehrseite der Medaille zu betrachten. Schreibe mir jedenfalls so oft als es Dir möglich ist, vielleicht erreichen mich Deine Briefe gerade dann, wenn ich ihrer am notwendigsten bedarf. Ich habe Dich herzlich lieb. Denke auch Du meiner in Liebe, wenn es sich treffen sollte, daß wir uns nimmer sehen. Stets Dein getreuer Bruder

Robert Walton.

3. Brief

Frau Saville, London

7. Juli 18..

Liebe Schwester! Ich schreibe Dir in aller Eile, um Dich wissen zu lassen, daß ich wohlauf bin und daß ich schon ein Stück meiner Reise hinter mir habe. Diesen Brief wird ein Kaufmann von Archangel aus nach England mitbringen. Der Glückliche! Er kann wieder Heimatluft atmen, was mir vielleicht auf Jahre hinaus nicht vergönnt sein wird. Trotzdem bin ich bester Laune. Meine Leute sind kühn und offenbar zu allem willig; auch die schwimmenden Eisberge, die unaufhörlich an uns vorbeiziehen und uns die Gefahren vorausahnen lassen, denen wir entgegengehen, scheinen ihnen keine Sorge einzuflößen. Wir haben schon eine hohe nördliche Breite erreicht, aber es ist Hochsommer, und wenn es auch nicht ganz so warm ist wie in England, so tragen uns doch die Südwinde, indem sie uns dem heißersehnten Ziele näherbringen, eine wohltuende Wärme zu, wie ich sie nicht erwartet hätte.

Bisher hat sich noch nichts ereignet, was der Mitteilung wert wäre. Ein oder zweimal eine steife Brise und einmal ein kleines Leck, das sind Zufälle, deren ein erfahrener Seemann kaum Erwähnung tut, und ich will recht zufrieden sein, wenn uns auf der ganzen Reise nichts Unangenehmeres passiert.

Lebe Wohl, teure Margarete. Sei überzeugt, daß ich um Deinet- wie um meinetwillen mich nicht allzu kühn der Gefahr aussetzen werde. Ich will kaltblütig, überlegt und vernünftig sein.

Aber der Erfolg muß mein Werk krönen. Warum auch nicht? So weit bin ich nun gekommen über die pfadlose See; nur die Sterne am Himmel sind Zeugen meines Sieges. Warum soll ich nicht noch weiter fortschreiten auf dem ungezähmten, aber doch zähmbaren Element? Was wäre imstande, sich auf die Dauer dem mutigen, willensstarken Manne entgegenzustellen?

Mein Herz ist zu voll, als daß es nicht überlaufen sollte. Aber ich muß schließen. Gott sei mit Dir, liebe Schwester!

Robert Walton.

4. Brief

An Frau Saville, London

5. August 18..

Etwas sehr Merkwürdiges hat sich ereignet und ich muß es Dir berichten, wenn ich auch wahrscheinlich eher bei Dir bin, als diese Zeilen Dich erreichen.

Letzten Montag (31. Juli) waren wir fast ganz von Eis eingeschlossen, so daß das Schiff kaum mehr den zum Vorwärtskommen nötigen Platz hatte. Unsere Lage war einigermaßen gefährlich, besonders deswegen, weil ein dichter Nebel uns einhüllte. Wir drehten deshalb bei, in der Hoffnung, daß die Witterung endlich anders werde.

Gegen zwei Uhr lichtete sich der Nebel und wir erblickten, wohin wir sahen, weite, fast unermeßlich scheinende Eisflächen. Einige meiner Leute wurden unruhig und auch mich beschlichen trübe, ängstliche Gedanken, als plötzlich etwas Seltsames unsere Aufmerksamkeit auf sich zog und uns unsere gefährliche Situation vergessen ließ. Wir bemerkten einen niedrigen Wagen, der auf Schlittenkufen befestigt war, von Hunden gezogen wurde und sich in einer Entfernung von etwa einer halben Meile nordwärts bewegte. Im Schlitten saß eine Gestalt, die einem Menschen, aber einem solchen von außergewöhnlicher Größe glich und die Tiere lenkte. Wir verfolgten mit unseren Fernrohren den Reisenden, der blitzschnell dahinflog und bald durch Unebenheiten des Eises unseren Blicken entzogen wurde.

Diese Erscheinung erregte begreiflicherweise unsere Neugierde in hohem Maße. Wir hatten geglaubt, uns Hunderte von Meilen vom festen Lande entfernt zu befinden, diese Erscheinung aber schien uns das Gegenteil zu beweisen. Da wir vom Eise völlig eingeschlossen waren, war es uns unmöglich, die Spuren des rätselhaften Wesens zu verfolgen.

Etwa zwei Stunden danach hörten wir die Grunddünung, und ehe es Nacht wurde, löste sich das Eis und das Schiff wurde frei. Trotzdem aber blieben wir bis zum Morgen liegen, da wir fürchten mußten, in der Dunkelheit mit den treibenden Eismassen zusammenzustoßen. Ich benützte diese Zeit, um mich etwas auszuruhen.

Als es Tag wurde, ging ich an Deck und fand alle Matrosen auf einer Seite des Schiffes stehen, sich mit jemand unterhaltend, der scheinbar unten auf dem Wasser war. Es war in der Tat ein Schlitten, ähnlich dem, den wir gestern gesehen hatten; er war in der Nacht auf einem schwimmenden Stück Eis zu uns herangetrieben worden. Nur ein Hund war noch vorgespannt, und im Schlitten saß ein Mensch, den die Matrosen veranlassen wollten, an Bord zu kommen. Er war nicht, wie uns der Fremde von gestern geschienen hatte, ein wilder Eingeborener irgend eines unentdeckten Eilandes, sondern ein Europäer. Als ich an Deck kam, sagte der Maat: »Da kommt unser Kapitän, der wird nicht zugeben, daß Sie auf offener See zugrunde gehen.«

Der Fremde gewahrte mich und sprach mich dann englisch, allerdings mit etwas eigentümlichem Dialekt, an. »Ehe ich an Bord Ihres Schiffes gehe,« sagte er, »bitte ich Sie mir zu sagen, wohin Sie zu fahren gedenken.«

Du wirst begreifen, daß ich momentan sehr erstaunt war, diese Frage von einem Menschen zu hören, der eben knapp dem Untergang entronnen zu sein schien und von dem man annehmen mußte, daß ihm mein Schiff ein Zufluchtsort sei, den er nicht gegen alle Reichtümer der Erde mehr vertauscht haben würde. Ich erklärte ihm, daß ich mich mit meinem Schiffe auf einer Entdeckungsreise nach dem Nordpol befände.

Dies schien ihn zufriedenzustellen und er nahm meine Einladung an. Großer Gott! Margarete, wenn Du den Mann gesehen hättest, der sich nur so schwer retten ließ, Dein Erstaunen hätte keine Grenzen gehabt. Seine Glieder waren fast völlig erfroren und sein Leib war förmlich gebrochen von Müdigkeit und Krankheit. Ich habe noch nie einen Menschen in einer so kläglichen Verfassung gesehen. Wir versuchten ihn in die Kajüte zu tragen, aber kaum hatten wir ihn unter Deck, da wurde er schon ohnmächtig. Wir brachten ihn also wieder an Deck zurück und suchten durch Reiben mit Branntwein und Einflößen von kleinen Schlucken ihn ins Leben zurückzurufen. Als er Lebenszeichen von sich zu geben begann, wickelten wir ihn in Leinentücher und legten ihn in der Nähe des Küchenofens nieder. Allmählich erholte er sich und aß ein paar Löffel Suppe, die ihm sehr wohl taten.

Zwei Tage vergingen, ehe es ihm möglich war zu sprechen, und mir kam es zuweilen vor, als hätten ihm all die Leiden den Verstand geraubt. Als er einigermaßen hergestellt war, ließ ich ihn in meine Kajüte bringen und pflegte ihn, soweit es sich mit meinen Pflichten vereinbaren ließ. Ich habe nie in meinem Leben einen interessanteren Menschen kennen gelernt. Seine Augen haben meist den Ausdruck der Wildheit, ich möchte fast sagen des Irrsinnes; aber in manchen Momenten, besonders wenn ihm jemand etwas Liebes erweist oder ihm einen, wenn auch noch so kleinen Dienst leistet, leuchtet sein ganzes Wesen auf und wird durchstrahlt von einem Schimmer von Liebenswürdigkeit und Freundlichkeit, wie man ihn selten findet. Sonst ist er aber melancholisch und verzweifelt und knirscht zuweilen mit den Zähnen, als könne er das Übermaß der Qualen, die er leidet, nimmer tragen.

Als mein Gast einigermaßen wieder gesund war, hatte ich große Mühe, meine Leute zu verhindern, daß sie ihn mit allen möglichen Fragen belästigten. Ich konnte es doch nicht gestatten, daß durch ihre müßige Neugierde die geistige und körperliche Genesung des Fremden, die offenbar nur durch ungestörteste Ruhe bewirkt werden konnte, aufgehalten werden sollte. Einmal jedoch gelang es meinem Leutnant dennoch, die Frage an ihn zu richten, wo er denn in seinem seltsamen Vehikel so weit über das Eis herkäme.

Ein Schatten tiefster Betrübnis huschte über sein Gesicht, dann sagte er: »Um einen zu suchen, der mich floh.«

»Und reiste der Mann, den Sie suchten, in derselben Weise, wie Sie?«

»Ja.«

»Dann, glaube ich, haben wir ihn gesehen. Denn am Tage, ehe wir Sie fanden, sahen wir einen Mann auf einem von Hunden gezogenen Schlitten über das Eis hinwegfahren.«

Dies erregte die Aufmerksamkeit des Fremden und er stellte eine Reihe dringender Fragen, die sich darauf bezogen, welche Richtung der Dämon – so nannte er den anderen – genommen habe. Als er kurz nachher mit mir allein war, sagte er: »Ich habe ohne Zweifel Ihre Neugierde erregt, ebenso wie die dieser guten Leute, aber Sie selbst sind ja zu rücksichtsvoll, um mich auszufragen.«

»Gewiß; ich würde es für aufdringlich und unmenschlich halten, Sie mit irgendwelchen Fragen zu belästigen.«

»Und das, trotzdem Sie mich aus einer seltsamen, verzweifelten Situation gerettet und mich zum Leben zurückgebracht haben!«

Einige Zeit danach fragte er mich, ob ich glaube, daß der Eisgang den Schlitten des »Anderen« zerstört habe. Ich antwortete ihm, daß ich hierüber mit Bestimmtheit nichts aussagen könne, denn der Eisgang habe erst gegen Mitternacht eingesetzt und der Reisende könne bis dahin recht wohl sich in Sicherheit gebracht haben.

Seit dieser Auskunft schien neuer Lebensmut den gebrechlichen Körper des Fremden zu durchströmen. Er wollte absolut an Deck bleiben, um nach dem Schlitten auszuspähen, von dem wir ihm gesprochen hatten. Aber ich habe ihn überredet, sich in der Kabine aufzuhalten, da er für die rauhe Temperatur da oben doch noch nicht stark genug sei. Ich habe ihm aber versprochen, daß jemand an seiner Stelle Ausschau halten und ihn sofort benachrichtigen werde, wenn sich irgend etwas sehen lassen sollte.

Bis zum heutigen Tage habe ich Dir nun alles über das seltsame Ereignis berichtet. Der Fremde scheint sich nach und nach zu kräftigen, aber er ist still und in sich gekehrt und ist ärgerlich, wenn ein anderer als ich seine Kajüte betritt. Aber er ist trotzdem so freundlich und liebenswürdig, daß die Matrosen ihn alle gern haben, wenn sie auch nur sehr wenig mit ihm in Berührung kommen. Ich aber gewinne ihn allmählich lieb wie einen Bruder und sein ständiger, tiefer Gram flößt mir tiefes Mitleid mit ihm ein. Er muß in seinen guten Tagen ein prächtiger Mensch gewesen sein, er, der noch als Wrack so anziehend und liebenswert ist.

Ich habe schon einmal in einem meiner Briefe gesagt, liebe Margarete, daß es mir wohl nicht vergönnt sein werde, auf dem weiten Ozean einen Freund zu finden. Aber ich habe wenigstens einen Mann kennen gelernt, der mir wirklich, wäre sein Geist nicht so tief verstört, ein Herzensfreund hätte werden können.

Ich werde Dir von Zeit zu Zeit von dem Fremden berichten, vorausgesetzt, daß es etwas zu berichten gibt.

* * *

13. August 18..

Meine Zuneigung zu dem unglücklichen Gaste wächst von Tag zu Tag. Ich bewundere und bemitleide ihn zugleich. Wie wäre es möglich, ein so edles Geschöpf von Gram verzehrt zu sehen, ohne selbst den tiefsten Schmerz mitzuempfinden? Er ist so gut und dabei klug, auch ist er außerordentlich gebildet und spricht wohlgesetzt und gewandt.

Er hat sich jetzt von seiner Krankheit ziemlich erholt und hält sich unausgesetzt auf Deck auf, offenbar um den Schlitten nicht zu übersehen, auf den er immer noch wartet. Er ist unglücklich, aber in all seinem Elend hat er doch immer noch Interesse für die Pläne der andern. Er hat viel mit mir über den meinigen gesprochen, den ich ihm rückhaltlos dargelegt habe. Aufmerksam folgte er allem, was ich im Sinne eines glücklichen Ausganges meines Unternehmens vorzubringen wußte, und vertiefte sich mit mir bis in die Details der Maßnahmen, die ich getroffen. Er hatte mir so viel Sympathie eingeflößt, daß ich offen mit ihm reden mußte. Ich ließ ihn in meine leidenschaftliche Seele blicken und sagte ihm auch, daß ich gern mein ganzes Vermögen, meine Existenz, meine Zukunft aufs Spiel setze, um mein Unternehmen zu einem guten Ausgange zu führen. Leben oder Tod eines Mannes seien ja gar nichts im Vergleich zu dem, was der Wissenschaft durch mein Unternehmen genützt werde. Während ich sprach, überzog eine dunkle Glut das Antlitz meines Zuhörers. Ich bemerkte, daß er anfänglich sich bemühte, seine Bewegung zu meistern. Er hielt die Hände vor das Gesicht, und meine Stimme bebte und stockte, als ich sah, daß Tränen zwischen seinen Fingern niederrannen, als ich hörte, wie ein wehes Stöhnen sich seiner Brust entrang. Ich hielt inne, da sagte er mit gebrochener Stimme: »Unglücklicher! Hat Sie derselbe Wahnsinn erfaßt wie mich? Haben auch Sie von dem Gifte getrunken? Hören Sie mich an, lassen Sie mich meine Geschichte berichten und Sie werden den Becher mit dem unheilvollen Trank von Ihren Lippen wegstoßen.«

Du kannst Dir denken, daß diese Worte meine ganze Neugier erregten. Aber das Übermaß des Schmerzes hatte die schwachen Kräfte des Fremden übermannt und es bedurfte vieler Stunden der Ruhe und sanfter Überredung, um ihn wieder ins Gleichgewicht zu bringen.

Nachdem er seiner heftigen Gefühle Meister geworden war, schämte er sich, daß seine Leidenschaft ihn so überwältigt hatte. Er unterdrückte mit Gewalt seine Verzweiflung und veranlaßte mich, über mich selbst zu sprechen. Er frug nach meiner Kindheit. Diese war rasch erzählt, aber dennoch gab sie verschiedene Anknüpfungspunkte. Ich sprach von meinem Wunsche, einen Freund zu finden, von meiner Sehnsucht nach einer gleichgestimmten Seele, die ich nie mein eigen nennen durfte, und gab meiner Überzeugung Ausdruck, daß niemand wahres Glück genossen habe, der sich nicht echter Freundschaft rühmen könne.

»Ich bin ganz Ihrer Ansicht,« entgegnete der Fremde. »Wir sind nur halbe Geschöpfe, wenn uns nicht ein Weiserer, Besserer – und das muß ja ein Freund sein – zur Seite steht, um unsere schwache, fehlerhafte Natur zu verbessern. Ich hatte einmal einen Freund, den edelsten Menschen, den man sich denken kann, und habe deshalb ein gewisses Recht mitzusprechen, wenn von Freundschaft die Rede ist. Sie sind noch voller Hoffnung und haben die Welt vor sich und deshalb keinen Grund zu verzweifeln. Aber ich – ich habe alles verloren und keinen Mut mehr, von vorn anzufangen.«

Als er das sagte, nahm sein Gesicht einen gramvollen Ausdruck an, der mir bis ins Herz hinein weh tat. Aber er sprach nicht weiter und zog sich in seine Kajüte zurück.

Trotz seines Leides hegt er eine tiefe, innige Liebe zur Natur. Der sternenbesäte Himmel, das Meer und alle Wunder dieser herrlichen Regionen schienen erhebend auf seine Seele zu wirken. Ein solcher Mensch hat eigentlich eine doppelte Existenz: er mag leiden und sich grämen, aber wenn er sich in sich selbst zurückzieht, dann ist er wie ein himmlischer Geist, den ein Heiligenschein umgibt, den Leid und Schmerz nicht zu verdunkeln vermögen.

Lächle nur über den Enthusiasmus, mit dem ich von diesem prächtigen Menschen erzähle. Wenn Du ihn kenntest, würdest Du nicht lächeln. Ich weiß, Deine feine Erziehung und die Zurückgezogenheit Deines Lebens haben Dich wählerisch gemacht; aber gerade das würde Dich besonders geeignet machen, das Außerordentliche an diesem Menschen zu erkennen und zu schätzen. Ich habe mich schon öfter bemüht, mir klar zu werden, was es ist, das ihn so himmelhoch über alle anderen Menschen erhebt. Ich glaube, vor allem ist es sein mehr als natürlicher Scharfsinn, eine nie fehlende Urteilskraft, eine Erkenntnis der Ursachen aller Dinge. Stelle Dir nun noch vor, daß er die Gabe besitzt, sich glänzend, dabei klar und präzis auszudrücken und daß seine Stimme eine außergewöhnliche Modulationsfähigkeit hat, so wirst Du begreifen, daß dieser Mann imstande ist, jemand zu bestricken.

* * *

19. August 18..

Gestern sagte der Fremde zu mir: »Sie haben sicherlich erkannt, Kapitän Walton, daß mich großes, unsagbares Leid betroffen hat. Ich hatte schon beschlossen, daß die Erinnerung daran mit mir ins Grab steigen solle; aber Sie haben mich so weit gebracht, daß ich meinem Entschluß untreu geworden bin. Sie suchen, wie ich einst, nach Wissen und Weisheit und ich wünsche Ihnen von ganzem Herzen, daß dieses Streben Ihnen nicht, wie mir, zum fürchterlichsten Fluche werde. Ich weiß nicht, ob Ihnen die Erzählung meiner Leiden von Nutzen sein wird; wenn ich aber bedenke, daß Sie denselben Weg gehen wie ich, sich denselben Gefahren aussetzen, die mich zu dem machten, was ich jetzt bin, so kommt mir die Überzeugung, daß Sie aus meiner Erzählung doch eine Moral zu ziehen vermögen; eine Moral für den Fall, daß Sie Erfolg mit Ihren Bestrebungen haben, wie auch für den Fall, daß Sie enttäuscht werden. Bereiten Sie sich darauf vor Dinge zu hören, die Sie als unglaublich bezeichnen möchten. Wären wir in kultivierteren Zonen der Erde, ich würde mich besinnen zu erzählen, weil ich fürchten müßte, daß Sie mir nicht glauben oder mich gar verlachen könnten; aber in diesen wilden, geheimnisvollen Regionen wird Ihnen manches möglich erscheinen, was solche, die mit den immer wechselnden Kräften der Natur nicht vertraut sind, zum Spotte reizen würde.« – Du kannst Dir denken, daß ich dankbar und erfreut das Angebot annahm, wenn ich mir auch sagen mußte, daß durch die Erzählung sein Leid wieder lebendiger, die Wunden nur wieder aufgerissen würden. Ich war ungeheuer gespannt auf das, was ich hören sollte, teils aus wirklicher Neugierde, teilweise aber auch, weil ich hoffte, vielleicht dadurch einen Fingerzeig zu bekommen, wie ich, wenn es überhaupt möglich wäre, ihm helfen könnte.

»Ich danke Ihnen,« sagte er, »für Ihre Teilnahme, aber sie ist unnütz; mein Schicksal ist nahezu erfüllt. Ich warte nur eines ab; wenn dies eintrifft, werde ich zur Ruhe gehen. Ich verstehe Ihre Gefühle,« fuhr er fort, nachdem ich vergebens versucht hatte, ihn zu unterbrechen, »aber Sie sind im Irrtum, mein Freund – wenn ich mir erlauben darf Sie so zu nennen – wenn Sie meinen, irgend etwas wäre imstande, mein Geschick zu ändern. Hören Sie erst meine Geschichte und Sie werden verstehen, wie unabänderlich es feststeht.«

Er sagte mir noch, daß er am nächsten Tage mit seiner Erzählung beginnen wolle, wenn es meine Zeit erlaube. Dieses Versprechen verpflichtete mich zu aufrichtigem Danke. Ich habe beschlossen, immer nachts, wenn mich nicht gerade mein Dienst abhält, möglichst wörtlich alles niederzuschreiben, was ich am Tage erfahren haben werde. Zum mindesten aber werde ich mir kurze Notizen machen. Diese Aufzeichnungen werden Dir sicher interessant sein, und mit welcher Teilnahme werde erst ich, der ich doch alles von seinen eigenen Lippen höre, in späteren Zeiten die Zeilen lesen. Während ich daran denke, wie ich meiner Aufgabe gerecht werden soll, tönt in meinen Ohren noch seine volle, melodische Stimme; ich sehe seine warmen, melancholischen Augen auf mir ruhen, seine feinen, schmalen Hände sich lebhaft bewegen, während sich in den Zügen seines Antlitzes seine Seele widerspiegelt. Seltsam und schrecklich muß seine Geschichte, furchtbar der Sturm gewesen sein, der das schöne Lebensschiff zerbrach.

1. Kapitel

Ich bin in Genf geboren. Meine Familie ist eine der vornehmsten dieser Stadt. Mein Vater war angesehen bei allen, die ihn kannten, wegen seiner unbestechlichen Rechtschaffenheit und der unermüdlichen Hingabe an seine Pflichten. In jüngeren Jahren schon hatte er im Dienste seiner Vaterstadt gestanden und verschiedene Umstände hatten es mit sich gebracht, daß er lange nicht zur Gründung eines eigenen Herdes gekommen war. Erst später hatte er geheiratet, als er die Mittaghöhe des Lebens schon überschritten.

Da die Vorgeschichte seiner Ehe für seinen ganzen Charakter bezeichnend ist, kann ich nicht umhin, ihrer Erwähnung zu tun. Einer seiner intimsten Freunde war ein Kaufmann, der infolge mißgünstiger Schicksale von der Höhe des Glückes herab in die tiefste Armut geriet. Dieser Mann, er hieß Beaufort, war stolz und unbeugsam und konnte es nicht ertragen, jetzt an der gleichen Stätte arm und vergessen zu leben, wo man ihn einst wegen seines Reichtums und seines glänzenden Auftretens besonders geehrt hatte. Er zahlte als ehrlicher Mann noch seine Schulden und zog sich dann mit seiner Tochter nach Luzern zurück, wo er unerkannt und armselig sein Leben fristete. Mein Vater war ihm in aufrichtiger Freundschaft zugetan und fühlte tiefes Erbarmen mit dem unglücklichen Manne. Auch bedauerte er sehr den falschen Stolz, der den Freund hinderte, seine Hilfe anzunehmen; hatte er doch gehofft, ihm mit seinem Rat und seinem Kredit wieder auf die Beine helfen zu können.

Tatsächlich hielt sich Beaufort dermaßen sorgfältig verborgen, daß es meinem Vater erst nach Verlauf von zehn Monaten gelang, ihn ausfindig zu machen. Überwältigt von der Freude, die ihm diese Entdeckung bereitet hatte, eilte er nach dem Hause, das in einer schmalen Gasse in der Nähe der Reuß lag. Aber schon bei seinem Eintritt wurde ihm klar, daß er eine Stätte der Not und des Elendes vor sich sah. Beaufort hatte aus seinem Zusammenbruch nur eine ganz unbedeutende Summe gerettet, aber sie hätte wenigstens genügt, ihn einige Monate zu erhalten. In dieser Zeit hoffte er in einem Kaufhause eine Stellung zu finden. Die erzwungene Untätigkeit gab ihm Zeit, noch mehr über das nachzudenken, was aus ihm geworden, und vertiefte seinen Gram, so daß er schließlich nach drei Monaten aufs Krankenbett sank.

Seine Tochter pflegte ihn mit der äußersten Hingabe, aber sie konnte es sich nicht verhehlen, daß ihr kleines Kapital rapid dahinschwand und daß dann keine Hoffnung auf irgend eine Unterstützung bestand. Aber Karoline Beaufort besaß eine ungewöhnliche Spannkraft und ihr Mut wuchs in diesen Widerwärtigkeiten. Sie versah die ganze Arbeit und vermochte durch Strohflechtereien wenigstens so viel zu verdienen, daß sie beide gerade noch notdürftig ihr Leben zu fristen imstande waren.

Einige Monate vergingen in dieser Weise. Ihr Vater wurde immer elender, so daß sie von seiner Pflege ausschließlich in Anspruch genommen wurde. Die letzten Notpfennige waren bald ausgegeben und im zehnten Monat starb ihr Vater in ihren Armen, sie als bettelarme Waise zurücklassend. Dieser letzte Schlag war der härteste für sie; sie kniete gerade bitterlich weinend am Sarge Beauforts, als mein Vater eintrat. Er kam wie ein rettender Engel zu dem armen Mädchen und vertrauensvoll legte sie ihr Geschick in seine helfenden Hände. Nach der Beerdigung seines Freundes brachte er Karoline nach Genf und gab sie dort Verwandten zur Obhut. Zwei Jahre später war sie seine Frau.

Der Altersunterschied meiner beiden Eltern war zwar sehr bedeutend, aber gerade das schien die Liebe, die sie zu einander hegten, nur zu vertiefen. Mein Vater besaß ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsgefühl, das ihn nur da wirklich lieben ließ, wo er auch seine Achtung geben konnte. Vielleicht hatte er in seinen früheren Jahren irgend eine Erfahrung in dieser Hinsicht gemacht und legte deshalb so viel Wert auf den inneren Wert. Er zeigte für meine Mutter eine Verehrung, die sich von der schwächlichen Liebe älterer Leute wohl unterschied und die aus wirklicher Hochachtung vor ihr entsprang und vielleicht auch aus dem Wunsche, sie für all das Leid zu entschädigen, das ihr ihre Jugend gebracht. Alles drehte sich um sie, um ihr Wohlergehen. Er hielt sie, wie ein Gärtner eine wertvolle exotische Blume hält und sie vor jedem rauhen Windzug behütet. Allerdings hatte ihre Gesundheit und auch ihr starker, mutiger Geist unter den schweren Erschütterungen gelitten. Während der zwei Jahre, die seiner Verehelichung vorausgingen, hatte mein Vater allmählich alle seine Ämter abgegeben, und sofort nach der Hochzeit begab sich das Paar nach Italien, wo das milde Klima und eine Reise durch das wundervolle Land die Gesundheit der jungen Frau wiederherstellen sollten.

Von Italien aus ging dann die Reise nach Deutschland und Frankreich. Ich, das älteste Kind, kam in Neapel zur Welt und begleitete als kleiner Bursche schon meine Eltern auf ihren Streifzügen. Mehrere Jahre blieb ich ihr einziges Kind. Aus ihrer unerschöpflichen Liebe zueinander entsprang eine reiche Quelle von Liebe für mich. Die Liebkosungen meiner Mutter und das wohlwollende Lächeln meines Vaters sind meine ersten Erinnerungen. Ich war ihnen zugleich Spielzeug und Idol und, was das Beste ist, ihr Kind, das kleine, hilflose Wesen, das ihnen Gott geschenkt hatte, um es aufzuziehen, dessen Wohl und Wehe in ihren Händen lag. Es ist nicht verwunderlich, daß bei dem hohen Pflichtgefühl, das meine Eltern beseelte, und bei dem Geiste wahrer Zärtlichkeit, der in unserem Hause waltete, mein Leben einer Reihe von Freuden glich.