Maskendiebin - M.S. Krüger - E-Book
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Maskendiebin E-Book

M.S. Krüger

4,0

Beschreibung

Talya- die Kriegerin Daron - der Dieb Zwei Seelen, die unterschiedlicher nicht hätten sein können und doch so viele Gemeinsamkeiten teilten. Die Möglichkeit der Schwarzen Garde nach zehn langen Jahren schweißtreibender Ausbildung beitreten zu können, ist für Talya endlich zum Greifen nah. Nichts hat sie sich all die vergangenen Jahre mehr gewünscht. Ein letzter Auftrag der Akademie soll beweisen, ob sie tatsächlich die Fähigkeiten besitzt, um der besten und begehrtesten Armee Eldranths beitreten zu können. Lediglich ein einziges Leben steht zwischen ihr und der tiefschwarzen Rüstung. Ein Leben, welches gerade ihm gehörte. Dem Maskendieb, der verdammt nochmal nicht für das Imperium sterben würde. Doch kaum, dass Talya mehr von ihm und seinem Leben erfährt, beginnt sie an Allem, was sie bisher zu wissen glaubte, zu zweifeln.

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Über die Autorin

M. S. Krüger, lebt und studiert in Dresden. Neben dem Schreiben liebt sie Sonnenuntergänge, das Rauschen des Meeres und den Duft von frisch gebackenem Kuchen. Sie könnte sich ein Leben ohne Musik nicht vorstellen und versinkt am liebsten in fantastischen Büchern voller Magie. Fremde Welten in Fantasybüchern haben sie schon als kleines Kind begeistert – in ihren eigenen Geschichten hat sie bereits zwei Welten erschaffen. Und noch viele weitere sollen folgen.

Mehr von M. S. Krüger gibt es unter www.mskrueger.de und auf Instagram unter @m.s.krueger.

WREADERS E-BOOK

Band 245

Dieser Titel ist auch als Taschenbucherschienen

Vollständige E-Book-Ausgabe

Copyright © 2024 by Wreaders Verlag, Sassenberg

Verlagsleitung: Lena Weinert

Druck: Sowa Sp. z o.o.

Bestellung und Vertrieb: Nova MD GmbH, Vachendorf

Umschlaggestaltung: Emily Bähr

Kartenillustration: M. S. Krüger

Lektorat: Hannah Gäb, Svea-Magdalena Lehmann

Satz: Elci J. Sagittarius

www.wreaders.de

Für alle, die in ihren Träumen nach einem Funken Magie greifen und jeden Teil ihres Herzens damit ausfüllen. Lasst euch von dem Zauber leiten.

Er kennt den richtigen Weg.

Besonders aber für Jenny. Ich bin so stolz auf dich.

Zehn Jahre zuvor

Prolog

Meine Füße brannten, während ich über die gepflasterten Steine von Eldranths Straßen rannte. Meine Schuhsohlen waren dünn und ich wünschte, Großmutter würde noch leben, um sie ein weiteres Mal flicken zu können. Schuhe waren nicht leicht zu stehlen. Wenn ich Pech hatte, würde ich den herannahenden Winter barfuß verbringen müssen.

Ein kleiner Stein rammte sich in meine Ferse und ich musste den Drang unterdrücken, nicht laut aufzuschreien.

Nur nicht auffallen, Talya.

Ich hörte die Stimmen der Gardisten hinter mir. Sie kamen näher, viel schneller als ich gedacht hatte. Ich biss die Zähne zusammen und versuchte, das Tempo noch ein weiteres Mal anzuziehen, doch meine Beine brannten schon jetzt.

Sie durften mich nicht finden. Nicht jetzt, wo ich kurz davor war, Henry tatsächlich helfen zu können.

Ich umfasste die wertvollen Kräuter in meiner Hand fester, ehe ich nach links abbog. Ich kannte die Stadt gut, vermutlich sogar besser als die Gardisten der Akademie.

Die kleine Seitengasse war abgelegen. Kaum eine Menschenseele verirrte sich in diesen Teil der Stadt. Die Händler und Besucher hielten sich meistens nur im Stadtkern auf. Die Straßen inmitten der Stadt waren ausgebaut, wenn auch etwas in die Jahre gekommen. Eldranth war keine besonders wohlhabende Stadt, doch fand man im Stadtkern einige Gebäude mit schönen Fassaden oder ein paar kleine, verzierte Brunnen. Das meiste Geld behielt die Akademie, in der die Gardisten trainierten, für sich. Sie war von hohen, schwarzen Mauern umgeben und niemand wusste so wirklich, was dahinter geschah. Doch ich hielt mich nicht oft in der Nähe des großen, eindrucksvollen Gebäudes auf. Die Wachen wussten neugierige Blicke in das Innere dieser kleinen Festung, wie Henry es nannte, zu verhindern. Aus diesem Grund war ich meistens hier – am Rande der Stadt, wo die Häuser heruntergekommen waren und der Müll sich am Straßenrand stapelte. Gassen wie diese hier waren gemacht für Diebe, Schläger und kleine, arme Menschen wie mich.

Zitternd versteckte ich mich hinter einer hohen Steinwand und hielt die Luft an, um jeden erdenklichen Ton zu unterdrücken.

Ich hörte die lauten Schreie der Schwarzen Garde und presste mich enger an die Wand. Ihre Stimmen waren rau und scharf, wie es typisch für die Krieger der Akademie war.

Ich wusste nicht viel über die Männer Eisenklinges, doch unter den Einwohnern Eldranths waren sie unter einem einzigen Wort bekannt: Todeskrieger.

Allein ihre schweren Schritte in der Ferne zu hören, ließ mich jedes Mal zusammenzucken. Sie wurden für das Töten ausgebildet und schreckten vor nichts zurück. Vermutlich hatten sie weder Gefühle, noch fühlten sie irgendeinen Schmerz.

Aber ich durfte nicht aufgeben - nicht heute.

Henry hatte so viel für mich getan. Das hier war ich ihm schuldig.

Ich versuchte meine Atmung zu beruhigen, schließlich waren die Gardisten nicht hinter mir her. Der Kauf von fremden Kräutern war zwar nicht erlaubt, aber der, den sie hier in den Straßen suchten, hatte weitaus Schlimmeres getan.

Ein Maskendieb. Ein Mensch, der sein Gesicht verändern konnte, wann immer er wollte.

Die Schwarze Garde jagte sie schon seit Jahren, doch die Diebe waren schlau und wussten sich zu verstecken. Sie waren Menschen, die Masken, gefüllt mit flüssigem Silber, trugen. Masken, die sich an jede kleine Falte anpassten und das Gesicht sowie den Körper veränderten. Sie ermöglichten dadurch ein neues Leben. Durch die Masken bekamen diese Menschen die einmalige Chance, das Leben zweier Personen zu führen. Es war beinahe Zauberei. So war es durch die Masken möglich, Haar, Haut und sogar Stimme zu verändern. Wann immer die Diebe entdeckt wurden, war es für sie ein Leichtes, einfach in ihr zweites Ich zu schlüpfen und inmitten aller anderen Personen abzutauchen. Dann mussten sie nur einige Zeit warten, ehe sie mit der Maske wieder ihr ursprüngliches Aussehen annehmen konnten.

Diese Menschen waren wandelnde Mysterien.

Ich lachte stumm. Henry hatte die Geschichten geliebt, doch einen Maskendieb gesehen hatten wir noch nie. Ich fragte mich, ob diese magischen Masken tatsächlich existierten, oder ob die Männer und Frauen lediglich gewöhnliche Diebe waren, die es schafften, lautlos unterzutauchen. Vermutlich hatte man solche Geschichten erfunden, um Menschen wie Henry zu begeistern.

Ich überlegte, ob ich schon jetzt zu ihm laufen sollte, doch unser kleiner Unterschlupf war noch vier Straßen entfernt und die Schreie der Männer noch immer zu laut.

Die Schwarze Garde hielt sich geordnet auf den Hauptstraßen auf und wenn ich mich noch wenige Minuten ruhig verhalten würde, könnten sie diese Straße vielleicht einfach übersehen.

Die Uhr zeigte schon weit nach neun und es war verboten, zu dieser Zeit noch auf den Straßen umherzuwandern. Wenn sie mich fanden, würden sie mich fragen, was ich hier draußen täte, und ich würde die Kräuter abgeben müssen.

Henry wird dann sterben.

Mein Kopf pochte unangenehm bei diesem Gedanken. Doch ich ließ mich nicht ablenken. Ich würde es schaffen.

Die lauten Trommeln ertönten von der Akademie her und ich zählte stumm die Schläge. Sieben Stück, die Abfolge kam schnell.

Das Zeichen, dass sie den Feind noch immer nicht gefunden hatten. Was bedeutete, dass die Männer noch länger in dieser Nacht hier sein würden.

Ich fluchte innerlich. Henry brauchte die Kräuter dringend. Nervös verlagerte ich mein Gewicht von einem Bein auf das andere, unsicher, ob ich doch schon zurückkehren sollte. Die Schwarze Garde war nicht unser Feind, schließlich schützten sie uns vor den Dieben und den gefährlichen Auftragsmördern, die sich von Drachenstein, der Akademie südlich unserer Stadt, abgewandt hatten. Die meisten Einwohner Eldranths waren dankbar für ihre Hilfe, schließlich waren die Straßen hier unten gefährlich. Nicht selten kam es auf dem Marktplatz zu heftigen Schlägereien.

Und doch hatte ich jedes Mal größere Angst vor den Männern in den schwarzen Uniformen. Sie waren riesig, mindestens zwei Meter und ihre Augen funkelten dunkel, wenn sie dem Feind gegenüberstanden. Sie waren für das Morden ausgebildet worden.

Ich wollte nicht, dass sie mich in eine der dunklen Zellen der Akademie steckten. Schon gar nicht jetzt, wo Henry um sein Leben kämpfte.

Ich drehte mich zur Seite, wollte gerade nach den Kriegern Ausschau halten, als es plötzlich neben mir knackte. Ich schrie auf, presste mir aber kaum einen Wimpernschlag später die Hand auf den Mund und lauschte ängstlich, ob man mich gehört hatte.

Hektisch warf ich den Blick nach rechts und hätte fast erneut einen Schrei ausgestoßen, als ich eine schmale Gestalt im Dunkeln ausmachte.

Verdammt. Sie haben mich gefunden.

»Psst, schrei bitte nicht.« Die Stimme war sanft, ganz anders als das Brüllen der Krieger. »Keine Angst, alles ist gut.«

Ich sah, wie die Person mit wenigen Schritten näherkam. Erst, als sie kaum noch eine Armlänge entfernt war, erkannte ich das elegante Gesicht einer Frau. Sie wollte nach mir greifen, doch ich war schneller. Ruckartig duckte ich mich und kroch instinktiv einige Meter nach hinten. Die Kräuter fielen zerstreut auf den Boden und vermischten sich mit Schlamm und Regenwasser.

Ich hatte all meine Ersparnisse für diese Heilmittel zusammengekratzt und nun lagen sie da.

14 Gulden verschwendet.

Henry war so gut wie tot.

Ich kniff die Augen zusammen, um die Tränen zurückzuhalten, und ballte die Hände zu Fäusten. Henry war schließlich alles, was ich noch hatte.

Ich zwang mich, den Blick von den Stängeln abzuwenden und schaute stattdessen zu der Frau, die beschwichtigend die Arme nach oben gehoben hatte.

»Wir haben nicht viel Zeit, Kleine«, sprach sie leise. Ihre Stimme klang heiser, kaum eine Sekunde später sackte sie zusammen. Ich zuckte zurück und starrte sie an.

War das ein Trick? Spielten die Gardisten so mit den Menschen auf der Straße?

Die Frau sah nicht wie eine Gardistin aus. Ihr Haar schimmerte golden, ihr Körper war kleingeraten und sie war dünn. Eine zarte Frau, viel leichtfüßiger als die ganzen Gardisten, die die Straßen bewachten.

Ich betrachtete sie neugierig, doch sie schien keine Waffen bei sich zu tragen.

»Wer seid Ihr?«, hauchte ich, während ich vorsichtig näher kroch.

Sie zuckte unruhig und erst jetzt sah ich, dass Blut ihre Uniform weinrot färbte. Ein ersticktes Zischen verließ meinen Mund, während ich vorstolperte und entsetzt die Hände auf ihre pochende Wunde presste. Die dunkelrote Flüssigkeit sickerte zwischen meine Finger, der metallische Geruch fuhr mir in die Nase. Ich musste schlucken. Viel zu schnell breitete sich das Blut in ihrer Kleidung aus.

Was tue ich hier?

»Du musst mir zuhören«, wisperte sie. Ihre Finger fuhren über meine Unterarme, die Kälte ihrer Hände brannte unangenehm auf meiner Haut.

Ich schnappte nach Luft und versuchte weiterhin, die Blutung zu stillen – ohne Erfolg.

»Wir Menschen suchen nach etwas Größerem. Wir alle sind kleine Wesen, die in ihren Träumen die Welt retten. Dank der Masken ist das sogar in der Realität möglich.«

Sie lächelte leicht und fuhr anschließend mit den Fingern über ihre Wange. Ich riss die Augen auf, während sie die Haut um ihr Kinn langsam abtrennte.

Unmöglich.

Ich musste träumen. Sicherlich würde mich Henry gleich aufwecken und diesen Irrsinn beenden. Ich kniff mich in den Arm, doch die Frau verschwand nicht.

Ich würgte, aber konnte den Blick nicht von ihrem Gesicht reißen. Häkchen einer silbernen Hülle klammerten sich um ihre Augen, als versuchten sie mit aller Macht an der Frau festzuhalten. Sie verzog keine Sekunde das Gesicht.

Das Blut – ihr Blut – pochte unter meinen klammen Fingern, ihre Haut wurde von Sekunde zu Sekunde blasser.

»Das ist eine Maske. Du musst sie tragen, nimm sie nie ab.«

Ihre Stimme wurde schwächer, während sie mir die leere, silbrige Hülle in die Hände drückte. Zitternd griff ich nach dem kühlen Etwas, ohne die Frau aus den Augen zu lassen. Ihre eigenen Gesichtszüge waren auf einmal ganz anders. Ihre Augen leuchteten nun grün und nicht mehr bläulich und die Haare waren nicht mehr golden, sondern tiefschwarz.

Ich versuchte Wunden, Löcher – irgendetwas – in ihrem Gesicht zu erkennen, doch es war einfach nur eine völlig andere Frau, die mich plötzlich anblickte.

Ein anderer Mensch.

Ich musste träumen, es gab keine andere Erklärung.

»Aber wie?«, fragte ich, unfähig den Blick von ihrem veränderten Gesicht zu nehmen.

Sie musste dunkle Zauber anwenden, anders konnte ich mir das Ganze nicht erklären. Doch Zauberei existierte nicht, alle Hexen waren längst auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden.

Kaum hatte ich jedoch die Frage ausgesprochen, schoss mir die Antwort auch schon in den Kopf.

Sie war eine verdammte Diebin.

Eine Maskendiebin.

Die Diebin, die die Gardisten suchten.

Entsetzt schnappte ich nach Luft, starrte erst zu ihr und dann die tiefschwarze Straße hinunter. Die Gardisten konnten jeden Moment hier sein. Sie würden sie finden.

Sie werden mich finden.

Ich versuchte meine Atmung zu beruhigen, doch ihr Röcheln ließ mich erneut zusammenzucken. Krampfhaft ballte ich die Hände auf ihrer Brust zusammen, aber es war längst zu spät.

Ich konnte der Frau nicht mehr helfen.

»Setz sie auf. Bitte«, flüsterte sie erstickt, während ihre kühle Hand mein Kinn umschloss. Ich schüttelte den Kopf, wollte wegrennen, doch irgendetwas an ihr hielt mich gefangen.

»Du kannst mehr sein als das hier. Setz sie auf. Deine Zeit wird kommen.«

Sie musste husten, das Blut färbte ihre Lippen weinrot.

»Wir müssen siegen. Sie dürfen die Welt nicht bekommen.«

Ihr Atem rasselte und erschöpft legte sie ihren Kopf auf den Boden. Ich wollte etwas sagen, doch sie schien so zerbrechlich und ich wollte ihr diesen letzten Moment nicht stehlen.

Großmutter und Vater waren schon vor meinen Augen gestorben, zwischen grellem Schreien und Wehklagen. Diese Frau verdiente die Ruhe.

»Wir … müssen … siegen.«

Sie lächelte ein letztes Mal, ihr letzter Atemzug kam schwach.

Ich musste schlucken. Eine einzige Träne fiel auf die silberne Maske in meiner Hand.

Henry hatte immer von mir wissen wollen, wie ich mir eine der geheimen Masken vorstellte. Er war besessen von den Legenden und Irrgeschichten, die abends auf dem Marktplatz erzählt wurden. Ich hatte jedes Mal mit den Schultern gezuckt – zurecht, denn die Hülle in meiner Hand hätte ich mit keinen Worten der Welt beschreiben können.

Sie war kühl, aber nicht kalt.

Hart, aber nicht starr, wie ich es vermutet hatte. In ihr steckte uralte Magie, die ich bis in die Fußspitzen spüren konnte.

Wieso war ausgerechnet ich es, der die Frau ihre Maske anvertraute?

»Aufteilen. Durchsucht jede Gasse.« Der Schrei eines Kriegers schallte plötzlich durch die schmale Straße, gefolgt von einem lauten Pfiff. Hektisch sprang ich auf, strauchelte, ehe ich zur Hauptstraße blickte. Die Gardisten waren unglaublich nah. Das Leuchten der Fackeln erhellte bereits die halbe Gasse, in weniger als einer Minute würden sie hier sein.

Sie dürfen sie nicht bekommen.

Panisch umklammerte ich die Maske mit meinen Händen, während mein Blick auf den immer größer werdenden Lichtkegel gerichtet war.

Sie werden mich finden. Sie werden mich umbringen.

Ich hatte die Maske. Eine der Masken, die das Imperium seit Jahren suchte. Panisch schnappte ich nach Luft und blickte hilflos zu dem leblosen Körper der Fremden. Am liebsten hätte ich die silberne Hülle einfach bei ihr gelassen. Es war ihre Maske, sie hatte versagt.

»Beeilung!«, drang es aus der Hauptstraße zu mir. Keuchend warf ich den Kopf zurück.

Ich wollte die Frau anschreien, doch ich schaffte es nicht, die Worte über meine Lippen zu bringen. Ihr Gesicht war blass, das Blut um ihren Körper schimmerte.

Sie starb für diese Maske. Sie konnte mir nicht mehr helfen.

»Ich gehe hier rein, such du die östlichen Gassen ab. Sie muss noch in der Stadt sein!«, hörte ich einen Mann rufen.

Entsetzt presste ich die Augen zusammen, wünschte, ich könnte mich unsichtbar machen.

Ich musste die Maske loswerden.

Das zähe Silber schien zwischen meinen Fingern zu brennen. Noch nie in meinem Leben hatte ich einen Gegenstand in den Händen gehalten, der so voller Magie pulsierte. Voll wilder und ungezähmter Magie, über die ich so gut wie nichts wusste und die sich wie tausende Nadelstiche auf der Haut anfühlte. Doch so sehr es auch schmerzte, für einen Moment übermannte mich die Neugier.

Setz sie auf.

Die Stimme der Frau hallte in meinem Kopf, doch ich wagte es nicht. Oder doch?

Ich blickte ein letztes Mal zu der Frau mit den tiefschwarzen Haaren. Sie durfte nicht umsonst gestorben sein.

Ich zögerte. Doch dann setzte ich die Maske auf.

Heute

1

»Talya, duck dich. Jetzt!«

Ohne nachzudenken, warf ich mich auf den Boden und presste den Kopf in den Staub. Einzelne Sandkörner brannten in meinen Augen, und doch schloss ich sie nicht für eine Sekunde.

Der Moment, in dem man unvorsichtig war, war der, in dem man verlor.

Ich hörte das Pfeifen des Schwertes, welches knapp über meinem Kopf entlangfuhr und dankte Ezra in Gedanken für die Warnung, selbst wenn sie eigentlich nicht erlaubt war. Kaum eine Sekunde später drückte ich mich nach oben und stach rasend schnell zu.

Mein Angreifer – ein großer, gertenschlanker Mann – parierte ordentlich, wie es sich für einen Mann seiner Ausbildung gehörte. Ich seufzte, schließlich war das bei Weitem nichts Ungewöhnliches.

Raven, mein Lehrmeister, suchte immer Krieger aus, die gut ausgebildet wurden. Ich sprang nach rechts, duckte mich unter dem glänzenden Metall hindurch und versuchte ein weiteres Mal zuzustechen – wieder ohne Erfolg. Der Mann wusste, wie man ein Schwert zu führen hatte.

»Wo wurdest du ausgebildet? Drachenstein?«, fragte ich laut, ohne den Blick von seinem angespannten Gesicht zu nehmen. Die meisten Krieger Drachensteins waren eingebildete Männer, die glaubten, ihnen gehöre die Welt.

Er biss die Zähne zusammen, ignorierte meine Frage und stach stattdessen zweimal ruckartig zu. Ich lachte, während ich mich unter seinen Stichen wegdrehte.

Definitiv Drachenstein.

Es war nicht verwunderlich, dass die Krieger der südlichen Akademie auf uns herabblickten. Sie hatten die besten Lehrer in ganz Ascuria und außerdem viel mehr Sponsoren als wir. Ich war neidisch auf den weinroten Anzug, der den Körper meines Gegners bedeckte. Die vielen kleinen Silberpartikel, die man in den Stoff eingearbeitet hatte, glänzten in der Sonne, sodass ich mich zusammenreißen musste, nicht in ihrer Schönheit zu versinken. Doch im Endeffekt waren sie wie wir. Krieger, die dem Imperium dienten.

Schon vor einem Jahrhundert war diese Zusammenarbeit aller drei Akademien gegründet worden. Doch erst viel später hatte man dem Ganzen einen Namen gegeben. Das Imperium Ascurias mit all seinen Kriegern. Unsere Aufgabe war es, alle Städte vor Aufständen und Unruhen zu schützen. Wir trainierten gegeneinander, um besser und besser zu werden. Dafür, dass wir diesem Land immer den Frieden geben konnten, den es verdiente. Die Ältesten, eben jene Menschen, die die Akademien führten, sprachen davon, dass unsere Zusammenarbeit ein Vorbild für das ganze Land war. Wobei ich persönlich unser Training nicht Zusammenarbeit genannt hätte. Vielmehr war es ein stummes Treffen, bei dem einzig unsere Fähigkeiten im Kämpfen zählten.

Ich wollte auf meinen Gegner zuspringen, doch er war schnell. Wie ein Blitz stach er nach vorn. Ich musste mich ruckartig ducken, sodass mir für eine Sekunde schwarz vor Augen wurde. Ich stolperte und konnte mich gerade noch fangen. Hinter mir hörte ich ein Fluchen. Kurz darauf Ezra, der mich mit lauter Stimme anwies aufzugeben. Doch daran dachte ich nicht einmal. Seine Sorge um mich spornte mich nur an.

Ich machte einen Ausfallschritt, verharrte kurz, ehe ich mit voller Kraft zustach. Der Mann schützte sich, geriet einen Moment ins Taumeln, hielt dann aber mit ganzer Kraft meinem Angriff stand. Erschöpft brachte ich etwas Abstand zwischen uns, ehe ich mir den Schweiß von den Lippen leckte. Die Sonne stand hoch über dem Trainingsplatz, wir kämpften schon viel länger als vorgegeben.

Aber dieser Gegner war schwer zu knacken. Jeder seiner Schritte war bedacht, jeder seiner Hiebe gezielt und ordentlich ausgeführt. Drachensteins Platinkrieger waren uns einen großen Schritt voraus, vermutlich trainierten sie Tag und Nacht. Oder ihr Tag hatte 30 Stunden, ich wusste es nicht.

Nervös biss ich die Zähne zusammen und umgriff meinen Dolch fester. Der Mann legte den Kopf schief, ehe er sein Schwert kampfbereit vor die Brust hob. Ohne uns zu regen, musterten wir einander. Ich konnte es mir nicht leisten, erneut zu verlieren.

Farris, einer unserer Besten, hatte letzte Woche schon gegen mich gewonnen. Keuchend hatte ich vor ihm gekniet und sein schadenfrohes Gesicht ertragen müssen. Die roten Zahlen auf der Jahrgangsliste kreisten noch immer in meinen Gedanken umher.

Raven würde mich wieder auf die Straße schicken, wo sich die Händler stritten und die Frauen vergewaltigt wurden. Ich müsste mir das Gespött der Jungs anhören, oder – was noch schlimmer war – dürfte am Abend ihren Heldengeschichten lauschen.

Ich schnaubte und warf einen Blick zu meinen Kameraden.

Allen voran stand Ezra, mein Zimmergenosse und bester Freund. Er hatte den Blick fest auf meinen Gegner gerichtet, einige Falten zogen sich über seine ebenmäßige Stirn.

»Du kannst nicht schon wieder auf den Platz, Talya. Die werden dich fertigmachen«, hatte er erst heute Morgen gesagt.

Die Wunde an meinem Oberschenkel brannte noch immer, aber wenn ich weiter beim Training fehlte, würde ich durch meine wenigen Punkte so weit an das Ende der Liste rutschen, dass der Rat einen Grund hätte, mich auf die Straßen zu setzen. Doch Ezra wollte das nicht verstehen.

Das Schwert des Drachensteinkriegers streifte meinen Oberarm. Zischend riss ich mich von den gespannten Blicken der anderen los. Wenn ich jetzt verlor, könnte ich auch gleich meine Sachen packen.

Die Ältesten waren überzeugt, dass Eisenklinge – die dunkle Akademie, in der ich die vergangenen zehn Jahre ausgebildet wurde - nichts für Mädchen sei.

In ihren Augen war ich noch immer das kleine Kind, welches Raven vor Jahren aufgesammelt hatte. Doch ich stand hier und kämpfte gegen einen von Drachensteins Platinkriegern.

Ich machte eine halbe Drehung und stieß erneut zu, klirrend trafen unsere Waffen aufeinander. Die Augen des Mannes strahlten in kühlem Blau, sein Blick schien vollends konzentriert.

Ich duckte mich unter einem seiner Hiebe hindurch und versetzte ihm einen Tritt in die Kniekehle. Er stöhnte auf und stolperte.

Triumphierend rammte ich meinen Ellenbogen in seine Seite, woraufhin er sich nicht mehr auf den Beinen halten konnte. Ich nutze diesen Moment und schlug ihm das Metall mit einem Schlag aus der Hand, ehe ich ihm meinen eigenen Dolch an die Kehle hielt.

Der Mann fluchte und hob dann langsam beide Hände über seinen Kopf.

Ich hatte es geschafft.

Meine Mundwinkel verzogen sich zu einem Lächeln, während Dex, der aufsichtshabende Lehrmeister, mich zur Siegerin dieses Übungskampfes erklärte und etwas in seinem schwarzen Buch notierte. Er nickte mir zu, ehe er in das Innere der Akademie verschwand.

Ich drehte mich zu den Jungs um und deutete eine Verbeugung an. Ein paar meiner Kameraden lachten und schlugen mir stolz auf die Schulter. Ich verabredete mich mit einigen von ihnen für später und suchte erst dann zwischen all den Köpfen nach Ezras halblanger, brauner Mähne.

Es dauerte nicht lange, bis ich ihn zwischen allen anderen erkannte. Er hatte sich von der Masse gelöst und musterte mich kopfschüttelnd. Herausfordernd grinste ich ihn an, ehe ich eine erneute Verbeugung andeutete, woraufhin auch seine Mundwinkel zuckten.

»Glück gehabt, Talya«, sagte er schmunzelnd, während er mir den verdreckten Dolch abnahm, ihn an seinem Hemd abwischte und zu den anderen Übungswaffen stellte.

Ich brummte lediglich und schnallte die Unterarmschoner ab.

»Ich hätte es auch ohne deine Hilfe geschafft. Dex wird mir Punkte abziehen«, sagte ich, ehe ich die Sonne mit meinen Händen abschirmte, um ihn besser sehen zu können.

Ezra war ein großer Mann. Die Götter hatten ihm breite Schultern und kräftige Beine geschenkt. Doch sein Gesicht war elegant, beinahe kindlich. Vor allem, wenn er die Augenbrauen so zusammenzog wie gerade eben.

»Er hätte deinen Kopf abgeschlagen. Ich habe es in seinem Blick gesehen.«

Seine grauen Augen blitzten hell auf, während er einen kurzen Blick zur Übungshalle warf, in die der Junge verschwunden war. Ich verpasste Ezra einen unsanften Stoß gegen die Schulter und schüttelte den Kopf.

»Das sagst du jedes Mal. Du weißt genau, dass ich es mit einem Drachensteiner aufnehmen kann. Schließlich habe ich gewonnen.«

Ich machte eine triumphierende Geste. Ezra seufzte lediglich.

»Du läufst noch immer gebeugt. Ich weiß nicht, wann ich dich das letzte Mal auf der Krankenstation zur Nachsorge gesehen habe, und im Kampf bist du unvorsichtig. Ich habe allen Grund zur Sorge.«

Seine linke Augenbraue zuckte, wie so oft, wenn er sich über mich aufregte. Ich wusste, dass Ezra es gut meinte, und doch wünschte ich, er würde mich wie die Jungs behandeln.

Kühl, abweisend und vor allem nicht mit dieser Sorge in den Augen.

Aber Ezra hatte ein Händchen dafür, in mir eine Glaspuppe zu sehen, die beim kleinsten Windstoß zerbrechen könnte.

Was für ein Spielverderber.

»Und du weißt hoffentlich, dass ich mich deinetwegen wieder mit Möchtegernschlägern und bibbernden Vergewaltigern rumschlagen muss. Ich sag es dir, morgen bei der Zeremonie wird Raven mir die Liste all der Idioten geben, während ihr alle den Auftrag für eure schwarze Uniform erhaltet.«

»Eine ehrenvolle Aufgabe«, entgegnete Ezra, während er mich nachdenklich musterte. »Du weißt, dass die Garde nicht mehr das ist, was sie mal war. Vermutlich ist es besser so.«

Ich seufzte und ließ den Kopf einen Moment kreisen.

So war Ezra schon immer. Er war neben Raven und Farris einer der besten Nahkämpfer unserer Akademie, und dennoch würde es ihm nichts ausmachen, sein ganzes Leben für Gerechtigkeit in Eldranths Armenvierteln zu kämpfen. Selbst wenn er nur mit ein paar aufsässigen Händlern diskutieren müsste.

Ich hingegen hielt es kaum fünf Minuten dort aus. Jedes Mal, wenn ich in den Gassen einen dunklen Umhang sah, wurde ich an die Frau erinnert, die mir die Maske in die Hand gedrückt hatte. Und jedes Mal fragte ich mich, wie mein Leben verlaufen wäre, wenn ich nicht kurz darauf in Ravens Arme gelaufen wäre.

»Eine sinnlose Aufgabe«, brummte ich.

Das Mädchen, welches damals zitternd an der Hauswand gestanden hatte, existierte nicht mehr. Und je mehr ich mich von den Straßen fernhielt, desto eher konnte ich auch selbst daran glauben.

Ich sah, wie Ezra zu einer Antwort ansetzte, schüttelte aber mit dem Kopf, weshalb er die Lippen zusammenpresste und an den Schlaufen seines Hemdes spielte. Die Stimmung zwischen uns war schon seit Wochen unterkühlt, und trotz der Späße schafften wir es nicht, alles, was seit Längerem zwischen uns stand, zu beseitigen. Augenblicklich übermannte mich das schlechte Gewissen.

Ich hielt ihn auf Abstand und das war schon lange kein Geheimnis mehr. Als wir kleiner waren, hatten wir einander alles anvertraut, doch jetzt ging es um so viel mehr.

Schließlich waren unsere Zukunft und so viele Veränderungen zum Greifen nah.

Ich wollte mir nicht ausmalen, was geschah, wenn Ezra mich mit einer der Masken in der Hand sah, die die Garde seit Jahren suchte. Ich fuhr über mein Kinn und die einzige Stelle, die bei genauerem Hinsehen nicht völlig mit der Maske verwachsen war. Die Stelle, die ich immer versuchte zu verdecken und die Ezra für ein lästiges Muttermal hielt.

Er hatte so viel mehr verdient als das. Missmutig schloss ich die Augen und atmete einmal tief durch. Ich war eine schlechte Freundin.

»Danke dir, Ezra«, sagte ich ehrlich, während ich eine Hand auf seine Schulter legte und sanft lächelte. »Treffen wir uns nachher im Rosi’s?«

Ezra ging liebend gern in die kleine, urige Kneipe an der langen Straße. Die Jungs waren oft mehrmals die Woche dort, und wie ich es mir gedacht hatte, glättete sich Ezras Stirn in der Sekunde, in der die Worte meine Lippen verließen.

»Du gibst was aus! Das schuldest du mir«, rief er laut, ehe er zum Abschied die Hand hob und in der Übungshalle verschwand.

Ich ließ die angestaute Luft aus meinen Lungen entweichen und wandte den Blick ab. Ich hätte Ezra liebend gern von der Maske erzählt, die sich seit Jahren in meine Haut klammerte. Doch ich kannte meinen Freund besser als jeder andere.

Eisenklinge war sein Zuhause, so, wie es mein Zuhause wurde, nachdem Henry verstarb. Er würde alles für diese Akademie tun.

Alles.

»Der arme Junge, er will nur das Beste für dich.«

Ich zuckte nicht einmal, als Raven plötzlich neben mir auftauchte. Er hatte das Talent, sich immer und überall ohne einen Ton anzuschleichen. Und ich hatte mich so daran gewöhnt, dass es mir längst nichts mehr ausmachte.

»Er will mich in Sicherheit wissen«, murrte ich, während ich die Arme in Richtung Himmel reckte und wegen der Schmerzen in meinen Schultern das Gesicht verzog. Vielleicht würde ich Ezra dazu überreden können, mich morgen früh vor der Zeremonie noch einmal zu massieren. Raven lächelte sanft.

»Wie wir alle. Nur wenige weibliche Kriegerinnen standen bisher so kurz vor der finalen Auszeichnung. Ich kann alle Absolventinnen unserer Schule an einer Hand abzählen«, sagte er ruhig und sortierte die Waffen, ohne einen Blick auf mich zu werfen.

»Also ist es meine Bestimmung, mich ewig mit den Idioten Eldranths rumzuschlagen?«, fragte ich stöhnend, den Blick fest auf seinen breiten Rücken gerichtet.

In Eldranth gab es tagtäglich eine Menge Ärger, den man beseitigen musste. Aber einfachen Ärger, wie Schlägereien oder Auseinandersetzungen zwischen den Händlern. Diese Art von Problemen war meist leicht zu lösen. Ich hatte sicher nicht mein Leben lang trainiert, nur um mich mit solchen Kleinigkeiten herumzuschlagen.

»Wie hast du dich heute geschlagen?«, fragte Raven, ohne sich umzudrehen. Ich grinste.

»Ich habe gewonnen.«

Darauf musste er stolz sein.

Ich hörte, wie Raven seufzte. »Du hast betrogen. Ohne Ezras Hilfe wärst du in einem richtigen Kampf tot. Du bist noch nicht bereit, schon gar nicht, wenn du das als Sieg ansiehst.«

Empört schnaubte ich auf. Ein kleiner Teil von mir hatte gehofft, Dex hätte nichts von Ezras Warnruf ins Protokoll geschrieben.

Die Ältesten würden mich morgen fragen, ob ich auch ohne Unterstützung lebensfähig wäre, und ich müsste mich mal wieder vor allen Anwesenden rechtfertigen. Langsam gingen mir die Erklärungen aus. Aufgebracht malte ich mit dem rechten Fuß wirre Linien in den sandigen Boden.

»Wieso fragst du dann überhaupt?«

Raven mochte mir dieses Leben ermöglicht haben, aber er hatte mich nie bevorzugt.

»Du bist eine Kriegerin der dunklen Akademie«, hatte er damals gesagt. »Gleiche Regeln für alle.«

Da konnte er sich solche Fragen auch genauso gut sparen.

»Du leugnest es ja nicht einmal«, antwortete er sichtlich enttäuscht, während er sich umdrehte und mich mit zusammengezogenen Augenbrauen musterte.

Ich konnte den Drang nicht unterdrücken, die Augen zu verdrehen und murrte: »Ich habe gewonnen, das ist alles, was zählt.«

Raven wusste, dass ich die Straßen nicht mochte und dass ich mich nach mehr sehnte. Kurz vor meinem Juniorabschluss mit sechzehn Jahren hatte ich ihn angefleht, mich mit in die Oststädte oder ans Meer im Westen zu nehmen. Die Jungs durften alle die Eisberge besuchen und richtige Aufträge annehmen.

Ich hingegen wurde jedes Mal den langweiligen Aufträgen zugeordnet. Die Ältesten nannten es Zufall, doch schon früh hatte ich festgestellt, dass es alles andere als Zufall war, dass ich die Außeneinsätze nicht begleiten durfte. Vielmehr wollte man nicht, dass ich einen solchen Auftrag vermasselte. Oder vermutlich noch schlimmer – sogar richtig gut ausführte. Und so war ich jedes verdammte Mal wieder an Eldranths Straßen gefesselt. Und es interessierte Raven nicht einmal.

»Was glaubst du, weshalb ich dich heute gegen einen Drachensteiner habe antreten lassen?«, fragte Raven, ehe er mich musterte. Ich versuchte, jede Regung in seinem Gesicht zu erkennen, doch es wirkte vollkommen verschlossen. Nachdenklich lehnte ich mich gegen die Holzbalken, ehe ich antwortete: »Die Krieger sind gut. Du wolltest sehen, ob ich sie fertigmachen kann.«

Wir standen kurz vor unserem Abschluss, jede Prüfung und jeder Kampf waren bedeutend für die Abschlussränge. Und der Kampf heute würde mich auf der Liste wieder ein Stück weiter nach oben bringen. Die Plätze auf der Rangliste bestimmten über unsere Auszeichnung und unsere anschließenden Tätigkeiten als Gardisten.

»Falsch. Ich wollte sehen, ob sie dich fertigmachen«, entgegnete er, ohne mit der Wimper zu zucken. »Der letzte Drachensteiner hat dich übel zugerichtet. Du hättest nach einem anderen Gegner fragen sollen. Deine Gesundheit sollte dir wichtiger sein.«

Er schnalzte mit der Zunge und sein Blick blieb an meinem gekrümmten Rücken hängen. Dann seufzte er.

»Du wolltest, dass ich kneife?« Entsetzt stieß ich mich von dem Balken ab.

Der Kampf vor einigen Wochen war hart gewesen, keine Frage. Ich hatte gegen einen riesigen Krieger antreten müssen. Er hatte rücksichtslos auf meine Rippen eingeprügelt, ohne dass der Aufseher etwas dagegen unternommen hatte.

Die Niederlage war erbärmlich, doch noch lange kein Grund, jetzt, nach knapp einem Monat, so einen Aufstand deswegen zu machen. Raven versuchte ein versöhnliches Gesicht aufzusetzen, ehe er sanft nach meinen Schultern griff.

»Ich wollte, dass du verlierst, Talya. Die Ältesten suchen schon lange einen Grund, dich zu … entsorgen. Sie wollen dich nicht in der Garde, das haben sie mehr als deutlich gemacht. Sie würden alles dafür tun, dass du keine Sekunde länger als nötig in ihrer Gegenwart bist, hörst du?«

Er musterte mich eindringlich und ballte dann mehrmals die Hände zusammen, wahrscheinlich um sich selbst zu beruhigen. »Wenn du verloren hättest, hätte ich dich auf die Straße schicken können. Du wärst aus ihrer Schussbahn, verstehst du?«

Ich versuchte, die angestaute Luft aus meinen Lungen entweichen zu lassen und murmelte fassungslos: »Du willst mich loswerden.«

Die Erkenntnis traf mich wie ein Schlag, sodass ich überfordert einige Meter nach hinten stolperte.

»Das ist also der Preis?« Meine Stimme zitterte. »Ist das dein Ernst? Du holst mich von der Straße, steckst mich in diese verdammte Schule, siehst zu – siehst einfach zu –, wie ich zehn verdammte Jahre schreie, heule und blute. Und jetzt – jetzt, wo ich endlich mit den Jungs mithalten kann, willst du mich wieder zurückschicken?«

Ich presste die Lippen zusammen, zwang mich aber seinem flackernden Blick standzuhalten. Wenn ich schlecht gewesen wäre, hätte ich seine Entscheidung vielleicht eingesehen. Ich mochte gegen Farris verlieren, oder gegen die Platinkrieger der anderen Akademie, doch so viele der Jungs waren mir unterlegen. Ich würde mich nicht einfach abschieben lassen. Nicht jetzt, wo ich kurz davorstand, die schwarze Uniform endlich selbst in der Hand halten zu können.

»Talya.« Ravens Stimme war rau, die Augenbrauen hatte er verletzt zusammengezogen. »Du verstehst das nicht.«

Er wollte mir besänftigend seine Hand auf die Schulter legen, doch ich wich ihm gekonnt aus.

»Was versteh ich nicht?«, fauchte ich. »Wenn du mich loswerden willst, überlass das doch den Ältesten. Die wissen schließlich, wie man einen Mord vertuscht.«

Ich biss mir auf die Unterlippe und wünschte, ich hätte die letzten Worte nicht ausgesprochen. Der Ältestenrat führte die Akademie schon seit Hunderten von Jahren. Ich hatte kein Recht, ihre Arbeit kleinzureden oder sie persönlich anzugreifen.

Sie machten kein Geheimnis daraus, dass sie mich am liebsten tot sehen wollten, doch einige Krieger waren schon für weniger als meine Worte ausgepeitscht worden. Ich versuchte, den Kloß in meinem Hals herunterzuschlucken und ballte stattdessen die Fäuste zusammen, sodass sich meine Fingernägel in die vernarbte Haut gruben.

Schwäche ist dein Feind. Und dieser macht dich angreifbar.

»Ich will dich in Sicherheit wissen, verdammt«, entgegnete Raven unerwartet laut, weswegen ich zusammenzuckte. Er wusste besser als wir alle, wie man sich zu benehmen hatte. Als ich ein Kind war, erzählte er mir, dass er nie ein Krieger hatte werden wollen, bis man ihn auserwählte. Seitdem er aber sein Schwert erhalten hatte und das Symbol Eisenklinges – eine Rose und zwei gekreuzte Klingen – in die Haut gebrannt trug, gab es für ihn nichts anderes mehr. Diese Wut auf seinem Gesicht passte nicht zu ihm.

Er schluckte und ich wusste, dass er sich sofort wieder unter Kontrolle hatte.

»Ich habe ein verschrecktes Kind von der Straße aufgesammelt, dessen kleiner, bester Freund vom Fieber dahingerafft worden war. Ein kleines Mädchen – ohne Familie, ohne Heim. Ich habe dich gesehen und irgendetwas an dir – ich schwöre dir, bis heute habe ich noch nicht herausgefunden was – hat mir gesagt, dass ich dich nicht allein lassen sollte.«

Er wollte lächeln, doch seine Augen hatten einen schmerzlichen Ausdruck angenommen. »Die Akademie hat dich stark gemacht. Du bist kein Mädchen mehr, das verschreckt in der Ecke hockt. Du bist erwachsen und eine der besten Kriegerinnen Eisenklinges. Du hast all die Jahre hier überlebt. Jetzt kannst du dir ein Leben fernab von diesen dunklen Mauern aufbauen. Das ist es, was ich für dich wollte. Normalität.«

Etwas Flehendes lag in seinem Blick, aber ich konnte nicht anders, als mit dem Kopf zu schütteln.

»Aber ich will es nicht, Raven! Warum wollt ihr das nicht verstehen? Ich hasse es auf den Straßen. Ich hasse jeden Einzelnen, der dort lebt und glaubt, irgendwann im Leben werde es ihm einmal besser gehen. Das Leben auf Eldranths Straßen ist nicht gut und wird es nie sein. Ich hatte nichts! Hier hingegen habe ich Freunde, Kleidung und Status. All die Jahre habe ich mich bemüht, alles hier mit jedem Teil von mir aufzusaugen. Ich will in die Garde, verstehst du? Und du warst es, der mir das hier ermöglichte, Raven.«

Ich musste stocken, sein angespannter Blick brachte mich aus dem Konzept. Meine Stimme wurde leiser. »Und jetzt willst du, dass ich all das aufgebe?«

Raven verschränkte verärgert die Arme vor der Brust, so als wollte er meine Worte nicht wahrhaben.

»Du hattest Angst vor der Garde, hast so oft in meinen Armen geweint«, entgegnete er kühl. »Diese Männer kennen keine Furcht. Sie töten, wer sich ihnen in den Weg stellt. Die Garde ist nur für all die, die mit jedem Teil ihres Herzens die Dunkelheit aufsaugen können. Und du, kleines Mädchen, du bist das strahlende Licht.«

Er zog die Mundwinkel ein Stück nach oben, als wollte er austesten, ob sein Gesicht überhaupt noch zu dieser Regung fähig war, und verschwand anschließend in der Übungshalle. Und ich konnte nichts anderes tun, als ihm stumm nachzublicken.

2

Ravens Worte lasteten schwer auf mir. Am liebsten hätte ich die Toxinlehre geschwänzt, doch ich durfte mir auf keinen Fall weitere Fehlstunden erlauben, wenn ich die Zeremonie morgen ohne lästige Zwischenfälle überstehen wollte.

Kaidra Mantragon, die erste weibliche Gardistin Eisenklinges, war eine kalte Frau und ein hohes Mitglied im Ältestenrat.

Nachdem wir unsere Juniorauszeichnungen erhalten hatten, mussten wir ihre Lehre über Gifte und Gase besuchen. Noch in der ersten Stunde hatte sie mir verdeutlicht, dass ich für sie nicht die Kriegerin darstellte, die eine Ausbildung in der Akademie verdient hatte.

Ich wünschte, Ezra hätte mit mir Unterricht gehabt, doch dieses Semester hatten wir kaum einen Kurs zusammen, wofür sicherlich die Ältesten gesorgt hatten.

So war ich mit meinen Gedanken allein. Ich überlegte, was geschehen wäre, wenn Raven mich nicht an jenem Tag von der Straße aufgesammelt hätte. Die tote Maskendiebin war damals noch in aller Munde gewesen. Nur wenige Tage zuvor hatte man sie in der Gasse entdeckt, und dennoch hatte ich nicht einmal Henry, der noch in derselben Nacht verstarb, von ihr erzählt.

Ich hatte mehr über die Menschen wissen wollen, die ihr Leben einer silbrigen Maske verschrieben hatten, und gleichzeitig breitete sich jede neue Information wie Gift in meinen Adern aus. Schon damals erzählte man, dass sich die Diebe in ganz Ascuria verteilt hätten und im Geheimen gegen die Ordnung des Imperiums vorgingen. Sie griffen auf offener Straße die Gardisten an und versuchten die Einwohner der kleinen Städte mit ausschweifenden Reden auf ihre Seite zu ziehen. Nicht nur einmal hatte die Garde versucht, die Männer und Frauen zu fassen. Aber die Diebe schafften es jedes Mal wieder, sich rechtzeitig zurückzuziehen, ehe die Gardisten ihnen auch nur ein Haar krümmen konnten.

Eisenklinges Bibliothek war riesig, doch es existierte nur ein einziges Buch über die Maskendiebe. Und ausgerechnet das hatte mir die Bibliothekarin nie ausgehändigt.

Am Anfang fragte ich Raven ein paar Mal nach den Dieben, tat entsetzt, als er mir von der toten Frau erzählte. Doch rückblickend hatte er kaum Informationen preisgegeben.

Die Dienstmädchen und Sklaven der Akademie tuschelten schon damals, aber auch ihre Gespräche waren für mich bei Weitem nicht genug. Ich wusste weder, wie viele Masken es gab, noch, woran man andere Maskendiebe erkannte. Die Ältesten taten alles, um die Diebe zu vernichten, doch die Einzelheiten behielten sie für sich.

Wochenlang hatte man die gesamte Stadt umstellt, um weitere Diebe mit ihren Masken zu fassen. Dass ich eine der Masken trug, war keinem von ihnen jemals aufgefallen.

Und das musste verdammt nochmal auch so bleiben.

»Nestaris? Verweilen wir noch in dieser Welt?«

Mantragons Stimme holte mich zurück in die Realität. Ich zuckte zusammen und stieß tollpatschig einige Bücher von meinem schmalen Tisch. Ich fluchte, während ich mich bückte und die einzelnen Blätter zusammensuchte.

»Ja. Entschuldigt bitte«, antwortete ich verspätet.

Mantragon seufzte. »Ablenkung ist das erste Anzeichen der Niederlage. Hast du nichts an dieser Schule gelernt, Mädchen?«

Verärgert zog sie die schmalen Augenbrauen zusammen und inspizierte meine Aufzeichnungen, die so lückenhaft waren, dass ich rot anlief.

»Doch. Entschuldigt.« Meine Worte klangen stumpf, außerdem hielt ich den Blick auf dem Tisch gesenkt.

Die Ältesten waren schlau. Wenn ich nicht aufpasste, würden sie doch noch hinter mein Geheimnis kommen. Und dann wäre meine Aufnahme in die Garde noch das geringste Problem.

Langsam beugte Mantragon sich zu mir vor, ehe sie zischte: »Ich habe dich im Blick. Ein einziger Fehler kann dich morgen alles kosten, Mädchen.«

Kaum hatten die Worte ihre Lippen verlassen, machte sie auf dem Absatz kehrt und fuhr mit dem Unterricht fort, ohne mich auch nur noch eine weitere Sekunde zu beachten.

***

Den Rest des Tages war ich angespannt und unaufmerksam.

Farris schaffte es ohne Probleme, mich bei den Schlagübungen zu überwältigen. Gerade einmal fünf Schläge waren nötig, ehe ich keuchend unter ihm auf dem Boden lag.

»Scheint, als wärst du zu schwach, Nestaris«, rief er schadenfroh, während sich sein Knie in meine Taille bohrte. Ich brummte, antwortete aber nicht. Keine Antwort der Welt hätte ihn von dem Triumph seines Sieges ablenken können.

»Geh von mir runter«, blaffte ich ihn stattdessen an und presste meine Hände gegen seinen Oberkörper. Farris grinste und beugte sich so nah zu mir herunter, dass ich seine Lippen an meiner Wange spürte.

»Es ist jedes Mal wieder schön, gegen dich zu gewinnen.«

Er lachte und erst als ich die Augen verdrehte, machte er sich die Mühe, meinen Körper freizugeben. Sein Blick blieb dennoch an mir kleben. Ich schnaubte, ehe ich mich nach unten beugte, meinen Dolch aufhob und ohne ein weiteres Wort den Übungsplatz verließ. Ich hörte, wie Farris mir etwas hinterherrief, doch ich ignorierte ihn.

Die Zeremonie würde in knapp vierundzwanzig Stunden stattfinden und ich konnte an nichts anderes mehr denken. Es würde unsere letzte Zeremonie vor dem Abschlussfest sein. Ein letztes Mal würden wir unsere Aufgaben erhalten, die darüber entschieden, ob wir geeignet waren, der Schwarzen Garde beizutreten.

Zehn Jahre hatte ich auf diesen Moment hingearbeitet und plötzlich war er zum Greifen nah.

Diese Zeremonie würde alles verändern.

Während alle anderen Treffen immer unter den Augen der jüngeren Schüler stattfanden, erfolgte diese Zusammenkunft morgen nur im engsten Kreis. Das bedeutete, dass lediglich die Ältesten, Raven und Dex und natürlich alle zwanzig Abschlussschüler anwesend sein würden. Zwanzig Schüler, die mit der Erfüllung der letzten Aufgabe ihren Abschlussrang erhalten würden.

Über die Aufgaben selbst war wenig bekannt. Die Abschlussjahrgänge schwiegen über ihren letzten Auftrag und selbst Raven und Dex verloren kein Wort darüber.

Wenn ich die schwarze Uniform einmal tragen würde, wäre ich frei. Die Ältesten könnten dann nicht mehr über mein Schicksal bestimmen. Ich würde mein eigenes Schwert erhalten, geschmiedet in den Flammen der Minen. Meine Initialen eingraviert.

Mit elf Jahren hatte ich zum ersten Mal ein solches Schwert gesehen, und wenn es Liebe auf den ersten Blick tatsächlich gab, dann hatte es mich genau in diesem Moment erwischt. Wochenlang war ich dem jungen Mann damals in der Akademie nachgerannt, um das wunderschöne Metall von Nahem begutachten zu können.

Ich lächelte schwach, während ich mein Oberteil in meinem kleinen Zimmer über den Kopf zog. Der Gardist hatte mich nicht einmal in die Nähe seines Schwertes gelassen, und jetzt – so viele Jahre später – war ich kurz davor mein eigenes in den Händen zu halten. Verrückt.

Wenn wir abends in unseren Betten lagen, erzählten Ezra und ich uns oft, was wir nach unserem Abschluss alles sehen und entdecken wollten.

Mir war schon lange vor unserem letzten Jahr hier klar, dass ich Ezra auf seiner Reise folgen würde. Ich war nicht dafür gemacht, eine Gruppe Gardisten anzuführen, Ezra hingegen definitiv. Ich würde ihm meine Treue schwören und er würde unsere Gruppe führen. So war das schon immer gewesen.

Wir waren ein gutes Team. Als Kinder mussten wir einige Tage in der Wüste verbringen. Ezra hatte automatisch die Führung übernommen, während ich ihm Deckung gab. Es war wie selbstverständlich passiert und hatte mich nie gestört. Ich würde Ezra mein Leben anvertrauen. Und ich wusste, dass es ihm genauso ging.

Wir waren bereit für die Zukunft – gemeinsam.

***

Rosi’s Kneipe war ein kleiner, lockerer Laden, in dem alle Krieger der Akademie gern den Abend verbrachten. Die Aufseher duldeten den Aufenthalt in den Kneipen und den Hurenhäusern widerwillig, aber wenn man am folgenden Tag unaufmerksam war, ließen sie einen ihren Zorn über das abendliche Vergnügen nur allzu gern spüren.

Zwei Mal hatte mich Ezra bereits aus dem urigen Lokal tragen müssen. Ich mochte zwar den süßen Alkohol vertragen, aber mit den Jungs konnte ich bei Weitem nicht mithalten, weshalb ich die letzten Jahre immer dankend abgewunken hatte, wenn sie eine weitere Runde Schnaps bestellten.

Auch jetzt war es der stechende Geruch der dunkelbraunen Flüssigkeit, der mir zuerst in die Nase stieg, als ich durch die breite Tür der Kneipe trat. Ich musste nicht lange suchen und entdeckte Ezra beinahe sofort an unserem Stammtisch neben einem bodentiefen Fenster.

Zu meinem Leidwesen standen Farris und zwei seiner engsten Freunde – Zavied und Tyr – dicht neben ihm.

»Nestaris, ziemlich spät heute! Du kommst doch sonst immer früher. Lastet unser Übungskampf noch immer auf dir?«

Farris schrie meinen Namen geradezu durch das gesamte Lokal und ich konnte mich gerade noch zurückhalten, nicht die Augen zu verdrehen. Langsam bahnte ich mich durch die Menschenmassen – von gerade einmal vierzehnjährigen Jungen bis zu voll ausgebildeten Gardisten war hier alles dabei – und ließ mich neben Ezra auf einen freien Stuhl fallen. Grimmig blickte ich zu Farris und entgegnete: »Ich bevorzuge es, meine Kleidung nach dem Training zu wechseln.«

Ich ließ den Blick über seinen verschwitzten Trainingsanzug schweifen und nahm anschließend einen Schluck von Ezras Bier.

Farris schnalzte mit der Zunge und ich erkannte in seinem Blick, dass er erst nach einer richtigen Antwort suchen musste. Seine Augen glitten einmal über meinen Körper, doch ich hatte absichtlich ein lockeres Hemd gewählt, um gierigen Blicken auszuweichen.

Nach einigen Sekunden zuckte er schließlich mit den Schultern und antwortete: »Und ich bevorzuge engere Kleidung an dir, aber anscheinend erfüllst du mir nicht einmal diesen Wunsch.«

Wut flammte in mir auf und ich dachte an den Moment, in dem er knapp über mir kniete und seine Lippen über meine Wange strichen. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie Ezra bei dieser Aussage die Augenbrauen zusammenzog, doch bevor er etwas sagen konnte, sprang ich auf und verkündete laut: »Ich bin hier, um zu trinken, nicht um mir deine Sehnsüchte anzuhören. Also, wenn du mich entschuldigen würdest.« Ohne auf seine Antwort zu warten, machte ich auf dem Absatz kehrt und bahnte mir einen Weg zur Bar. Das Brennen in meinen Augen ignorierte ich gekonnt.

Ich wollte es vor Ezra nicht zeigen, doch Farris’ Aussagen machten mir jedes Mal aufs Neue bewusst, dass ich nie den gleichen Stand wie meine Kameraden in der Akademie erhalten würde. Es würde immer Männer geben, die stärker waren als ich, und es würde der Augenblick kommen, in dem ich nicht Ezra an meiner Seite hatte, der mich schützen konnte.

Als ich mit zwei randvoll gefüllten Gläsern Bier wieder zurück an unseren Tisch kam, waren Farris und sein Gefolge glücklicherweise verschwunden. Ich stellte das Glas schwungvoll vor Ezra ab und ließ mich anschließend auf den Stuhl gegenüber von ihm fallen.

Nachdem ich einen tiefen Atemzug genommen hatte, zauberte ich ein strahlendes Lächeln auf meine Lippen und blickte meinen besten Freund an. Dieser hatte noch immer das Gesicht verzogen.

»Lass das, Talya.«

Mein Lächeln erstarb und ich presste die Lippen aufeinander. Ezra seufzte und griff behutsam nach meinen Händen. Erst, als er sanft mit dem Daumen über meinen Handrücken fuhr, merkte ich, wie kalt meine Hände waren.

»Ich sehe genau, wie unwohl du dich unter seinem Blick fühlst. Wenn du willst, kann ich ihn …«

»Nein«, schnitt ich ihm laut das Wort ab, ehe er seinen Satz beenden konnte. Einige der Jungs drehten sich verwundert zu uns um, doch ich störte mich nicht daran. »Ich kann das allein regeln, mach dir keine Sorgen.«

Das Letzte, was ich jetzt noch gebrauchen konnte, war ein Streit zwischen Farris und ihm.

Ezra würde Farris locker besiegen können, daran zweifelte ich nicht. Aber wenn die Ältesten erfuhren, dass sie sich meinetwegen prügelten, könnte ich mir auch gleich hilfloses Mädchen auf die Stirn tätowieren lassen.

»Dex hat dich also heute bei der Übung schon wieder ihm zugeteilt?«

Ezra versuchte, die Stimmung zwischen uns zu beruhigen, und ich zwang mich, wenigstens diesen Abend normal mit ihm zu verbringen, ohne dass ständig das Thema Talyas Zukunft zwischen uns stand. Ich nickte und nahm einen tiefen Atemzug.

»Zavied hätte gegen ihn antreten sollen, aber sein Kampf gegen Drachenstein heute Morgen scheint nicht ganz so gut gelaufen zu sein. Und dann war ich anscheinend wieder dran.«

Ich zuckte mit den Schultern und nahm einen großen Schluck der kühlen Flüssigkeit. Farris würde mir meinen letzten Abend als Seniorkriegerin nicht verderben.

Ezra sah, dass ich nicht weiter über ihn reden wollte, und hakte deshalb auch nicht nach. Stattdessen nahm er einen ebenso großen Schluck seines Biers, schüttelte sich aber keine zwei Sekunden später. Er stellte das Glas ruckartig auf den Tisch und sagte anschließend mit ernstem Blick: »Du weißt genau, dass ich diese Sorte hasse.«

Ich grinste und augenblicklich war die schlechte Laune verschwunden. »Und ich liebe das süßliche Bier.«

Ich nahm einen großen Schluck aus dem Glas und verzog die Lippen zu einem seligen Lächeln. »Und wenn ich dir schon einen ausgebe, dann sollte es mir doch wenigstens auch schmecken, oder?«

Ezra schüttelte langsam den Kopf, während er die bernsteinfarbene Flüssigkeit argwöhnisch betrachtete. Er versuchte, die Lippen fest zusammenzupressen, doch ich sah das belustigte Funkeln in seinen Augen.

»Auf solche Ideen kannst auch nur du kommen«, sagte er lachend und schob das Glas in meine Richtung. »Ich werde mir etwas Anständiges holen.«

Grinsend zog ich beide Gläser an meine Brust und nickte ihm zwinkernd zu. »Lass mich nur nicht zu lange hier warten.«

Ezra lachte und verschwand in der feiernden Masse. Mittlerweile war der große Raum schon gut gefüllt.

Im Sommer kamen weniger Menschen hierher und man hatte auch die Chance, nach elf Uhr noch auf der länglichen Fläche zu tanzen oder sich, ohne gegenseitiges Anschreien, zu verständigen. Jetzt im Frühjahr war es jedoch kühl, die Nordluft zwang sich am Abend sehr schnell durch die engen Gassen, und so suchten beinahe alle hier Zuflucht.

Ich lehnte mich in meinem Stuhl zurück und beobachtete die Leute, die sich an die Bar drängten. Ezra war groß, vermutlich würde er sich schnell nach vorne durchdrängeln können, doch die Junioren hatten heute kaum eine Chance.

Ich wandte den Blick von dem breiten, dunklen Tresen ab, hinter dem die Bedienungen umherwuselten, und schaute stattdessen weiter durch den Raum.

Rosi’s Lokal war ein Zufluchtsort für alle Krieger, die außerhalb der Akademie auch noch ein Leben hatten. Zwar war die Kneipe offiziell nur für Krieger der Akademie zugänglich, aber der Hintereingang, der nicht kontrolliert wurde, war schon lange kein Geheimnis mehr. Und einige unserer Kameraden schafften es tatsächlich, neben der Ausbildung eine Liebesgeschichte mit einem Stadtmädchen anzufangen.

Malik, einer der wenigen Männer, die ich als meine Freunde bezeichnen würde, war sogar seit fast einem Jahr verlobt. Ich glaubte, seinen rötlichen Haarschopf zwischen all den Körpern auszumachen und musste unweigerlich lächeln.

Er hatte vor dem Rat nie ein Geheimnis daraus gemacht, wie stark seine Liebe zu Leyanna war, und irgendwann hatten sie begonnen, es zu akzeptieren.

Manchmal wünschte ich, ich würde ebenso jemanden finden, dem ich mich vollends anvertrauen könnte. Jemanden, dem die Maske auf meinem Gesicht egal wäre. Doch jedes Mal, wenn diese Gedanken in meinem Kopf die Überhand gewannen, drängte ich sie ganz schnell zurück in die hinterste Ecke meines Kopfes und rief mir mein Ziel erneut ins Gedächtnis. So wie auch jetzt.

Die schwarze Uniform lag beinahe schimmernd vor mir, Liebe hingegen war nichts Beständiges.