Master Class, Band 2: Mut kommt vor dem Fall - Stefanie Hasse - E-Book

Master Class, Band 2: Mut kommt vor dem Fall E-Book

Stefanie Hasse

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Beschreibung

Eine sturmumtoste Insel. Eine Geschichte mit Konsequenzen. Ein perfider Racheplan. Zwei Sachen hat Riley auf Masters' Castle gelernt: dass nichts so sehr schmerzt wie Verrat und dass eine Nacht reicht, um sich hoffnungslos zu verlieben ... Doch Rileys Gefühlschaos muss warten, denn die zweite Phase des Schreibwettbewerbs steht an: Bei einem Literaturfestival auf der Insel St Michael's Mount sollen die angehenden Autorinnen und Autoren ihre Texte präsentieren. Erst als ein Sturm jede Verbindung zum Festland kappt, erkennt Riley, dass auf der Insel nichts so ist, wie es scheint. Band 2 der packenden Romantic-Suspense-Dilogie von Erfolgsautorin Stefanie Hasse Die Reihe ist abgeschlossen! Beide Bände erscheinen zeitgleich.

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Seitenzahl: 358

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TRIGGERWARNUNG:

Dieses Buch enthält Themen, die potenziell triggern können.

Deshalb findet ihr hier einen Hinweis zum Inhalt.

 

ACHTUNG: Dieser enthält Spoiler für die gesamte Handlung.

 

Als Ravensburger E-Book erschienen 2023

Die Print-Ausgabe erscheint im Ravensburger Verlag

© 2023 Ravensburger Verlag

Copyright © 2023 by Stefanie Hasse

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München.

Lektorat: Franziska Jaekel

Umschlaggestaltung: verwendete Bilder von © Dmitry Rukhlenko, © lincegialla, © Kateryna Kultsevych und © Ironika, alle von Shutterstock

Alle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.

ISBN 978-3-473-51161-7

 

ravensburger.com

 

Kleiner Reminder:

Pass auf, was du online über dich preisgibst …

MitgliederLetterBattler

Wandlung

Der Mittelpunkt der Geschichte ist längst erreicht. Die Protagonistin oder der Protagonist muss aktiv werden. Vielleicht ist ein Umdenken nötig, um die eigenen Ziele zu verfolgen und sich der antagonistischen Kraft entgegenzustellen. Denn jede Geschichte hat zwei Seiten und Gut oder Böse ist nur eine Frage der Perspektive.

Die besten antagonistischen Figuren könnten ebenso die Heldinnen und Helden ihrer eigenen Geschichte sein, halten sich vielleicht sogar dafür. Es kommt immer auf den Blickwinkel an.

Eine solche Geschichte will ich erzählen. Eine Aneinanderreihung kurzer Szenen. Momente, die vermeintlich alltäglich sind und doch zur Eskalation führen.

Ich werde beweisen, dass es meine Geschichte ist. Und ich werde sie erzählen, bis die antagonistische Kraft besiegt ist.

1

Wir treten aus den Sternen direkt in das gleißende Licht der Flurbeleuchtung und ich bleibe blinzelnd stehen. Alles in mir drängt danach, umzukehren, die Tür zu schließen und mich wieder mit Killian unter den Sternenhimmel des Planetariums zu legen. Mich mit ihm in diesen Kokon zurückzuziehen, in dem ich sicher bin vor der Welt dort draußen.

Nach den Geschehnissen gestern hätte ich eine Pause mehr als verdient. Der wenige Schlaf, den ich bekommen habe, war von wirren Träumen durchzogen. Killians Berührungen waren durchmischt von der Aussage des Pitchs, der mir die bittere Wahrheit klargemacht hat: Archie – meine erste richtige große Liebe – wollte mich in der ganzen Zeit auf Masters’ Castle mit seinen Psychospielchen zurück in seine Arme treiben. Ich bin noch immer fassungslos. Selbst mein Unterbewusstsein kam nicht damit zurecht und hat versucht, mir ein positives Gefühl vorzuspielen, was aber nicht ausgereicht hat, die Albträume fernzuhalten.

»Ich weiß, was du denkst«, raunt Killian in mein Ohr. Er steht so dicht hinter mir, dass ich die Wärme seines Körpers am Rücken spüre. Seine Haare kitzeln mich am Ohr, sorgen mit seinem Atem für Gänsehaut. Er umarmt mich, verschränkt die Hände vor meinem Bauch und legt sein Kinn auf meine Schulter, nachdem er mir einen Kuss auf die Wange gedrückt hat.

»Ach ja, weißt du das?« Ich lehne mich instinktiv an ihn, genieße den Halt, ebenso wie ich es genossen habe, mich letzte Nacht vollkommen fallen zu lassen.

Ich spüre, wie er nickt, sein Lächeln kratzt sanft an meiner Wange. »Soll ich dir davon erzählen?«

Hitze durchflutet mich, mein Körper erinnert sich genau daran, wie betörend seine Worte sein können. Geflüsterte Pläne, die Vorfreude auslösen, gefolgt von Begehren und brennendem Verlangen. Killians Stimme erinnert mich seit unserer ersten Begegnung an den sexy klingenden männlichen Part meiner Lieblingshörbücher und er setzt sie, genau wie seine Worte, gekonnt als Waffe ein. Doch ich bin nicht hier auf Masters’ Castle, um die Zeit mit einem hübschen Mann zu genießen, sondern weil ich es ins Finale des Young Talents Awards geschafft habe! Jetzt, außerhalb unserer Blase der Zweisamkeit im Planetarium, auf dem Flur des herrschaftlichen Anwesens der Familie Masters, kehrt die Realität langsam zurück.

Ich. Habe. Es. Geschafft!

Und das habe ich ausschließlich meinem eigenen Talent zu verdanken. So übel die letzten Tage auch gelaufen sind, ich habe erkannt, was ich schaffen, mir zutrauen und leisten kann. Dieses Gefühl ist unglaublich befreiend. Nun habe ich die Chance zu beweisen, dass ich noch mehr kann. Ich richte mich auf und Killian stößt ein enttäuschtes Seufzen aus.

»Das heißt dann wohl Nein. Sehr schade.« Er drückt mich noch einmal fest an sich. Es fühlt sich beinahe unwirklich an, dass wir uns vor rund einer Woche zum ersten Mal begegnet sind und er mich dennoch besser zu kennen scheint als viele andere.

Ehe ich doch noch einknicke, löse ich seine verschränkten Hände und mache einen kleinen Schritt von ihm weg. Sofort bereue ich es, seine Wärme zu verlieren.

Killian nimmt meine Hand. Ich sehe unsere Arme entlang, betrachte sein hochgekrempeltes Hemd, die zarten Muskelstränge seines Unterarms, seine schlanken Finger, die sich mit meinen verflechten, als wäre es das Natürlichste der Welt. Und genau so fühlt es sich an. So richtig, so … perfekt wie alles an diesem Tag. Ich halte das Gefühl fest, speichere es ab, um es an Liv und Blake aus meinem Manuskript weiterzugeben.

»Hör auf, so zu lächeln«, fordert mich Killian auf.

Ich sehe zu ihm, seine Lider flattern, während er sich auf die Lippe beißt, was meinen Bauch in kribbelnde Unruhe versetzt.

»Warum sollte ich?«, frage ich und meine Stimme bricht beinahe.

»Weil ich dir sonst verspreche, dass wir es nicht pünktlich nach St. Michael’s Mount schaffen.« Das dunkle Timbre unterstreicht sein Versprechen und sorgt dafür, dass sich mein Kopfkino anschaltet und ich wieder mit Bildern der vergangenen Nacht geflutet werde. Ich wünsche mir eine Zeitkapsel, um einfach noch ein wenig länger zu bleiben.

»Das war mein Ernst!« Killian schüttelt lachend den Kopf, als verwerfe er einen Gedanken, und macht dann den ersten Schritt in Richtung Hauptflur. Er schmunzelt, sodass ich ihn einfach fragen muss, worüber er sich so freut.

Seine Antwort kommt schnell und ist daher umso entwaffnender: »Ich hätte nie gedacht, dass es so leicht sein kann. Mit dir fühlt sich alles richtig an.«

Ich zwinge ihn zum Stehenbleiben und will ihn gerade küssen, als sein Schmunzeln erlischt und sich sein vorher so strahlendes Gesicht verdunkelt. »Ich fühle mich bestätigt und nicht ausgenutzt«, fügt er hinzu.

Ich weiß nicht, was ich auf dieses Geständnis erwidern soll, umgreife seine Hand fester und lege die andere an seine Wange. Ich blicke ihm tief in die Augen und suche nach der Erklärung für den Schmerz, den ich darin sehe. Ich wusste, dass ein Teil von ihm zerbrochen ist, er schlechte Erfahrungen gemacht hat, und ich wünschte, ich könnte ihm das nehmen.

»Wie kannst du dir so sicher sein?«

Er legt seine freie Hand auf meine an seiner Wange, seine Finger streifen sanft darüber.

»Du hast dich bei mir nicht ein einziges Mal über die anderen beschwert«, sagt er und nimmt unsere Hände herunter. Ein paar Herzschläge lang schwimmt er noch mit trübem Blick in seinen Erinnerungen, dann taucht er daraus auf und strahlt mich an.

»Du wolltest nicht einmal, dass ich mit Meredith spreche, weil dich die anderen ausgeschlossen haben«, flüstert er. »Ich danke dir.« Er drückt mir einen Kuss auf die Lippen und geht beschwingt weiter, als hätte es diesen Moment nie gegeben.

Killian Masters ist offenbar sehr gut darin, seine Backstory zu verdrängen, obwohl er doch genau wissen müsste, dass sie immer durchscheinen wird, ihn prägt und zu dem Menschen macht, der er heute ist: ein einfühlsamer, zärtlicher und humorvoller Mann. Vielleicht nicht der Traum aller Frauen, wenn ich daran denke, auf welche arrogante und distanzierte Weise er sich vor rund einer Woche bei mir vorgestellt hat, aber meinen Träumen kommt er gefährlich nah.

»Sehen wir uns gleich unten zum Frühstück?«, fragt er, bevor sich unsere Wege trennen, weil ich in den Gästetrakt muss.

»Ich will vorher nur meine Sachen packen.«

»Soll ich dir helfen?«, bietet er an.

»Das schaffe ich auch allein.«

»Ich weiß, dass du es allein schaffst.« Er verdreht die Augen, der tiefgründige Killian ist verschwunden. »Aber je schneller du fertig bist, desto mehr Zeit haben wir noch.« Er zuckt verheißungsvoll mit den dunklen Augenbrauen und schenkt mir dazu einen eindeutigen Blick unter den Haarsträhnen hindurch, die ihm tief in die Stirn hängen.

»Killian Masters, du bist unverbesserlich.«

»Ich weiß.« Er grinst, ehe er mich an sich zieht, mir fast filmreif eine Hand in den Nacken legt, mit dem Daumen mein Kinn anhebt und mich küsst, bis ich weiche Knie bekomme. So schnell, wie er mich gepackt hat, lässt er mich wieder los, wendet sich ab und geht in Richtung seines Zimmers davon. Kurz dreht er sich um, ein unverschämtes Grinsen auf den Lippen. »Bis gleich.«

Ich kann darüber nur den Kopf schütteln und sehe ihm hinterher, bis er hinter der nächsten Ecke verschwindet. Erst dann mache ich mich auf den Weg in den Gästeflügel. Durch die Tür, die auf den Galeriebalkon führt, tritt Paul mit einem nicht zu deutenden Ausdruck im Gesicht.

»Guten Morgen, Riley. Hast du … gut geschlafen?« Sein Blick huscht in Richtung Familientrakt, dann sieht er mich lange an, bis es mir schon beinahe unangenehm ist.

Ich habe nicht vergessen, wie er sich gestern um mich gekümmert hat, wie er instinktiv erraten hat, dass ich April brauche. Dass er Killian alles erzählt hat, obwohl zwischen den beiden irgendetwas vorgefallen sein muss, nachdem sie wie Brüder aufgewachsen waren.

»Guten Morgen«, antworte ich. »Und ja, ich habe gut geschlafen. Trotz allem«, füge ich leiser hinzu.

Er nickt mit zusammengepressten Lippen, schluckt kurz, dann öffnet er den Mund, um etwas zu sagen, hält es jedoch zurück. Sein Gesicht verändert sich, ehe er entschlossen sagt: »Ich wünsche dir viel Erfolg im Finale.«

»Danke«, erwidere ich reflexartig, bis mir etwas auffällt. »Was tust du eigentlich noch hier?«

Schließlich ist sein Grandpa, der Butler von Masters’ Castle, wieder zurück, und Paul muss nicht länger aushelfen. Außerdem wollte er doch April zur Insel begleiten.

»Ich hole April ab«, sagt er dann auch.

Ich runzle die Stirn. »Ist sie nicht gestern mit den anderen gefahren?«

»Wir wollten lieber auf die Ebbe warten und kein Transferboot nehmen«, sagt er so schnell, dass es wie auswendig aufgesagt klingt. Die Röte, die in Pauls Wangen schießt, behauptet noch etwas anderes. Er schafft es nicht länger, mir in die Augen zu sehen.

Ich grinse breit, freue mich wahnsinnig für ihn und April, was ich ihm auch sage.

»Danke«, haucht er und sieht immer noch wie ein kleines schüchternes Kind zu Boden, sodass ich fast nur seine blonden Locken sehe.

»Ich sollte jetzt wohl auch packen«, sage ich und mache eine ausladende Handbewegung in Richtung meines Zimmers. »Dann … sehen wir uns später noch?«

Er hebt den Kopf, seine Stirn ist in Falten gelegt.

»Wenn du April nach St. Michael’s Mount begleitest«, erkläre ich.

Die Falten weichen einem strahlenden Lächeln und er nickt. »Ja, man sieht sich, Riley.«

Er grüßt mit einer Hand, ehe er Richtung Treppe davongeht, und ich mache mich endlich zu meinem Zimmer auf.

2

Ich war nur wenige Tage hier und doch sieht es in meinem Zimmer so chaotisch aus wie zu Hause. Ich höre Mums Predigt, das Kinderzimmer immer ordentlich zu halten, weil man auf etwas treten und sich das Bein brechen könnte. Doch ihre ermahnende Stimme lässt mich nicht mehr zusammenfahren und vorsichtiger werden wie noch vor einer Woche. Die Ereignisse, die echte Angst, nicht Mums projizierte Ängste, haben mich verändert. Bree wird sich freuen.

Als hätte der Gedanke sie heraufbeschworen, klingelt mein Handy und Brees Gesicht lächelt mir entgegen. Ich nehme den Videocall an.

»Guten Morgen, Schwesterherz«, sagt sie, doch ihre pathetische Begrüßung entspricht so gar nicht ihrem ernsten Gesichtsausdruck. »Mum traut sich nicht, selbst anzurufen. Sie ist …« Bree stockt. »Sie ist völlig fertig von dem, was du erlebt hast.«

Ich nicke, verstehe. »Es ist vorbei. Die Polizei wird heute Archies Sachen holen und alles beweisen können«, sage ich so überzeugend, wie April mir gestern dasselbe gesagt hat. Doch ich fühle es nicht, daher zittert meine Stimme.

»Ausnahmsweise stimme ich Mum zu«, sagt Bree nachdenklich. »Vielleicht solltest du nach Hause kommen.«

»Wie bitte?« Meine Stimme ist lauter – und höher – als beabsichtigt. »Ich bin im Finale, habe vielleicht die Chance, Liv und Blake zu veröffentlichen. Weißt du, wie viel Glück man braucht, um …«

»Ich weiß«, unterbricht sie mich mit einem Augenverdrehen und atmet laut ins Mikrofon. »Aber sogar ich mache mir Sorgen«, gesteht sie. Sie sieht völlig geknickt aus. Dann schüttelt sie den Kopf, als könnte sie nicht fassen, was sie da gerade ausgesprochen hat.

»Die Sorgen sind unbegründet. Ich habe meine Schreibgruppe hier. Bis auf Jackson, der nach Hause zu seiner Tochter musste, begleiten uns alle auf die Insel. Es sind meine Freundinnen und Freunde.«

»Und Killian.« Brees Augenbraue hebt sich herausfordernd.

»Ja, Killian auch«, gebe ich zu und muss meiner kleinen Schwester dann haarklein von dem gestrigen Abend erzählen, von den einzelnen Stopps unserer gemeinsamen Geschichte, die Killian vorbereitet hatte. Brees schwärmerischem Gesichtsausdruck nach verliebt sie sich gerade mit mir.

»Und was ist mit dieser Insel?«, fragt sie mich, als ich ihr die heutigen Plänen verrate – die Fahrt nach Marazion und den Einzug ins Kloster von St. Michael’s Mount.

»Was soll damit sein?«, frage ich zurück, ein beklemmendes Gefühl steigt in mir auf.

Bree drückt natürlich direkt in die Wunde. »Geht es dir gut dabei? Mit deiner Angst vor Wasser …«

»Ich habe keine Angst vor Wasser.« Die Worte kommen so schnell aus meinem Mund, dass ich sie beinahe selbst glauben könnte.

»Und was ist mit Booten? Es ist eine Ins…«

»Wir fahren nicht mit dem Transferboot«, würge ich sie ab.

Es sind nicht meine Ängste, rede ich mir im Stillen ein. Ich habe nie etwas Negatives erlebt, nur Mums Panik dieses eine Mal im Freizeitpark. Dank ihr habe ich nach einer Water Tour nie wieder in einem Boot gesessen. Ihr panischer Griff um meinen Oberarm, damit ich nicht hinausfalle und in dem flachen Wasser ertrinke, sorgt noch heute dafür, dass ich bei der Erinnerung daran über die Stelle reibe, sobald ich an Wasser und Wellen – und kenternde Boote – denke. Ein Besuch auf einer Insel wäre mir von selbst nicht einmal im Traum eingefallen.

Nach einem tiefen Atemzug erkläre ich: »Wir warten, bis der Damm frei von Wasser ist und gehen rüber.«

Das scheint Bree von weiteren Kommentaren zu diesem Thema abzuhalten, denen ich mich jetzt nicht stellen kann, nicht stellen will. Ich renne bereits im Zimmer umher, sammle einhändig Klamotten sowie mitgebrachte, nicht gegessene Nervennahrung zusammen und werfe alles in meinen Koffer.

»Gott, Riley, hör auf, die ganze Zeit durch die Gegend zu rennen. Mir wird schwindelig!«

Ich halte das Handy wieder so, dass ich Bree ansehen kann. »Ich muss packen. Entweder bist du dabei oder eben nicht.«

Bree schnaubt. »Du hast noch nicht alles von Killian erzählt. So lange muss ich es wohl noch ertragen.«

»Ich habe alles erzählt«, versichere ich ihr.

Sie zieht das Display näher zu sich und scheint mich zu mustern.

Ich kehre zusammen mit ihr ins Ankleidezimmer zurück, um nachzusehen, ob noch irgendetwas in dem kunterbunten Traum eines jeden Kostümbildners mir gehört.

»Wo zur Hölle bist du?« Bree klebt praktisch an der Kamera ihres Handys.

Ich kläre sie auf und erzähle ihr noch einmal von unserer ersten Aufgabe, bei der wir einen Charakter entwerfen und verkörpern sollten.

»Ich wusste ja, dass ihr jemanden darstellen solltet, aber nicht, dass du dafür einen gigantischen Wandschrank voller toller Kleider bekommen hast. Zeig mal alles her.«

Ich seufze genervt auf. »Ich habe jetzt keine Zeit, Killian wartet. Wir wollen gemeinsam frühstücken, bevor wir losfahren.« Nach einem letzten Rundumblick, bei dem ich für Bree noch einmal den Raum abfilme, verlasse ich das Ankleidezimmer.

»War das dein Notizbuch?«, fragt sie und kneift die Augen zusammen.

»Wo?«

»Im Regal mit den Handtaschen.«

Ich kehre in den Nebenraum zurück, sehe erneut auf die Regalfächer, die vor meinem Einzug leer gewesen sind und die ich jetzt wieder ausgeräumt habe. Ich habe keins der anderen Fächer benutzt, aus Sorge, dass ich meine Sachen nicht wiederfinden würde.

»Da, zwischen dieser Glitzerclutch und der beigefarbenen Handtasche«, sagt Bree und mein Blick folgt ihrer Beschreibung. »Was ist los?«, fragt sie dann, weil ich nicht reagiere.

Ich starre auf die erwähnte glitzernde Clutch, hinter der die Kulleraugen der Rittessin hervorlugen – vom selbst gebastelten Cover einer Zehnjährigen, weil ich das Buch damals von Mum zum Geburtstag bekommen habe. Die Rittessin sieht mich vorwurfsvoll an und ich lege ihr die passenden Worte in den Mund: Wie kannst du mich hier einfach vergessen?

Die Frage, die ich mir stelle, lautet jedoch: Wie kommt mein Notizbuch in dieses Regalfach? Laut sage ich nur: »Ich bin mir sicher, dass ich das Buch nicht dorthin gepackt habe.«

»Ach«, Bree winkt ab, »du hattest es bestimmt beim Zusammenräumen in der Hand und hast es nur zur Seite gepackt, damit du es oben auf den Koffer legen kannst.«

Ich runzle die Stirn, während ich mich darauf konzentriere, wann ich das Buch zuletzt in der Hand hielt. Ich habe keine Ahnung.

»Vermutlich hast du recht. Ich bin etwas durch den Wind, also … ich sollte jetzt fertig werden.«

Bree lacht schallend. »Genau, damit Killian nicht so lange auf dich warten muss.« Sie klimpert mit den Wimpern.

Könnte sie kurzfristig einen Instagramfilter auf ihr Bild legen, wäre es der mit den Herzchen vor den Augen. Den passenden Tonfall hat sie schon aufgelegt, sodass ich sie nur gespielt vorwurfsvoll anschauen kann.

»Ist gut, Bree«, sage ich und schiebe ein theatralisches Stöhnen hinterher. »Warum telefoniere ich überhaupt mit dir?« Ich greife zur Rittessin und befreie sie aus ihrem Handtaschengefängnis. Die rollenden Kulleraugen bilden eine exakte Kopie von Bree, die gerade sagt: »Weil du meinen weisen Rat liebst, ich die beste Schwester der Welt bin und du nicht –«

»Ja, ja, schon gut«, unterbreche ich ihre Lobeshymne auf sich selbst. »Auf Wiederhören, Bree.« Ich lege auf, bevor sie noch etwas erwidern kann.

Nach einem weiteren Blick ins Ankleidezimmer, den ich diesmal auch über die belegten Kleiderstangen und Regale wandern lasse, kehre ich mit meinem Buch ins Schlafzimmer zurück, wo mein aufgeklappter Koffer auf dem Bett thront. Direkt daneben steht meine nur unwesentlich kleinere Handtasche, in der ich alles verstaue, was man kurzfristig brauchen könnte – ein ebenfalls in Fleisch und Blut übergegangenes Verhalten von Mum, die ständig Angst hatte, wir hätten nicht genügend Pflaster, Traubenzucker, Desinfektionstücher und so weiter für unterwegs dabei.

Mein Handy vibriert und auf dem Sperrbildschirm erscheint eine Nachricht von Bree, die ich mir noch kurz ansehe.

Weshalb ich überhaupt angerufen habe: Hast du den Wetterbericht gesehen? Ein Sturm zieht vom Atlantik auf. Mum macht sich Sorgen.

Während ich mit einer Hand nach einem genervten Smiley suche, werfe ich mit der anderen die Rittessin auf die kuschelige Tagesdecke, die in der vergangenen Nacht nicht benutzt wurde. Sie federt auf der Matratze, was mich unwillkürlich daran denken lässt, wie Bree und ich immer auf dem Bett herumgehopst sind, als wir klein waren – bis Mum es mitbekommen und uns verboten hat. Viel zu gefährlich.

Schließlich bleibt das Buch geöffnet auf dem Bett liegen. Ich trete näher und schaue auf die Seite, die häufiger aufgeklappt war als alle anderen. Wäre das Buch, das Mum damals extra für mich hatte anfertigen lassen, ein Taschenbuch und kein Hardcover, wäre an der Stelle der ersten Seite wohl inzwischen die größte Leserille der Welt.

Auf das Blatt, das mit dem dicken Einband verbunden ist, hat Mum ein paar Worte geschrieben:

Für Riley zu ihrem 10. Geburtstag

Mein Schatz, füll diese leeren Seiten mit all deiner Fantasie und lass deine Träume wahr werden.

Hab dich lieb!

Mama

PS: Ich freue mich auf alle neuen Abenteuer der Rittessin :-)

Ich kenne die Widmung auswendig, sie ist jedes Mal Motivation pur für mich. Das Wissen, dass jemand uneingeschränkt an dich glaubt, dir Rückhalt gibt, ist nicht mit Gold aufzuwiegen.

Umso schwerer fiel es mir, die erste Seite in diesem damals noch so makellos cremefarbenen Buch zu füllen. Ich wollte alles richtig machen, es sollte perfekt sein. Aus diesem Notizbuch sollte mein erstes Buch werden.

Ich lächle bei dem Gedanken daran, wie hoffnungsvoll und naiv ich damals war. Statt der perfekten Schrift und des perfekten Einstiegs sehe ich mehr durchgestrichene Zeilen und darüber ergänzte Formulierungen als einen in Schönschrift verfassten Text.

Ich beuge mich vor und streiche über die ersten Worte, die verzweifelten Versuche meines jungen Ichs, Mums liebevoller Widmung gerecht zu werden. Die Zeilen sind nicht nur schief, manche von ihnen sind – erfüllt von Enttäuschung über mich selbst – auch fester ins Papier gedrückt, beinahe geprägt. Genau wie die vielen durchgestrichenen Stellen, die auf der Rückseite schon fast als Lineatur durchgehen könnten.

Mein Zeigefinger fährt die letzte dieser Zeilen entlang, bevor mein Blick über den Rest der Seite huscht.

Es war einmal eine Rittessin

Das Königreich der tapferen, mutigen, witzigen und süßen Rittessin reichte vom Vorgarten bis zur Nachbargarage und den ganzen Garten entlang bis zur Trauerweide vor dem dunklen geheimnisvollen Wald, in dem sie allerlei Abenteuer erlebte.

Ein Klopfen an der Tür unterbricht mich. In Erwartung, gleich einen ungeduldigen Killian vor mir zu haben – etwas, das ich selbst nur allzu gut kenne –, springe ich zur Tür und reiße sie auf.

Erschrocken macht Paul einen Satz zurück.

»Sorry«, stoße ich aus. »Ich dachte …«

»… es wäre Killian, schon klar.« Er nickt wissend, das zuvor aufgesetzte Lächeln fällt in sich zusammen. »Ich will deinen Koffer holen. Hast du alles gepackt?«

»Ich kann ihn selbst nach unten bringen«, wiederhole ich praktisch unser erstes Gespräch nach meiner Ankunft auf Masters’ Castle.

Paul hebt entschuldigend die Hände. »Grandpa …«

»Ich verstehe«, sage ich und wende mich gleichzeitig dem Bett zu, um den Koffer zu schließen. Vorsichtig halte ich ihm mein Gepäck entgegen. Eine Warnung muss ich gar nicht erst aussprechen. Dem Schmunzeln nach erinnert sich Paul noch genau an den explodierten Inhalt, nachdem er den Koffer falsch angehoben hatte. Bei dem Gedanken, sein Grandpa würde plötzlich zwischen meiner Unterwäsche stehen, hat er so ansteckend losgeprustet, dass ich ihn direkt sympathisch fand. Nun freue ich mich umso mehr, dass er und April sich gefunden haben – trotz des ganzes Dramas, das auf Masters’ Castle abging. Er hält den Koffer so umständlich, dass ich froh bin, dass er nicht so viel wiegt wie Brees Reisetasche.

Ohne jegliche Beschwerde wendet er sich zur Tür um und will gerade aus dem Zimmer gehen, als er sich noch einmal umdreht.

»Killian wartet unten auf dich.« Ich höre seiner Stimme an, dass er noch etwas hinzufügen, eine weitere Warnung aussprechen möchte, aber ich will sie nicht hören.

»Danke, ich bin gleich so weit.«

Er schließt den Mund wieder und nickt mit zusammengepressten Lippen. Kurz darauf höre ich seine Schritte im Flur.

Auch wenn er nichts gesagt hat, legt sich eine Schwere über mich. Obwohl Archie als mein mysteriöser Stalker enttarnt wurde, sorgen Pauls eindringlicher Blick und die ungesagten Worte für dasselbe beklemmende Gefühl wie in den vergangenen Tagen. Auf dem Weg zum Frühstücksraum schüttle ich es weitgehend ab, und als ich Killians strahlendes Gesicht sehe, nachdem er mich entdeckt hat, verpufft auch der letzte Rest davon. Vielleicht liegt es aber auch an den zahlreichen Köstlichkeiten, die nahezu den gesamten Tisch bedecken, und die Killian mir mit einer einladenden Geste präsentiert. Mein Magen antwortet mit einem lauten Knurren, was ihn lachend den Kopf schütteln lässt.

»Ich werde mich an deinem Hunger nie sattsehen können«, raunt Killian mit dieser Stimme, die eindeutig nicht nach Nahrungsaufnahme klingt. Er drückt mir einen Kuss auf die Lippen und mein leerer Magen füllt sich mit einem prickelnden Brausepulvergefühl.

3

»Ich werde fahren«, beendet Killian die Diskussion – zumindest seiner Meinung nach. Denn da kennt er mich schlecht. Als Einzelkind kann er nicht wissen, dass Geschwister wie Bree und ich es in dieser Kategorie schon in der Kindheit zum Meistertitel gebracht haben.

»Dann hätte ich kein Auto vor Ort«, erkläre ich. »Du kannst mit mir fahren.«

Wir sind auf dem Parkplatz von Masters’ Castle, und Killians Haare stehen bereits in alle Richtungen ab, weil er ständig mit den Händen hindurchfährt.

»Ich fühle mich nicht wohl, mein treues Schätzchen hier allein zu lassen.« Ich blicke sehnsüchtig zu meinem kleinen Fiesta, der für mich nach meinem Führerschein zu einem Synonym für Freiheit wurde – zumindest soweit es Freiheit gibt, wenn deine Mutter dich ständig trackt und darum bittet, dich direkt nach dem Einparken zu melden.

Killians Mimik schreit so laut »Ernsthaft?«, dass er es auch hätte sagen können.

»Was, wenn ich ausscheide und nach Hause fahren will?«, füge ich hinzu.

»Dann bringe ich dich jederzeit hierher zu deinem Auto.«

Wir liefern uns ein Wettstarren. Killian tritt näher, streichelt mir über den Oberarm und hinterlässt dort pure Gänsehaut. Dieses fiese Manöver habe ich nicht vorhergesehen und ich blinzle ihn an. Killian betrachtet sich bereits als Sieger.

»Ich weiß, wie wichtig dir Unabhängigkeit ist, aber mein Plan für heute beinhaltet nicht, dass wir die Strecke in zwei Autos zurücklegen.«

Er neigt den Kopf etwas nach vorn und setzt eine Miene auf, die Google als erstes Ergebnis zum Thema Dackelblick zeigen müsste.

»Du kannst mit mir …«

Er schüttelt den Kopf. »Bis wir zu Fuß zur Insel können, wollte ich mit dir noch in die Stadt und zum Jachtclub. Mit deinem Auto kommen wir dort nicht rein, meins ist registriert«, sagt er in einem Tonfall zwischen besserwisserisch und arrogant.

Ich schaue ihn an, bemühe mich, beim Anblick seiner übertrieben auffordernd zuckenden Augenbrauen nicht loszulachen, sodass ich ganz vergesse zu fragen, ob das nicht geflunkert war. Weil St. Michael’s Mount eine Gezeiteninsel und sporadisch über einen Damm zu Fuß erreichbar ist, hat Killian vorgeschlagen, bei Ebbe den Damm zu nutzen, dessen Öffnung wir abwarten müssen. Als hätte er geahnt, dass ich dank Mum und der Water Tour im Freizeitpark ein ungutes Verhältnis zu Booten habe.

Schon bevor ich ergeben seufze, zeigt sich auf Killians Lippen ein breites Grinsen. Er schnappt sich meine Hand und zieht mich mit sich zu seinem Wagen, den Mr Davenport, Pauls Grandpa, in der Einfahrt abgestellt hat. Im Vergleich zu meinem Fiesta gleicht das Innere des Teslas einem Raumschiff und ich muss unwillkürlich an Finley denken, der es zusammen mit April und mir ins Finale geschafft hat. Er liebt alles, was mit Technik zu tun hat, je futuristischer, desto besser. Er hätte seine wahre Freude an dieser Fahrt und vermutlich sehr viel Inspiration.

»Was willst du hören?«, fragt Killian, nachdem er den Wagen gestartet hat. Zumindest hat er den Startknopf gedrückt, aber ohne Motor gibt es keinerlei Vibrationen, die anzeigen würden, dass wir gleich losfahren.

»Ich habe keine Ahnung. Such du aus.«

Killian tippt ein paarmal auf dem gigantischen Display herum, dann ertönt das Intro der Titelmelodie von Fluch der Karibik. Ich fühle mich von allen Seiten beschallt wie in der Philharmonie.

Wir lassen den Parkplatz und Masters’ Castle hinter uns und folgen der Privatstraße. In Rosudgeon passieren wir ein paar Cottages, die mit Schildern neue Gäste anlocken, und biegen anschließend auf die A 394 nach Westen ab, an Perranuthnoe vorbei Richtung Marazion.

»Erzähl mir etwas, was ich noch nicht über dich weiß«, sagt Killian und wirft ein schnelles Lächeln in meine Richtung.

»Nur, wenn du auf die Straße siehst!«, verlange ich, weil sich Mums Stimme in meinem Kopf meldet und ich sofort die vielen Bilder von Autounfällen durch Ablenkung vor Augen habe.

Killian strafft umgehend den Körper, ist plötzlich mehrere Zentimeter größer, umgreift das Lenkrad wie in der Fahrschule und richtet den Blick stur geradeaus.

Erst dann werde ich wieder ruhiger und frage: »Was interessiert dich denn?«

Mit ernstem Gesicht sagt er zur Frontscheibe: »Alles.«

Ich lache auf. »So lange wird die Fahrt nicht dauern. Was interessiert dich am meisten? Oder besser gesagt, was weißt du schon von mir?«

Ich beobachte ihn genau, mustere seinen nachdenklichen Blick, das leichte Zucken an seiner Schläfe.

»Ich weiß, dass du Riley Madows heißt, zwanzig Jahre alt bist und aus Worcestershire kommst. Du studierst nur ein paar Kilometer von deinem Zuhause entfernt in Redditch, wohnst nicht auf dem Campus, sondern zu Hause. Du hast eine jüngere Schwester und laut eigener Aussage die Queen der Helikoptereltern als Mutter.« Er schmunzelt.

Ich will ihn gerade für die Zusammenfassung loben, da fährt er schon fort.

»Was aber viel wichtiger ist«, er wirft mir einen so kurzen Seitenblick zu, dass ich mich gar nicht erst beschweren kann, »du bist stark, fürsorglich, äußerst talentiert und besitzt eine Schlagfertigkeit, die ich durchaus zu schätzen weiß.« Sein Mundwinkel kräuselt sich.

Zum Glück sieht er nach vorn und verpasst damit, dass nun ich den Herzchenfilter auflegen müsste. Killian kann sehr gut mit Worten umgehen und beinahe hätte ich ihm das auch gesagt.

Doch da wendet er den Kopf schon wieder für einen Wimpernschlag mir zu und das spitzbübische Funkeln in seinen Augen lässt mich kontern: »Du liegst nicht ganz richtig.«

Als er etwas einwerfen will, hebe ich triumphierend die Hand, also grummelt er nur ein »Da will man mal ein Kompliment machen« vor sich hin, während ich sage: »Mein Name ist Riley Josefine Madows.«

Ich bekomme genau mit, wie gern er zu mir herübersehen möchte, aber er beherrscht sich.

»Josephine?« Er spricht den Namen Englisch aus, nicht wie ich. Daher korrigiere ich ihn sofort.

»Es ist der Name meiner deutschen Großmutter und so wird er bei uns in der Familie auch ausgesprochen.«

Killian nickt und wirkt, als würde er die Information abspeichern.

»Nun bin ich dran«, sage ich. »Erzähl mir mehr von deiner ach so normalen Kindheit, Killian Masters.« Insgeheim hoffe ich, dass sich endlich aufklärt, warum sich Paul und Killian zerstritten haben.

Er schmunzelt, bevor er sich kopfschüttelnd mit der Zungenspitze die Unterlippe befeuchtet. Offenbar hat er mich durchschaut.

»Für mich war es normal«, beharrt er. »Paul hat nach der Sache mit seinen Eltern bei seinem Grandpa im Cottage gewohnt.«

Ich schlucke. Will Paul deshalb nicht darüber reden? Sind seine Eltern vielleicht verunglückt? Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie schmerzhaft die Erinnerung daran sein muss.

Während mir die Augen brennen, fährt Killian fort: »Ich fand es großartig, nach acht Jahren nur mit meinen Eltern und der Nanny jemanden in meinem Alter auf dem Anwesen zu haben. Wobei, zu Beginn fand ich ihn irgendwie seltsam und … lästig. Paul hat nie gelächelt, war immer traurig, und ich verstand den Grund dafür einfach nicht.«

Er umgreift das Lenkrad fester, der grimmige Zug um seine Lippen zeigt, dass er es inzwischen bereut. Ich lege meine Finger an seinen Unterarm und sofort entspannt er sich merklich. Das Wissen, dass ich dazu fähig bin, sorgt für ein warmes Aufglühen in meiner Brust. Um ihn nicht noch weiter in diese von Selbstvorwürfen geprägten Erinnerungen eintauchen zu lassen, frage ich nicht nach, was mit Pauls Eltern geschehen ist. Stattdessen presse ich die Lippen aufeinander und halte die Worte zusammen mit meiner Neugier zurück. Wie schon bei einem vergangenen Gespräch über Killians und Pauls Kindheit, sehe ich wieder die Tochter unserer Nachbarn vor mir, die rein äußerlich mit ihren engelsgleichen blonden Locken Pauls Schwester gewesen sein könnte. Ihre Ähnlichkeit wird durch das von Killian beschriebene Verhalten noch größer. Brittany schien immer traurig zu sein, weshalb ich sie zum Lächeln bringen wollte, bis die breite Lücke zwischen ihren Frontzähnen zu sehen war. Ich hab ihr viele Geschichten erzählt und sie war meist die Erste, die von den neuesten Abenteuern der Rittessin erfahren hat. Ich glaube sogar, sie ist ein Grund dafür, dass ich Autorin werden wollte. Weil ich bei ihr gesehen habe, was Worte bewirken, wie Geschichten begeistern und ein Lächeln hervorrufen können. Fast genauso wie die geteilten Süßigkeiten von Grandma.

»Wir sind gleich da«, durchbricht Killian meinen Gedankenstrom und der Tesla passiert die ersten Ausläufer von Marazion. Ich habe gar nicht bemerkt, dass ich die ganze A 394 lang so tief in den Erinnerungen an Brittany versunken war. Jetzt ärgere ich mich darüber, denn ich habe wieder nicht erfahren, wie es zum Bruch zwischen den beiden kam.

Wir fahren zunächst die Turnpike Road entlang an einem Friedhof und mehreren recht modernen Bed & Breakfasts und Mietcottages vorbei und folgen dann der Fore Street Richtung Süden auf die Küste zu. Nahezu lautlos rollen wir auf den Parkplatz des Mounts Bay Sailing Clubs. Killian grüßt einen Mann, der in einem Stuhl vor einem vermeintlichen Nebeneingang des Clubs sitzt und den Platz bewacht.

Ich bin mir sicher, dieser gutmütige grauhaarige Mann hätte uns auch hier parken lassen, wenn wir mit meinem Auto gefahren wären.

Während wir aussteigen, sehe ich von Killian zu dem Mann, der immer noch freundlich vor sich hin grinst.

»Der Mann sieht nicht gerade so aus, als hätte er mich vom Parkplatz gejagt«, sage ich. »Schon gar nicht, wenn du ihn ebenso freundlich gegrüßt hättest.«

»Ja, ich gebe es zu: Das war eine kleine Notlüge.« Killian öffnet die Tür und steigt aus. Ich folge ihm.

»Und weshalb? Traust du mir nicht zu, eine gute Fahrerin zu sein? Ich habe meinen Führerschein sogar mit Extralob des Prüfers abgeschlossen.« Ich presse die Zähne fest zusammen.

»Wirklich?«, fragt er mich über den Wagen hinweg.

Ich verdrehe ein bisschen verärgert die Augen.

Killian umrundet das Fahrzeug und reicht mir die Hand. Mit einem reuevollen Blick sagt er leise: »Ich fahre nur Auto, wenn ich am Steuer sitze.«

»Warum?« Kurz nach unserem Kennenlernen hätte ich bei diesem Geständnis vermutet, dass er einer dieser Machotypen ist, der Männer für die besseren Autofahrer hält. Aber inzwischen weiß ich es besser.

Er zögert mit einer Antwort, zieht mich erst näher, legt sein Kinn auf meinen Kopf und zeichnet mit seinem Finger wirre Bilder auf meinen Rücken. Ich glaube schon fast, dass er meine Frage nicht gehört hat, als er sich leise räuspert und mit belegter Stimme erzählt: »Ich hatte einmal einen Unfall.«

Ich warte ab, zähle seine Herzschläge an meinem Ohr. Zehn. Zwanzig. Dreißig.

»Paul und ich waren auf dem Rückweg von einer Party. Ich saß auf dem Beifahrersitz. Es kam«, er stöhnt schmerzvoll auf, »zu einem Streit, dabei sind wir von der Fahrbahn abgekommen.« Der hörbare Atemzug streift über mein Haar. »Es ist soweit alles gut gegangen, aber der Schock und die Erinnerung daran sitzen tief.«

Ich könnte nichts sagen, was irgendwie förderlich wäre, daher schlinge ich meine Arme fester um ihn und drücke ihn an mich. Offenbar habe ich die Erklärung gefunden, wie es zum Bruch zwischen den beiden kam. Ein so einschneidendes Erlebnis verändert Menschen. Manche mehr, manche weniger.

Nach ein paar weiteren Atemzügen streichelt Killian mir den Rücken hinauf und beide Arme hinab, um mich an die Hand zu nehmen.

»Los geht’s«, sagt er dann entschlossen und drückt mir einen Kuss auf die Lippen. »Lass mich dir den einzigen Ort näherbringen, an dem man wenigstens halbwegs etwas erleben kann.« Er winkt dem Parkplatzwächter zu und zieht mich mit sich.

4

Ich habe noch nie so viele Blumen in einer Stadt gesehen. Egal ob in Pflanzkübeln oder hängend an kleinen Balkonen und auf sämtlichen Fensterbrettern – Marazion macht dem Beinamen »blühende Stadt« alle Ehre. Wohin man in dem alten Ortskern auch sieht, überall leuchtet es in den buntesten Farben und der Geruch von Blumen schwebt in der Luft.

Killian ist ein fantastischer Fremdenführer und die gestohlenen Küsse zwischen seinen einprägsamen Worten sorgen dafür, dass ich mir praktisch alles merken kann. »Mit Emotionen verbundene Erfahrungen merkt man sich besser«, hat Zoe irgendwann mal eine ihrer Professorinnen zitiert – und ich stimme ihr vollkommen zu!

Killian und ich flanieren die Promenade entlang, vorbei an jahrhundertealten Häuschen an einem der ältesten Orte Großbritanniens. Wir halten vor dem kleinen Museum, einem urigen Gebäude aus zusammengeschmolzenen Türmchen mit Vorbau und einer Haube darüber. Killian erzählt, dass dort früher die Feuerwache untergebracht war – und aus irgendeinem Grund erklärt es die besondere Form.

»Woher weißt du das alles?«, frage ich ehrlich neugierig. Man könnte Killian jederzeit als einen der Guides anheuern, hinter denen Touristengrüppchen durch die Gassen ziehen. Ich wollte den einstündigen Town Trail mitmachen, doch Killian meinte, dass sei nicht nötig. Und er hatte ganz offenbar recht.

»Ich habe doch gesagt, dass es am südlichen Zipfel Cornwalls nicht sehr viel zu erleben gibt.« Er zuckt mit den Schultern, als wäre das die Erklärung schlechthin.

»Hast du in eurer gigantischen Bibliothek etwa nichts zu lesen gefunden und musstest deshalb Reiseführer verschlingen?« Ich lache. »Armer Junge!«, füge ich mit einer gespielt mitfühlenden Miene hinzu.

Sein überhebliches Schnauben und der vorwurfsvolle Blick werden durch sein Grinsen abgemildert. Es fällt jedoch so schnell in sich zusammen, dass bei mir die Alarmglocken anschlagen. Ich warte auf eine Erklärung.

Er zögert, dann seufzt er ergeben. »Die Mutter einer … Freundin leitete das Tourismuszentrum.«

Die Pause vor Freundin ersetzt ganz offensichtlich ein Ex. Aber wenn er freiwillig nicht mehr dazu sagen möchte, werde ich es dabei belassen, wobei mich die Neugier definitiv gepackt hat.

»Dort werden immer neue Town Trails entwickelt«, fährt er fort. »Und einmal war ich dabei. Wir haben historisch wichtige Fakten gesammelt und zu einer spannenden Tour zusammengestellt.« Er zuckt erneut mit den Schultern und wendet sich dem Ende der Straße zu. Das Thema ist offenbar erledigt.

Wir gehen weiter und bummeln an einem kleinen Haus mit Walmdach vorbei, dessen Backsteinfassade nahezu hinter knallroten Geranien vor den Fenstern untergeht.

»Nun frag schon«, presst Killian begleitet von einem Lachen hervor und zwingt mich zum Halten.

»Paul hat etwas von einer Ex-Freundin erzählt«, beginne ich, während mich der Geruch einer kleinen Konditorei zwei Häuser weiter fast ein wenig ablenkt.

»Eine unschöne Trennung«, ergänzt Killian. »Möchtest du wirklich mehr darüber wissen?« Seine Augen flehen mich an, nicht weiter nachzuhaken. Eigentlich weiß ich ja auch schon genug: Killian fiel die Trennung nicht leicht und er hatte daran zu knabbern, darüber hinwegzukommen. Mir hat er vorgeworfen, dass ich diesen Prozess mit Archie noch vor mir hätte, aber für ihn scheint alles erledigt zu sein. Daher belasse ich es dabei und steuere ihn gezielt zur geöffneten Tür der Konditorei. Ich höre sein erleichtertes Aufatmen, was ihn jedoch nicht daran hindert, das Thema ein paar Stunden später auf der Terrasse des Sailing Clubs wieder aufzugreifen. Leider andersherum.

Die Terrasse ragt über die hohe Kaimauer hinweg und bietet den perfekten Blick auf St. Michael’s Mount. Von hier oben sehen wir die kleinen Transferboote über das Meer gleiten, auch der begehbare Damm ist unter dem kristallklaren Wasser schon deutlich zu erkennen.

Ein Kellner stellt zwei Cappuccinos vor uns ab. Ich greife zum Löffel, um den Milchschaum zu kosten, bevor er zusammensackt, da fragt Killian: »Was ist zwischen dir und Atticus gelaufen?«

Ich sehe hinüber auf die glitzernden Wellen, überlege, welchen Teil des Dramas ich erzähle, da lenkt Killian ein: »Wenn du nicht darüber reden willst, ist das okay.«

Ich höre ihm an, dass ihn das Thema beschäftigt, und konfrontiere ihn schlicht mit der traurigen Wahrheit: »Archie, ich meine Atticus«, ich werde mich nie an das Pseudonym gewöhnen, »hat mich betrogen.«

Ich sehe wieder zu Killian, der mit einem grimmigen Zug um die Lippen den Kopf schüttelt. Seine Kiefermuskulatur arbeitet dabei angestrengt.

»Mindestens ein Mal«, fahre ich fort, »weil es dafür sogar Beweise auf Instagram gibt.« Gab, korrigiere ich mich in Gedanken. »Eine Followerin von mir hat mir den Account einer Kommilitonin weitergeleitet, die Videos von einer Studentenparty hochgeladen hat. Eine Party im Verbindungshaus von Archies Studentenverbindung.«

Ich starre auf das Meer hinaus, sehe jedoch nur die verwackelten Partybilder vor mir. Angestrengt atme ich zwischen zusammengepressten Zähnen hindurch. »Ich musste an dem Tag lernen und konnte daher nicht zur Party. Was er dazu genutzt hat, mit einer anderen so wild rumzumachen, als wären sie irgendwo allein und nicht zwischen Dutzenden Gästen.« Meine Abscheu entweicht mir als bitteres Schnauben.

Killian greift über den Tisch hinweg nach meiner Hand, die noch immer um den Löffel geballt ist.

»Nimmst du es mir übel, wenn ich froh darüber bin, dass sich Atticus als Arsch entpuppt hat?«

Nun entfährt mir ein Lachen. »Vielleicht bin ich selbst inzwischen froh, dass er ein Ar… eine mistige Mistbiene ist.« Dank Mums Erziehung bringe ich das Wort nicht über die Lippen, egal wie arschig Archies verhalten war.

Killian grinst. »Ich liebe deine eloquente Wortwahl. Willst du mir erzählen, was es damit auf sich hat?«

Ich nehme das Angebot des sicheren Terrains an und erkläre ihm zwischen Löffeln voller Milchschaum, was es mit Brees und meinen kreativen Wortschöpfungen auf sich hat. Dabei werde ich immer wieder abgelenkt, wenn er unter halb geschlossenen Lidern den Schaum zum Mund führt und den Löffel anschließend ableckt. Ich wette, er macht das mit Absicht, daher bemühe ich mich, meine körperlichen Reaktionen in Grenzen zu halten.

Mit Blick auf die Bucht erkenne ich, dass sich schon etliche Touristen am Fußweg zur Insel sammeln und die ersten bereits mit hochgekrempelten Hosen oder gerafften Röcken und Schuhen in der Hand durch das flache Wasser über den Damm waten.

Killian bezahlt unseren Kaffee und wir gehen innerhalb des Gebäudes nach unten, bis wir durch die Tür hinter dem Parkplatzwächter ins Freie treten. Schon aus der Ferne öffnet Killian den Kofferraum und hebt unser Gepäck heraus. Ich entdecke zwei breite Kofferbänder um meinen Koffer und bin mir sicher, dass Paul sie angebracht hat. Auf dem Weg vom Parkplatz zum Anleger bin ich mehr als froh darüber. Der Reißverschluss meines Koffers hätte die vielen Unebenheiten vermutlich nicht überlebt und mein zusammengerafftes Leben hätte sich hier am Strand ergossen, wie nach meiner Ankunft auf Masters’ Castle im Ankleidezimmer.

Killians Angebot, auch meinen Koffer zu ziehen, lehne ich dankend ab und greife stattdessen lieber nach seiner freien Hand. Das Lächeln, das er mir daraufhin schenkt, ist es allemal wert, den kleinen Koffer selbst zu ziehen.

Der steinerne Pfad liegt nicht länger unter Wasser, als wir an dem Schild ankommen, auf dem mit Kreide die Benutzungszeiten des Fußwegs stehen.

Ein Mann steht barfuß daneben, und obwohl er die Hosenbeine hochgekrempelt hat, hat sich das Wasser bis zu den Knien hochgesogen. Er könnte Godrics Bruder sein, der alte Seebär, der meine Gruppe vergangene Woche in die Schmugglerhöhlen begleitet hat.

Mit einer großen Portion Spott fragt er uns, ob wir wasserscheu seien, weil wir nicht wie die anderen durchs Wasser waten wollten. Er deutet mit einer schwungvollen Bewegung über die Schulter auf die Touristenprozession, die bereits hinter der Kaimauer der Insel verschwindet.

»Der Weg ist schon seit einer halben Stunde frei!«, fügt er hinzu.

Killian antwortet in mindestens ebenso spöttischem Ton, dass wir Besseres zu tun hatten. Das wissende Grinsen im faltigen Gesicht unseres Gegenübers hätte mir fast die Röte in die Wangen getrieben. Doch Killian lenkt mich ab, legt von hinten die Arme um mich und dreht mich zu sich um.

»Bevor es da drüben hektisch wird, muss ich unbedingt noch das hier tun.« Er hebt mein Kinn leicht an und küsst mich, bis uns der Typ mit seinem schallenden Lachen aus der Zweisamkeit reißt.

»Nun geht schon, das kann sich ja keiner mit ansehen«, fordert er uns auf und schon entlässt mich Killian aus der Umarmung.

Als ich mich zu meinem Koffer umdrehe, vibriert mein Handy und ich wühle in der Tasche danach. Eine Nachricht von April.

In welchem Zimmer bist du untergebracht? Wollen wir nachher gemeinsam zur Gala?

Mein Blick huscht in die linke obere Ecke des Displays. Es ist schon verdammt spät.

»Wie kann April schon drüben sein?«, frage ich Killian, der bereits die Haltegriffe unserer Koffer wieder herausgezogen hat.

»Vielleicht hat Paul sie gleich nach der Öffnung des Damms hinübergeführt? Wir haben immerhin eine ganze Weile gebraucht, bis wir hier unten waren.« Er stiehlt sich noch einen Kuss und flüstert in mein Ohr: »Ich bereue das übrigens kein Stück.«

Ein sanfter Wind zupft an meinen Haaren und die Nachmittagssonne brennt mir ins Gesicht. Mit großen Schritten gehen wir den gepflasterten Damm entlang. Mein Koffer hüpft fröhlich umher und ich schicke eine stumme Danksagung an Paul und seine Idee mit dem Kofferband.