Matching Night, Band 2: Liebst du den Verräter? - Stefanie Hasse - E-Book

Matching Night, Band 2: Liebst du den Verräter? E-Book

Stefanie Hasse

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Beschreibung

Eine verschwundene Studentin. Zwei undurchschaubare Lügner. Und mehr als ein dunkles Geheimnis. Cara sollte überglücklich sein: Sie hat die Matching Night überstanden und gehört nun zur exklusiven Studentenverbindung der Ravens. Doch sie weiß nicht mehr, wem sie noch trauen kann, denn zwei Lügner haben sich in ihr Herz geschlichen. Der eine hat sie mit seinen Berührungen und Küssen verrückt gemacht und dabei die ganze Zeit nach seinen eigenen Regeln gespielt. Dem anderen hat sie vertraut – bis sie sein furchtbares Geheimnis entdeckte. Ein Geheimnis, das nicht nur das noble St. Joseph's College erschüttern, sondern auch Caras Leben zerstören könnte. Um das zu verhindern, ist Cara jedoch ausgerechnet auf die Hilfe der beiden Lügner angewiesen... Knisternd. Glamourös. Gefährlich. Band 2 der atemberaubenden Romantic-Suspense-Reihe von Erfolgsautorin Stefanie Hasse Der "Matching Night"-Zweiteiler (beide Bände erscheinen zeitgleich!): Matching Night, Band 1: Küsst du den Feind? Matching Night, Band 2: Liebst du den Verräter? Weitere Bücher von Stefanie Hasse: Secret Game. Brichst du die Regeln, brech ich dein Herz. Pretty Dead. Wenn zwei sich lieben, stirbt die Dritte. Bad Influence. Reden ist Silber, Posten ist Gold. December Dreams. Ein Adventskalender.

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Seitenzahl: 374

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Als Ravensburger E-Book erschienen 2021Die Print-Ausgabe erscheint im Ravensburger Verlag© 2021 Ravensburger VerlagCopyright © 2021 by Stefanie HasseDieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München.Lektorat: Franziska JaekelUmschlaggestaltung: verwendete Bilder von © Andreshkova Nastya, © Aleksandr Lupin, © Ironika, © Jag_cz, © Gudrun Muenz und © Crattos, alle von ShutterstockAlle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.ISBN 978-3-473-47107-2www.ravensburger.de

Für alle, die mich am Ende von »Matching Night: Küsst du den Feind?« verflucht haben. Sorry!

Prolog

Hannah Blythe war noch nie so aufgeregt wie vor diesem Termin. Seit über einer Stunde ordnete sie jeden noch so kleinen Notizzettel auf ihrem Schreibtisch, legte einen Stift bereit und gleich zwei Ersatzstifte parallel daneben, ordnete sie anders, schrieb ihre Liste mit den wichtigsten Punkten für das Interview wieder und wieder neu, bevor sie einen Blick auf die zahlreichen an die Wand gepinnten Artikel warf. Auf ihre Wall of Fame, auf all die Frauen, die Großartiges erreicht hatten oder es noch immer taten. Caroline Waters, jüngste Vorstandsvorsitzende eines börsengehandelten Unternehmens. Brianne MacKellan, die einfach ihr eigenes Medienunternehmen aus dem Nichts gestampft hatte, anstatt zu warten, bis ihr Vater ihr die Nachfolge in seinem Zeitungsimperium abtrat. Joelle Masterson, die wohl härteste Anwältin ganz Großbritanniens und natürlich Michelle Prentiss, die erste amerikanische Präsidentin nach so vielen von Männern geprägten Jahrhunderten.

Die Nervosität kam mit einem Schlag zurück. Es gab mehr als tausend Fragen, die sie dem Sohn der ersten US-Präsidentin stellen wollte – sie würden jeden Interviewrahmen sprengen. Es war einfach die Sensation! Keine Zeitung hatte bisher darüber berichtet, niemand wusste Bescheid, dass Joshua Prentiss das St. Joseph’s College in Whitefield besuchen würde, anstatt nach Harvard zu gehen.

Ihre Hände waren ganz feucht vor Aufregung, und als es endlich klopfte, wischte sie die Handflächen kurz an ihrer Hose ab.

Ein mies gelaunter Bodyguard checkte den Raum, dann folgte ein vielleicht historischer Moment. Der Sohn der ersten US-Präsidentin betrat das kleine Büro des St. Joseph’s Whisperer. Hannah fühlte sich allein durch seine Präsenz gegen die Wand gepresst.

Der Präsidentinnensohn lächelte sein charmantes Kameralächeln, streckte ihr die Hand entgegen und stellte sich vor – als hätte er das nötig.

»Hi, ich bin Joshua Prentiss. Du bist Hannah?«

Schnell schluckte Hannah den Rest ihrer Nervosität herunter und reichte ihm ebenfalls die Hand. Sein Händedruck war erstaunlich fest, die Finger entgegen aller Erwartung rau, während sein Blick sehr lange auf ihrem Handgelenk ruhte. Noch ehe sie etwas erwidern konnte, sah er ihr tief in die Augen und riss mit einem einzigen Satz all die Mauern aus Selbstschutz, Vorwürfen und bloßer Wut ein, die Hannah ein ganzes Jahr lang um sich herum errichtet hatte, die sie am Leben erhalten hatten.

»Ich suche seit einem Jahr nach meiner Freundin Beverly Grey. Ich brauche deine Hilfe.«

1

SONNTAG, 22.11.

Mit dem Handy in der Hand und in Tylers viel zu große Klamotten gekleidet, renne ich über den noch schlafenden Campus. Meine nackten Füße klatschen über den eiskalten Asphalt. Das Geräusch hallt von den uralten Gebäuden wider, die meinen Weg verfolgen wie Spione. Ich spüre ihre Blicke auf mir, eine Gänsehaut bildet sich an meinem ganzen Körper – was jedoch auch an der Kälte liegen könnte. Niemand rennt in England an einem frühen Novembermorgen barfuß und im T-Shirt durch die Gegend. Von zwei dick eingepackten Joggern ernte ich schockierte Blicke. Mein Atem kondensiert zu kleinen Wölkchen, die ich sofort durchstoße. Feuchtigkeit legt sich auf meine Haut wie ein kühler Umschlag. Der ewige Herbstnebel hat den Campus der Whitefield University fest im Griff. Alles ist wie immer – und doch ist für mich alles anders.

Tyler ist – oder war? – ein Lion-Anwärter.

Tyler hat etwas mit Beverly Greys Verschwinden zu tun. Dem Mädchen, dessen Name eine Mauer aus Misstrauen und Zweifel zwischen meiner besten Freundin und mir gebaut hat.

Mit jedem Schritt hämmern sich die beiden Sätze weiter in mein Hirn, das versucht, die Tragweite zu begreifen.

Ich komme mir vor wie in einem Traum. Es kann einfach nicht die Realität sein. Ich kann nicht hier sein, halb nackt in dieser Kälte, und vor dem einzigen Menschen davonrennen, dem ich noch vertraut habe, der mich so lange im Arm gehalten hat, bis die Tränen und der Schock über Joshs wahre Beweggründe versiegt sind.

Mir wird schlecht. Ich renne aber trotzdem weiter. Immer weiter.

Hannahs Stimme dringt verzerrt durch den Lautsprecher meines Handys. »Ich kann dich schon sehen, Cara. Du hast es gleich geschafft. Dann bist du in Sicherheit.«

Meine Schritte geraten ins Stocken, ich gehe langsamer. Ich brauche Zeit. Ich muss nachdenken.

Rund um mich herum erheben sich die alten Wohnheimgebäude im viktorianischen Stil mit ihren von Efeu umrankten Fenstern. Hunderte von Augen, die auf mich hinabstarren, meine Zweifel sehen. Denn nicht nur Tyler hat mein Vertrauen verraten, sondern auch meine allerbeste Freundin. Sie hat mir verheimlicht, dass sie gemeinsame Sache mit Josh Prentiss macht, dem ach so tollen Sohn der US-Präsidentin, der in den letzten Wochen mein Vertrauen erschlichen und es vom ersten Moment an missbraucht hat. Sie wurde zwar von ihm gebeten, Stillschweigen zu bewahren, aber welche Versprechen wiegen mehr? Die der besten Freundin gegenüber oder einem Unbekannten? Die Tatsache, dass er der Sohn der US-Präsidentin ist, darf einfach kein Gewicht haben. Die beiden sind der Umgang, vor dem ich meine kleine Schwester Phoebe warnen würde. Warum wollte Hannah Josh unbedingt bei seiner Spionageaktion helfen? Sie hatte wochenlang ein Geheimnis vor mir. Dieses Wissen ist wie eine eitrige Wunde, die noch nicht annähernd dabei ist, zu verheilen.

»Wo ist denn deine Kondition abgeblieben?«, fragt Hannah durchs Telefon. Ihre Stimme klingt so bemüht locker, dass nicht einmal die Verzerrung des Lautsprechers darüber hinwegtäuscht.

Kann ich Hannah noch vertrauen? Oder hat sie unsere Freundschaft, die uns seit dem Kindergarten verbindet, mit ihrer Geheimniskrämerei zerstört?

In dem Moment erhalte ich einen zweiten Anruf. Mein rasendes Herz verdoppelt die Frequenz. Tyler. Der Name erscheint wie eine Antwort auf meine innere Frage auf dem Display. Hannah hat mich auch vor Tyler gewarnt. Doch ich habe nicht auf sie hören wollen.

Tyler, der sich gerade sicherlich fragt, warum ich nicht mehr nackt auf der Couch liege und auf Frühstück warte.

»Cara, was ist los? Du darfst nicht stehen bleiben, sonst erfrierst du!«

Ich höre Hannahs Stimme wie unter Wasser, bin gefangen in einem Strom aus Bildern der letzten Nacht. Fordernde Küsse, stockende Atemzüge. Knisternde Spannung, verursacht durch all die ungesagten Dinge, die unsere angestauten Gefühle haben explodieren lassen. Ich spüre seinen Körper noch immer an meinem, habe seinen Geruch noch in der Nase und seinen Geschmack auf der Zunge. Die Nacht war wie ein Rausch – und nun folgt der scheußlichste Kater meines Lebens. Ich bin aufgewacht, als hätte ich einen Schwall eiskaltes Wasser ins Gesicht bekommen.

»Cara!«

Der nächste Luftstrom kondensiert vor mir, zersetzt sich. Ich atme die Feuchtigkeit ein und sprinte den Rest des Weges. Tyler gibt nicht auf, sein Name vibriert weiter in meiner Hand.

Begleitet vom Klatschen meiner nackten Füße hallt das Brummen von den kahlen Wänden wider, als ich die Treppe zu Hannahs Wohnheimzimmer hochrenne, wo sie mich bereits an der Tür empfängt. Als wäre Tyler direkt hinter mir, zerrt sie mich in ihren Flur und schließt hastig die Tür hinter mir.

»Verdammt, Cara!« Sie lehnt sich schwer atmend gegen die Tür, als wäre sie den Weg bis hierher gerannt.

Passend dazu ist sie noch bleicher im Gesicht als sonst, ihre Haare sehen aus wie damals, als wir versucht haben, bei uns im Dorf Süßes oder Saures durchzusetzen. Sie war als Moorhexe verkleidet und hatte strähnige Haare von einer ganzen Packung Haargel. Heute sind die dunklen Schatten unter ihren Augen echt.

»Du siehst scheiße aus«, sage ich, nachdem ich wieder genug Luft zum Sprechen habe.

»Mach so etwas nie wieder!«, schreit sie mich so laut an, dass ich mich automatisch nach ihrer Mitbewohnerin Alina umsehe. Doch es bleibt still.

Mir liegen so viele Dinge auf der Zunge – ganz vorn die Vorwürfe –, sodass ich lieber nichts ausspreche, was ich später ganz sicher bereuen würde. Stattdessen atme ich weiter gegen den Druck auf meiner Brust an. Mein Handy beginnt erneut zu vibrieren.

»Du musst ihm irgendetwas sagen«, drängt Hannah. »Er darf keinen Verdacht schöpfen.«

Ich kann die Bedeutung ihrer Worte nicht erfassen, bin zu durcheinander. Meine Gefühle sind in einen Mixer geraten und ich lache hysterisch los, anstatt – keine Ahnung – vielleicht zu heulen?

Hannah kommt langsam auf mich zu und greift nach meiner Hand. Nein, nach dem Handy. Sie nimmt es an sich und tippt etwas. Natürlich kennt sie den Code, der die Face-ID umgeht. Sie ist meine beste Freundin. Wir haben keine Geheimnisse voreinander. Zumindest dachte ich das.

Ohne mir das Smartphone zurückzugeben, schiebt sie mich den kurzen Flur entlang ins Wohnzimmer. Bevor Alina früher als geplant ihr Studium angetreten hat, habe ich bei Hannah gewohnt. Womit das ganze Chaos laut Josh begonnen hat.

Hannah drückt mich auf die abgewetzte Couch. Sie fragt, ob ich einen Kaffee möchte, und ich nicke mechanisch. Mein Puls rast noch immer und ich habe kein Gefühl in meinen Füßen. Hannah legt eine schwere Wolldecke über mich.

Kurze Zeit später – und mit einem brennenden Kribbeln in meinen auftauenden Fußsohlen – halte ich einen Kaffee in der Hand und genieße den mit dem Dampf aufsteigenden Geruch.

»Jetzt erzähl!«, fordert Hannah mich auf. »Josh war kurz davor, seinen Bodyguard auf Tyler zu hetzen, weil er schon vermutet hat, dass du dort sein würdest. Ich habe ihn hingehalten, solange ich konnte.« Sie kneift die Augen so weit zusammen, dass ich das dunkle Blau ihrer Iris nicht mehr erkennen kann. Joshs Name wabert wie giftiger Nebel zwischen uns. »Auch wenn du nicht aussiehst, als hätte man dich retten müssen.«

In bester Hannah-Manier schiebt sie ihre Braue nach oben. Millimetergenau kann ich daran das Level ihres herausfordernden Blicks ablesen. Heute bricht sie alle bisherigen Rekorde.

»Tyler wollte Frühstück holen. Ich habe mich in seinem Apartment umgesehen und bin auf das Lion-Buch mit seinem Namen gestoßen.« Ich nehme einen Schluck aus der Tasse. »Darin lag ein Armband. Mit regelmäßig eingefassten Türkisen. Es ist …«

»Beverlys Armband. Ich kenne es.«

Ich nicke. »Dann war da noch ein etwas verwackeltes Foto von Tyler und … Beverly.« Es fällt mir schwer, ihren Namen ohne Wertung auszusprechen. In den letzten Wochen wurde er zu einem roten Tuch für mich, ein Synonym für all den Stress zwischen mir und Hannah. »Auf der Rückseite stand, dass das Foto nur ein Teil eines Videos ist.«

Hannahs Gesicht leuchtet vor Begeisterung. »Du hast es nicht zufällig mitgenommen, oder? Bisher haben wir keine Beweise, dass Tyler etwas mit Beverlys Verschwinden zu tun hat, nur eine Vermutung.« Hannah scannt mich von Kopf bis Fuß, als hätte ich eine geheime Tasche bei mir, dabei trage ich nicht mal Socken oder einen BH.

»Ich habe alles wieder in das Lion-Buch gesteckt und bin abgehauen.« Auf ihren deprimierten Gesichtsausdruck hin füge ich noch vor Sarkasmus triefend hinzu: »Sorry! Wenn das nächste Mal nach einer heißen Nacht herauskommt, dass mein Partner ein verlogener Verbrecher ist, werde ich natürlich daran denken, Beweismaterial zu sichern, anstatt ohne Schuhe und Pulli davonzurennen, als wäre er direkt hinter mir her.« Zur Beruhigung nehme ich einen weiteren Schluck Kaffee. »Verrätst du mir, wie du dort hineingeraten bist?«, frage ich dann und sehe meine Freundin aufmerksam an. Sie hat ihr Pokerface aufgesetzt, gegen das ich noch nie eine Chance hatte.

»Josh hat es dir doch erzählt, oder?« Sie neigt leicht den Kopf, ihre dunklen Haare rutschen über die Schulter.

»Vermutlich wurde alles, was Prentiss mir gesagt hat, von der Wut auf ihn und mich selbst weggebrannt.« Das war die reine Wahrheit.

»Okay, dann von Anfang an. Direkt zum Early Arrival kam Josh zu mir in die Redaktion«, beginnt sie und berichtet dann, wie er sie auf die Story aufmerksam gemacht und gebeten hat, ihn zu unterstützen. »Zu diesem Zeitpunkt wussten wir nicht, dass sich Luca bei den Lions einschleimen wollte und Kellan wohl haarklein über alle Aktivitäten beim Whisperer unterrichtet hat. Auch wie du – seiner Meinung nach – etwas später über die Ravens und Lions recherchiert hast.«

»Was mich ins Kreuzfeuer geraten ließ und dann zur Zielscheibe gemacht hat«, füge ich hinzu, die Verbitterung in der Stimme legt sich auf meine Zunge. Wenigstens hat Hannah so viel Mumm, sich zu entschuldigen. Auch wenn sie es nicht mit Absicht getan hat.

»Weshalb ich Josh gebeten habe, auf dich aufzupassen.«

Mir entfährt ein erstickter Laut, der vielleicht ein Lachen hätte werden können – wenn die Sache denn witzig wäre. Die Aufmerksamkeit, die Joshua Prentiss mir geschenkt hat, hat nur dumme Dinge mit meinem Hormonhaushalt angestellt. Irgendwann habe ich mich in seiner Gegenwart sogar wohlgefühlt – und in den Kuss, den er mir zur Aufrechterhaltung unserer Tarnung geben musste, viel zu viel hineininterpretiert. Dabei hat er in all der Zeit nur nach Hinweisen über seine verschwundene Freundin gesucht. Eine Freundin, die hübscher und natürlicher aussieht als jedes Topmodel und die dabei – zumindest auf Instagram – so sympathisch wirkt wie das Mädchen von nebenan.

Es ist einfach nur gemein, flüstert eine leise Stimme in mir, die nun endlich auch aufgetaut ist und mich bemitleidet. Ich war so was von naiv gewesen. Bei Phee hätte ich über ein solches Verhalten den Kopf geschüttelt, was ich nun an mich gerichtet tue.

Hannah rutscht näher und nimmt mich in den Arm. Ungewohnt zögernd. Wie damals, als sie mir erzählt hat, dass sie auf Mädchen steht und unsicher war, ob sie mich noch wie sonst in den Arm nehmen durfte oder es mir unangenehm sein könnte. War es damals nicht und ist es heute ebenso wenig. Dennoch spüre ich, wie trotz der Berührung etwas zwischen uns steht. Unser gegenseitiges Vertrauen hat einen schweren Schlag erlitten, den vermutlich nicht einmal eine Tonne Eclairs von Eva würde kitten können, sondern nur die Zeit.

Mein Handy vibriert auf dem Tisch. Der Summton erfüllt das ganze Wohnzimmer. Ich entsperre es und überfliege noch kurz, was Hannah Tyler vorhin geschrieben hat, bevor ich seine Antwort lese.

Ich sehe meine Freundin an, die nur mit den Schultern zuckt. »Klischees sind meistens die besten Ausreden.«

Tyler hat offenbar tatsächlich keinen Verdacht geschöpft. Ich überlege, was ich ihm antworten soll. Es ist so viel geschehen. Ich habe mir eingestehen müssen, dass ich nicht zu einer reinen Freundschaft mit lockeren Flirts tauge, sondern mehr und mehr Gefühle für Tyler entwickelt habe, die in der letzten Nacht aus mir herausgeflossen sind und sich mit seinen Gefühlen zu einer wirklich explosiven Mischung vermengt haben. Sämtliches Beziehungspotenzial wurde jedoch von der Tatsache ausgelöscht, dass er mir in all der Zeit etwas vorgespielt hat, ich nur eine der unzähligen Frauen auf dem Campus war, mit denen er geflirtet und seine Spielchen getrieben hat. Hannah hatte die ganze Zeit recht, aber ich habe auf mein Bauchgefühl vertraut und mit einem Typen geschlafen, der offenbar etwas mit dem Verschwinden einer jungen Frau zu tun hat.

Ich starre noch immer auf mein Handy, auf dessen erloschenem Display ich mich selbst spiegele. So gestochen scharf, dass ich sogar die vielen Sommersprossen sehen kann. Meine Haare leuchten in den Strahlen der einfallenden Morgensonne wie frisch poliertes Kupfer.

Hannah nimmt mir das Handy aus der Hand und antwortet für mich.

»So genau wollte ich es gar nicht wissen«, jammert Hannah und reicht mir schnell das Handy.

Sie schüttelt sich dabei, während mir mein Unterbewusstsein Momentaufnahmen von schweißbedeckter Haut und leidenschaftlichen Küssen vorführt. Verräterisches Ding, verdammt. Tyler ist gefährlich! Nicht nur für mein Herz, sondern wirklich gefährlich gefährlich. Daher lasse ich mir von Hannah haarklein berichten, was sie und Josh in den letzten Wochen herausgefunden haben.

»Wenn es tatsächlich ein Video gibt, das Beverly und Tyler zeigt und mit dem er garantiert nicht ohne Grund erpresst wird, liegt es sicher bei den Sicherheitsvideos.«

Ich runzele die Stirn, weil ich keine Ahnung habe, wovon sie spricht.

»Die Videos von eurem Einbruch in das Büro des Dekans. Josh nennt sie Sicherheitsvideos, weil sie den Verbindungen die Loyalität der Mitglieder sichert.«

Ich stöhne auf, als ich daran erinnert werde, dass auch von mir ein solches Video existiert. Ein Video, das jederzeit meine Karriere am St. Joseph’s beenden kann. Es existiert von jeder Raven und jedem Lion. Laut Dione nur bis zum Ende des Studiums, aber wenn ich an die vielen noch immer loyalen Ex-Studentinnen und Studenten denke, bin ich mir da nicht so sicher. Was bedeutet, dass mich die Verbindungen immer in der Hand haben werden. Es sei denn, ich finde mein Sicherheitsvideo.

»Habt ihr eine Ahnung, wo diese Videos sein könnten?«, frage ich. »Kellan und Valérie müssen sie doch irgendwo aufbewahren.«

Hannah schüttelt den Kopf. »Josh und Jace haben schon in Kellans Arbeitszimmer gesucht. In Raven House konnten sie sich noch nicht so genau umsehen, aber …«

»Wer sagt dir denn, dass das Video von Tyler und Beverly bei den … offiziellen Videos ist?«, unterbreche ich sie. »Vielleicht erpresst ihn jemand ganz anderes.«

»Das stimmt. Wir tappen leider noch völlig im Dunkeln und können nur hoffen, dass wir es bei den anderen Sicherheitsvideos finden. Und dann ist es Zeit, die Ravens und Lions zu vernichten. Ich wusste, dass die Lions etwas mit dem Verschwinden von Beverly zu tun haben. Sobald wir es auch beweisen können, werden wir sie anzeigen.«

Ich keuche erschrocken auf. »Ich wohne dort, Hannah! Die Ravens zahlen mir und einigen anderen die Studiengebühren. Bei den Lions ist es dasselbe. Zu ihnen gehören nicht nur verwöhnte Rich Kids, sondern Menschen wie du und ich. Nur weil eine Frucht angematscht ist, wirft man doch nicht die ganze Obstschale weg. Sie tun auch Gutes!«

Hannah lacht über meinen Vergleich, in der nächsten Sekunde ist sie wieder todernst. »Das werden wir noch sehen. Auf jeden Fall müssen wir dringend herausfinden, wer die faulige Frucht ist. Neben der hier …« Sie deutet auf die nächste Message von Tyler.

Ich presse meine Hand fest auf den Bauch. Vielleicht, um das Kribbeln der sich regenden Schmetterlinge zu unterbinden, vielleicht aber auch, weil mir übel wird.

»So ein manipulativer Arsch!«, ist Hannahs Kommentar dazu.

2

SAMSTAG, 28.11.

Während der nächsten Tage fühle ich mich wie ein Geist. Ich gehe zu meinen Kursen, verbarrikadiere mich aber anschließend mit meinen Unterlagen in meinem Zimmer. Schon am Dienstag hatte ich die Hausarbeit für das Marketingseminar fertig, die Wochenaufgabe für den Praxiskurs bei Professorin Deveraux am Mittwoch. Durch den Verlust des Jobs im Diner habe ich viel Zeit. So viel Zeit, dass ich meinen Dozenten in Wirtschaftsrecht gestern sogar um eine Zusatzaufgabe gebeten habe, nur um mich abzulenken. Heute Vormittag habe ich sie schon abgegeben und nun keinen Grund mehr, mich weiterhin zu verstecken. Vor den anderen – und vor Hannah, die mir nahezu stündlich schreibt, dass sie sich mit mir treffen will.

Doch wie bei Tyler habe ich das Lernen vorgeschoben.

Ihre letzte Nachricht von heute Vormittag lautete:

Die Woche zieht vorüber, ohne dass ich wirklich Teil des Lebens von Raven House bin, auch wenn alles seinen gewohnten Lauf nimmt. Es gibt keine Anwärterspiele mehr, niemand muss sich länger Sorgen machen, Raven House verlassen zu müssen. Ich habe die anderen beobachtet und beschlossen, mich wieder einzufügen. Heute ist der perfekte Moment dafür.

Nur zu sehr wenigen Gelegenheiten kommen fast alle Ravens zusammen. Der wöchentliche Filmabend im Lichthof von Raven House ist eine davon. Sowie die Fenster der drei Stockwerke über uns kein Tageslicht mehr hereinlassen, wird die Chill-Area des gigantischen Lichthofs kurzfristig ausgeweitet, indem die Tische und Sitzgelegenheiten rund um die kleine moderne Theke anders ausgerichtet werden, bevor die große Leinwand per Knopfdruck aus der Stuckdecke herabsinkt und sich nahtlos in die dekadente Mischung aus Moderne und echten Antiquitäten einfügt.

Über dem gemauerten Kamin, in dem gerade ein wohliges Feuer knistert, hängt das goldgerahmte Porträt der Gründerin der Verbindung, die sich ihr zu Ehren heutzutage Ravens nennt. Felicitas Raven war ihrer Zeit weit voraus. Sie kämpfte gegen Ungerechtigkeiten, die in der damals noch ausschließlich von Männern beherrschten Welt fast niemand außer ihr gesehen hat, und entzog sich damit der männlichen Fremdbestimmung.

Ich richte mich immer weiter auf, je länger ich die Gründerin der Ravens betrachte, anstatt der Liebesschnulze zu folgen, die auf der Leinwand läuft und dafür sorgt, dass der Filmabend Lion-freie Zone ist, obwohl die Lions inzwischen freien Zugang zum Gebäude haben, genau wie umgekehrt.

Felicitas Raven hat alles, was ihr zur Verfügung stand, dafür eingesetzt, anderen zu helfen. Sie hat Raven House zu dem Wohnheim gemacht, das ich heute kenne, und die Stipendien eingeführt, um auch Frauen ohne adlige Herkunft einen Zugang zur Universität zu ermöglichen.

Wann ist aus dieser bedingungslosen Hilfe ein Geschäft geworden? Ein Geschäft mit Sicherheitsvideos als Druckmittel? Da ist etwas verdammt schiefgelaufen. Felicitas Raven würden die akkurat frisierten Haare zu Berge stehen, wenn sie ihr Vermächtnis heute sehen könnte.

Mein Blick gleitet über die Ravens vor mir, die in den Sesseln und Sitzsäcken herumlungern, Popcorn essen oder an ihren Getränken nippen. Bis auf wenige Ausnahmen sind sie nie in denselben Grüppchen unterwegs, sondern mischen sich immer neu, ohne Beachtung des sozialen Umfelds, zu dem sie jenseits der Mauern von Raven House zählen. Was nicht zuletzt auf das von unserer Vorsitzenden Valérie stets gepredigte Einheits- und Gleichheitsgefühl zurückzuführen ist. Wir sind alle Frauen. Der Rest interessiert sie nicht. Sie, die französische Duchesse, mit der ich außerhalb der Ravens wohl niemals auch nur ein Wort gewechselt hätte.

Tyler hat mit seiner Empfehlung nicht nur Schlechtes bewirkt – egal, welche finsteren Text- oder Sprachnachrichten Hannah während der letzten Tage geschickt hat. Seit ich vor einer Woche aus Tylers Apartment geflohen bin, konnte ich Hannah keinen einzigen freundlichen Ton über die Studentenverbindungen entlocken. Dabei haben sie und Felicitas Raven so viel gemeinsam. Die Gründerin würde sich gut auf Hannahs Wall of Fame im Büro des Whisperer machen – neben all den starken und wichtigen Frauen unserer Geschichte.

Je mehr Normalität sich bei den anderen inzwischen eingestellt hat, desto schräger kommt mir allein der Gedanke vor, diese – mit wenigen Ausnahmen – wundervolle Gemeinschaft zu zerstören, wie Hannah es von mir verlangt. Natürlich ist nicht alles perfekt – das ist es nie –, aber die Ravens geben mir so wahnsinnig viel. Ich kann einfach nicht glauben, dass hinter all dem nur eine Lüge, eine Tarnung für fiese Machtspielchen stecken soll. Deshalb habe ich Hannah angefleht, nichts ohne mich zu unternehmen, selbst wenn Josh in Lion Manor auf die Sicherheitsvideos stoßen sollte.

Der Gedanke an ihn knautscht meinen Magen zusammen. Nicht so stark wie vor einer Woche – als er mir auf dem großen Ball der Ravens die Wahrheit erzählt und ein Gefühl des Verrats in mir ausgelöst hat, das mich direkt in Tylers Arme getrieben hat –, aber dennoch auf eine unangenehme Art. Jetzt weiß ich, dass Tylers Schuld schwerer wiegt, sein Geheimnis weit größer ist, als ich mir je hätte vorstellen können. Dennoch haben mich beide Männer, die ich zuletzt in mein Leben gelassen habe, benutzt und enttäuscht – und ich hasse sie dafür. Seit Mason habe ich mich endlich wieder anderen geöffnet und sie haben die Tür vor meiner Nase wieder zugestoßen.

»Was seufzt du so?«, fragt mich Dione und sieht mich mit leicht geneigtem Kopf an. Ein Wasserfall aus lilafarbenen und blauen Haaren fällt weit über ihren nackten Arm, der tatsächlich noch bleicher ist als meiner. »Findest du den Film auch so langweilig? Der Kostümdesigner ist eine echte Niete.«

Sie verzieht die passend zu ihrem pinkfarbenen Haaransatz geschminkten Lippen zu einem Schmollmund, sodass ich unwillkürlich grinsen muss. Dione hat eine wirklich magische Ausstrahlung. Sie hat die Macht, jeden mit ihrer Begeisterung für Mode anzustecken. Selbst mich, die nicht einmal mit dem Markenlogo von D.A. vor der Nase das Label von Diones Mum, Danielle Anderton, erkannt hätte. Aber wie in Diones Entwürfen steckt auch in den D.A.-Kollektionen weit mehr als Oberflächlichkeit, was ich niemals gedacht hätte. Seit meinem Einzug und meiner Freundschaft mit Dione habe ich einiges darüber gelernt, was Kleidung mit uns anstellt und welche Bedeutung sie vor allem für uns Frauen hat.

Sie neigt sich weiter zu mir und flüstert: »Wieso hat man der offenbar starken Hauptfigur nicht etwas verpasst, das nur der Zuschauer sieht, als kleinen Akt der Rebellion?« Sie schüttelt den Kopf und mustert mich dann, als wäre ich jene Hauptfigur, bei der sie irgendwelche Ungereimtheiten aufdecken müsste. »Du hast dich nicht an den Klamotten gestört«, stellt sie fest. »Was ist los? War deine Woche so stressig? Ich habe dich ja kaum zu Gesicht bekommen. Seit dem Aufnahmeball muss ich wieder allein frühstücken.«

Ich verdrehe die Augen. »Du warst nicht allein, wenn ich den Gerüchten glauben kann«, erwidere ich, denn ich habe ihren leuchtenden Schopf und Austins Rastazöpfe mehr als einmal morgens im Speisesaal an einem Tisch gesehen, es aber nicht geschafft, mich zu den beiden zu setzen.

Wäre alles anders gekommen, wenn Josh es nicht darauf angelegt hätte, mit mir zu matchen, um mich auf Hannahs Bitte hin zu beschützen? Zwischen Dione und Austin hat sich ein festes Band entwickelt, das mir einen Stich versetzt und mich immer wieder daran erinnert, dass ich nur aufgrund einer Verwechslung und mieser Intrigen hier gelandet bin – im Gegensatz zu allen anderen.

»Ich würde Austin jederzeit gegen dich eintauschen.« Sie lächelt und der gesamte Lichthof scheint sich aufzuhellen. »Er ist morgens ein grauenvoller Gesprächspartner. Ich könnte genauso gut mit mir selbst reden.«

Ich lache auf. Dione hat mir vom ersten Moment an das Gefühl gegeben, dazuzugehören, und allein dafür liebe ich sie. Auch jetzt schafft sie es, mich aus dem Loch zu ziehen, in das ich mich am liebsten verkrochen hätte, um meinen düsteren Gedanken nachzuhängen. Wenn Dione, die schon jetzt in der Modewelt einen Namen hat und deren Eltern bereits eine Raven und ein Lion waren, mich als eine echte Raven sieht, wieso dann nicht ich selbst? Sie ist für mich der Beweis, dass hinter der Verbindung mehr als Intrigen stecken, dass es um Freundschaft und Zusammenhalt geht, wie Felicitas Raven es für alle Frauen gewollt hat.

»Dann sehen wir uns morgen zum Frühstück?«, frage ich, als der Abspann beginnt, die Seufzer und Hachs unter der hohen Decke verklingen und die ersten Lichter wieder angehen.

»Ja, bitte. Ich habe dich vermisst.«

Sie drückt mich so unvermittelt an sich, dass ich beinahe umkippe und von lila-blauen Haaren erstickt werde. Über ihre Schulter hinweg sehe ich Valérie bei Miley an der Theke stehen und mir mit ihrem Limonenwasser und einem zufriedenen Lächeln zuprosten.

3

SONNTAG 29.11.

»Konntest du nicht schlafen oder warum hast du eine Laune wie Austin um diese Zeit?« Dione beißt von ihrem Croissant ab und grinst mich herausfordernd an. »Oder liegt es an mir?«

»Nein, nein, keine Sorge«, antworte ich wahrheitsgemäß und schneide mir ein Stück von meinem Toast mit Ei ab. »Ich habe sogar erstaunlich gut geschlafen.« Schnell schiebe ich mir die Gabel in den Mund, um Zeit zu gewinnen.

Ich schlafe jede Nacht wie ein Baby, weil ich meinen größten Traum lebe. Der Moment des Aufwachens ist das Problem. Wenn mir mit einem Schlag bewusst wird, dass ich in einem Zimmer in Raven House liege und der Schwesternschaft ausgeliefert bin – dass aus dem Traum ein Albtraum geworden ist. Denn die Ravens finanzieren mein Studium, zahlen alles, was ich an Büchern und Lehrmaterial brauche, organisieren exklusive Lerngruppen, die mir das Wissen so vermitteln, dass ich mich für jede Prüfung gewappnet fühle. Und sie können mir mit einem einzigen Video an den Dekan alles wieder wegnehmen. Sogar noch mehr als das, denn ich würde nicht nur das Stipendium und den Platz zum Schlafen verlieren, sondern von der Uni fliegen. Der Gedanke macht mich einfach fertig. So fertig, dass es seit vielen Tagen keinen Eintrag in mein Glückstagebuch mehr gegeben hat, auch wenn ich mich hin und wieder dabei ertappe, trotz allem einen flüchtigen Funken Glück zu verspüren. Ich kann die Bedeutung von Glück nicht mehr greifen, geschweige denn beschreiben.

Rasch schiebe ich die Bilder beiseite, wie ich versuche, meinen Tagen etwas Positives abzugewinnen und auf die leeren Seiten zu schreiben, und trinke einen Schluck von Mileys grandiosem Chai Latte, ehe ich hinzufüge: »Wer würde in den Betten nicht gut schlafen?« Ich strecke mich und gähne, was Dione ansteckt.

»Du machst dir immer noch Sorgen wegen der Videos, oder?«

Ich senke den Blick auf meine Tasse, was ihr als Antwort reicht. Wenigstens kann ich meine Nervosität und Unruhe der letzten Tage darauf schieben, denn die Wahrheit kann ich ihr nicht sagen – dass mich mein Match Josh nur benutzt hat, dass mich mein vermeintlich bester Freund Tyler belogen und offenbar etwas mit dem Verschwinden von Beverly Grey zu tun hat, die im letzten Jahr eine Raven-Anwärterin war.

Ich weiß nicht, wie tief eine oder mehrere Ravens mit drinstecken, ob sie überhaupt etwas wissen oder Beverlys Verschwinden tatsächlich als Laune einer entdeckungsfreudigen jungen Frau abtun. Dione glaubt jedenfalls an das, wofür die Ravens stehen. Woran ich auch so sehr glauben will. Auch wenn ich Dione wirklich mag und mein Bauchgefühl mir sagt, dass ich ihr vollends vertrauen kann, wittert mein Verstand überall weiteren Verrat.

Dione greift nach meiner Hand, in der ich die Gabel halte, und umschließt sie. »Ich habe mit meinen Eltern über diese Videos gesprochen, nachdem du beim Ball …« Sie sieht betreten zur Seite.

»Nachdem ich ausgerastet und abgehauen bin?«, vervollständige ich ihren Satz.

Dione nickt, ihr Blick gleitet noch immer an mir vorbei. »Du hast mich zum Nachdenken gebracht. Ich habe mich gefragt, was dieses Video in den falschen Händen anstellen könnte, und wurde panisch. Austin war absolut keine Hilfe, er meinte nur, dass es als Beweismittel vor Gericht nie gelten würde, weil es zusammengeschnitten ist, um den Match nicht ebenfalls anzuschwärzen, aber ich dachte nicht wie er zuerst an einen Prozess, sondern an dich. An deinen Vorwurf, dass eine Verbindung wie die Ravens ihre Loyalität nicht mit Druckmitteln sichern sollte. Jurastudenten!« Sie verdreht kurz die Augen. »Ich bin sogar zu meinen Eltern gefahren, weil ich es nicht am Telefon besprechen wollte. Ich war total paranoid.«

Willkommen im Klub. »Was haben deine Eltern gesagt?«

»Es wurde bislang noch nie eins der Videos tatsächlich benutzt. Allein das Wissen, dass es existiert, hält jede Raven und jeden Lion in der Spur.«

Ich hole tief Luft, weil ich wissen muss, was sie davon hält. »Und für dich ist es okay, auf diese Art erpressbar zu sein?«

Dass ihr Lächeln eher verzweifelt als ehrlich wirkt und nicht ansatzweise bis zu ihren Augen reicht, sagt mir alles. Aber es freut mich zu wissen, dass sie nicht blindlings allem folgt wie einige andere hier.

Beispielsweise Brittany, Cheryl und Laura, die gerade im Stechschritt die Stille im Speisesaal zerstören. Und natürlich bei uns stehen bleiben.

»Hat sich unser Traumpaar wieder versöhnt?«, fragt Brittany in honigsüßem Singsang, der Übelkeit bei mir hervorruft. »Oder wolltest du nur diesen zotteligen Typen loswerden? Was ich total verstehen könnte!«

Die drei würden es schaffen, selbst den Dalai Lama zur Weißglut zu treiben. Bei ihnen glaube ich sofort, dass sie jeden Befehl befolgen und allein für den Namen Raven alles tun würden, ohne über die Konsequenzen nachzudenken. Brittany und Cheryl sind Studentinnen im zweiten Jahr. Ich notiere mir in Gedanken, beide einzeln über Beverly auszufragen, sobald ich sie ohne ihre Anhängsel erwische. Der Plan – oder überhaupt einen Plan zu haben, sei er noch so aus der Luft gegriffen – lässt mich freier atmen und ich richte mich auf, während Dione bereits zum Angriff übergeht.

»Sprichst du etwa von Barron? So schlimm sieht er morgens doch gar nicht aus.« Sie erwidert den schockierten Blick von Laura, die definitiv mehr an ihrem Match Barron hängt, als sie zugeben will, mit einem fiesen Lächeln.

In solchen Momenten – wenn Dione es den Schnepfen mit gleicher Münze heimzahlt – ist sie mir regelrecht unheimlich. Während sie sich wieder zu mir dreht, wird ihr Grinsen ehrlich, ihre Augen funkeln belustigt und sie hat Mühe, nicht loszuprusten – was mich sofort ansteckt, sodass ich mich beinahe an meinem Chai Latte verschlucke.

Noch vor dem Mittagessen will ich mit meiner Familie skypen wie jede Woche, mit Ausnahme des vergangenen Sonntags. Meine kleine Schwester Phoebe nimmt das Gespräch an und ich sehe im Hintergrund die Poster an der Wand über ihrem Bett. Sie beansprucht mich wieder einmal zuerst für sich allein und quetscht mich über ihr Lieblingsthema aus – über das ich derzeit absolut gar nicht reden möchte.

»Mensch, Cara. Du musst mir einfach mehr über Joshua Prentiss erzählen. Meine Freundinnen brennen auf Neuigkeiten. Wie küsst er? Hast du schon bei ihm übernachtet? Durch dich bin ich zu einer echten Berühmtheit geworden! Einfach jeder weiß über dich und ihn Bescheid. Hast du ihn jetzt schon fotografiert? Ich warte noch auf den Beweis, dass die Bilder im Netz kein Fake sind.«

Phoebe redet wie ein Wasserfall. Ich öffne hin und wieder den Mund, um zu einer Antwort anzusetzen oder einen Themenwechsel einzuschieben, doch ich habe keine Chance. Ab und zu stockt sogar das Bild von ihr, weil die Übertragung die schnellen Lippenbewegungen nicht erfassen kann.

»Es ist aus!«, unterbreche ich schließlich ihren Redeschwall.

Sie verschluckt sich an der nächsten Frage und hustet. »Warum? Er ist dein Traumprinz!«

Ich lege meine beste »Ernsthaft?«-Miene auf.

Sie zuckt mit den Schultern. »Es ist Joshua Prentiss, verdammt. Kannst du ihn nicht wenigstens bis Weihnachten behalten, damit ich ihn kennenlernen kann? Das sind nur noch vier Wochen!«

»Du bist die egoistischste kleine Schwester, die man sich vorstellen kann!« Ich lasse mich lachend gegen die Rückenlehne des Lesesessels fallen, den mir Valérie angeboten hat und zu dem ich nicht Nein sagen konnte. Es ist der bequemste Sessel der Welt, die Beinstütze lässt sich per App perfekt ausrichten und die Massagefunktion ist der Hammer. Ich würde in dem Ding leben, wenn das Bett nicht ebenso bequem wäre.

»Mir bleiben doch nur meine Träume«, sagt sie in theatralischem Jammerton. »Du bist in dem coolsten Wohnheim der Welt, während ich zu Hause in meinem Zimmer hocke. Das ist so ungerecht!« Sie seufzt laut auf, während sie ihr Kopfkissen fest umarmt.

»Du bist zwei Jahre jünger als ich. Lass dir noch ein wenig Zeit und mach erst mal deinen Abschluss an der Highschool, dann kannst du auch hier studieren, wenn du willst.«

Phoebe wirft ihr Kopfkissen auf den Laptop, es ertönt ein knirschendes Geräusch, während das Bild verschwindet.

»Phee?«, rufe ich und richte mich instinktiv auf.

Diese Blödeleien und der Kontakt zu meiner Familie haben mich in der Realität verankert und mir über die Zeit hinweggeholfen, als sich Hannah vor lauter Geheimniskrämerei rund um Josh von mir distanziert hat – oder ich mich vor lauter Geheimniskrämerei rund um die Ravens von ihr distanziert habe. Ohne meine Familie würde ich durchdrehen. Daher bin ich erleichtert, als ich plötzlich wieder Phoebes Gesicht ganz nah vor mir sehe.

»Gib’s zu, du hast Angst bekommen.« Sie lacht, während sie mit dem Laptop im Arm die Treppe hinabrennt, sodass mir beinahe übel wird, bevor sie sich neben meine Eltern aufs Sofa setzt, damit ich sie alle im Bild habe. Phoebe beugt sich jedoch weiter vor und belegt damit den größten Teil des Kamerabereichs. So kann ich das Zucken ihrer Augenbrauen oder ihr Augenverdrehen sehen, während ich meine Eltern auf den neusten Stand bringe. Tränen schimmern in ihren Augen, als sie erfahren, dass ich ein Stipendium erhalten habe. Dadurch können sie sofort die hohen Kredite auslösen und Großtante Mary kann sogar die Hypothek auf ihr Haus tilgen. Erst an ihrer Erleichterung erkenne ich die Sorgen, die sie sich diesbezüglich gemacht haben. Sie haben sich für meinen Traum hoch verschuldet.

Auch meine Augen brennen. Meine Familie zeigt mir, dass ich immer jemanden an meiner Seite habe, zu dem ich gehen kann. Grund genug, mein Glückstagebuch wieder herauszukramen und nach dem Skype-Gespräch den ersten Eintrag seit Langem hineinzuschreiben: Glück ist … wenn du jemanden hast, zu dem du immer zurückkehren und auftanken kannst.

Zufrieden mit mir blättere ich durch die Seiten, die ich seit meinem Eintreffen in Whitefield vollgeschrieben habe, und bleibe an dem einen oder anderen Satz hängen.

Glück ist … es auch zu erkennen, obwohl es sich zwischen Kummer und schlechter Laune versteckt.

An dem Tag habe ich mich furchtbar mit Hannah über die Ravens gestritten. Weil sie mir nicht vertraut hat, mir nicht erzählt hat, dass Josh ihre geheime Informationsquelle ist.

Glück ist … etwas überstanden zu haben, vor dem du Angst hattest.

Der Eintrag zur Matching Night.Rückblickend kann ich darüber nur lachen. Denn ich habe es nicht annähernd überstanden, eher im Gegenteil. In jener Nacht hat alles erst begonnen!

Glück ist … wenn eine federleichte Berührung für Herzrasen sorgt.

Gänsehaut überzieht meinen Körper, meine Nervenenden spannen sich an, als ich an jenen Moment zurückdenke. Josh hat mir die Funktionen der Smartwatch erklärt und die Herzfrequenzanzeige ist nahezu explodiert, als er mir mit sanfter Stimme ins Ohr gehaucht hat und mit seinen Fingern dabei zart über meinen Arm fuhr. Ich ärgere mich noch heute über mein verräterisches Herz, das auf seine Lügen hereingefallen ist, verdammt. Dabei hat er während der ganzen Zeit an eine andere Frau gedacht, nach einer anderen Frau gesucht. Nur wegen ihr ist er überhaupt am St. Joseph’s. Und trotzdem ist mein Hirn so doof, ausgerechnet jetzt seine Stimme in mein Bewusstsein zu schubsen. So klar und deutlich, als würde er direkt neben mir stehen. Fluchend. Instinktiv hebe ich den Kopf, lausche in die Richtung, aus der seine vermeintliche Stimme kommt, und starre auf den Einbauschrank und die Wand Richtung Treppenhaus.

Hannah hat mir die ganze Woche immer wieder geraten, mich mit ihm auszusprechen, über alles zu reden und seine Entschuldigung anzunehmen. Doch ich bin zu stur, bringe es noch nicht über mich, mir die Blöße zu geben, dass ich auf ein hübsches Lächeln und seine nette Art hereingefallen bin wie eine Vierzehnjährige. Irgendwann würde ich mich aber aussprechen müssen und ich hoffe, dass mein Herz dann nicht mehr bei jedem Gedanken an ihn schneller schlägt.

Zuerst jedoch starre ich mit Gänsehaut an den Unterarmen die Wand hinter dem alten, nicht mehr genutzten Kamin neben dem Schrank nieder. Meine Paranoia interpretiert in jedes Geräusch der alten Mauern und in das Ächzen der hölzernen Bauteile ein Kratzen und Streifen eines Schattens, der sich an mich heranschleicht, um mich zu verraten wie alle anderen.

4

SONNTAG, 29.11.

Der Drang, direkt nach dem Klopfen davonzurennen, ist schier übermächtig. Ich stehe vor der dunklen Holztür von Tylers Apartment – es Wohnheimzimmer zu nennen, wäre die Untertreibung des Jahrhunderts – und spüre meinen Herzschlag bis in die Halsbeuge. Ganz gleich, wie oft ich schlucke, der Kloß in meiner Kehle bleibt.

»Schnell rein und wieder raus«, sage ich leise vor mich hin wie auf dem gesamten Weg hierher.

Ich höre Schritte jenseits der Tür. Noch einmal setzt der Fluchtinstinkt ein und mein Blick huscht umher, sucht nach einem Ausweg – und bleibt an den Schuhen an der nächsten Tür hängen, die perfekt aufgereiht auf einer Fußmatte stehen, die dort garantiert nicht immer lag. Das Apartment nebenan gehört Josh. Seit er nach Lion Manor gezogen ist, wo es auch eine Security gibt, wohnt sein Bodyguard Jace allein dort. Ich denke an den Abend zurück, an dem mich diese Tatsache vor einem Rauswurf bei den Ravens bewahrt hat.

»Josh hat die ganze Zeit auf dich aufgepasst«, höre ich Hannahs Stimme im Ohr. Das hat er vielleicht. Leider hat er nicht darauf geachtet, mir dabei nicht versehentlich das Herz aus der Brust zu reißen. Aber seine Aufgabe war ja auch nicht, auf mein Herz aufzupassen, sondern mich vor Gefahren zu beschützen – dabei war er selbst eine davon.

Die Schritte jenseits der Tür verstummen und für einen klitzekleinen Moment erwäge ich, doch noch zur Seite zu springen und die Treppe hinunterzujagen wie bei einem Klingelstreich. Doch ich lasse die dumme Idee mit einem langen Atemzug aus mir heraus und richte den Blick auf die Stelle, an der gleich Tyler auftauchen wird.

»Hast du etwa noch geschlafen?«, entfährt es mir anstatt einer Begrüßung.

Tyler sieht tatsächlich aus, als wäre er direkt aus honigsüßen Träumen benommen zur Tür getapst. Seine dunklen Haare stehen ihm zu Berge, aus dem gewohnten Dreitagebart ist schon fast ein Vollbart geworden und seine Lider bedecken die braunen Augen noch zur Hälfte. Darunter liegen, von Bart- und Kopfhaar eingerahmt, dunkle Schatten wie schlecht abgeschminkte Wimperntusche. Sein Oberkörper ist nackt, das Piercing in seiner rechten Brustwarze weckt Erinnerungen, die ich nicht haben will. Schnell schaue ich auf.

Tyler reibt sich gerade über das Gesicht. Anschließend streckt er die Hand zur Seite und lehnt sich an die helle Zarge der Tür, als könnte er sich kaum auf den Beinen halten. Seine Muskulatur tanzt dabei unter seiner gebräunten Haut, zieht meinen Blick an wie ein Magnet.

»Ich wollte nur kurz meine Sachen holen«, sage ich in neutralem Ton.

Tyler mustert mich weiter unter halb gesenkten Lidern.

Ich versuche, mich an ihm vorbeizuschieben, doch sein Arm schnellt blitzschnell zur anderen Seite des Durchgangs und schiebt sich mir in den Weg, sodass ich dagegenstoße. Ich spüre Tylers Atem an meiner Haut, sein Flüstern fühlt sich an wie eine Berührung.

»Was ist los, C.?« Er schluckt hörbar. »Wir haben miteinander geschlafen, das ist … Falls du nicht mehr willst, ist das okay für mich, aber mir bedeutet unsere Freundschaft zu viel, als dass ich …«

Mein Kopf fährt zu ihm herum, gefüllt von unzähligen Gedanken, die ich ihm am liebsten entgegenschleudern würde. Alles ballt sich zu einem künstlich klingenden Konstrukt zusammen, das mechanisch aus mir herausquillt. »Wir hätten es nicht tun sollen. Es war ein Fehler.«

Tyler stößt den Atem aus, nickt langsam und gibt den Weg frei. Ich gehe den Flur entlang in Richtung Wohnzimmer, wo all die Erinnerungen an das letzte Wochenende lauern und auf mich einprasseln, sobald ich die Couch und dann das Bücherregal sehe. Sie bringen mich aus dem Gleichgewicht, ich stolpere über meine eigenen Füße.

»Ich habe die Sachen in der Kommode im Schlafzimmer«, sagt Tyler.

Ich ignoriere den Unterton in seiner Stimme. Er klingt niedergeschlagen, was in mir einen Reflex auslöst, ihn aufmuntern zu wollen, doch das kann ich mir nicht leisten.

Er entfernt sich mit schnellen Schritten. Das ist meine Gelegenheit. Ich renne zum Bücherregal, fahre hastig über die eng aneinandergedrängten Buchrücken auf der Suche nach dem einen Buch, das alles beweisen könnte. Doch es ist nicht mehr da. Hat Tyler bemerkt, dass ich …

»Suchst du nach etwas Bestimmtem?«

Mein Herzschlag dröhnt in meinen Ohren, ein Schauer rast über meinen Rücken, ich hebe die Mundwinkel, ehe ich mich umdrehe. Tyler mustert mich vom Durchgang zum Flur aus, lässig gegen den rauen Putz gelehnt.

»Du hast eine beeindruckende Klassikersammlung«, sage ich mit gepresster Stimme. Hat er mich auch letzte Woche gesehen und weiß nun, dass ich ihm im Fall Beverly auf der Spur bin?

Tyler winkt ab. »Mein Vater vergöttert Shakespeare und ist der Meinung, in jedes gute britische Haus gehören all seine Werke.« Er verdreht die Augen, was ihn so wahnsinnig jung aussehen lässt, dass sich mein Magen zusammenzieht.

»Hannah vergöttert Shakespeare auch«, murmele ich eher zu mir selbst als zu ihm. Nur dank ihrer Obsession haben Josh und ich eine der Aufgaben während der Matching-Phase geschafft. War auch Tylers Vater, der ehemalige Botschafter, früher ein Lion? Hat er Tyler die Klassiker als unauffällige Hilfe untergeschoben? Seine Position könnte darauf schließen lassen.

»Hier sind deine Sachen.«

Tyler tritt näher, ein Bündel aus glitzernder weißer Seide auf dem Arm – mein von Dione entworfenes Ballkleid mitsamt den passenden Riemchen-High-Heels und meiner Handtasche. Ich strecke die Hände danach aus, halte mich jedoch zurück, sofort nach dem Raven-Buch darin zu suchen, dessen Sätze unter meinem Namen sich in mein Hirn gebrannt haben: Dieses Buch ist dein Mitgliedsausweis. Wenn du es verlierst, es dir gestohlen wird oder anderweitig abhandenkommt, verlierst du sämtliche Ansprüche einer Raven.

Möglichst unauffällig taste ich unter dem Berg aus glänzendem Stoff danach und kann meine Erleichterung kaum verbergen, als ich das Leder und den geprägten Raben auf dem Buchdeckel tatsächlich unter meinen Fingern spüre.

Tyler steht noch immer so dicht vor mir, dass ich seine Wärme spüren kann. »C.«, sagt er leise, seine Stimme voller Schmerz.

Ich kann nicht anders, als aufzusehen.

»Wenn ich gewusst hätte, dass …« Sein Kehlkopf hebt und senkt sich. »Wenn ich gewusst hätte, dass eine gemeinsame Nacht alles zwischen uns ausradieren würde, hätte ich niemals …«

Er kann es nicht aussprechen, weil es eine Lüge wäre. Seit unserem Kennenlernen – das laut Hannah nicht so zufällig war, wie ich immer gedacht habe – lag eine Spannung zwischen uns in der Luft, die sich irgendwann entladen musste, ganz gleich, ob sie von ihm forciert war oder nicht. Wir hatten dem nichts entgegenzusetzen. Jetzt ist dieser Umstand die perfekte Ausrede für mich.

»Ich brauche erst einmal Abstand«, bringe ich hervor und presse das Kleid mitsamt der darin eingebetteten Handtasche und dem Raven-Buch fest an die Brust.

Tyler schluckt, dann nickt er und tritt zur Seite.

Langsam und auf wackeligen Beinen gehe ich den Flur hinunter zur Apartmenttür, obwohl alles in mir danach schreit, erneut davonzurennen wie eine Woche zuvor.

»Ich vermisse dich, C.«

In seiner Stimme schwingt etwas mit, das mich verharren lässt, und ich drehe mich noch einmal zu Tyler um. Er hat die Hand nach mir ausgestreckt, ballt die Finger jedoch zu einer Faust, als müsste er sich zwingen, mich nicht zurückzuhalten.

Mein Herz hämmert gegen den Brustkorb, ich weiß nicht, ob vor Angst oder dieser unbestimmten Verbindung, die vom ersten Moment an zwischen uns bestanden hat. Phee würde es wohl als Chemie bezeichnen.