Materialität und Präsenz von Inkunabeln - Charlotte Katharina Kempf - E-Book

Materialität und Präsenz von Inkunabeln E-Book

Charlotte Katharina Kempf

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Beschreibung

Die Untersuchung greift ein in der buchistorischen Forschung bisher vernachlässigtes Phänomen auf: die zentrale Bedeutung der deutschen Buchdrucker im 15. Jahrhundert für den entstehenden französischen Buchmarkt. Aber sie leistet mehr als die bloße Darstellung einer besonderen Gruppe von Akteuren. Auf der Basis zahlreicher Quellen gelingt es der Autorin, die spezifischen Lebenswege der Drucker in Verbindung zu bringen mit den ökonomischen und kulturellen Rahmenbedingungen, unter denen sich die Buchproduktion vollzog. Sie gelangt so zu aussagekräftigen Erkenntnissen über den Medienwandel in der Inkunabelzeit: Die Frühgeschichte des Buchdrucks ist keine geradlinige Erfolgsgeschichte, sondern vielmehr ein komplexer Innovationsprozess, an dessen Ende die Ablösung von der Handschrift durch den Buchdruck steht. Hierbei kommen sowohl bedeutende Druckereien wie die von Johannes Heynlin von Stein und Guillaume Fichet gegründete Pariser Offizin als auch kleine, weitgehend unbeachtet gebliebene Pressen wie diejenige von Johann Walther in Moûtiers zur Darstellung, was den besonderen Reiz dieser umfassenden Untersuchung ausmacht.

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Forum historische Forschung

Mittelalter

Herausgegeben vonProf. Dr. Achim Hack (Jena), Prof. Dr. Gerrit Jasper Schenk (Darmstadt),Prof. Dr. Romedio Schmitz-Esser (Graz)

Band 1

Charlotte Katharina Kempf

Materialität und Präsenz von Inkunabeln

Die deutschen Erstdrucker im französischsprachigen Raum bis 1500

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

 

 

 

Umschlagbild: Fichet, Guillermus: Rhetorica. Mit Beig. von Robertus Gaguinus. [Paris: Ulrich Gering, Martin Crantz und Michael Friburger, 1471]. 4° (GW 09870; ISTC if00147000; USTC 202922; FB 70536), handschriftliches Exemplar, Widmungsminiatur: Fichet überreicht Jolande von Frankreich ein Exemplar der Rhetorica; Cologny, Fondation Martin Bodmer, Cod. Bodmer 176, fol. 1r (https://www.e-codices.ch/de/list/one/fmb/cb-0176).

1. Auflage 2020

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-037673-1

E-Book-Formate:

pdf:        ISBN 978-3-17-037674-8

epub:     ISBN 978-3-17-037675-5

mobi:     ISBN 978-3-17-037676-2

Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.

Inhaltsverzeichnis

 

 

Vorwort

1 Einführung

2 Forschungsumfeld und Gegenstand

2.1 Deutsche Drucker im französischsprachigen Raum

2.2 Zur politischen Situation Frankreichs im 15. Jahrhundert

2.3 Sprache, Raum und Zeit

2.4 Quellen und Findmittel

2.5 Deutsch-französischer Forschungskontext

2.6 Methodologie und Leitfragen

3 Die Druckerei von Guillaume Fichet und Johannes Heynlin von Stein an der Pariser Universität

3.1 Lebensstationen der Protagonisten der Druckerei

3.2 Materialitätsprofil und programmatische Schwerpunkte

3.3 Zwischen Handschrift und Buchdruck: die Widmungsbriefe der Pariser Presse

3.3.1 Ausgaben mit und ohne Widmungsbrief

3.3.2 Bessarions

Epistolae et Orationes

3.3.3 Fichets

Rhetorica

3.4 Die Druckerei von Heynlin von Stein und Fichet

4 Druckereien in Städten

4.1 Materialität und Kommunikation. Die Druckerei von Johann Parix und Heinrich Turner in Toulouse

4.1.1 Die Stadt Toulouse im Spätmittelalter

4.1.2 Die Buchdrucker von Toulouse im 15. Jahrhundert

4.1.3 Kommunikation und Sprachenvielfalt

4.1.4 Materialitätsprofile und Druckprogramme

4.1.5 Konkurrenz und Konfrontation

4.1.6 Materialität und Kommunikation – die Inkunabelzeit in Toulouse im Überblick

4.2 Stadt ohne Buchdruck? Die Druckerei von Johann Schilling in Vienne

4.2.1 Anfänge von Schillings Drucktätigkeit in Köln

4.2.2 Fortführung von Schillings Drucktätigkeit in Basel

4.2.3 Schilling in Vienne

4.2.4 Einzelne Ausgaben im Fokus materialitätsgeschichtlicher Betrachtung

4.2.5 Stadt ohne Buchdruck? Zur weiteren Entwicklung der Druckkultur in Vienne im 15. Jahrhundert

4.2.6 Schillings Druckaktivität im 15. Jahrhundert

4.3 Präsenz und Dauer. Die Druckerei von Adam Steinschaber in Genf

4.3.1 Biographie des Erstdruckers Adam Steinschaber der Stadt Genf

4.3.2 Zwischen Volkssprache und lateinischer Sprache, Belehrung und »Unterhaltung«: Steinschabers Materialitätsprofil

4.3.3 Einzelne Ausgaben im Fokus materialitätsgeschichtlicher Betrachtung

4.3.4 Ausblick auf die weitere Entwicklung des Buchdrucks in Genf

4.4 Unstetes Leben – unstetes Druckwesen: die Druckerei von Johann Walther in Moûtiers

4.4.1 Biographische Stationen und der Beginn des Buchdrucks in Moûtiers

4.4.2 Walthers weitere Spuren in der französischen Druckgeschichte

4.4.3 Johann Walther als Buchdrucker – eine Bilanz

4.5 Buchhandel und Netzwerke: die Druckereien von Peter Metlinger in Besançon, Dole und Dijon

4.5.1 Metlingers Station in Besançon

4.5.2 Einzelne Ausgaben im Fokus materialitätsgeschichtlicher Betrachtung

4.5.3 Metlingers Station in Dole

4.5.4 Metlingers Station in Dijon

4.5.5 Metlingers druckgeschichtliche Bedeutung, seine Netzwerke und Ausblick

5 Zwei Klosterdruckereien

5.1 Geistlichkeit und weltliche Texte: Die Druckerei von Heinrich Wirczburg in Rougemont

5.1.1 Biographie und Drucktätigkeit von Heinrich Wirczburg

5.1.2 Der

Fasciculus temporum

und seine Druckgeschichte

5.1.3 Wirczburgs Ausgabe des

Fasciculus temporum:

Metatext und Selbstreflexion

5.1.4 Heinrich Wirczburg – ein Geistlicher als Drucker

5.2 Auftragsdruck und Ökonomie: Michael Wensslers Druckereien in Cluny und Mâcon

5.2.1 Wensslers Drucktätigkeit in Basel

5.2.2 Auftragsdruck und monastischer Raum: Wenssler in Cluny

5.2.3 Auftragsdruck und Liturgie: Wenssler in Mâcon

5.2.4 Letzte Ausgaben: Wenssler in Lyon

5.2.5 Monastischer Raum, Auftragsdruck und Ökonomie – Wensslers Druckaktivität

6 Die Profile deutscher Erstdrucker im französischsprachigen Raum im Vergleich

6.1 Die Materialitätsprofile der Drucker im Vergleich: Lebenswege, Netzwerke und Druckprogramme

6.2 Einzelne Aspekte der Druckprogramme im Vergleich

6.3 Materialität, Präsenz und die Räume der Druckereien

6.3.1 Universität

6.3.2 Stadt

6.3.3 Kloster

6.4 Die Profile deutscher Erstdrucker und die französische Druckkultur

7 Zusammenfassung

8 Englische und französische Zusammenfassung

Englische Zusammenfassung

Französische Zusammenfassung

9 Anhang

Quellenverzeichnis

Ungedruckte Quellen

Gedruckte Quellen

Literaturverzeichnis

Elektronische Zugänge

Abbildungen

Personenregister

Ortsregister

Vorwort

 

 

Diese Studie entstand als Doktorarbeit (co-tutelle) im Fach Mittelalterliche Geschichte im Rahmen eines deutsch-französischen Promotionsprogramms zwischen der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg und der École des hautes études en sciences sociales (EHESS) Paris. Sie wurde am 23. August 2018 eingereicht und am 14. Dezember 2018 verteidigt. Für die Publikation wurde der Text geringfügig überarbeitet. Während meines anderthalbjährigen Forschungsaufenthaltes in Paris wohnte ich in der Maison du Liban in der Cité universitaire, was für mich außerordentlich bereichernd war.

Bei der Fertigstellung der Dissertation förderten mich zahlreiche Personen und Institutionen. Herr Prof. Dr. Bernd Schneidmüller (Heidelberg) betreute die Arbeit von deutscher und Herr Prof. Dr. Pierre Monnet (Paris/Frankfurt) von französischer Seite. Ihr Engagement und ihr von unterschiedlichen Wissenschaftskulturen geprägter Blickwinkel auf mein Dissertationsthema waren sehr hilfreich. Ihnen sei dafür herzlich gedankt. Zusätzliche Gutachten verfassten Frau Prof. Dr. Ute Schneider (Mainz) und Herr Prof. Dr. Roger Chartier (Paris), was für mich eine besondere Ehre und Auszeichnung war.

Von Juli 2015 bis Januar 2019 war ich akademische Mitarbeiterin in dem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Heidelberger Sonderforschungsbereich 933 Materiale Textkulturen. Materialität und Präsenz des Geschriebenen in non-typographischen Gesellschaften im Projekt A06 Die papierene Umwälzung im spätmittelalterlichen Europa. Vergleichende Untersuchungen zum Wandel von Technik und Kultur im ›sozialen Raum‹, das unter der Leitung von Herrn Prof. Dr. Bernd Schneidmüller stand. Der Sonderforschungsbereich bot mir ein anregendes Umfeld und ermöglichte mir hervorragende Arbeitsbedingungen. Darüber hinaus stellte er mir einen großzügigen Druckkostenzuschuss zur Verfügung, ohne den die Publikation in dieser Form nicht möglich gewesen wäre.

Neben dem Sonderforschungsbereich möchte ich mich ebenso bei zahlreichen weiteren Institutionen für die wertvolle ideelle und finanzielle Unterstützung bedanken: bei der Heidelberger Graduiertenschule für Geistes- und Sozialwissenschaften (HGGS) für die Mitgliedschaft und das Stipendium von 2013 bis 2015, bei dem Deutschen Historischen Institut (DHI) in Paris für das Anforschungsstipendium 2013, bei der Studienstiftung des deutschen Volkes für die Promotionsförderung von 2014 bis 2016, bei der Gladys Krieble Delmas Fondation für das Stipendium zur Teilnahme an der SHARP-Konferenz 2015 in Kanada und schließlich bei der deutsch-französischen Hochschule für die gewährten Mobilitätsbeihilfen und die Mitgliedschaft in dem deutsch-französischen Doktorandenkolleg Unterschiede denken: Struktur – Soziale Ordnung – Kommunikation/Construireles différences : structure – ordre social – communication zwischen der EHESS Paris, der Humboldt-Universität Berlin und der Technischen Universität Dresden.

Ebenso bin ich Jan Hillgärtner, Benjamin Müsegades und Gero Schreier für die wertvollen Gespräche, Korrekturen und Anregungen sowie den Mitarbeitern der Bibliothèque nationale de France in Paris, der Bibliothek der Universität Paris-Sorbonne (Paris IV), der Archives nationales in Paris, der Newberry Library in Chicago (Illinois), der Universitätsbibliothek Heidelberg und des Referates Gesamtkatalog der Wiegendrucke/Inkunabelsammlung an der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz Berlin für vielfältige Hilfestellungen sehr verbunden.

Außerdem möchte ich dem Kohlhammer Verlag und dem Herausgebergremium für die Aufnahme in die Reihe Forum historische Forschung sowie meinen Hilfskräften, namentlich Dorothea Bach, Maximilian Groß, Hanna Hirt und Theo Müller, großen Dank aussprechen. Sie waren mir in jedem Stadium meiner Doktorarbeit eine sehr große Hilfe und verbesserten und beschleunigten mit ihren gewissenhaften Tätigkeiten das Vorankommen der Arbeit.

Zuletzt danke ich meinen Eltern und meinem Bruder, die den Entstehungsprozess der Arbeit Kapitel für Kapitel mit dem notwendigen Rückhalt, Zuspruch und Ermutigungen begleiteten.

 

Stuttgart, im Januar 2020

Charlotte Katharina Kempf

1          Einführung

 

 

 

Das Jahr 1454 ist, um eine Formulierung von Karl Schlögel aufzugreifen, »ein ehernes Datum, aber es gibt keinen Namen für das, was sich ereignet hat.«1 Johannes Gutenbergs Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern wurde allgemein als ,Medienrevolution‹ bezeichnet, doch diese Charakterisierung wurde wieder relativiert. Der Erfindung des Buchdrucks fehlte das unmittelbar Umstürzlerische, das Abrupte, der sichtbare Zusammenbruch des Bestehenden oder das ausdrückliche Aufbegehren gegen eine Tradition, die sich überlebte. Dennoch begann mit dem Druck der 42-zeiligen Bibel etwas, das durchaus Elemente eines epochalen Umbruchs beinhaltete.

Ein neues Kapitel in der Geschichte der Schriftlichkeit wurde aufgeschlagen, tradierte Formen der Weitergabe von Schriftzeugnissen und von Wissen verloren an Bedeutung, ökonomische Aspekte erhielten einen neuen Stellenwert, die traditionellen Zentren monastischer Buchproduktion wurden zu Randerscheinungen in der neu entstehenden Welt des Buchdrucks. Die Art und Weise, wie Texte tradiert wurden, welche erhalten blieben und welche verloren gingen, änderte sich langfristig und grundlegend. So gesehen war die Erfindung des Buchdrucks weniger ein isoliertes Ereignis, sondern führte vielmehr einen beschleunigten Wandel der materialen Textkultur herbei. Dieser Wandel wurde jedoch von den Zeitgenossen nicht nur positiv aufgenommen, sondern stieß ebenso auf Widerstand, Kritik und Skepsis.

Man kann den frühen Buchdruck zwar durchaus aus der Perspektive großer, aus heutiger Sicht deutlich erkennbarer Entwicklungslinien betrachten, aber man läuft dabei Gefahr, die Besonderheiten, den Prozess und die Widerstände im Detail, insbesondere in der Frühzeit des Buchdrucks, zu übersehen. Man kann sich auch primär auf einzelne historische Beispiele fokussieren und dabei leicht die großen Linien übersehen angesichts des zu beobachtenden Mangels an Stetigkeit in der Entwicklung, der häufig lückenhaften Überlieferung und der grundsätzlichen Erfahrung der Kontingenz des Geschehens.

Die vorliegende Untersuchung setzt sich daher zum Ziel, die Komplexität der Einzelfälle – der jeweiligen Druckereien, der Besonderheiten der Druckprogramme, der Individualität der Drucker – zu erfassen, ohne sich im Detail zu verlieren. Sie möchte zugleich die damit erzählten Geschichten in einen – etwa kulturellen, biographischen oder ökonomischen – Zusammenhang stellen, ohne unzulässig zu vereinfachen. Bei aller Fülle an Einzeluntersuchungen, die zur Frühgeschichte des Buchdrucks vorliegen, möchte die Studie das Wagnis eingehen, diesen unauflöslichen Zusammenhang zwischen der ›Konstitution des Neuen‹ und dem ›Zerfall des Überkommenen‹ sowie dem Fortwirken der Tradition im Kontext der Innovation darzustellen, um auf diese Weise ihren Beitrag zur Weiterentwicklung der Forschung zu leisten. Konkret geschieht dies am Beispiel deutscher Erstdrucker und ihrer Druckereien im französischsprachigen Raum bis zum Jahr 1500. Sie erfasst damit alle bekannten Druckereien, die von Druckern aus dem Heiligen Römischen Reich begründet wurden und die an den jeweiligen Orten im französischsprachigen Raum erstmalig den Buchdruck einführten. Eine die gesamte Produktion deutscher Erstdrucker im französischsprachigen Raum des 15. Jahrhunderts überblickende Untersuchung, die sich nicht auf einen spezifischen Drucker konzentriert, sondern die an vielen Orten entstehenden Pressen in den Blick nimmt, kann die genannten, durchaus widersprüchlichen Zusammenhänge veranschaulichen. Nur wenn man die Gruppe der deutschen Erstdrucker insgesamt ins Auge fasst, wird das Charakteristikum der Situation des Buchdrucks im 15. Jahrhundert innerhalb des französischsprachigen Raums deutlich. Im Kontext der deutschen Erstdrucker wird dann etwa erkennbar, dass die allererste und allein schon darum berühmte Druckerei Frankreichs, die 1470 von Johannes Heynlin von Stein und Guillaume Fichet in Paris gegründet wurde, mit ihrer gelehrt-humanistischen Ausrichtung eine Sonderrolle einnimmt. Drucker wie Johann Walther in Moûtiers, der nur ein einziges Buch druckte und ansonsten in der Druckgeschichte kaum weitere Spuren hinterließ, oder Heinrich Wirczburg, der als Mitglied der Cluniazenser keinen liturgischen Text, sondern eine Chronik druckte, werden auf diese Weise beachtenswert und charakterisieren die Situation des frühen Druckwesens klarer als etwa die mit hohen geistlichen und weltlichen Persönlichkeit der Zeit in Verbindung stehende Pariser Presse.

Die Geschichte des frühen Buchdrucks ist häufig auch eine Geschichte der großen Namen und Ereignisse. Weitgehend alle Inkunabeldrucker finden zwar in der Forschungsliteratur ihre Erwähnung und Würdigung, insbesondere in kleineren Einzelbeiträgen. Doch entsteht vielfach der Eindruck, die großen Namen gäben Orientierung und prägten die historische Landkarte, während die weniger bekannten Drucker lediglich das ergänzende Kolorit hinzufügten. Im Gegensatz dazu rücken bei der Betrachtung der deutschen Erstdrucker im französischsprachigen Raum weniger bekannte Namen ins Blickfeld und stehen gleichberechtigt neben bekannten Druckern wie Heynlin von Stein und Fichet. Um eine ,Rehabilitation‹ wenig beachteter Persönlichkeiten geht es dabei nicht, sondern vielmehr um den Versuch, die Akteure der Zeit mit ihrem Beitrag zur frühen Druckgeschichte in Frankreich gleichrangig zu betrachten.

Die Mobilität der Drucker und ihre keineswegs geradlinigen Lebensläufe erfordern es vielfach, auf ihre Herkunft aus dem Reich und ihren grenzüberschreitenden Werdegang einzugehen. Daher ist eine interdisziplinäre Vorgehensweise notwendig. Hier spielen nicht nur grundlegende Erkenntnisse aus dem deutsch-französischen Forschungskontext, der historischen Buchforschung im engeren Sinne sowie der Geschichtswissenschaft zum Spätmittelalter eine Rolle, sondern auch Beiträge der regionalgeschichtlichen und bibliothekswissenschaftlichen Forschung.

Nach einer Einführung in den Gegenstand der Untersuchung, die Quellen und die derzeitige Forschungslage stellt die Studie die zugrunde gelegte materialitätsgeschichtliche Forschungsperspektive näher vor. Auf dieser Basis untersucht der Hauptteil (Kap. 3–5) die Produktion der einzelnen Drucker, arbeitet ihre kommunikativen Netzwerke heraus und beleuchtet die universitären, städtischen und monastischen Räume, in denen die Druckereien verortet waren. Keine der hier untersuchten Druckereien war im höfischen Raum angesiedelt. Innerhalb der Unterkapitel geht die Darstellung chronologisch vor. Die Arbeit schließt mit einer systematischen Betrachtung der deutschen Erstdrucker im französischsprachigen Raum als Gesamtgruppe ab und ordnet sie in die allgemeine frühe Druckgeschichte sowie insbesondere diejenige Frankreichs ein (Kap. 6).

Die deutschen Erstdrucker bilden, so wird sich zeigen, eine repräsentative Gruppe, an der sich exemplarisch wesentliche Entwicklungslinien und Besonderheiten des frühen Druckwesens im Allgemeinen, aber auch speziell im französischsprachigen Raum nachzeichnen lassen. Schon lange vor den in jüngster Zeit vorgetragenen Ideen zu einer histoire croisée schrieb Paul Veyne in seinem im Jahr 1971 erschienenen geschichtstheoretischen Großessay Geschichtsschreibung – Und was sie nicht ist, historische Ereignisse seien »keine Totalitäten, sondern Knotenpunkte von Relationen.«2 In diesem Sinne möchte diese Untersuchung nicht die, sondern eine Geschichte deutscher Erstdrucker im französischsprachigen Raum schreiben.

1     Schlögel: Petersburg, S. 21.

2     Veyne: Geschichtsschreibung, S. 42.

2          Forschungsumfeld und Gegenstand

 

 

 

De viro illo mirabili apud Francfordiam viso nihil falsi ad me scriptum est. Non vidi Biblias integras sed quinterniones aliquot diversorum librorum mundissime ac correctissime littere, nulla in parte mendaces, quos tua dignatio sine labore et absque berillo legeret.1

Mit diesen Worten leitete Enea Silvio Piccolomini, der spätere Papst Pius II., in seinem Brief vom 12. März 1455 an den spanischen Kardinal Juan de Carvajal seinen Bericht von den ersten gedruckten Lagen eines Bibeldrucks ein, die er – so ist anzunehmen – im Oktober, spätestens aber Anfang November 14542 in Frankfurt am Main sah. Hauptinhalt des Briefs ist sein Bericht über den Frankfurter Reichstag, doch der kurze Abschnitt über seine Begegnung am Rande dieses Reichstags macht seinen Brief zu einem der frühesten Zeugnisse des Bibeldrucks und damit des Buchdrucks überhaupt.

Piccolomini wurde 1442 von Kaiser Friedrich III. zum poeta laureatus gekrönt und 1449 zum Bischof von Siena ernannt. Er sammelte reiche Erfahrung bei großen weltlichen und geistlichen Zusammenkünften. So nahm Piccolomini am Basler Konzil teil, war beim Zustandekommen des Wiener Konkordats 1449 beteiligt und besuchte 1454 den Frankfurter Reichstag. Ab 1443 stand er für über zehn Jahre im Dienst des bereits genannten Kaisers Friedrich III. und hielt sich daher zumeist am Hof in Wiener Neustadt auf. Piccolomini konnte vielfach als Friedrichs Gesandter in Erscheinung treten und nahm auch in dieser Funktion am Frankfurter Reichstag teil.

Piccolominis Schreiben ist jedoch nicht nur wegen des Entstehungszeitraums eine aussagekräftige Quelle. Es bildet im Kern einige Besonderheiten der Frühdruckzeit ab. Aus seinem Schreiben spricht zum einen die Bewunderung für jenen vir ille mirabilis, mit dem vielleicht Gutenberg gemeint sein könnte,3 und die damit ausgedrückte Hochachtung vor der Erfindung des Buchdrucks. Zum anderen spricht aus Piccolominis Brief bereits ein Bewusstsein für jene beginnende Entwicklung, die einen nachhaltigen Wandel der Schriftlichkeit nach sich ziehen sollte.

Bis zum Ende des 15. Jahrhundert entstanden circa 1 000 Druckereien in etwa 250 Städten, die rund 27 000 Ausgaben4 in einer Gesamtauflage von – je nach Forschungsmeinung – 10 bis 15 Millionen gedruckten Exemplaren herstellten.5 Der Buchdruck markierte als zentrales Ereignis in der europäischen Mediengeschichte die Schwelle vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit. Durch die rasche Ausbreitung dieser Technik6 und durch die Möglichkeit der schnellen, identischen Herstellung eines Texts überflügelte die Druckproduktion bereits nach wenigen Jahrzehnten die bisherige Handschriftenproduktion deutlich.7 Die sogenannte Inkunabelzeit, das heißt der Zeitraum zwischen 1454 und 1500, bildet die liminale Phase im Wandel von non-typographischen zu typographischen Gesellschaften. Für diese Phase des Übergangs ist Piccolominis Brief vom 12. März 1455 ein einschlägiges Dokument. An der medialen Umbruchsituation war Piccolomini insofern sogar selbst beteiligt, als seine um 1472 posthum erschienene Schriften De miseria curialium, in der er das Leben am Wiener Hof Kaiser Friedrichs III. kritisiert, und De duobus amantibus, welche die Liebesbeziehung zwischen Euryalus und Lucretia schildert, zu den ersten in Frankreich gedruckten Texten überhaupt gehören sollten. In gewisser Hinsicht schrieben seine Texte dadurch sogar Mediengeschichte.

2.1       Deutsche Drucker im französischsprachigen Raum

Bei der Ausbreitung der neuen Technik kam deutschen Druckern europaweit eine Schlüsselposition zu und dies nicht allein aufgrund der Tatsache, dass Johannes Gutenberg die Technik des Buchdrucks erfunden hatte.8 Schon in dieser frühen Phase des Buchdrucks ist die Präsenz deutscher Drucker innerhalb und außerhalb des deutschen Sprachraums beachtlich: Bis zum Jahr 1470 wurden in zehn deutschen Städten Druckereien errichtet, denen sieben Druckereien außerhalb des deutschen Sprachraums gegenüberstanden. Fünf von ihnen – in Subiaco, Rom, Venedig, Neapel und Paris – wurden von deutschen Druckern begründet.9 Deutsche Drucker wirkten im 15. Jahrhundert daher als ein wichtiger Motor für die Ausbreitung des Buchdrucks in ganz Europa.10 So führten sie erstmalig den Buchdruck in Italien,11 Frankreich, Spanien12 und Ungarn13 ein. Zudem errichteten sie in nahezu allen europäischen Ländern ihre Pressen.14 Insgesamt waren wohl mehr als 40 Prozent aller Drucker im 15. Jahrhundert deutscher Herkunft.15 Die zweitgrößte Gruppe von Druckern bildeten die Italiener, die aber nur knapp ein Viertel ausmachten.16 In technischer Hinsicht unterschieden sich die Druckereien der Inkunabelzeit europaweit nicht voneinander. Überhaupt blieben die produktionstechnischen Grundlagen des Buchdrucks lange Zeit unverändert.17 Erst im 19. Jahrhundert veränderten industrielle Verfahren den Herstellungsprozess elementar.

Auch die Druckgeschichte im französischsprachigen Raum verband sich von Beginn an mit derjenigen des Heiligen Römischen Reichs. Offenbar beabsichtigte der französische König Karl VII. schon 1458, die Drucktechnik in seinem Königreich einzuführen. Um dieses Ziel zu erreichen, sandte er Nicolas Jenson nach Mainz, der dort die Druckkunst auskundschaften und ins französische Königreich bringen sollte.18 Obgleich Jenson wohl in der Tat ein paar Jahre in der Druckerei von Fust und Schöffer arbeitete, war die Absicht Karls VII. nicht von Erfolg gekrönt. Nach den Wirren des Überfalls auf Mainz durch Adolf II. von Nassau im Jahr 146219 ist Jenson anschließend nicht im französischen Königreich oder am Hof des französischen Königs, sondern vielmehr in Italien nachweisbar. Dort trat er ab 1470 in Venedig als eigenständiger Drucker auf.

Im französischsprachigen Raum wurde dagegen erst rund 20 Jahre nach Gutenbergs Erfindung eine Druckerei eingerichtet. Ihre Gründer waren der deutsche Gelehrte Johannes Heynlin von Stein und der savoyardische Theologe Guillaume Fichet, die 1470 eine Presse in Paris am Collège de Sorbonne errichteten.20 In dieser Druckerei erschienen auch die beiden genannten Texte von Piccolomini De miseria curialium und De duobus amantibus. Nicht nur die anscheinend zunächst geplante, sondern auch die später tatsächlich realisierte Einführung des Buchdrucks in Frankreich steht somit in unmittelbarem Zusammenhang mit der deutschen Druckgeschichte und ist eng mit Initiativen von deutscher Seite verflochten.

Doch nicht allein zu Beginn der französischen Druckgeschichte leisteten deutsche Drucker einen wichtigen Beitrag, sie blieben auch im Verlauf des gesamten 15. Jahrhunderts stets präsent: 24 Prozent aller dort tätigen Drucker waren Deutsche.21 Sie bildeten damit nach den Franzosen, die 67 Prozent am Gesamtanteil der Drucker ausmachten, die zweitwichtigste Gruppe von Druckern in diesem Raum.22 Insgesamt lassen sich in 14 der knapp über 40 französischen Städte, die bis 1500 eine Druckerei besaßen, deutsche Drucker nachweisen. In den meisten dieser Städte traten sie als Pioniere auf, da deutsche Drucker in elf dieser 14 französischen Städte und somit in fast einem Drittel aller Städte des französischsprachigen Raums erstmals den Buchdruck einführten.23 Es ist wohl nicht übertrieben zu sagen: Deutsche Erstdrucker nahmen für den französischsprachigen Raum eine exzeptionelle, wegbereitende Stellung ein.24

Die vorliegende Arbeit befasst sich jedoch nicht allgemein mit Erstdruckern, der Einführung des Buchdrucks im gesamten französischsprachigen Raum oder mit allen dort tätigen deutschen Druckern. Sie fokussiert sich vielmehr auf deutsche Erstdrucker25 und die von ihnen vorgenommene erstmalige Einführung des Buchdrucks im französischsprachigen Raum bis zum Jahr 1500, denn diese pionierhafte Tätigkeit der Einführung und Verbreitung des Buchdrucks erstreckt über die gesamte Inkunabelzeit.

Gerade die Analyse dieser Druckereien ermöglicht es beispielhaft, den Medienwechsel von der Handschrift zum gedruckten Buch und damit die Frühgeschichte der liminalen Phase von non-typographischen zu typographischen Gesellschaften nachzuvollziehen.26 Anhand der deutschen Erstdrucker lässt sich nicht nur deren Beitrag für die Ausbreitung des Buchdrucks in seiner Anfangsphase ablesen. Es werden ebenso die Besonderheiten des Ausbreitungs- und Rezeptionsprozesses deutlich. Zudem können die Verflechtungen zwischen den deutschen Erstdruckern, Druckern im Reich sowie in Frankreich näher bestimmt werden. Auch wird die Entstehungsgeschichte der einzelnen Druckereien in den jeweiligen Städten dargelegt. Die deutschen Erstdrucker reflektieren zusammengenommen wesentliche Phänomene und Herausforderungen, die das Druckwesen im gesamten französischsprachigen Raum sowie zum Teil sogar der gesamten Inkunabelzeit charakterisieren.

Im Zentrum der Untersuchung stehen daher elf Städte, in denen insgesamt zehn Deutsche den Buchdruck einführten.27 In chronologischer Reihenfolge werden folgende Druckereien und ihre Erstdrucker behandelt: Paris (Guillaume Fichet und Johannes Heynlin von Stein, 1470), Toulouse (Johann Parix und Heinrich Turner, um 1476), Genf (Adam Steinschaber, 1478), Vienne (Johann Schilling (Solidi), um 1478), Rougemont (Heinrich Wirczburg, 1481), Moûtiers (Johann Walther, 1486), Besançon, Dole und Dijon (Peter Metlinger, 1487/88, 1490 und um 1491), Cluny und Mâcon (Michael Wenssler, 1492/93 und 1493).28 Deutsche Erstdrucker – dies führt allein schon diese Auflistung vor Augen – ließen sich, abgesehen von Paris, vorwiegend nicht in Metropolen nieder, sondern installierten ihre Pressen in kleineren Städten (Karte im Anhang).

Betrachtet man die geographische Lage dieser Städte, so lässt sich eine Konzentration im Südosten des französischsprachigen Raums erkennen. Dennoch ergibt sich kein einheitliches Bild. Nicht nur das urbane Umfeld differierte erheblich – die Größe der Städte, die politische oder wirtschaftliche Situation –, auch die Druckereien unterschieden sich deutlich, etwa hinsichtlich der Anzahl der produzierten Bücher oder hinsichtlich ihrer Einbettung in soziale Räume. Diese Räume werden in dieser Arbeit in drei Kategorien strukturiert, nämlich den universitären, den städtischen und den monastischen Raum.

Einzelne dieser Erstdrucker hatten bereits Erfahrungen als Drucker, bevor sie in Frankreich tätig wurden, andere begannen erst dort mit ihrer Laufbahn. Doch alle hier vorgestellten deutschen Drucker kommen aus dem deutschsprachigen Raum des spätmittelalterlichen Europas, das heißt aus dem Heiligen Römischen Reich. Entscheidend für diese Untersuchung ist ihre Herkunft aus dem Reich, da die Nationenzugehörigkeit als grundlegende Kategorie für die Auswahl der untersuchten Drucker dient und worauf das Adjektiv »deutsch« im Titel der Arbeit hinweist. Ob sie ihre Drucktätigkeit erstmalig im Ausland aufnahmen oder bereits im Reich druckten, spielt hingegen für ihre Auswahl keine Rolle.

Mit ihrem Thema knüpft die Arbeit an eine seit den 2000er-Jahren zu beobachtende forschungsgeschichtliche Konjunktur an, die Rolle von Deutschen in einem konkreten, abgegrenzten Raum im Spätmittelalter zu untersuchen. So liegen beispielsweise Untersuchungen zu Deutschen in Italien,29 Skandinavien,30 Spanien,31 Osteuropa,32 Nordwesteuropa33 und sogar Frankreich34 vor. Auch buchhistorische Beiträge finden sich in dieser Reihe von Publikationen.35 Einen solchen Ansatz verfolgt zum Beispiel Helga Jeanblanc in ihrer Monographie Des Allemands dans l’industrie et le commerce du livre àParis aus dem Jahr 1994,36 die den Stellenwert der Deutschen im Pariser Buchwesen in der Zeit von 1811 bis 1870 untersucht. Jüngst nimmt diese Perspektive erneut für die Epoche der Frühen Neuzeit die im Jahr 2015 erschienene Monographie Deutsche Drucker und Buchhändler in London 1680–1811 aus der Feder von Graham Jefcoate ein,37 bei der sich der Autor in einer Langzeitperspektive auf eine einzige Stadt konzentriert.

Die hier betrachteten deutschen Drucker hinterließen kaum Selbstzeugnisse, aber sie nahmen mehrfach im Kolophon der von ihnen gedruckten Werke auf ihre Herkunft Bezug. Darin konnten sie sich explizit als Deutsche ausweisen und den Kolophon somit als Fläche zur Mitteilung über ihre Nationalität nutzen.38 Für ihr Selbstverständnis war dies offenbar von hoher Relevanz. Durch diese Markierung, die neben der gleichsam neutralen Information des Herkommens stets auch ein Element der bewussten Unterscheidung beinhaltete, vermengten sich bei den deutschen Erstdruckern auch Elemente von durchaus reflektierter Fremdheit, inszeniertem Selbstbild und (gebrochener) Identität. Mit dem Verweis auf die eigene Biographie konnte das gedruckte Buch so zu einem besonderen Raum metatextueller39 Reflexionen werden. Diesen metatextuellen Ausführungen, die bisweilen kurz und knapp, bisweilen aber auch erstaunlich umfangreich ausfallen, möchte sich diese Untersuchung explizit widmen und sie in materialitätsgeschichtlicher Hinsicht auswerten.40

Zusammenfassend ist festzuhalten: Am Beispiel der deutschen Erstdrucker lassen sich differenzierte Einsichten in die Anfänge des Buchdrucks im französischsprachigen Raum gewinnen, deren Beziehungen zur spätmittelalterlichen Schriftlichkeit nachzeichnen sowie die Medien Handschrift und gedrucktes Buch in ein Verhältnis stellen.

2.2       Zur politischen Situation Frankreichs im 15. Jahrhundert

Selbst wenn Hagen Schulze in seiner vor rund 25 Jahren erschienenen Monographie Staat und Nation in der europäischen Geschichte konstatieren muss, Europa sei »immer noch ein unentdeckter Kontinent«,41 so attestiert er Frankreich dennoch ausdrücklich, es habe »im Verlauf des Hundertjährigen Krieges einen beträchtlichen Schritt hin zur Entdeckung einer eigenen, nationalen Identität«42 getan. Deutlicher noch als Schulze stellt Ernst Hinrichs fest, die Geschichte Frankreichs zeichne sich »bei allen Verwerfungen durch besondere Kontinuität und Einheitlichkeit aus.«43 Für beide Autoren spielt der Hundertjährige Krieg bei dem, was gemeint sein könnte, wenn man von »Frankreich« spricht, eine zentrale Rolle. In ihm habe, so urteilt Heribert Müller, die Königsnation Frankreich ihre »Fundierung«44 erfahren. Wie auch immer man den Akzent bei der Bewertung des Hundertjährigen Kriegs im Übergang vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit legt45 – ob man ihn als wichtigen Schritt zur nationalen Identität oder als Fundierung der Nation bezeichnet – so gilt jedenfalls: Das Ende des Hundertjährigen Kriegs im Jahr 1453 bedeutete keine Festlegung der politischen Grenzen Frankreichs.46 Vielmehr dauerten die Auseinandersetzungen um Territorien und die Grenzziehung etwa durch den Konflikt zwischen dem Königreich Frankreich und Burgund weiter an.47 Politische Grenzen und sprachliche Grenzen waren bei diesen Prozessen nicht zwangsläufig deckungsgleich. Die Arbeit zu den deutschen Erstdruckern im französischsprachigen Raum möchte die Unsicherheit politischer Grenzen aushalten48 und legt als entscheidendes Kriterium für den Untersuchungsraum die französische Sprache zugrunde – unabhängig davon, unter welcher politischen Herrschaft die einzelnen zu untersuchenden Städte standen.49

Mit der Einverleibung des Herzogtums Lothringen durch Karl den Kühnen im Jahr 1475 erlebte Burgund50 zwar den Höhepunkt seiner räumlichen Ausdehnung, doch konnte Karl diesen territorialen Zugewinn nur kurzzeitig halten. Er verlor das neu in Besitz genommene Gebiet schon 1476 wieder und starb 1477 in den Kämpfen um die Rückeroberung vor Nancy. Mit seinem Tod fanden das von Philipp II. dem Kühnen 1363 begründete Burgund der Valois-Herzöge und ihre Herrschaft ein Ende.51 Noch vor der Heirat Marias von Burgund, der Tochter Karls des Kühnen, mit Maximilian I. von Habsburg am 19. August 1477 besetzte der französische König Ludwig XI.52 Gebiete, die vormals zu Burgund gehörten, wie das Herzogtum Burgund und das Mâconnais.53 Diese Inbesitznahme markierte den Beginn des Kriegs zwischen Ludwig XI. und Maximilian I. um das burgundische Erbe Karls des Kühnen, den sogenannten Burgundischen Erbfolgekrieg.

Auch beim Heiligen Römischen Reich fielen zu der Zeit Sprach- und Reichsgrenzen auseinander. Unter der Herrschaft Friedrichs III. und nachfolgend unter seinem Sohn Maximilian I. vereinte das Reich zwar mehrere Territorien, doch war es von inneren und äußeren Konflikten geprägt. Hierzu zählen die Auseinandersetzungen zwischen Friedrich III. und seinem Bruder Albrecht VI. sowie zwischen Friedrich III. und Matthias Corvinus, die eminente Gefahr durch die Türken, Konflikte infolge der sogenannten Baumkircherfehde, der Krieg mit den Eidgenossen und der erwähnte Burgundische Erbfolgekrieg. So war das Reich ähnlich wie Frankreich keineswegs von einer territorialen, politischen oder sprachlichen Einheit geprägt. Gleichzeitig war das Reich durch die Konzilien von Konstanz und Basel Austragungsort mehrerer großer politischer Ereignisse, die für die politischen Machthaber sowie das Papsttum wegweisend waren. Ebenso charakterisierten zahlreiche gesellschaftliche Entwicklungen das Reich im 15. Jahrhundert. Zudem gewannen die Städte als zentrale Orte der Mehrsprachigkeit, des Handels und der politischen Öffentlichkeit an Bedeutung. Eine besondere wirtschaftliche Durchschlagskraft erreichten diejenigen Städte, in denen Messen abgehalten wurden, wie etwa Nürnberg oder Frankfurt am Main. Zuletzt ging auch kulturgeschichtlich vom Reich ein entscheidender Impuls aus, zum einen durch die noch im Spätmittelalter gegründeten Universitäten wie Basel, Freiburg im Breisgau, Greifswald, Heidelberg, Köln oder Leipzig. Sie ergänzten die schon in anderen europäischen Ländern bestehende universitäre Landschaft um wichtige weitere Standorte. Die Universitäten avancierten zwar zum elitären Ausbildungsweg, blieben jedoch nicht allein ein Ort der gelehrten Welt. Vielmehr wirkten sie entscheidend auf die Gesellschaft zurück und standen im Austausch mit anderen gesellschaftlichen Bereichen. Zum anderen ist als zweiter kulturgeschichtlicher Impuls von grundlegender Tragkraft, der vom Reich ausging, die Erfindung des Buchdrucks zu nennen, dessen Ausbreitung vom Reich in den französischsprachigen Raum mittels deutscher Erstdrucker im Zentrum dieser Untersuchung steht.

Bei der militärischen Auseinandersetzung zwischen Frankreich und dem Reich im Zuge des Burgundischen Erbfolgekriegs markierte der 1482 geschlossene Vertrag von Arras eine wichtige Station.54 Ihm zufolge fiel unter anderem das Herzogtum Burgund an Frankreich. Die Freigrafschaft Burgund sowie die Grafschaft Artois sollten erst mit der geplanten Heirat von Karl VIII., seit dem Tod Ludwigs XI. im Jahr 1483 dessen Nachfolger, mit Margarete von Österreich, der Tochter Maximilians I. und Marias von Burgund, zu Frankreich gehören, da Margarete diese Gebiete als Mitgift in die Ehe einbringen sollte. Statt Margaretes ehelichte Karl jedoch Anne de Bretagne, die zuvor mit Maximilian verheiratet gewesen war, sodass Karl die Aussicht auf diese Gebiete wieder verlor und sie 1493 nach dem Vertrag von Senlis zurückgeben musste.

Mit diesem Vertrag fand der Krieg zwischen dem Heiligen Römischen Reich und dem Königreich Frankreich ein Ende. Er besiegelte die politische Teilung Burgunds: Während das Herzogtum Burgund dem Königreich Frankreich zugesprochen wurde, sollten die Freigrafschaft Burgund, die Grafschaften Artois, Flandern, Charolais sowie die übrigen niederländischen Provinzen den Habsburgern gehören. Dieser politische Akt legte den Grundstein für die Ausbildung der drei distinkten Herrschaftsräume Frankreich, Deutschland und der künftigen Niederlande. Ende des 15. Jahrhundert entstand mithin eine wieder erstarkte französische Königsnation: Sie hatte Verwaltung, Justiz und Finanzwesen ausgebaut, zu einer neuen territorialen Einheit gefunden und spielte auf der europäischen Bühne der großen Führungsmächte mit.

Das Herzogtum Burgund selbst besaß im 15. Jahrhundert vier Orte mit Druckereien: Chablis, Cluny, Dijon und Mâcon. Die letzten drei Städte stellt die Arbeit vor:55 In Dijon führte ab 1491 Peter Metlinger erstmalig den Buchdruck ein. In den Städten Cluny und Mâcon druckte der deutsche Erstdrucker Michael Wenssler ebenfalls Anfang der 1490er-Jahre. Die Einführung des Buchdrucks in den Städten im Herzogtum Burgund fällt in eine Zeit, in der sich die entsprechenden Städte bereits unter französischer Herrschaft befanden.56 Die Ausbreitung des Buchdrucks vom Reich aus in den französischsprachigen Raum erweiterte daher den Kultur- und Handelsaustausch auf der Nord-Süd-Achse um eine Ost-West-Bewegung. Diese Bewegung verschob sich Ende des 15. Jahrhunderts unter dem französischen König Karl VIII. und erfuhr eine neue Orientierung weg vom Reich und hin zum Austausch mit Italien.

Neben den Städten im Herzogtum Burgund berücksichtigt diese Untersuchung auch diejenigen der Freigrafschaft Burgund. Die einzigen Städte der Freigrafschaft, die im 15. Jahrhundert über eine eigene Druckerei verfügten, waren Besançon, Dole und Salins. Diese Studie wird Besançon und Dole detailliert analysieren, in beiden Städten war der deutsche Drucker Metlinger tätig. Vor seinem Aufenthalt in Dijon errichtete Metlinger 1487 eine Druckerei in Besançon und 1490 eine in Dole.57 Zur Zeit der erstmaligen Einführung des Buchdrucks in Besançon und Dole war die Freigrafschaft noch Gegenstand politischer Auseinandersetzungen. So sind diese Städte zugleich ein Beispiel für die zunehmende Durchsetzung und Ausbreitung des Buchdrucks trotz widriger politischer Umstände.

2.3       Sprache, Raum und Zeit

Als grundlegendes Kriterium für die Bestimmung des Untersuchungsraums legt die Studie die französische Sprache zugrunde und folgt damit aktuellen Forschungsarbeiten. Hier ist zum Beispiel der von Andrew Pettegree und Malcolm Walsby verantwortete Druckkatalog French Books. Books Published in France before 1601 in Latin and Languages other than French zu nennen.58 Er gehört zu einem insgesamt vierbändigen Kompendium zur französischen Druckgeschichte des 15. und 16. Jahrhunderts,59 an dem neben Pettegree und Walsby auch Alexander Wilkinson60 mitarbeitete.

Pettegree und Walsby machen die französische Sprache zum entscheidenden Kriterium für ihre Untersuchung61 und legen dabei ein breites Verständnis von dem »Druck«, der Volkssprache62 sowie dem französischen Raum zugrunde. Nicht ein politisches Kriterium bestimmt die Grenze ihres Untersuchungsraums, sondern Französisch als dominierende Sprache. Pettegree und Walsby begründen ihre Entscheidung mit dem Argument, dass die von ihnen betrachteten Regionen, die zwar zum Teil zunächst nicht zum französischen Königreich gehörten, in kultureller Hinsicht jedoch unter französischer Einflussnahme standen. Schließlich würden andere Druckkataloge diese Regionen vernachlässigen,63 sodass Pettegree und Walsby implizit beanspruchen, als Erste einen umfassenderen Blick auf den französischen Sprachraum geworfen zu haben. Im Rahmen ihrer Betrachtung schließen sie sowohl die Regionen der Bretagne, der Freigrafschaft Burgund, der Lorraine und der Provinz Béarn als auch die 1552 Frankreich zugewiesenen Bischofssitze in Verdun, Toul und Metz mit ein.64 Auch die vorliegende Untersuchung macht die französische Sprache zum entscheidenden Kriterium für den Untersuchungsraum und entspricht mit diesem Vorgehen grundlegenden Forschungsansätzen.

Mit vier Bänden erstellten Pettegree und Walsby einen sehr ausführlichen und den aktuellsten Katalog zur Druckgeschichte Frankreichs im 15. und 16. Jahrhundert. Ihrem breiten Raumverständnis schließt sich diese Arbeit weitgehend an. In einem Punkt weicht sie aber von Pettegrees und Walsbys Konzeption ab, indem sie sie um das Gebiet der heutigen französischsprachigen Schweiz erweitert. Pettegrees und Walsbys Kriterium der französischen Sprache65 trifft auf dieses Gebiet ebenfalls zu, weshalb auch die Städte Genf und Rougemont Eingang in diese Untersuchung finden.66

Ein solches Vorgehen ist forschungsgeschichtlich nicht ungewöhnlich, berücksichtigen doch auch andere Arbeiten zum französischen Druckwesen im 15. Jahrhundert wie der BMC67 und Geldner68 neben dem Königreich Frankreich das Gebiet der heutigen französischsprachigen Schweiz. Trotz der differenten politischen Zuordnung verbindet sie mit den anderen hier untersuchten Städten die französische Sprache. Der Blick nach Genf, wo der aus dem Reich stammende Adam Steinschaber wirkte, ist darüber hinaus auch deshalb besonders aufschlussreich, weil sich dort ein in den übrigen Städten nicht in dieser Form erkennbarer Aufschwung der Druckproduktion in französischer Volkssprache beobachtet lässt. In Genf fällt die Produktion französischsprachiger Texte höher aus als in jeder anderen hier untersuchten Stadt und auch als in der Mehrzahl aller Städte im gesamten französischsprachigen Raum. Mit diesem hohen Anteil der volkssprachlichen Produktion nimmt Genf im Gesamtensemble der untersuchten Städte eine außergewöhnliche Stellung ein, die es als Vergleichspunkt zu betrachten lohnt.

In der Stadt Rougemont führte der Deutsche Heinrich Wirczburg 1481 den Buchdruck erstmals ein, nachdem er zuvor mit dem Erstdrucker von Genf zusammengearbeitet hatte. Wirczburg druckte dort nur ein einziges Werk, den Fasciculus temporum von Werner Rolevinck. Nicht allein seine Verbindung zu Genf, sondern auch die herausgehobene Stellung des von ihm gedruckten Werks und dessen beeindruckende Druckgeschichte legitimieren die Einbeziehung von Rougemont zusätzlich.

Das Vorgehen, die französische Sprache zum grundlegenden Kriterium zu machen, ermöglicht es, einen größeren Untersuchungsraum zu betrachten. Der französischsprachige Raum bedeutet im Rahmen dieser Studie das Königreich Frankreich in seinen politischen Grenzen einschließlich des Herzogtums Burgund und der Freigrafschaft Burgund sowie das französischsprachige Gebiet der heutigen Schweiz. Demzufolge behandelt sie auch die Städte Besançon, Dole, Dijon, Mâcon und Cluny sowie Genf und Rougemont. Die Studie kann daher deutsche Erstdrucker in einem sehr umfassenden Raum miteinander vergleichen und erstmalig in Bezug zueinander setzen.

In zeitlicher Hinsicht konzentriert sich die Untersuchung auf deutsche Erstdrucker bis zum Jahr 1500. Dies hat vor allem einen sachlichen Grund. Aus dem Ensemble der hier untersuchten Erstdrucker lässt sich keiner nachweisen, der über die Jahrhundertgrenze hinaus tätig war. Wenn auch die Präsenz deutscher (Erst-)Drucker mit dem Jahr 1500 nicht endgültig endete, markierte dieses Jahr doch einen Abschluss der ersten Druckergeneration. An diesem Abschluss orientiert, behandelt die Untersuchung nur deutsche Erstdrucker im 15. Jahrhundert.

2.4       Quellen und Findmittel

Die Untersuchung verfolgt das Ziel, die historische Entwicklung der einzelnen Pressen nachzuzeichnen und die neue Präsenz des gedruckten Buchs, ausgelöst durch eine eigene städtische Druckerei, zu erläutern. Infolgedessen sind zwei Gruppen von Quellen Grundlage dieser Arbeit.

Die erste und wichtigste Gruppe sind die von den Druckern selbst hergestellten Werke. Ihre Anzahl beläuft sich auf rund 110 heute noch überlieferte Ausgaben aus der Zeit von 1470 bis 1500 – von Raritäten, die nur in einem Exemplar überliefert sind, bis hin zu »Bestsellern« des 15. Jahrhunderts. Auf die aktuelle Überlieferung der einzelnen Ausgaben wird in den einzelnen Kapiteln hingewiesen. Diese Arbeit nimmt eine an der Materialität der Texte orientierte Analyse vor.69 Sie möchte sich den Pressen und ihren Druckausgaben aus materialitäts- und druckgeschichtlicher Perspektive nähern. Diese gedruckten Ausgaben übermitteln in mehrfacher Hinsicht umfangreiche, materialitätsgeschichtlich wertvolle Informationen. Hierzu zählen die Schriftart, die Sprache, der Beschreibstoff sowie die Ausstattung und der Umfang der Werke. Diese materialen Eigenschaften zeigen, in welcher Weise die Drucker in der Lage waren, das potenzielle Käuferpublikum vor Ort zu erkennen. Ferner helfen sie beispielsweise zu präzisieren, an welchen Rezipientenkreis sich die Drucker wandten. Darüber hinaus wird bei der Auswertung der Druckprogramme deutlich, in welcher Hinsicht die Drucker auf weithin bekannte Texte zurückgriffen, ob sie Erstausgaben vorlegten oder welche Mittel sie wählten, um ihre Texte auf dem Buchmarkt zu platzieren.

Kolophone, Begleitschreiben und sonstige Paratexte können darüber Auskunft geben, welche Rezipienten angesprochen werden sollten, welche Anreize zum Erwerb der Werke gegeben wurden, zu welchem Zeitpunkt und in welchem Raum die Werke rezipiert werden sollten. Sie können zum Teil sogar darüber informieren, ob es sich um ein Werk handelt, das bereits seit längerer Zeit auf dem Buchmarkt war oder ob es eine Erstausgabe darstellt. So ist es unmittelbar einsichtig, dass sich beispielsweise das mit 308 Holzschnitten ausgestattete und in der Volkssprache verfasste Kräuter- und Pflanzenbuch Arbolayre aus der Presse von Peter Metlinger in Besançon an ein anderes Publikum richtete als das lateinische Brevier für die Klostergemeinschaft Cluny, das Michael Wenssler in Cluny selbst herstellte.

Eine so ausgerichtete Frage nach den Rezipienten des gedruckten Buchs geht über klassisch provenienzgeschichtliche Fragestellungen wie »Welche Personen erwarben ein Exemplar?« hinaus.70 Mit dem Aufkommen des Buchdrucks, der Vielzahl der Exemplare einer Ausgabe und der Entstehung eines sich an einen im Kern anonymen Leserkreis wendenden Buchmarkts stellt sich grundsätzlich die Frage nach den Rezipienten vollkommen neu und die Ermittlung der historischen Rezeptionspraxis wird erheblich komplexer. Der Buchdruck hob den unikalen Charakter des Texts, der noch für die Handschrift galt, auf und sorgte mit einer Erhöhung der Auflagenzahl für eine größere Verfügbarkeit des Texts. Auf diese Weise erreichten die Texte im Vergleich zu Handschriften in der Regel auch eine höhere Zahl an Rezipienten. Aufgrund dessen soll hier in Einzelfällen geklärt werden, in welcher Weise und von wem die Texte rezipiert wurden.

Grundlage zur Erfassung der Inkunabeln sind die drei derzeit wichtigsten und umfassendsten Inkunabel- und Druckkataloge: der Gesamtkatalog der Wiegendrucke (GW),71 der Incunabula Short Title Catalogue (ISTC)72 und der The UniversalShort Title Catalogue (USTC).73 Obgleich alle drei noch nicht abgeschlossen sind, bieten sie derzeit den besten und einen nahezu vollständigen Überblick über alle jemals produzierten Inkunabelausgaben und können sie als umfassendsten und genauesten Inkunabelverzeichnisse gelten.74 Ihre Ergebnisse ergänzen sich komplementär, weshalb diese Untersuchung alle drei Datenbanken für die bibliographische Erfassung der von deutschen Erstdruckern im französischsprachigen Raum produzierten Texte konsultiert. Neben GW, ISTC und USTC wird zusätzlich auf den FB, einen vierbändigen Katalog zum französischen Druckwesen des 15. und 16. Jahrhunderts, verwiesen.75

Neben den gedruckten Büchern als Hauptquellen werden weitere zusätzliche Quellen hinzugezogen wie Korrespondenzen, Urkunden oder Universitätsmatrikel. Sechs der deutschen Erstdrucker im französischsprachigen Raum (Heynlin von Stein, Metlinger, Schilling, Turner, Walther und Wenssler) stammten aus Basel, studierten dort oder lebten kurzzeitig in dieser Stadt, sodass sie in unterschiedlichen Quellen (Universitätsmatrikel, Gerichtsakten, Prozessberichte etc.) Spuren hinterließen. Diese Quellen76 berücksichtigt diese Arbeit ebenso und kann auf ihrer Grundlage ein vollständigeres Bild der Biographie und Tätigkeit der Drucker zeichnen.

Allerdings liegen solche Quellen nicht für jeden Drucker vor. Nicht nur das verschieden einflussreiche Wirken jedes Druckers und die differente Anzahl der produzierten Titel, sondern auch die unterschiedliche Überlieferung weiterer Quellen bedingen ein ungleiches Bild.77 Zwei kurz vorgestellte Beispiele sollen die Spannbreite dieser Quellen dokumentieren.

So steht für die Pariser Presse ein vielfältiges Corpus von Widmungsbriefen zur Verfügung, die aus der Hand der Begründer der Presse Heynlin von Stein und Fichet stammen. Mit den Briefen griff die Presse bewusst Formen des humanistischen Habitus auf wie die Integration von – zum Teil sogar handschriftlichen – individuellen Briefen oder die Abgrenzung gegenüber der ,barbarischen‹ Unkenntnis klassischer Latinität. Mit dieser Praxis positionierten sich die Drucker bewusst im Kontext des Humanismus. Aufgrund der Quellenlage sowie ihrer Organisation nimmt die Pariser Druckerei eine Sonderstellung ein (Kap. 3). Keine andere der hier untersuchten Pressen weist ein vergleichbares Vorgehen oder ein ähnlich reiches Quellencorpus von Widmungsbriefen auf.

Für den Drucker Peter Metlinger hingegen liegt eine andere Überlieferungslage vor. Vor seiner Tätigkeit als Buchdrucker arbeitete er als Buchhändler für Johann Amerbach, der in Basel eine Presse betrieb, und stand mit ihm in brieflichem Kontakt. Die Edition der Amerbachkorrespondenz liegt heute in elf Bänden vor. Im ersten Band ist ein Brief von Metlinger an Amerbach erhalten, der Metlingers buchhändlerische Tätigkeit belegt und Einblicke in finanzielle und wirtschaftliche Transaktionen gibt.78 Dadurch ergibt sich für Metlinger ein Panorama aus mehreren Quellen (den Inkunabeln, der Amerbachkorrespondenz und den Immatrikulationslisten der Universitäten Basel, Wien und Freiburg, in denen er nachzuweisen ist), die seine Tätigkeit vor und während seiner Zeit als Buchdrucker und seine zahlreichen Kontakte zu anderen Akteuren des Buch- und Druckwesens belegen.

Bedingt durch die uneinheitliche Quellenlage bei den einzelnen Druckern und ihre ungleiche Produktivität setzt die Arbeit in den Kapiteln unterschiedliche Schwerpunkte. So stehen in manchen Kapiteln vor allem die einzelnen Texte und ihre Druckgeschichte im Vordergrund (beispielsweise bei Adam Steinschaber in Genf oder bei Peter Metlinger in Besançon), in anderen zusätzliche Quellen (beispielsweise bei Michael Wenssler in Cluny) oder auch die Metatexte der Ausgaben (beispielsweise bei Heinrich Wirczburg in Rougemont).

2.5       Deutsch-französischer Forschungskontext

Anliegen der folgenden Darlegung ist es nicht, die Forschungsgeschichte zu jedem einzelnen Drucker nachzuzeichnen und die bisherigen (Spezial-)Untersuchungen vorzustellen. Stattdessen ist es das Ziel, insbesondere einen Überblick über allgemeine Charakteristika des deutschen und des französischen Forschungskontexts zu geben. Zu diesem Zweck wird zunächst die Forschungsrichtung der Histoire du livre vorgestellt, in die sich diese Arbeit einordnen möchte. Anschließend werden allgemeine buchhistorische Überblickswerke und Gesamtdarstellungen aufgeführt, unter die auch Lexika und grundlegende Werke zur Typographie des 15. Jahrhunderts fallen. Zum Forschungsfeld gehören ebenso Monographien von deutscher und französischer Seite zu einzelnen Druckern, Druckereien oder Städten. Die vorliegende Arbeit lässt sich als Teil dieser Forschungsrichtung begreifen, selbst wenn sie nicht einen einzigen Drucker oder eine ausgewählte Stadt oder Region analysiert, sondern eine ganze Reihe von Städten, ihre Erstdrucker und ihre Druckprogramme in den Mittelpunkt rückt. Die bislang ausgearbeiteten Monographien bilden aber in jedem Fall einen methodischen Hintergrund für diese Untersuchung. Zuletzt wird der aktuelle Forschungsstand über die Druckereien in den Städten referiert, mit denen sich diese Arbeit konkret auseinandersetzt. Es wird sich zeigen, dass die hier behandelten Pressen bislang nicht gleichermaßen das Interesse der Forschung wecken konnten. Vielmehr standen gerade die größeren Städte mit einer größeren Druckproduktion im Fokus der Forschung. Daher erfolgt nun auch eine Würdigung weniger bekannter deutscher Drucker in der französischen Druckgeschichte.

Forschungsgeschichtlich knüpft diese Arbeit an die ab Ende der 1950er-Jahre von Henri-Jean Martin79 etablierte Forschungsrichtung der Histoire du livre an, in deren Tradition sie sich einreihen möchte. In ihren Ursprüngen von Lucien Febvre und Henri-Jean Martin mit dem im Jahr 1958 erschienenen Buch L’apparition du livre80 entwickelt, erlebte die Histoire du livre seitdem einen großen Aufschwung. Aufgrund von Febvres Engagement als Mitbegründer der Annales-Schule gemeinsam mit Marc Bloch stand auch der Beginn der Histoire du livre im Zusammenhang mit Grundannahmen dieser spezifisch französischen, geschichtswissenschaftlichen Praxis. Von einer bloß beschreibenden Geschichte des Buchdrucks unterscheidet sich die Histoire du livre dahingehend, dass sie die Untersuchungsperspektive um die Ebene der Wirtschafts- und Sozialgeschichte erweiterte.81 Die ursprüngliche Idee zur Monographie L’apparition du livre stammte 1923 von Lucien Febvre, der Henri-Jean Martin, den damaligen Bibliothekar im Magazin an der Bibliothèque nationale de France in Paris, für sein Projekt gewinnen konnte. Febvre befand, dass es zwar bereits Werke gebe, die die Geschichte des Buchs thematisierten, aber die Aspekte, die er in den Vordergrund stellen wollte wie die Geographie oder den Warencharakter des Buchs, hielt er für noch nicht ausreichend erforscht.82 Febvres Anliegen war es, das Aufkommen des gedruckten Buchs in allen seinen vielfältigen Facetten darzulegen und eine große Spannbreite der »Geschichten« des Buchs zu erläutern, die mit dem Buchdruck geschrieben wurden.83

Ausgehend vom Buchdruck präsentiert die Monographie sowohl das Buch als materiales Artefakt als auch den technischen Prozess der Produktion. Überdies berücksichtigt sie die Geographie und die Wirtschaftlichkeit, das wechselvolle Verhältnis von Text und Paratext sowie die kulturgeschichtliche Bedeutung des gedruckten Buchs. So eröffnet das Werk L’apparition du livre eine breite und vielseitige Gesamtschau der Umbruchzeit von der Handschriften- zur Druckkultur. Kultur-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte gehen Hand in Hand – ein Neuansatz, der sich nicht auf die Aufzählung von Titeln beschränkt84 und mit dem Febvre und Martin das Fundament der neu etablierten Disziplin der Histoire du livre legten.85

Da Febvre im Jahr 1956 verstarb, erlebte er die Publikation von L’apparition du livre nicht mehr. Martin beendete allein das gemeinsam begonnene Werk, das zwei Jahre später erschien. Einen großen Erfolg und seinen Aufstieg zum »Klassiker« konnte das Buch allerdings erst in den nachfolgenden Jahrzehnten durch zahlreiche Übersetzungen verbuchen.86

Im Verlauf der folgenden Jahrzehnte machte Martin die Buchgeschichte zu seinem maßgeblichen Forschungsgebiet.87 1962 wurde er zum Direktor der Bibliothèque municipale von Lyon berufen, ab 1963 hatte er den Lehrstuhl Histoire et civilisation du livre an der École pratique des hautes études inne und arbeitete ab 1970 als Professor für Bibliographie et histoire du livre an der École nationale des chartes88 – alle Stationen können als Indizien dafür dienen, dass sich die Disziplin Histoire du livre in Frankreich auch institutionell etabliert hatte. Doch nicht nur Martin selbst verschrieb sich in den folgenden Jahren der Histoire du livre, sondern er machte ein Forschungsfeld fruchtbar, das führende Forscher im In- und Ausland zur Bearbeitung anregte, ihm in wissenschaftlicher Hinsicht zu folgen.89 Zu seinen französischen Schülern gehörten die bedeutenden Buchhistoriker Roger Chartier und Frédéric Barbier, die aufgrund ihrer einschlägigen Studien kurz vorgestellt werden sollen. Martin als Begründer sowie nachfolgend Barbier und Chartier gehören zu den wichtigsten Repräsentanten der französischen Buchgeschichte.

Dass Roger Chartier seit 2007 den Lehrstuhl für Écrit et cultures dans l’Europe moderne am Collège de France in Paris innehat, zeigt nicht nur den Stellenwert seiner Forschungen, sondern auch die Bedeutung, die der Histoire du livre in Frankreich bis heute zukommt. Zwar beschäftigte sich Chartier auch mit der Französischen Revolution,90 der Geschichte91 des französischen Erziehungswesens92 oder der historischen Entwicklung der Privatsphäre,93 doch gilt sein vorrangiges Forschungsinteresse der europäischen Buchgeschichte in der Vormoderne. Seine Arbeiten unterscheiden sich von denjenigen anderer Buchhistoriker darin, dass er insbesondere die Lese- und Rezeptionsgeschichte, teilweise auch die Bibliotheksgeschichte als neues und wesentliches Element der Erforschung der Buchkultur in den Mittelpunkt stellt.94

Chartiers Arbeiten zeichnen sich auf der einen Seite durch ein breites buchgeschichtliches Forschungsinteresse (von Schrift-, über Druck- und Autor-95 bis hin zur Rezeptionsgeschichte96) aus, auf der anderen Seite dadurch, dass sie einen großen Zeitraum abdecken und einer »longue durée«-Betrachtung verpflichtet sind. In seinen Hauptwerken L’ordre des livres,97Culture écrite et société,98Inscrire et effacer99 und Lectures et lecteurs dans la France de l’Ancien Régime100 sowie in zahlreichen Aufsätzen zu spezifischen Themen der Buchgeschichte beschrieb und erforschte Chartier zentrale Aspekte einer umfassend verstandenen, kulturell geprägten und die Kultur prägenden buchgeschichtlichen Entwicklung. Daher besitzen diese Werke einen maßgeblichen Stellenwert für die internationale buchhistorische Forschung.

Als Schüler von Henri-Jean Martin hat Frédéric Barbier dessen Position als directeur d’études an der École pratique des hautes études in der Section des sciences historiques et philologiques inne. Er ist directeur de recherche am CNRS und seit 2005 Chefredakteur der Zeitschrift Histoire et civilisation du livre : revue internationale. Barbier gehört neben Chartier zu den derzeit wichtigsten buchhistorischen Forschern Frankreichs. Barbiers wissenschaftliche Laufbahn begann mit einer ganz in der Tradition seines Lehrers Martin stehenden Dissertation zum Thema Livre, économie et société industrielles en Allemagne et en France au 19èmesiècle (1840–1914).101 Der Schwerpunkt seiner Forschungen liegt auf der Buch- und Druckgeschichte vom Spätmittelalter bis zum 20. Jahrhundert sowie auf der Geschichte der Medien.102

Barbiers Arbeiten konzentrieren sich auf den französischen Raum, doch widmet er sich auch dem Buchwesen in Deutschland103 oder in den Niederlanden.104 Charakteristisch für seine Forschungen zum 15. Jahrhundert ist, dass er das gedruckte Buch stets im Zusammenhang mehrerer Entwicklungslinien betrachtet. In diese Stoßrichtung reihen sich mehrere seiner Arbeiten ein, beispielsweise seine Monographie L’Europe deGutenberg,105 in der er die Erfindung des Buchdrucks in umfassende Darlegungen zu den Voraussetzungen und Bedingungen der Erfindung wie dem handschriftlichen Buchwesen vor dem Buchdruck, dem Buchmarkt oder der Ausbreitung des Beschreibstoffs Papier einbettet. Anders als in L’Europe de Gutenberg stellt Barbier in einer mit Histoire du livre betitelten Monographie die Erfindung des Buchdrucks in eine Zusammenschau der Buchgeschichte von der Antike bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts.106 Aus dieser Perspektive erscheint die Erfindung des Buchdrucks als Teil einer größeren Gesamtentwicklung der Medien.107 Mit der Einordnung des Buchdrucks in einen größeren Kontext vollzog er eine Hinwendung zu einer mediengeschichtlich verstandenen, ausdrücklich sogenannten Histoire du livre. Insgesamt wird aber deutlich, wie präsent gerade in der französischen buchhistorischen Forschung die Gründerfiguren bleiben, auch wenn sich die Forschung internationalen Themen öffnet.

Mit den Monographien wie L’apparition du livre, L’Europe deGutenberg und L’ordre des livres sind bereits allgemeine buchhistorische Überblickswerke und Gesamtdarstellungen genannt.108 Deutsche (Erst-)Drucker finden Erwähnung in einer ganzen Reihe von Forschungsarbeiten dieser Art.109 Deutsche Erstdrucker sind in diesen Werken aber nur Teil einer anderen, größeren »Geschichte«, die vorrangig die Erfindung des Buchdrucks durch Gutenberg, ihren Ausbreitungsprozess und ihre Auswirkungen auf die mediale Kultur und die Produktion von Schriftlichkeit darlegen.

Zu dieser Art von Untersuchungen gehören ferner Arbeiten, die sich allein auf Frankreich konzentrieren. Sie entstanden bereits Ende des 19. Jahrhunderts wie etwa die Histoire de l’imprimerie en France au xveet au xviesiècle von Anatole Claudin110 oder Premiers monuments de l’imprimerie en France au xvesiècle von Olgar Thierry-Poux.111 Erläutert Claudin die historische Entwicklung einzelner Pressen in Frankreich, ihrer Drucker und ihrer Ausgaben, so konzentriert sich Thierry-Poux darauf, alle Ausgaben aus einer Stadt zu beschreiben und mit mindestens einer Abbildung zu illustrieren. Ein Beispiel aus jüngerer Zeit wäre Andrew Pettegrees Monographie über das französische Druckwesen im 16. Jahrhundert.112

Wenn hier die französische Forschungsgeschichte so ausführlich dargelegt wird, so soll zweifellos nicht übergangen werden, dass es auch Kooperationsprojekte zwischen der französischen und der deutschen buchhistorischen Forschung gibt.113 Dennoch verfolgen die deutsche und die französische Forschung jeweils eigene Ansätze. So ist der GW wie ausgeführt ein deutsches Projekt, während bibliographische Projekte ähnlicher Art und von ähnlicher internationaler Wirkung auf französischer Seite fehlen. Umgekehrt findet die französische Forschungsrichtung der Histoire du livre in ihrer Entwicklung und in ihrem Ansatz kein unmittelbares Pendant in der deutschen Forschungslandschaft. Sie war in ihren früheren Ausprägungen stark von der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte beeinflusst und wendet sich nun anderen Bereichen wie der Lesergeschichte zu. Außerdem ist die französische Forschung institutionell »prominenter« verankert als die deutsche.

Hinzukommt schließlich, dass der Ansatz der französischen buchhistorischen Forschung in der deutschen Forschungslandschaft nicht ausführlich rezipiert wird und eine intensive Auseinandersetzung der Forschungsrichtung des französischen Nachbarlands in Deutschland kaum stattzufinden scheint. Eine von deutscher Seite verfasste Arbeit, die die französische Buchgeschichte behandelt, hat sich daher zu den jeweiligen Forschungsrichtungen zu positionieren. Die genaue Darlegung der französischen Buchgeschichte kann auch zu einem forschungsgeschichtlich nationenübergreifenden Dialog beitragen.

Neben französischen Überblicksarbeiten sind aber auch einige aus dem deutschsprachigen Raum114 zu nennen, etwa diejenigen von Funke,115 Füssel,116 Geldner,117 Schmitz,118 Würgler119 oder Janzin und Güntner.120 Ebenso ließen sich in diesem Zusammenhang Untersuchungen aufzählen, die sich mit antiker Literatur und ihrer Überlieferung im Medium des gedruckten Buchs,121 der Einbandkunde122 oder mit der Schriftentwicklung im frühen Buchdruck123 befassen. In allen diesen Werken spielen die deutschen Erstdrucker nur am Rande eine Rolle.124

Auch in quantitativer Hinsicht setzt sich die buchhistorische Forschung mit der Übergangsphase von der Handschrift- zu der Druckkultur auseinander. Diesen Ansatz der quantitativen Auswertung verfolgt Uwe Neddermeyer mit seiner zweibändigen Habilitationsschrift Von der Handschrift zum gedruckten Buch,125 der darin für das 15. und 16. Jahrhundert das Verhältnis von Handschrift und Druck in Europa betrachtet. Mit der Fülle an ausgewerteten Daten betrat Neddermeyer Neuland in der deutschen buchhistorischen Forschung. Sein Vorgehen sucht bislang in dieser Intensität noch Nachfolger.

Zur Gruppe der buchgeschichtlichen Überblickswerke und Gesamtdarstellungen gehören auch Arbeiten, die sich explizit mit deutschen Erstdruckern beziehungsweise deutschen Druckern innerhalb und außerhalb des Reichs befassen. Sie zeichnen sich vielfach durch eine personengeschichtliche Blickrichtung auf ein Ensemble mehrerer Drucker und ihrer Druckereien aus. Diese Arbeiten benennen die biographischen Stationen der Drucker und die von ihnen gedruckten Werke. Am Anfang dieser biographisch-bibliographisch ausgerichteten Forschungsrichtung steht die Monographie Die deutschen Buchdrucker des XV. Jahrhunderts im Auslande des Bibliothekars Konrad Haebler.126 Haeblers frühe Monographie aus dem Jahr 1924 greift das Desiderat einer Gesamtabhandlung der deutschen Drucker im Ausland auf, stellt sie in einer chronologisch-geographischen Übersicht vor und präsentiert die einzelnen Drucker, ihre Biographien sowie die von ihnen gedruckten Werke.

Der Bibliothekar Ferdinand Geldner knüpfte mit seinem zweibändigen, ebenfalls chronologisch geordnetem Werk Die deutschen Inkunabeldrucker127 44 Jahre später an Haebler an. Im Unterschied zu Haebler befasste er sich nicht allein mit deutschen Druckern außerhalb ihrer Heimat (Band 2),128 sondern auch mit denjenigen im Heiligen Römischen Reich selbst (Band 1). Geldners entscheidendes Kriterium für seinen zweiten Band besteht in der Herkunft der Drucker aus dem Reich, nicht in der Tatsache, ob sie erstmalig den Buchdruck in einer ausländischen Stadt einführten.129 Haeblers und Geldners Untersuchungen präsentieren bis heute wichtige, aber nicht sehr ausführliche sowie zum Teil inzwischen veraltete Ergebnisse. Trotz ihrer Bemühungen kann das Thema der deutschen Drucker innerhalb und außerhalb des Reichs daher keineswegs als erschöpft gelten.

Die wichtigsten lexikalischen Nachschlagewerke130 in jüngster Zeit sind Hillers und Füssels Wörterbuch des Buches,131 das von Rautenberg herausgegebene Reclams Sachlexikon des Buches132 sowie insbesondere das Lexikon des gesamten Buchwesens, das neun Bände umfasst und 2016 fertiggestellt wurde.133 Seine französische Entsprechung findet das Lexikon des gesamten Buchwesens in dem dreibändigen und um einen vierten Indexband ergänzten Dictionnaire encyclopédique du livre, das unter der Herausgeberschaft von Pascal Fouché, Daniel Péchoin und Philippe Schuwer in den Jahren von 2002 bis 2011 erschien.134 In diesem Zusammenhang ist auch die vierbändige Histoire de l’édition française135 anzuführen, die Martin gemeinsam mit Chartier herausgab und die in den Jahren von 1983 bis 1986 erschien. Dieses Kompendium schrieb sich in eine Kulturgeschichte Frankreichs ein, konzeptionell lehnt es sich auf der einen Seite an bereits erschienene, umfassende Überblickswerke zu einzelnen Themen der französischen Geschichte wie die Histoire économique et sociale de la France136 oder die Histoire de la France urbaine137 an. Eine Histoire culturelle de la France sollte folgen.138 Auf der anderen Seite dienten Buchgeschichten anderer Nationen als Vorbild wie The Cambridge History of the Book in Britain,139A History of the Book in America140 oder History of the Book in Canada.141 Ihre Entsprechung fand die Histoire de l’édition française in der vierbändigen abermals von Pascal Fouché herausgegebenen Histoire des bibliothèques françaises.142 Als weiteres Nachschlagewerk ohne nationalen Bezug wurde neben den genannten deutschen und französischen auch eins von britischer Seite publiziert, das den Titel The Oxford Companion to the Book143 trägt.

Rein bibliographische Interessen verfolgten Severin Corsten und Reimar Walter Fuchs, die zwischen 1988 und 1993 das zweibändige Werk Buchdruck im fünfzehnten Jahrhundert144 herausgaben. Dieses Unterfangen blieb eine nahezu einmalige Initiative und fand erst fast 20 Jahre später, möglicherweise auch aufgrund der technologischen Entwicklung, eine Nachfolge. So bot in dem Zeitraum von 2006 bis Februar 2015 das digitale Wissenschaftsportal b2i für Buch-, Bibliotheks- und Informationswissenschaften145 umfangreiche bibliographische Recherchemöglichkeiten. Nach dem Auslaufen der Fördermittel blieben die Datensätze gespeichert, das Unternehmen selbst ohne Fortsetzung. Als Ersatz beziehungsweise informelle Fortsetzung kann die internationale im Brill-Verlag online erscheinende Bibliographie Book History Online gelten, die in Kooperation mit der University of St Andrews und der Society for the History of Authorship, Reading, and Publishing (SHARP) entsteht.146 Dieses Projekt ist allerdings noch nicht abgeschlossen und der Zugang zu ihm kostenpflichtig.

Eine Sonderstellung innerhalb der Gruppe Überblickswerke und Gesamtdarstellungen nehmen Haeblers Typenrepertorium der Wiegendrucke147 und die sogenannten GfT-Tafeln der Veröffentlichungen der Gesellschaft für Typenkunde des XV. Jahrhunderts148 ein. Anders als die bereits genannten Publikationen zeichnen sie weder die Anfänge der Entwicklung des Buchdrucks nach noch erfassen und beschreiben sie Inkunabelausgaben. Sie befassen sich stattdessen ausschließlich mit den Drucktypen der einzelnen Offizinen des 15. Jahrhunderts. Zusammengenommen stellen das Typenrepertorium der Wiegendrucke und die GfT-Tafeln ein wesentliches Werkzeug zur Typenbestimmung dar. Mit Haeblers Typenrepertorium auf der einen Seite und den GfT-Tafeln auf der anderen Seite wurde bereits Anfang des 20. Jahrhunderts eine bis heute angewandte Methode zur Zuweisung von Typen entwickelt. Das Inkunabelreferat der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz in Berlin digitalisierte Haeblers Repertorium sowie die GfT-Tafeln, machte sie in einer Datenbank zugänglich und ergänzte sie durch die Ergebnisse nachfolgender Forschungsarbeiten.149 Nach eigenen Angaben präsentiert die Datenbank »derzeit 13 289 Materialdatensätze. Davon entfallen 6 112 auf Drucktypen, 4 459 Initialen, 1 703 Rubrikzeichen, 691 Drucker- und Verlegermarken, 324 Titelholzschnitte u. ä.«150

Nach den eben genannten Überblickswerken, Gesamtdarstellungen inklusive Nachschlagewerken und Standardwerken zur Typographie müssen in diesem Forschungsbericht auch Monographien zu einzelnen Druckern, Druckereien oder Städten zur Sprache gebracht werden. Auf diesem Feld betätigte sich der bereits genannte französische Buchhistoriker Claudin und legte Monographien zur Entwicklung des Buchdrucks im 15. Jahrhundert zu einer ganzen Reihe von

Städten vor, so für Albi,151 Auch,152 Bordeaux,153 Poitiers154 oder Toulouse.155 Ein Beispiel für eine französische Studie aus jüngerer Zeit wäre Malcolm Walsbys Monographie zum Druckwesen in der Bretagne.156

Ähnlich wie für Frankreich lässt sich eine detaillierte Erforschung des Druckwesens einer einzelnen Stadt auch bis in die ältere deutsche Inkunabelforschung zurückverfolgen. So beschäftigte sich beispielsweise Ernst Voulliéme 1903 mit der Entstehung und Entwicklung des Druckwesens in Köln.157 An ihn knüpfte rund ein halbes Jahrhundert später Severin Corsten mit einer weiteren Monographie zur frühen Phase des Kölner Druckwesens an.158

In diese Forschungsrichtung reihte sich beispielsweise auch Geldner mit einer 1964 erschienenen Untersuchung zu Bamberg ein.159 Ebenso kann hierzu die sprachwissenschaftliche Dissertation von Ingrid Baumann-Zwirner gezählt werden.160 In jüngerer Zeit wurde dieser Ansatz etwa von Hans-Jörg Künast mit seiner 1997 erschienenen Dissertation zur Augsburger Druckkultur161 sowie von Pierre Louis van der Haegen mit einer Arbeit zur Frühzeit des Basler Buchdrucks weiterverfolgt.162

Im Gegensatz zu diesen Arbeiten über einzelne Städte fokussierten sich andere Untersuchungen auf einen einzelnen Drucker und werteten sein Druckprogramm aus. Zu dieser Gruppe gehört etwa die Doktorarbeit von Oliver Duntze, in der er sich nicht einer Stadt, sondern einer einzelnen Presse widmet, nämlich derjenigen des vor allem im 16. Jahrhundert wirkenden Straßburger Druckers Matthias Hupfuff.163 Auch die Monographie, ebenfalls eine Doktorarbeit, von Akihiko Fujii über den Augsburger Inkunabeldrucker Günther Zainer ist hier zu nennen.164 Jüngst wurden auch von kunsthistorischer Seite zwei Dissertationen vorgelegt, die sich fokussiert dem druckgraphischen Programm einer Offizin der Frühdruckzeit widmeten. So befasste sich Sabine Häussermann mit den illustrierten Inkunabeln aus der Presse von Albrecht Pfister in Bamberg,165 während Catarina Zimmermann-Homeyer die illustrierten Klassikerausgaben in lateinischer Sprache untersuchte, die in der Straßburger Presse von Johann Grüninger entstanden.166