Mathematik und Wirklichkeit - Von den Wurzeln der Mathematik zu einer Didaktik des Sachrechnens - Jörg Dieter - E-Book

Mathematik und Wirklichkeit - Von den Wurzeln der Mathematik zu einer Didaktik des Sachrechnens E-Book

Jörg Dieter

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  • Herausgeber: GRIN Verlag
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2002
Beschreibung

Examensarbeit aus dem Jahr 1998 im Fachbereich Didaktik - Mathematik, Note: 1,0, Pädagogische Hochschule Weingarten (Fakultät III), Sprache: Deutsch, Abstract: Im ersten Kapitel will ich mich zunächst der Frage zuwenden, was Mathematik eigentlich ist. Schaut man sich an, was Mathematiker und Wissenschaftstheoretiker zu dieser Frage zu sagen haben, so stellt man fest, daß ihre Ansichten zum Teil diametral entgegengesetzt sind. Manche sehen in der Mathematik eine Kunst, die höchste Blüte des menschlichen Geistes und wollen sie allein um des ästhetischen Genusses wegen betrieben sehen. Andere gestehen ihr nur deswegen eine Daseinsberechtigung zu, weil sie auf die Wirklichkeit anwendbar ist. [...] Im zweiten Kapitel werde ich mich mit dem Begriff der Wirklichkeit beschäftigen und versuchen aufzuzeigen, in welcher Beziehung er zur Mathematik steht. Dabei möchte ich auch auf die Bedeutung der Mathematik für die Lebenswirklichkeit der Schüler heute eingehen und die Frage erörtern, welche mathematischen Fähigkeiten sie benöti-gen, um in der heutigen Gesellschaft zu bestehen und welche Fähigkeiten die Gesell-schaft den Schülern abverlangen muß, um ihre eigene Existenz zu sichern. Im dritten Kapitel untersuche ich auf welche Weise Mathematik in diesem Jahrhundert in Deutschland unterrichtet wurde, in welcher Weise man dabei die angewandte Ma-thematik in den Unterricht integrierte und welche Probleme dabei auftraten. Ausge-hend von den Informationen die ich im Verlauf meiner Arbeit über die Mathematik, die Schüler mit ihren Bedürfnissen und den Mathematikunterricht gesammelt habe, werde ich schließlich Vorschläge zur Verbesserung der im Bildungs- und Lehrplan für die Realschulen in Baden-Württemberg fixierten Konzeption von Mathematikunter-richt machen. Ich hoffe, es ist mir mit meiner Arbeit gelungen, einen Überblick über Material zu ge-ben, das sich normalerweise über viele Bücher verteilt findet: Bücher über Mathema-tikdidaktik, Mathematikgeschichte, Philosophie der Mathematik, Wissenschaftstheo-rie, Soziologie und so fort. - Material, das in Büchern über die Didaktik und Methodik des Sachrechnens häufig auf wenigen Seiten abgehandelt oder gar nicht erwähnt wird, das mir aber dennoch für die Planung von Sachrechenunterricht relevant zu sein scheint. Möge diese Arbeit den Leser erfreuen und ihm, so er Lehrer ist, bei der Ges-taltung seines Unterrichts von Nutzen sein.

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Inhaltsverzeichnis
Kapitel
1.1 STREIT UM DAS WESEN DER MATHEMATIK
1.1.1 Mathematik als Unterrichtsgegenstand.
1.1.2 Erste Erkundungen.
1.2 DIE WURZELN DER MATHEMATIK.
1.2.1 Stochern im Nebel der Zeit
1.2.2 Zahlgefühl - Zählen - Zahl.
1.2.2.1 Das Zahlgefühl
1.2.2.2 Paarweise Zuordnung
1.2.2.3 Herausbildung des Zahlbegriffs.
1.2.3 Mystik - Magie - Religion
1.2.3.1 Zahlen und das Gesetz der Berührung.
1.2.3.2 Geometrie und das Gesetz der Ähnlichkeit
1.2.3.3 Zwei Sichtweisen.
1.3 DIE ENTWICKLUNG DER MATHEMATIK
1.3.1 Algorithmische Mathematik
1.3.1.1 Die Entstehung der ersten Hochkulturen.
1.3.1.2 Mathematik in Ägypten
1.3.1.3 Mathematik in Mesopotamien
1.3.1.4 Mathematik in Indien.
1.3.1.5 Mathematik in China
1.3.1.6 Mathematik in Süd- und Mittelamerika
1.3.2 Axiomatische Mathematik
1.3.2.1 Ein entscheidender Schritt
1.3.2.2 Die ionische Periode.
1.3.2.3 Die athenische Periode
1.3.2.4 Die hellenistisch / alexandrinische Periode.
1.3.2.5 Die Periode des Niedergangs.
1.3.2.6 Angewandte und „reine“ Mathematik bei den Griechen.
1.3.2.7 Darstellung der axiomatischen Methode nach Aristoteles
1.3.3 Mathematik im Untergrund.
1.3.4 Die Wiedergeburt der Mathematik
1.3.4.1 Die Umstände der Geburt
1.3.4.2 Vom Abakus zur Algebra
1.3.5 Mathematik in Bewegung
1.3.5.1 Gesellschaftliche Bewegung.
1.3.5.2 Naturwissenschaftliche Bewegung.
1.3.5.3 Mathematische Bewegung.
1.3.6 Grundlegende Mathematik.
1.3.6.1 Die industrielle Revolution.
1.3.6.2 Die Spaltung der Mathematik.
1.3.6.3 Grundlagenforschung in der Analysis
1.3.6.4 Grundlagenforschung im Bereich der Zahlsysteme
1.3.6.5 Grundlagenforschung in der Geometrie
1.3.6.6 Grundlagenforschung in der Logik.
1.3.6.7 Die Mengenlehre
1.3.7 Mathematik in der Krise
1.3.7.1 Grundlagenkrise?
1.3.7.2 Die Antinomien der Mengenlehre
1.3.7.3 Logizismus.
1.3.7.4 Formalismus
1.3.7.5 Die Strukturmathematik des Bourbakikreises
1.3.7.6 Intuitionismus
1.3.7.7 Welche Grundlagenkrise?
1.3.8 Auf dem Weg in die Zukunft
1.3.8.1 Computerisierung
1.3.8.2 Die Informationsgesellschaft.
1.3.8.3 Entwicklungen in der Wissenschaft
1.3.8.4 Entwicklungen in der Mathematik
1.4 MATHEMATIK UND ANWENDUNG.
1.4.1 Angewandte und „reine“ Mathematik in der geschichtlichen Entwicklung.
1.4.1.1 Vorgeschichtliche Zeit.
1.4.1.2 Zeit der frühen Hochkulturen
1.4.1.3 Griechische Antike
1.4.1.4 Mittelalter und Renaissance
1.4.1.5 Barock und Aufklärung
1.4.1.6 Das Zeitalter der Industrialisierung
1.4.1.7 Industriezeitalter bis heute.
1.4.2 Kampf um die Vorherrschaft
1.4.2.1 Die Argumente der „reinen“ Mathematiker
1.4.2.2 Die Argumente der anwendungsorientierten Mathematiker
1.4.2.3 Der ideologische Kern der Auseinandersetzung
1.4.3 Symbiose.
1.4.4 Was für eine Wissenschaft ist die Mathematik?
1.5 WAS IST MATHEMATIK - ANSICHTEN IM ÜBERBLICK
1.5.1 Im Dschungel philosophischer Sichtweisen
1.5.2 Schneisen im Dschungel
1.5.2.1 Logizismus, Formalismus, Bourbakismus und Intuitionismus
1.5.2.2 Platonismus, Empirismus, Konventionalismus und Konstruktivismus.
1.5.2.3 Der Stellenwert mathematischer Wahrheit.
1.5.2.4 Entdecker und Erschaffer
1.5.3 Schlingpflanzen.
2.1 WIRKLICHKEIT IN DER PHILOSOPHIE
2.1.1 Der Wirklichkeitsbegriff.
2.1.2 Ontologische Wirklichkeitskonzeptionen.
2.1.2.1 Materialismus
2.1.2.2 Idealismus.
2.1.2.3 Dualismus
2.1.3 Epistemologische Wirklichkeitskonzeptionen.
2.1.4 Die konstruktivistische Alternative
2.1.4.1 Wissen und Wirklichkeit
2.1.4.2 Metaphysischer Realismus
2.1.4.3 Radikaler Konstruktivismus
2.1.4.4 Konstruierte Wirklichkeit
2.1.4.5 Die biologische Argumentationslinie
2.1.4.6 Verschiedene Spielarten konstruktivistischen Denkens.
2.1.4.7 Sozialer Konstruktivismus.
2.1.4.8 Konstruktivistische Ansätze in Pädagogik und Didaktik
2.1.5 Konstruktivismus und Mathematik.
2.2 LEBENSWIRKLICHKEIT.
2.2.1 Die Welt in der wir leben.
2.2.2 Der Nutzen der Mathematik.
2.2.2.1 Nutzen der Mathematik für den Einzelnen.
2.2.2.2 Nutzen der Mathematik für die Gesellschaft.
2.2.2.3 Sicherung und Weiterentwicklung der Mathematik.
3.1 VERGANGENHEIT.
3.1.1 Die Weitergabe von Wissen.
3.1.2 Die „Meraner Reformbewegung“
3.1.3 Das „traditionelle“ Sachrechnen.
3.1.4 Kritik des „traditionellen“ Sachrechnens.
3.1.5 Die „neue“ Mathematik
3.1.6 Kritik der „neuen“ Mathematik
3.1.7 Ausgewogener Mathematikunterricht.
3.2 GEGENWART
3.2.1 TIMSS das Schreckgespenst.
3.2.2 Der Bildungs- und Lehrplan für die Realschulen in Baden-Württemberg
3.2.2.1 Didaktische Grundsätze des Bildungsplans.
3.2.2.2 Schwerpunktsetzungen im Lehrplan Mathematik
3.2.2.3 Der Inhalt des Lehrplans und die Probleme der Renaissance
3.3 ZUKUNFT.
3.3.1 Folgerungen aus der Untersuchung des Unterrichtsgegenstands
3.3.2 Folgerungen aus der Untersuchung der Bedürfnisse der Schüler.
3.3.3 Folgerungen aus der Untersuchung des unterrichtlichen Kontextes
3.3.4 Schluß
ANHANG I: LITERATURVERZEICHNIS.

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„Tatsächlich beruht, ob man das nun wahrhaben will oder nicht, alle mathematische Pädagogik ... auf einer Philosophie der Mathematik.“1Rene Thoms

Einleitung

„Mathematikund Wirklichkeit. Von den Wurzeln der Mathematik zu einer Didaktik des Sachrechnens.“ - Der Titel dieser Arbeit gibt ein Thema vor, das einen weiten Bogen spannt; einen Bogen, den man im Blick behalten muß, will man sich nicht in den interessanten und reizvollen Einzelheiten verlieren, die sich entlang des Weges finden. Dieses Thema spannt aber nicht nur einen weiten Bogen, es läßt sich auch von vielen Seiten aus betrachten. Ein Mathematiker wird anders an das Thema herangehen als ein Naturwissenschaftler, ein Philosoph anders als ein Historiker. Mein eigener Zugang, als Student einer Pädagogischen Hochschule und zukünftiger Realschullehrer, wird nochmals ein anderer sein.

Die angewandte Mathematik übersetzt Probleme der wirklichen Welt in mathematische Probleme, löst die mathematischen Probleme und überträgt schließlich die Lösungen wieder auf die Wirklichkeit.2Das Sachrechnen bezeichnet die Umsetzung an-gewandter Mathematik in der Schule. Je nach didaktischer Konzeption bezieht es sich dabei nur auf einen relativ eng umgrenzten Bereich angewandter Mathematik oder auf die angewandte Mathematik ganz allgemein.3Es spielt seit jeher eine wichtige Rolle im Mathematikunterricht.

Stärker als ein Mathematikunterricht, der sich mit Bereichen der reinen Mathematik befaßt, steht der Sachrechenunterricht in ständiger Wechselwirkung mit den gesellschaftlichen Gegebenheiten und muß sich mit der Gesellschaft ändern und weiterentwickeln. Das macht ihn besonders reizvoll und zu einer immer neuen Herausforderung für Mathematikdidaktiker und -lehrer. Das große Echo und die Diskussion, die die Veröffentlichung der TIMSS-Studie im letzten Jahr auslöste - eine breit angelegte empirischen Studie, die den mathematischen und naturwissenschaftlichen Unterricht in verschiedenen Ländern vergleicht - belegte dies eindrucksvoll. Deswegen habe ich mich entschieden, meine wissenschaftliche Hausarbeit dieser Thematik zu widmen.

Meine Verantwortung als zukünftiger Lehrer sehe ich darin, meinen Unterricht so zu gestalten, daß dadurch für die Schüler der größtmögliche Nutzen entsteht. Dadurch bin ich mit einer ganzen Reihe von Fragen konfrontiert:

1Thoms, Rene. In: Howson, A.G. (Hg.): Developments in Mathematical Education. Cambridge 1973. S. 204. Z.n. Otte 1974: S. 5

2vgl. z.B. Winter 1994: S. 31f

3vgl. Glatfeld 1983 S. 40ff und den Abschnitt „3.1.3 Das ‘traditionelle’ Sachrechnen“ meiner Arbeit.

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Was ist wichtig für meine Schüler?

•Wie können die Inhalte des Faches Mathematik den Schülern helfen?•Welches ist die günstige Weise, den Schülern diese Inhalte zu vermitteln?

Im Unterricht sind Objekt, Subjekt und Tat - der Unterrichtsgegenstand, die Schüler, die unterrichtet werden und die Tätigkeit des Unterrichtens selbst - eng miteinander verknüpft. Um die Fragen, die sich mir stellen, sinnvoll diskutieren zu können, sind deswegen verschiedene Informationen notwendig.•Ich muß etwas über die Sache wissen, die ich unterrichte.•Ich muß etwas über die Schüler und die Welt wissen, in der sie leben.•Ich muß etwas darüber wissen, wie Mathematikunterricht normalerweise abläuft und in welchen Kontext er eingebettet ist.

Wenn ich Informationen zu diesen drei Bereichen habe, kann ich mir überlegen, was am Unterrichtsgegenstand für die Schüler vor dem Hintergrund des Unterrichtskontextes und der Welt, in der sie leben, bedeutsam ist. Ich kann also die Ziele festlegen, die ich mit meinem Unterricht verfolgen will. Schließlich muß ich mir überlegen, wie ich meinen Unterricht am besten gestalte, um diese Ziele erreichen zu können.4

Daraus ergibt sich die Struktur meiner Arbeit. Im ersten Kapitel will ich mich zunächst der Frage zuwenden, was Mathematik eigentlich ist. Schaut man sich an, was Mathematiker und Wissenschaftstheoretiker zu dieser Frage zu sagen haben, so stellt man fest, daß ihre Ansichten zum Teil diametral entgegengesetzt sind. Manche sehen in der Mathematik eine Kunst, die höchste Blüte des menschlichen Geistes und wollen sie allein um des ästhetischen Genusses wegen betrieben sehen. Andere gestehen ihr nur deswegen eine Daseinsberechtigung zu, weil sie auf die Wirklichkeit anwendbar ist. So schreibt der Mathematiker Carl Gustav Jacob Jacobi (1804-1851): „Es ist wahr, daß Herr Fourier der Meinung war, daß das Hauptziel der Mathematik im öffentlichen Nutzen und in der Erklärung der Naturvorgänge bestünde; aber ein solcher Philosoph wie er hätte wissen müssen, daß das einzige Ziel der Wissenschaft die Ehre des menschlichen Geistes ist und daß unter diesem Gesichtspunkt ein Problem der Zahlen genauso wertvoll ist wie eine Frage nach dem Bau der Welt.“5Um zu verdeutlichen, wie sich so unterschiedliche Standpunkte entwickeln konnten, will ich versuchen, in groben Zügen die Entwicklung der Mathematik von ihren Ursprüngen bis zur Gegen-4Ichbeziehe mich hier auf Überlegungen, die Jakob Ossner in seinem Aufsatz „Praktische Wissenschaft“ anstellt. Dort heißt es auf S. 192 über die Fachdidaktik Deutsch: „Es geht um die Bewältigung der Aufgabe, ein Können im Gegenstandsfeld Sprache [...] auszubilden. In dieser nicht weiter spezifizierten Beschreibung ist die Aufgabe immer dieselbe, inhaltlich aber ändert sie sich mit den Subjekten, die in die Zielformulierung eingehen. Es geht ja nicht um ein allgemeines Können, sondern um das Können von jemand zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort. Daher ist es Aufgabe einer praktischen Wissenschaft Fachdidaktik, die Frage zu beantworten, wie dieses Können jeweils erreicht werden kann.“ Auf S. 197 heißt es weiter: „Eine Praktische Wissenschaft kann lehren: - Wissen im Handlungsfeld, also das didaktische Brauchtum; - Wissen über die Schüler auf der Basis einer gegenstandsorientierten psychologischen und soziologischen Forschung; - Wissen über das Gegenstandsfeld, also Funktion und genetische Struktur des Gegenstandsfeldes.“ Genauere Hintergründe zu diesen Überlegungen, die sich nicht nur auf die Fachdidaktik Deutsch, sondern auf die Fachdidaktik allgemein beziehen, können ebd. nachgelesen werden.

5C. G. J. Jacobi: Werke Bd. I, S. 454f. (Brief an Legendre vom 2.7.1830). Z. n. Volk 1980: S. 31. Dort z. n. Struik, D.: Abriß der Geschichte der Mathematik. Berlin 1967.

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wart nachzuzeichnen. Bei dieser Darstellung soll im Vordergrund stehen, wie sich im Lauf der Geschichte der Mathematik das Spannungsverhältnis zwischen angewandter und „reiner“ Mathematik entwickelte.

Im zweiten Kapitel werde ich mich mit dem Begriff der Wirklichkeit beschäftigen und versuchen aufzuzeigen, in welcher Beziehung er zur Mathematik steht. Dabei möchte ich auch auf die Bedeutung der Mathematik für die Lebenswirklichkeit der Schüler heute eingehen und die Frage erörtern, welche mathematischen Fähigkeiten sie benötigen, um in der heutigen Gesellschaft zu bestehen und welche Fähigkeiten die Gesellschaft den Schülern abverlangen muß, um ihre eigene Existenz zu sichern.

Im dritten Kapitel untersuche ich auf welche Weise Mathematik in diesem Jahrhundert in Deutschland unterrichtet wurde, in welcher Weise man dabei die angewandte Mathematik in den Unterricht integrierte und welche Probleme dabei auftraten. Ausgehend von den Informationen die ich im Verlauf meiner Arbeit über die Mathematik, die Schüler mit ihren Bedürfnissen und den Mathematikunterricht gesammelt habe, werde ich schließlich Vorschläge zur Verbesserung der im Bildungs- und Lehrplan für die Realschulen in Baden-Württemberg fixierten Konzeption von Mathematikunterricht machen.

Ich hoffe, es ist mir mit meiner Arbeit gelungen, einen Überblick über Material zu geben, das sich normalerweise über viele Bücher verteilt findet: Bücher über Mathematikdidaktik, Mathematikgeschichte, Philosophie der Mathematik, Wissenschaftstheorie, Soziologie und so fort. - Material, das in Büchern über die Didaktik und Methodik des Sachrechnens häufig auf wenigen Seiten abgehandelt oder gar nicht erwähnt wird, das mir aber dennoch für die Planung von Sachrechenunterricht relevant zu sein scheint. Möge diese Arbeit den Leser erfreuen und ihm, so er Lehrer ist, bei der Gestaltung seines Unterrichts von Nutzen sein.

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„Ohnedie Mathematik dringt man niemals auf den Grund der Philosophie. Ohne die Philosophie dringt man niemals auf den Grund der Mathematik. Ohne beide kommt man auf den Grund von gar nichts.“6Gottfried Wilhelm Leibniz

Kapitel 1: Mathematik

1.1 Streit um das Wesen der Mathematik

1.1.1 Mathematik als Unterrichtsgegenstand

Es wird wohl jeder zustimmen, daß ein Lehrer etwas von den Dingen verstehen sollte, die er unterrichtet. Nun unterrichtet ein Mathematiklehrer des ausgehenden zwanzigsten Jahrhunderts in DeutschlandMathematikund nicht diePhilosophie der Mathematik.Was sein Wissen über Mathematik betrifft, so ist er durch eine mehr oder weniger normierte Lehrerausbildung in aller Regel in ausreichendem Maße damit ausgestattetzumal er ja nur das zu unterrichten braucht, was ihm Lehrplan und Schulbuch vorgeben, sich also über die Auswahl des Stoffes keine Gedanken machen muß. Welche Bedeutung soll da die Frage nach dem Wesen der Mathematik für den Mathematiklehrer noch haben?

Zuerst einmal ist der Lehrplan keineswegs statisch. In den letzten 50 Jahren erfuhr der Lehrplan im Fach Mathematik zweimal einschneidende Veränderungen. Einmal, als die sogenannte „neue“ Mathematik eingeführt und einmal, als sie größtenteils wieder aus dem Lehrplan entfernt wurde.7

Dem Lehrer bleiben außerdem, innerhalb des Rahmens, den ihm der aktuelle Lehrplan vorgibt, erhebliche Gestaltungsmöglichkeiten. Er kann zur selben Thematik vollkommen unterschiedliche Unterrichtsgänge zusammenstellen, in denen er ganz verschiedene Schwerpunkte setzt. Er kann Wert darauf legen, daß die gemeinsamen mathematischen Strukturen, die hinter verschiedenen Aufgaben stehen, für die Schüler sichtbar werden. Er kann es aber auch vorziehen, den Schülern Rezepte an die Hand zu geben, mit deren Hilfe sie immer wiederkehrende Standardaufgaben lösen können. Er kann so unterrichten, daß immer wieder die Probleme oder die Möglichkeiten, die mit einer

6z.n. Ruben 1979: S. 4

7vgl. Barrow 1993: S. 60f und Strehl 1979: S. 20

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zunehmenden Mathematisierung der Welt verbunden sind, deutlich hervortreten. Oder, was leider immer wieder vorkommt, er kann einfach drauflos unterrichten, ohne sich Gedanken darüber zu machen, warum er so unterrichtet und nicht anders. Welchem didaktischen Ansatz - oder Unansatz - ein Lehrer folgt, hängt von seinem Verständnis von Mathematik ab, auch wenn er sich dessen nicht bewußt ist. Er kann didaktische Entscheidungen aber erst dann wirklich zielgerichtet treffen, wenn er sich aktiv mit diesem Verständnis beschäftigt und es auf seine Angemessenheit hin prüft.

Es gibt also für den Mathematiklehrer zahlreiche Entscheidungen zu treffen, für die ein bloßes Wissen über die Verfahren der Mathematik, wie sie für gewöhnlich im Lehramtsstudium gelehrt werden, keinen ausreichenden Hintergrund liefert. Um diese Entscheidungen wirklich fundiert treffen zu können, muß er sich Fragen stellen wie: Was ist eigentlich Mathematik? Mit welchen Gegenständen befaßt sie sich? Mit welchem Ziel wird sie betrieben? In welchem Verhältnis steht sie zu anderen Wissenschaften; in welchem Verhältnis zu gesellschaftlichen Veränderungen?8

Daß diese Fragen selten, viel zu selten gestellt werden, scheint mir ein Zeichen dafür zu sein, daß mit der Mathematikdidaktik in Deutschland etwas im Argen liegt und ich möchte mich Dieter Volk anschließen, wenn er schreibt: „[...] daß didaktische Entscheidungen immer auch eine wissenschaftstheoretische Komponente enthalten; daß didaktische Entscheidungen ohne wissenschaftstheoretische Entscheidungen nicht möglich sind.“9

1.1.2 Erste Erkundungen

Bei dem Versuch, Antworten auf die Fragen zu finden, die, wie ich eben erörtert habe, Einfluß auf die Gestaltung des Unterrichts haben sollten, stößt man recht schnell auf Probleme, die John D. Barrow so beschreibt: „Halten Sie einen Biologen oder Historiker auf der Straße an und fragen ihn, was sein Fach ist; er wird keine Probleme haben, es zu erklären. Und wenn Sie keinen finden können, sehen Sie sich ein einführendes Lehrbuch zur Biologie oder Geschichte an; es wird Ihnen ungefähr auf der ersten Seite erklären, worum es dabei geht. Aber wenn sie einen Mathematiker auf der Straße fragen, wird er Ihnen nicht sagen können, was Mathematik ist. Nehmen Sie jedes beliebige Lehrbuch oder gehen Sie in eine beliebige Mathematikvorlesung - was Mathematik ist, werden sie nicht erfahren.“10

Nun ist die Situation nicht ganz so extrem, wie Barrow sie schildert; in der einschlägigen Literatur finden sich etliche Äußerungen von Mathematikern zu ihrem Fach, ja es finden sich sogar ganze Bücher mit Titeln wie: „Mathematiker über die Mathematik“11oder „Denkweisen großer Mathematiker“12, allein sie helfen uns nicht viel weiter, eher

8vgl. dazu auch Brieskorn 1974: S. 221

9Volk 1980: S. 7

10Barrow 1993: S. 10

11vgl. Otte 1974

12vgl. Meschkowski 1990

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im Gegenteil. Man muß bald erkennen: „Die Denkweisen der Großen in der Mathematik sind durchaus verschieden.“13

Da es mir, wie ich bereits erläutert habe für einen Mathematiklehrer durchaus relevant zu sein scheint, von der Mathematik mehr zu kennen, als einige Standardmethoden, und da es, wie ein erster Blick in die Literatur mir gezeigt hat, keine allgemein akzeptierten Antworten auf die oben umrissenen Fragen gibt, möchte ich versuchen, diese Antworten im ersten Kapitel meiner Arbeit selbst zu finden. Zu diesem Zweck werde ich die Mathematikgeschichte von der vorgeschichtlichen Zeit bis heute exzerpieren. Dabei möchte ich vor allem das Wechselspiel zwischen gesellschaftlicher, naturwissenschaftlicher und mathematischer Entwicklung aufzeigen; aber auch so weit als möglich darstellen, in welchem Bewußtsein die Mathematiker verschiedener Zeiten Mathematik betrieben. In diesem Zusammenhang will ich mich auch der Frage zuwenden, in wie fern eine Trennung in „reine“ und angewandte Mathematik von den Mathematikern verschiedener Zeiten tatsächlich durchgeführt wurde. Diese Frage scheint mir im Hinblick auf den Mathematikunterricht, in dem man stets gezwungen ist, die „richtige“ Balance zwischen Fachmathematik und Anwendungsbezug zu finden, von besonderer Bedeutung. Deswegen möchte ich ihn im Anschluß an den auszugshaften Durchlauf durch die Mathematikgeschichte nochmals gesondert diskutieren. Abrunden werde ich das erste Kapitel mit einer systematischen Darstellung der verschiedenen Sichtweisen von Mathematik, die zuvor in ihrem historischen Zusammenhang erörtert wurden.

13Meschkowski 1990: S. V

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1.2 Die Wurzeln der Mathematik

1.2.1 Stochern im Nebel der Zeit

„Die Ursprünge der Mathematik liegen im Dunkeln.“14Vermutlich lebten die ersten Hominiden15vor ungefähr 4 Millionen Jahren in Afrika. Die frühesten Schriftzeichen, die uns überliefert sind, haben ein Alter von circa 6000 Jahren.16„Wie die Sprache selbst entwickelte sich der Gebrauch der Zahlen vor der Schrift.“17Auf das, was vor dieser Zeit geschah, können wir nur schließen, weil uns Funden von Knochen, Gerätschaften, Waffen, Höhlenmalereien etc. vorliegen.18Versucht man, die Entwicklungsstränge der Mathematik so lange in die Vergangenheit zurück zu verfolgen, bis sie sich schließlich ganz im Dunkel der Zeit verlieren, so lassen sich auf Grund der Zeugnisse, die uns vorliegen, zwei Wurzeln vermuten: Das, was Georges Ifrah „Zahlgefühl“19nennt und eine mystische, religiöse Erfahrung der Welt, die ihren Ausdruck in der Anwendung von Ritualen fand, die teilweise mathematische Aspekte enthielten.

1.2.2 Zahlgefühl - Zählen - Zahl

1.2.2.1 Das Zahlgefühl

Georges Ifrah zeigt im ersten Kapitel seines Buches „Die Universalgeschichte der Zahlen“ detailliert auf, wie die Entwicklung eines abstrakten Zahlbegriffes vermutlich stattgefunden hat. Da es aus der Zeit, in der diese Entwicklung stattfand, kaum Zeugnisse gibt, beruhen diese Vermutungen auch „auf den Forschungen der Kinderpsychologie und anthropologischen Untersuchungen von Völkern, die sich noch heute auf einem relativ wenig entwickelten intellektuellen Stand befinden.“20Ich möchte die Darlegungen Ifrahs hier nur kurz zusammenfassen und gelegentlich mit den Ausführungen anderer Autoren ergänzen.21

Grundlage der ganzen Entwicklung ist das sogenannte „Zahlgefühl“, das man sowohl beim Menschen als auch bei einigen Tierarten findet. „Es besteht grob gesagt darin, zwei verschiedene, begrenzte Mengen von Lebewesen oder Objekten jeweils gleicher Art voneinander zu unterscheiden.“22Dieses Zahlgefühl kann man leicht an sich selbst erforschen, indem man Abbildungen betrachtet, auf denen verschiedene Anzahlen von

14Meschkowski 1990: S. 1

15Hominiden waren dem heutigen Menschen ähnliche Primaten. Der Homo Sapiens, der dem heutigen Menschen gleicht, trat erstmals vor ca. 100000 Jahren auf. (vgl. Wußing 1997: S. 15)

16vgl. Wußing 1997: S. 15

17Barrow 1993: S. 12

18vgl. Wußing 1997: S. 13

19Ifrah 1986: S. 21

20Ifrah 1986: S. 23 (Fußnote). Zu einem psychologischen Modell der Entwicklung des Zahlbegriffes vergleiche auch das Kapitel „Einheiten, Vielheit und Zahl“ bei Glasersfeld 1997: S. 259ff.

21Wer sich mit dieser Thematik näher befassen will, dem empfehle ich, bei Ifrah 1986: S. 21 - 52 nachzulesen.

22Ifrah 1986: S. 21

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Gegenständen willkürlich angeordnet sind. In der Regel ist man in der Lage, „die Zahl einer Ansammlung von Dingen auf einem Bild unmittelbar zu erfassen, wenn die Zahl nicht größer als etwa fünf ist. Ist sie aber größer, müssen wir bewußt zählen.“23Das Zahlgefühl war vermutlich „von der Natur der Gegenstände unablösbar“24, d.h. es war dem damaligen Menschen nicht bewußt, „daß Gesamtheiten wie Tag und Nacht, ein Hasenpaar, die Flügel eines Vogels oder die Augen, die Ohren, die Arme oder die Beine eines Menschen eine gemeinsame Grundeigenschaft haben: das ‘Zweisein’.“25Ein Hinweis darauf findet sich in den Sprachen „primitiver“ menschlicher Gesellschaften, in denen oft verschiedene Wörter für die gleiche Anzahl von Dingen verwendet werden, wenn es sich um verschiedene Dinge handelt „- verschiedene Wörter für drei Fische, drei Kanus, drei Menschen, drei Steine, drei Speere.“26Auch im Englischen, wo es Ausdrücke gibt wie „a pair of shoes“, „a (musical) duet“, „a brace of pheasants“ und „a couple of lines“, die alle mit unterschiedlichen Worten eine Zweiheit bezeichnen, läßt sich das noch feststellen.27

1.2.2.2 Paarweise Zuordnung

Um auch Mengen bestimmen zu können, die mit dem „Zahlgefühl“ nicht mehr erfaßt werden können, „setzen die Völker, die nicht abstrakt zählen können Einheit mit Einheit in Beziehung. Dieser intellektuelle Kunstgriff [...] geht auf den Begriff des Paares zurück und besteht aus der Zuordnung der einzelnen Elemente zweier Mengen zuein-ander, so daß jedem Element der einen Menge ein Element der anderen entspricht.“28Dies war wahrscheinlich der nächste Schritt in der Entwicklung. Barrow nennt dieses Verfahren „Taillieren“ und führt aus: „Ein Schafhirte zum Beispiel kann eine Menge von Steinen in seiner Tasche tragen. Damit stellt er am Ende des Tages fest, ob keines fehlt, indem er für jedes Schaf, das in die Schafhürde geht, einen Stein aus der Tasche nimmt. Wenn kein Stein übrig ist, nachdem das letzte Schaf hineingegangen ist, dann ist alles in Ordnung.“29Andere Möglichkeiten zur Taillierung bieten das Kerbholz, auf dem verschiedene Anzahlen in Form von Kerben oder sonstigen Markierungen festgehalten werden und die Glieder des menschlichen Körpers, die wie die Kerben eines Kerbholzes durchgezählt werden können. „Das hat sichtlich den Vorteil, daß jeder das gleiche Bezugssystem hat. Ist die Zahl der Finger erschöpft, zählen manche Völker am Körper entlang weiter [...].“30

Durch die paarweise Zuordnung ist es also möglich festzustellen, ob zwei Mengen aus der gleichen Anzahl von Elementen bestehen oder nicht. „Außerdem wird bei der paarweisen Zuordnung ein abstrakter Begriff gebildet, der eine den beiden verglichenen Mengen gemeinsame Eigenschaft bezeichnet, ein Begriff,der von der Natur der

23Barrow 1993: S. 19f

24Ifrah 1986: S. 23

25Ifrah 1986: S. 23

26Barrow 1993: S. 21

27vgl. Barrow 1993: S. 21

28Ifrah 1986: S. 34f

29Barrow 1993: S. 21

30Barrow 1993: S. 27

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gegebenen Gegenstände vollkommen unabhängig ist.“31Damit rückte man dem abstrakten Zahlbegriff wieder ein Stück näher. „Im nächsten Schritt kann jeder betrachteten Menge eine Menge zugeordnet werden, die man ‘Hilfsmenge’ nennen könnte. Mit einer solchen ‘Hilfsmenge’ wird es möglich sein, jede Menge von Gegenständen zu beschreiben, wenn sie die gleiche Anzahl von Elementen umfaßt. [...] die paarweise Zuordnung ist damit eine ‘konkrete Messung’ derQuantitäteiner Menge, unabhängig von derQualitätihrer Elemente. Die intellektuelle Leistung dieser Abstraktion kann als die Geburtsstunde des abstrakten Zahlenbegriffs gelten.“32Ifrah vermutet, daß die Zahlwörter, die diese abstrakten Mengen bezeichneten, aus den Benennungen der Körperteile die zum Abzählen verwendet wurden entstanden und durch häufigen Gebrauch nach und nach ihre „körperliche“ Bedeutung verloren.33

1.2.2.3 Herausbildung des Zahlbegriffs

Aber damit war die Entwicklung noch nicht an ihrem Ende. Um das möglich zu machen, was wir heute als Mathematik kennen, mußte auch noch von eben erwähnter Hilfsmenge abstrahiert werden. Dazu war ein rekursives Zahlenverständnis notwendig, das Ifrah so beschreibt: „JedeZahl der Reihe ganzer Zahlen, mit Ausnahme der Einheit selbst, entsteht dadurch, daß man der ganzen Zahl, die ihr vorangeht, eine weitere Einheit hinzufügt.“34Dadurch wird zusätzlich zumkardinalen35Aspekt der ganzen Zahlen, der sich auf der schon erwähnten paarweisen Zuordnung gründet, derordinale36Aspekt erschlossen, der ein Verständnis der Folge der natürlichen Zahlen voraussetzt.37Dantzig faßt dies sehr schön zusammen: „Wir gehen so leicht von Kardinal- zu Ordinalzahlen über, daß wir diese beiden Aspekte der ganzen Zahl nicht mehr ausei-nanderhalten. Wenn wir die Anzahl der Gegenstände einer Menge, also ihre Kardinalzahl, bestimmen wollen, suchen wir nicht mehr nach einer Hilfsmenge, mit der wir sie vergleichen können, wir ‘zählen’ sie ganz einfach. Dieser Fähigkeit, die beiden Aspekte der Zahl gleichzusetzen, verdanken wir unsere Fortschritte in der Mathematik. Während uns in der Praxis nur die Kardinalzahl interessiert, kann diese Zahl doch nicht die Grundlage der Arithmetik bilden, da die Rechenarten auf der stillschweigenden Voraussetzung beruhen, daß wir stets von jeder Zahl auf die ihr nachfolgende übergehen können - die Zahl also als Ordinalzahl begriffen wird. Die paarweise Zuordnung allein reicht nicht aus, um zu rechnen; ohne unsere Fähigkeit, die Gegenstände durch die natürliche Zahlenfolge zu gliedern, wäre nur ein sehr geringer Fortschritt möglich ge-worden. Unser Zahlensystem beruht auf den beiden Prinzipien der Zuordnung und der Rangfolge, die das Gewebe der Mathematik und aller Bereiche der exakten Wissenschaften bilden.“38Dieser letzte Schritt der Abstraktion wurde wohl erst im fünften

31Ifrah 1986: S. 35. Hervorhebung dort.

32Ifrah 1986: S. 35f. Hervorhebung dort.

33vgl. Ifrah 1986: S. 40

34Ifrah 1986: S. 42. Hervorhebung dort.

35Der Kardinalzahlaspekt bezieht sich auf die Mächtigkeit einer Menge, wie „fünf“, wenn ich sage, ich habe fünf Äpfel.

36Der Ordinalzahlaspekt bezieht sich auf eine Rangfolge, wie „dritter“, wenn ich sage, er ging als dritter durchs Ziel.

37vgl. Ifrah 1986: S. 46

38Dantzig, T.: Le nombre, langage de la science. Paris: 1931. S. 16f. Z.n. Ifrah 1986: S. 47

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vorchristlichen Jahrhundert in Griechenland ganz vollzogen.39

Betrachtet man die Entwicklung des Zählens, so wird deutlich, daß sie ihren Anfang, soweit sich heute sagen läßt, mit einer sehr konkreten Wirklichkeit - mit sehr konkreten Dingen nahm, von denen dann immer mehr abstrahiert wurde, bis der Mensch schließlich den heutigen, abstrakten Zahlbegriff erreichte. Auch die Motivation zu dieser Entwicklung kam aus der Lebenswirklichkeit des Menschen, die dadurch, daß der Mensch fähig wurde zu zählen, besser beherrscht werden konnte. Schon in dieser vorgeschichtlichen Zeit finden sich also die entscheidenden Elemente einer angewandten Mathematik: dieAbstraktion,bei der aus den Dingen um uns herum mathematische Strukturen abstrahiert werden und dieKonkretisierung,bei der mathematische Strukturen „an speziellen Beispielen von Dingen und Ereignissen konkretisiert werden.“40

1.2.3 Mystik - Magie - Religion

Über die Wurzel der Mathematik in der mystischen Erfahrung des Menschen läßt sich noch weniger Sicheres sagen als über die Entwicklung vom Zahlgefühl zum heutigen, abstrakten Zahlbegriff. Dies liegt wohl daran, daß die Rückschlüsse aus der Entwicklungspsychologie und der Anthropologie, die uns halfen, die mutmaßliche Entwicklung des Zahlbegriffes zu rekonstruieren, hier kaum möglich sind. Es bleibt aber dennoch einiges Material, das dafür spricht, daß eine der Wurzeln der Mathematik in einem mystischen Weltverständnis und den damit verbundenen Ritualen zu suchen ist.