Mats und Mathilde 1. Eine große Freundschaft - Christian Wunderlich - E-Book

Mats und Mathilde 1. Eine große Freundschaft E-Book

Christian Wunderlich

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Beschreibung

Wenn ein Vogel und eine Vogelscheuche Freund*innen werden… Wo eine Mama ist, da ist ein Zuhause. Und Mathilde weiß, ihre Mama – das Mädchen, das sie zum Leben erweckt hat – lebt an dem Ort, an dem die Sonne untergeht. So macht sich die Vogelscheuche abenteuerlustig auf den Weg, gemeinsam mit Mats Piep. Mats ist ein Schwatz (halb Schwalbe, halb Spatz) und hat wegen seiner Flugangst den Vogelzug gen Süden verpasst. Auf ihrer Reise erleben die beiden viele bunte Abenteuer an fantastischen Orten, und bald werden der Vogel und die Vogelscheuche die allerbesten Freunde. Sie retten einander ein ums andere Mal, verlieren und finden einander wieder, aber egal, was passiert, sie geben niemals auf. Doch werden sie in diesem ersten Teil der Geschichte finden, wonach sie suchen? Mats und Mathilde 1. Eine große Freundschaft: Eine Vorlesegeschichte mit Klassiker-Potenzial! - Ideal für gemeinsame Vorlesemomente: Wunderschönes Vorlesebuch für Kinder ab 5 Jahren über die ungewöhnliche Freundschaft zwischen einem Vogel und einer Vogelscheuche. - Wichtige Alltagsthemen: Die Vorlesegeschichte vermittelt Kindern einfühlsam und altersgerecht, wie wichtig Liebe und Zusammenhalt sind. - Großartige Held*innen: Mats und Mathildes Reise an märchenhafte Orte inspiriert Kinder dazu, die Welt mit offenen Augen zu sehen. - Berührend geschrieben: Autor Christian Wunderlich erzählt von Mut, Hoffnung und dem Zuhause, das wir in anderen finden.Diese großartige Abenteuergeschichte ab 5 Jahren zeigt: Egal, wohin unsere Reise geht – solange wir Freund*innen an unserer Seite haben, sind wir nie verloren.

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Über dieses Buch

Wo eine Mama ist, da ist ein Zuhause. Und Vogelscheuche Mathilde weiß, ihre Mama – das Mädchen, das sie zum Leben erweckt hat – lebt an dem Ort, an dem die Sonne untergeht. So begibt sich Mathilde auf den weiten Weg zu ihr, gemeinsam mit Mats Piep. Mats ist ein Schwatz – halb Schwalbe, halb Spatz – und hat wegen seiner Flugangst den Vogelzug gen Süden verpasst. Auf ihrer Reise um die Welt erleben die beiden viele bunte Abenteuer an fantastischen Orten, und bald werden der Vogel und die Vogelscheuche die allerbesten Freunde. Doch werden sie finden, wonach sie suchen?

 

 

 

Für meine Mama

C. W.

 

 

Für meine großartigen Geschwister und unsere Reisen an unerwartete und vertraute Orte

A. H.

KAPITEL 1Das Sonnenblumenfeld

Das Erste, was Mathilde Vogelscheuch je in ihrem Leben hörte, war ihr eigener Herzschlag.

Eine ungewisse Zeit lang stand sie bereits inmitten eines weiten Felds voller Sonnenblumen, festgebunden an einen Pfahl aus verwittertem Holz, immer am gleichen Fleck. Beachtet nur von Wind und Wetter, war sie eine ganz normale Vogelscheuche mit zwei Kohleaugen und einer Rübennase.

Zum Leben erwachte Mathilde erst, als ihr die siebenjährige Enkeltochter des Bauern ein Herz aus goldenem Stoff ans Latzkleid nähte. Die Sommersprossen des Mädchens und ihre blauen Augen waren das Erste, was Mathilde je sah. »Ich taufe dich auf den Namen: Mathilde Vogelscheuch«, sagte das Mädchen feierlich. Und so bekam Mathilde ihren Namen.

Sie spürte die warmen Sonnenstrahlen im Gesicht. Atmete die blumige Sommerluft ein und staunte über den unendlichen Himmel mit seinen weißen Wolkentupfern. Als das Mädchen mit einem rot verklecksten Zeigefinger einen Strich unter Mathildes Rübennase zog, kitzelte die Vogelscheuche das so sehr, dass sie lächeln musste. Es war das erste Mal, dass sie lächelte. Sie würde es fortan immer tun, denn das Mädchen hatte ihr einen breiten, etwas verwackelt lächelnden Mund aus Erdbeermarmelade ins Gesicht gemalt.

Ja, das Leben war von Beginn an überwältigend für Mathilde Vogelscheuch, und ach – wie sehr sie es liebte. In ihrem Kopf war zwar nichts als Stroh, dennoch steckte er voller Gedanken, Ideen und Träume. Mathilde wusste bloß nicht, was ihre Aufgabe in diesem Leben war.

Als sie die Krähen weit über sich entdeckte, winkte sie ihnen zu. »Komm mit!«, riefen die Krähen. Also imitierte Mathilde die Flügelbewegungen, hob jedoch keinen Zentimeter vom Boden ab.

»Ich kann nicht«, rief sie und schlug sich gleich darauf erschrocken eine Hand vor den Mund. Es war das erste Mal, dass Mathilde ihre Stimme hörte. Dann lachte sie, rief »Hallo, Himmel!«, und »Hallo, Wolken!« und freute sich so sehr, dass die Krähen ihr bloß kopfschüttelnd den Vogel zeigten.

Als Mathilde die Feldmäuse über den Boden trippeln sah, fing sie ebenfalls an zu laufen, kam an ihrem Holzpfahl jedoch keinen Zentimeter voran.

»Komm mit!«, riefen die Feldmäuse ihr zu. Mathilde wandte den Kopf zu allen Seiten. Was war das, was sie da festhielt? Sie bewegte ihre Beine noch schneller. Zwar ruckelte und zitterte der Holzpfahl, dennoch musste Mathilde schließlich aufgeben.

»Ich kann nicht«, rief sie den Feldmäusen zu. Ach, dachte sie, wie herrlich wäre es, einmal die ganze Erde zu sehen. Da kippte ihr Holzpfahl nach vorne, und Mathilde landete mit dem Gesicht im Matsch. »Mmmmm, mmm«, mumpfelte sie begeistert. Was soviel hieß wie: »Hallo, Erde!«

Das Mädchen

Die glücklichste Zeit in jenem Sommer hatte Mathilde, wenn die kleine Enkeltochter des Bauern sie besuchte. Das Mädchen war das einzige Wesen, das sie beachtete. Es plapperte fröhlich, tanzte ausgelassen um sie herum, sang lustige Lieder, erzählte geheimnisvolle Geschichten und behandelte die Vogelscheuche wie einen Menschen. Mit seiner Fantasie malte es Mathilde die Welt in den buntesten Farben.

»Es gibt einen Ort tief unter der Erde, an dem wird den ganzen Tag gespielt«, sagte es und flocht dabei einen Haarkranz aus Gänseblümchen. »Und es gibt eine Stadt, in der wachsen Bratäpfel an den Bäumen. Und es gibt ein Königreich, in dem nur Dinge existieren, die die Königin sich vorstellt.« So fabulierte und fantasierte das Mädchen von der weiten, weiten Welt. Und Mathilde stand da, lauschte und lächelte und stellte sich vor, wie schön es wäre, all diese wundersamen Orte zu sehen.

Tag für Tag kümmerte sich das Mädchen um Mathilde. Wenn es regnete, hielt es einen Schirm über sie. Wenn der Hund des Nachbarn Mathilde anbellte, verjagte das Mädchen ihn und tröstete die Vogelscheuche, damit sie keine Angst hatte. Und jeden Abend, wenn es dunkel wurde und das Mädchen sich schlafen legte, winkte es Mathilde vom Fenster aus zu und schaltete ein kleines Nachtlicht für sie an. Damit Mathilde wusste, dass sie nicht allein war.

So ging es einen unvergesslichen Sommer lang. Bis das Mädchen eines Tages sagte: »Ich muss morgen wieder nach Hause. Das ist ganz da hinten.« Es deutete in Richtung des Horizonts. »Da, wo die Sonne untergeht.«

Dem Mädchen lief eine Träne über die Wange, und als es Mathildes verwunderten Blick sah, erklärte es: »Ich bin traurig.« Mathilde aber kannte keine Tränen, sie wusste nicht, was es bedeutete, traurig zu sein. Woher auch? Schließlich war ihr Leben bisher wunderbar gewesen. Und doch spürte die Vogelscheuche nun ein ganz neues Gefühl in sich. Ohne es benennen zu können, war ihr zum Weinen zumute. Aber da sie nicht wusste, wie man weinte, und weil das Mädchen ihr diesen fröhlichen Marmeladenmund ins Gesicht gemalt hatte, lächelte sie.

 

Am nächsten Tag war alles anders. Während die Eltern des Mädchens ihr Auto mit Koffern bepackten, kam die Kleine stürmisch schnell über das Sonnenblumenfeld geeilt. Innig umarmte sie Mathilde. »Wir sehen uns wieder«, sagte sie schniefend zu ihr.

Sanft legte auch die Vogelscheuche ihre Arme um das Mädchen und spürte eine Wärme, in die sie sich am liebsten für immer hineingelegt hätte. »Bleib!«, sagte sie zu dem Mädchen.

»Ich kann nicht«, sagte das Mädchen. So als wäre auch sie an einen Holzpfahl gebunden, der sie weder fliegen noch laufen ließ.

Als die Eltern das Mädchen riefen, konnte Mathilde also nichts dagegen ausrichten, dass es sich von ihr löste, sie zuversichtlich anlächelte. Und fortging.

Von Weitem sah Mathilde, wie der Wagen vom Hof fuhr. Durch das geöffnete Fenster winkte ihr das Mädchen zu. Es war das erste Mal, dass Mathilde sich von jemandem verabschieden musste. Es war das letzte Mal, dass sie das Mädchen in jenem Sommer sah.

 

Um ein wenig Gesellschaft zu haben, rief Mathilde von da an den Vögeln über ihrem Kopf zu: »Kommt, meine Freunde! Lasst uns unterhalten.« Doch ihr Winken und Rufen schien die Drosseln und Dohlen, die Rotkehlchen und Rauchschwalben, die Blaumeisen, Buchfinken und Buntspechte zu verscheuchen. Und da fühlte Mathilde Vogelscheuch sich schrecklich einsam.

Bis eines Tages ein großes Wunder in ihrer Hand landete – in Gestalt eines kleinen Schwatzes.

Mats Piep

Er stolperte aus dem Himmel – Patsch, Poff, Autsch! –, als stürzte er eine unsichtbare Treppe hinab. Mathilde sah ihn verzweifelt flatternd und panisch piepsend Purzelbäume in der Luft schlagen.

Mit einem »AAAAAAAAA-UFFF!« streifte der Schwatz die Krempe ihres Spitzhuts, rollte über ihre Schulter und holterdipolterte Mathildes ausgestreckten Arm hinab. Doch bevor er auf die Erde fallen konnte, packte Mathilde ihn mit ihrer Hand. Sie spürte das schnell schlagende Herz des Vogels an ihren Fingern. Und als sie die Faust langsam öffnete, entdeckte sie darin ein Knäuel aus braunen und weißen Federn.

»Hast du dir wehgetan, kleiner Vogel?«, sagte Mathilde besorgt. Der Schwatz hustete Stroh aus, richtete sich auf und wandte sich dann Mathilde zu.

»AAAAAAAAAAH!«, schrie er da.

Und auch Mathilde schrie: »AAAAAAAAAH!«

»Warum schreist DU denn so?«, fragte der Schwatz mit weit aufgerissenen Augen.

»Ich dachte, das sei vielleicht Vogelsprache, weil DU die ganze Zeit schreist.«

Der Schwatz nahm mit geballten Flügeln Kampfposition ein. »Hör zu, ich werde dich am Leben lassen – wenn du mich am Leben lässt. Einigen wir uns also auf Unentschieden. Leb wohl!« Der Schwatz wollte bereits fliehen, da blickte er panisch zwischen Mathildes Fingern auf den Boden hinab und drängte sich zurück in ihre Handfläche. »Oje, oje, is das hoch! Da kann man ja nich hinsehen.«

»Bitte geh nicht!«, sagte Mathilde. »Ich bin so allein und würde mich über etwas Gesellschaft freuen.«

»Ich kann hier auch gar nich weg.« Theatralisch warf der Schwatz sich in Mathildes Hand, schlug die Flügel vors Gesicht und rief: »Ich sitze in der Falle. Maamaaaaaaaaa!«

»Was ist ein Mama?«, fragte Mathilde.

Der Schwatz wagte einen Blick durch seine Federn hindurch. »Du weißt nich, was eine Mama is?«, sagte er, worauf Mathilde den Strohkopf schüttelte. »Na ja, eine Mama is so wie du.«

Suchend sah Mathilde sich um, und als sie in der Ferne einen Strohballen entdeckte, rief sie: »Maamaaaaaaaaa!«

»Nein«, winkte der Schwatz ab, »das is ein Haufen Stroh. Eine Mama … hat immer einen Löffel Medizin für dich, wenn du krank bist.«

»Oh, letztens war ein älterer Herr hier, der hat das Pferd des Bauern gesund gemacht. Ist das meine Mama?«

»Das war der Tierarzt.« Der Schwatz überlegte. Dann sagte er: »Eine Mama liebt dich, egal, was für einen Unsinn du anstellst. Wenn du hinfällst und dir wehtust, dann tröstet dich deine Mama und kocht dir eine Tasse Kakao. Auf dem Spielplatz steht deine Mama unten an der Rutsche, um dich aufzufangen. Wenn du traurig bist, nimmt sie dich in die Flügel. Wenn du nich schlafen kannst, liest sie dir eine Geschichte vor. Deine Mama sorgt immer dafür, dass du einen frischen Regenwurm zu fressen bekommst.«

»Bäh!«, stieß Mathilde lächelnd aus.

»Mit einer Mama«, sagte der Schwatz, »bist du nie, nie, nie allein. Sie is dein Zuhause.«

»Zuhause«, wisperte Mathilde. Jetzt verstand sie, dass es das Wunderbarste sein musste, eine Mama zu haben.

Und plötzlich fiel ihr etwas ein. Sie fasste an das goldene Herz, das die Enkelin des Bauern ihr an die Brust genäht hatte. Aufgeregt sagte sie zu dem Schwatz: »Und schenkt dir eine Mama ihr Herz?«

Der Schwatz nickte voller Überzeugung. »Ja«, sagte er. »Du hast es verstanden. Das is eine Mama.«

Selig lächelnd sah Mathilde in Richtung Horizont. »Dann weiß ich, wo meine Mama ist.« Sie hörte ihr Herz schneller schlagen, sie spürte es sogar. »Zu Hause. Da, wo die Sonne untergeht.«

»Oh, das is aber weit weg«, sagte der Schwatz. »Na ja, tröste dich, meine Mama is auch nich hier. Der Herbst beginnt. Die meisten Vögel fliegen in den Süden. Aber ich, ich werde den Vogelzug wohl verpassen.«

»Warum?«

»Ich bin ein Spatz. Ein Schwatz, um genau zu sein: Sohn einer Schwalbe und eines Spatzes. Deswegen bin ich auch so hin- und hergerissen. Eigentlich würde ich mir hier gerne spatzmäßig einen gemütlichen Winter machen. Andererseits sehnt sich die Schwalbe in mir nach der Wärme des Südens. Allerdings müsste ich dafür wieder in die Luft, und mir wird ja schon auf deiner Schulter ganz anders. Das is höllisch hoch.« Der Schwatz blickte vorsichtig über den Rand der Vogelscheuchenhand hinab.

»Hoch?«, sagte Mathilde. »Ich finde es herrlich. Man hat von hier oben eine wunderbare Aussicht.«

»Na ja, es is so: Ich hab Höhenangst.« Der Schwatz senkte verschämt den Kopf. Und als Mathilde ihn schweigend ansah, fuhr er fort: »Das is, wenn man ganz weit oben is und dann runterguckt und Angst hat. Und weil ich Höhenangst hab, hab ich Absturzangst. Und weil ich Absturzangst hab, hab ich Flugangst. Und weil ich Flugangst hab …« Er sah seufzend zu seinen Artgenossen, deren Zug ins Licht der Morgenröte flog. »Ich mein, ich hab’s versucht. Ich hab die Augen geschlossen und bin abgehoben. Aber irgendwann musst ich die Augen ja wieder aufmachen, sonst hätt ich meine Reisegruppe verloren. Und da wurd ich panisch und bin abgestürzt. Die anderen haben mich ausgelacht und sind weitergeflogen.« Der Schwatz senkte den Kopf. »Sie lachen mich immer aus. Kein Wunder! Ich mein, wo gibt’s denn so was: ein Vogel, der nich gerne fliegt, ha!«

Auf einmal hörten sie von Weitem den Bauern schimpfen: »Na, was ist denn das?« Kopfschüttelnd kam er angestapft. »Eine Vogelscheuche mit einem Spatz in der Hand? Verschwinde!« Mit einer Mistgabel verscheuchte er den Vogel, der erschrocken rückwärts von Mathilde hinab und durch die Luft purzelte. Bei seiner Landung boingte er wie ein Flummiball – Autsch, Bumm, Batsch – dreimal auf die Erde, bevor er sich flatternd im Sonnenblumenfeld versteckte. Von da aus sah der Schwatz, wie der Bauer Mathilde von dem Pfahl band. »Auch das noch. Jetzt brauche ich eine neue Vogelscheuche«, grummelgrollte er und stapfte mit ihr übers Feld.

»Hey, Mats!«, rief jemand den Schwatz weit über ihm. Als er in Richtung Himmel sah, flatterten seine Geschwister am Ende des Vogelzugs über ihn hinweg. Einer seiner Brüder winkte Mats mit einem Flügel herbei. » Was machst du denn da unten? Komm schon! Das ist der letzte Zug gen Süden. Ein Platz ist noch frei.«

Mats atmete durch. Er wusste: Wenn er diese Reise der Zugvögel verpasste, drohte ihm hier ein harter Winter. Er bekam so schnell kalte Krallen, und die Essensvorräte gingen bereits zur Neige. Vor allem aber schauderte er bei der Vorstellung, ganz allein zurückzubleiben. Kälte und Hunger waren schlimm genug. Aber Einsamkeit, nein, das war gar nichts für ihn. Andererseits würde er den weiten Flug nie, nie im Leben schaffen.

Mit wummerndem Herzen sah er zu den Zugvögeln. Dann zu Mathilde, die ihn aus den Armen des Bauern anlächelte, während der sie weiter forttrug.

»Ich«, rief er seinen Geschwistern zu und flüsterte dann: »… kann nich.«

Doch er rief: »… komme nach! Fliegt nur vor, ich hole euch ein.«

»Du bist verrückt!«, rief sein Bruder, »das schaffst du nie«, worauf Mats seufzte. Er hörte das nicht zum ersten Mal.

Es war jedoch nicht allein seine Höhenangst, die ihn dazu bewegte, am Boden zu bleiben. Nachdem Mathilde ihm das Leben gerettet hatte, war Mats ihr nun etwas schuldig.

Erste Schritte

Der Schwatz folgte dem Bauern unauffällig zu einem Haufen aus Ästen und Stöcken. »Wenigstens für ein schönes Feuer heute Abend wirst du noch zu gebrauchen sein«, sagte der Bauer zu Mathilde, warf sie auf den Haufen und machte sich davon.

»Feuer«, wisperte Mathilde Vogelscheuch lächelnd, als sei das für sie eine gute Neuigkeit.

Der Schwatz wartete, bis der Bauer im Kuhstall verschwunden war. Dann schwatztapste er mit schnellen kleinen Schritten zu Mathilde.

»Vogelscheuche!«, flüsterte er ihr zu.

»Du bist ja noch da«, rief Mathilde erfreut.

»Ja, kann’s selber nich fassen. Hör zu, Vogelscheuche …«

»Mein Name ist Mathilde Vogelscheuch«, sagte Mathilde Vogelscheuch.

»Freut mich, ich bin Mats Piep«, sagte Mats Piep. Die beiden lächelten einander an, bis Mats den Bauern im Stall hörte und er sich erinnerte, dass er nicht für ein Schwätzchen gekommen war. »Du musst hier weg, Mathilde«, wisperte er.

»Aber der Bauer sagt, heute gibt es ein Feuer, und er braucht mich dafür. Da wäre es unhöflich von mir, nicht zu erscheinen.«

»Du bist nich zum Feuer eingeladen, Mathilde, du sollst das Feuer SEIN. Feuer is dein Feind.«

»Woher willst du das wissen, ich habe es doch noch gar nicht kennengelernt.«

Der Schwatz schlug sich einen Flügel an die Stirn, atmete durch. Und hatte plötzlich eine Idee. Aufgeregt sagte er zu Mathilde: »Hör zu: Die anderen Vögel begeben sich auf die Reise dorthin, wo’s am wärmsten is. Und das muss der Ort sein, wo die Sonne untergeht, denn da is es sicher sehr warm. Schließlich bleibt sie dort die ganze Nacht. Da du und ich also das gleiche Ziel haben: Wie wäre es, wenn wir uns gemeinsam auf den Weg machen?«

»Au ja!«, rief Mathilde begeistert. Doch dann schien ihr etwas durch den Strohkopf zu gehen. »Ich weiß gar nicht, wie man läuft.«

Mats Piep sah die Vogelscheuche nachdenklich an.

 

Kurz darauf stand Mathilde zum ersten Mal in ihrem noch kurzen Leben auf ihren wackligen Strohbeinen. Vor ihr saß Mats, um die Vogelscheuche zu dirigieren.

»Ich kann nich glauben, dass ein Vogel einer Vogelscheuche das Laufen beibringt«, sagte er. »Also los: Du musst nur ein Bein vor das andere setzen.«

»Klingt ganz einfach.« Mathilde tat, was Mats ihr aufgetragen hatte. Doch schon beim ersten Schritt verhedderten sich ihre Beine, und sie stolperte mit rudernden Armen zu Boden.

»Isses aber nich«, kommentierte Mats. Er hielt Ausschau nach dem Bauern, während Mathilde sich wieder in Position begab. Nachdem der erste Schritt funktionierte, klappte es nach dem dritten Versuch auch mit dem zweiten. Und schließlich setzte Mathilde wacklig einen Fuß vor den anderen.

»Es geht«, rief sie begeistert. »ICH gehe. Sieh mal, Mats, ich kann es!« Und plumps, lag sie schon wieder im Staub.

Doch da Mathilde kein Aufgeben kannte, machte sie so lange weiter, bis sie auf einigermaßen sicheren Beinen lief. Sie setzte ihre Schritte sehr bewusst, was ziemlich komisch aussah; in etwa so, als erklömme sie fünfzig Zentimeter hohe Treppenstufen. Dennoch: Es klappte. Immer schneller ging Mathilde, bis sie schließlich flink wie eine Sommerbrise durchs Feld wehte. »Ich laufe, siehst du, Mats? Ist das schön!«, rief sie mit ausgebreiteten Armen. Sie genoss den Wind im Gesicht, und sie spürte ihr Herz schlagen, und ach – wie schön war das Leben, wenn man alle Sorgen vergaß.

»Warte, Mathilde!«, rief Mats, der nicht mit ihr Schritt halten konnte. Mathilde blieb stehen, bückte sich und ließ den Schwatz in ihre Hand flattern. Vorsichtig setzte sie ihn auf ihre Schulter. Mats’ Herz schlug schneller, wenn er nur an diese unfassbare Höhe dachte.

Nach einem letzten Blick zurück zu dem Pfahl, der sie eben noch wie Wurzeln einen Baum an den Boden gefesselt hatte, machte sich Mathilde Vogelscheuch mit Mats Piep auf den weiten Weg hinaus in die wunderliche Welt. Nur mit einem Haufen Träume im Gepäck, in Richtung zu Hause. Dorthin, wo die Sonne unterging. Und wo ihre Mama auf sie wartete.

So also nimmt sie ihren Anfang, die ungewöhnliche Freundschaft zwischen Mats Piep und Mathilde Vogelscheuch. Noch ahnen sie nicht, welch unglaubliche Abenteuer sie auf ihrer Reise erwarten. Im Labyrinth der langen Laufwege geraten sie in brenzlige Situationen, die ihnen zeigen, wie sehr sie aufeinander angewiesen sind. Bis sie feststellen, dass sie ausgerechnet den Weg, der sie in Richtung ihres Zieles führt, auf keinen Fall gehen dürfen.

Doch davon erzähle ich euch im nächsten Kapitel.

KAPITEL 2Das Labyrinth der langen Laufwege

Schon bald nach Beginn ihrer Reise gelangten Mats Piep und Mathilde Vogelscheuch an eine Abzweigung. Um die Wahrheit zu sagen: Es waren mehrere Abzweigungen. Und um genau zu sein: Mats und Mathilde standen vor so vielen Abzweigungen, wie ein Baum Äste hat.

Ratlos besahen die beiden sich die unzähligen Wegweiser der unzähligen Pfade.

»Ob uns einer davon ans Ziel führt?«, fragte Mathilde, die ebenso wenig lesen konnte wie Mats. Daher wussten sie auch nicht, was auf dem Holzschild stand, das all die Wegweiser überragte: Das Labyrinth der langen Laufwege.

»Vielleicht«, sagte der Schwatz, »steht da auch so was wie: ›Betreten auf eigene Gefahr!‹ Oder: ›Dieser Pfad führt direkt ins Verderben.‹«

»Und welchem Weg folgen wir nun?« Mathildes Augen funkelten vor Entdeckerlust, während Mats mit Unbehagen in Richtung der vielen Abzweigungen blickte. Er wollte gerade vorschlagen umzukehren, als die Vogelscheuche bereits voranging. »Im Grunde ist es gleich«, meinte sie. »Ein Abenteuer können wir überall erleben.«

Wie recht sie hatte.

Mats krallte sich an ihrer Schulter fest. Wären die beiden ein bisschen aufmerksamer gewesen, hätten sie zumindest gemerkt, dass auf dem gelben Wegweiser das Gleiche stand wie auf dem grünen: Da lang. Auch auf dem lilafarbenen stand: Da lang. Genauso wie auf allen anderen Wegweisern Da lang zu lesen war. Wenn man denn lesen konnte. Und weil Mats und Mathilde eben nicht lesen konnten, wussten sie auch nicht, dass es tatsächlich keinen Unterschied machte, welchen Weg sie nahmen. Alle Wege führten da lang.

Wie bei einem Labyrinth üblich, gestaltete sich das Durchkommen äußerst schwierig. Pfade zogen Kreise und führten zum Anfang zurück. Ein Weg spaltete sich auf zu zweien, zu vieren, zu einer unendlichen Zahl an identisch aussehenden Wegen. Manche endeten in Flüssen oder an Mauern. Andere verliefen Maulwurfshügel hinab oder hinauf zu tief hängenden Wolken. Immer wieder mussten Mats und Mathilde neue Wege nehmen, die samt und sonders da lang führten.

Doch selbst, als sie zufälligerweise den Pfad nahmen, auf dessen Wegweiser Wirklich da lang stand, schienen die beiden der Sonne kaum einen Schritt näher zu kommen. Wenn sie glaubten, sie ginge am Abend direkt hinter dem nächsten Hügel unter, tauchte sie am Morgen auf der anderen Seite des Himmels wieder auf. So folgten sie eine ganze Weile lang dem Pfad, der sich wie ein Fluss durch die Landschaft wand. Vorbei an Kürbisfeldern und Nadelwäldern. Durch Täler und Auen, über Balken und Brücken, die über Flüsse und Seen führten.

Sie machten erst Rast, wenn die Nacht den letzten Strahl der Sonne verschluckte.

Träume

Als sie an einem Herbstabend auf einer Lichtung am Waldrand rasteten und Mats sich mit geschlossenen Augen hinlegte, fragte Mathilde: »Was machst du da eigentlich immer?«

»Wenn’s Nacht wird, muss ich schlafen«, erklärte der Schwatz. »Dazu schließt du die Augen und bist dann irgendwie weg, obwohl du noch hier bist.«

»Versteh ich nicht«, sagte Mathilde, die nie schlafen musste.

»Na ja, der Körper liegt auf dem Boden, während die Gedanken eine Reise machen.«

»So wie wir, Mats?«

»Ja, Mathilde, so wie wir. Das nennt man ›träumen‹.«

»Träumen …« Verträumt blickte Mathilde ihren Freund an.

»In unseren Träumen is alles möglich.«

»Kann ich in meinen Träumen meine Mama treffen?«

»Na klar, Mathilde. Aber es is nur Einbildung. Es passiert nich wirklich.« Mathilde nickte. Sie schwieg betrübt.

»Was hast du, Mathilde?«, fragte Mats.

»Ich glaube, ich kann nicht schlafen.«

Mats legte mitfühlend einen Flügel an Mathildes Hals. »Das macht nichts«, sagte er sanft. »Träumen kannst du trotzdem.« Und da strahlte Mathilde, denn träumen, das stellte sie sich wundervoll vor. »Und dass du nich schläfst, is gar nich schlecht. So kannst du das Feuer hüten. Die Nächte werden kälter, da brauchen wir ein bisschen Wärme. Also ich zumindest.«

Mats sammelte mit Mathilde Äste und trockenes Herbstlaub, bis sie genug für ein stattliches Lagerfeuer hatten. Dann nahm der Schwatz zwei kleine Zweige zwischen die Krallen und rieb sie direkt über den Blättern blitzschnell aneinander, bis sie Funken schlugen und ein feuerrotes Ahornblatt plötzlich zu qualmen begann. Bald darauf wurden aus Funken flackernde Flammen. Mathilde betrachtete sie wie einen Zauber.

»Ist das Feuer?«, fragte sie.

»Genau«, sagte Mats. »Aber du darfst nich zu nah herangehen, sonst brennst du lichterloh, hörst du, Mathilde? Das is gefährlich.«

Die Vogelscheuche nickte lächelnd, auch wenn sie nicht wusste, wie etwas, das so schön war, gefährlich sein konnte.

Feuer

Kurz darauf röstete sich Mats an einem Zweig Vogelbeeren. »Möchtest du auch etwas essen?«, wandte er sich an Mathilde, die fasziniert beobachtete, wie er die Beeren ins Feuer hielt.

»Was ist ›essen‹?«, fragte sie, rief dann aber gleich: »Oh, ich weiß. Meine Mama hat manchmal ihre Puppen zu mir aufs Feld geholt. Und dann hat sie Teetassen und Teller mit Kuchen verteilt. Einmal hat sie ein Stück davon an meinen Mund gehalten. Das war essen, richtig?«

»Zumindest nahe dran. Wie wär’s, wenn ich uns nachher ein paar fette Regenwürmer brate?« Während Mats das Wasser im Schnabel zusammenlief, schüttelte Mathilde den Kopf.

»Würmer scheinen mir für eine Vogelscheuche nicht das Richtige«, sagte sie. »Außerdem würde das Essen in mir verfaulen.« Sie lehnte ihr Kinn auf die angewinkelten Beine und sah verträumt ins Feuer. »Ob es da, wo meine Mama ist, auch Feuer gibt?«

»Oh ja, Mathilde. Sicher wird dir deine Mama jeden Abend an einem herrlich prasselnden Kaminfeuer eine Geschichte vorlesen. Meine Mama hat uns Kindern jeden Abend vorgelesen: König Drossels Bart, zum Beispiel, oder Rotkehlchen und der böse Wolf.«

Mathilde lächelte selig. Sie spürte, wie sich ihr Herz erwärmte. So schwiegen die beiden eine Weile, um sie herum ein Lied aus Feuerknistern, Blätterrascheln und dem Ruf eines Kauzes. Das Feuer spuckte Funken ins Dunkel der Nacht. Wie winzige Sternschnuppen leuchteten sie auf und verglühten gleich wieder. Mathilde sah sich ein ums andere Mal behütet von der Schönheit der Welt wie unter einer frisch aufgeschlagenen Bettdecke.

Vergnügt versuchte sie, die flinken Funken des Feuers zu fangen. Als sie einen erwischte, sah sie mit einem staunenden »Oooooh« dabei zu, wie er in ihrer Strohhand immer größer wurde.

»Guck mal, Mats!« Mathilde reckte die Hand hoch wie eine Trophäe – die in Wahrheit ein lichterloh brennender Feuerball war.