Matt für die Menschheit - Finn Ole Boller - E-Book

Matt für die Menschheit E-Book

Finn Ole Boller

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Beschreibung

Was Sie gerade in der Hand halten oder aber auf dem Bildschirm des technischen Geräts Ihrer Wahl sehen, ist ein Buch. Wenn Sie wissen wollen, worum es geht, nun, fangen Sie an zu lesen!

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Inhaltsverzeichnis

Eröffnung in den Bergen

Zwei oder drei Jahre später, oder: Das Mittelspiel beginnt

Eine ganz normale Familie

Alea iacta fuit

Alles ist gut

Homeer

Es braut sich was zusammen

Der Biss des Krokodils

Die relative Ruhe vor dem Sturm

Das Gewitter (Sektion I)

Peter

Das Gewitter (Sektion II)

Eine wunderschöne Heirat

Das Gewitter (Sektion III)

Die relative Ruhe nach dem Sturm ist die relative Ruhe vor dem Sturm

Endspiel

Schach und Matt

ERÖFFNUNG IN DEN BERGEN

Norman würde in 2 oder 3 Jahren sterben. Dies konnte er jetzt, wo er auf dem Gipfel des Kitzbüheler Horns über ein Schachbrett gebeugt saß und um sein Leben sowie das seiner Töchter spielte, kaum ahnen, aber es würde so kommen. Damit würde Norman tatsächlich mit zu den Menschen zählen, welchen es gelungen war, die Apokalypse am längsten zu überleben. Dies war weniger seinem Mut, seiner Intelligenz, seiner Zähigkeit oder seiner Stärke (denn von all dem besaß er nur wenig) zu verdanken als vielmehr jener Mischung aus Glück und zur-richtigen-Zeitam-richtigen-Ort-sein, welche während der gesamten Menschheitsgeschichte für Erfolg verantwortlich war. Im Jetzt wäre Norman wohl für das Wissen, noch 2 oder 3 Jahre leben zu können, dankbar. Denn im Jetzt betrug seine Lebenszeit wesentlich weniger. Im Jetzt betrug seine Lebenszeit–

36 Sekunden. 36 Sekunden waren Norman von den anfänglichen 3 Minuten übrig geblieben. Normans Gegner hingegen hatte noch 1:24 Minuten. Norman lief der Schweiß von der Stirn in die Augen. Es war viel zu warm, um irgendetwas zu machen, geschweige denn, um auf Leben und Tod Schach zu spielen. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Wenn sie nur mit Inkrement spielen würden, wäre Normans zeitlicher Nachteil kein so großes, vermutliches todbringendes Problem, aber Sie fanden es ohne Inkrement amüsanter. Norman glaubte, dass er auf dem Brett gewann, was sein Gegner auch zu sehen schien. „Scheiße, scheiße, scheiße“ sagte dieser und in seiner Stimme steckte so viel Panik, dass Norman Mitleid mit ihm bekam. Bleib hart wie das Drahtseil der Seilbahn und unbeweglich wie der Berg, auf dem du sitzt, ermahnte er sich. Er musste gewinnen oder Laura und Anna würden ebenso den Tod finden wie er. Das konnte er nicht zulassen, nicht nach… nach… dem, was passiert war.

Die Uhr seines Gegners, dem die pure Furcht ins noch junge Gesicht geschrieben war und dessen Stirn vor Schweiß glänzte, tickte und tickte und tickte. 1:19, 1:18, 1:17. Und während dessen Zeit heruntertickte, sah Norman, was er tun musste. Als sein Gegner mit 1:04 auf der Uhr endlich seinen Zug spielte, feuerte Norman sofort seine Antwort heraus. Sein Gegner, Sie hatten ihm seinen Namen nicht verraten, überlegte wieder, lange, zu lange, viel zu lange, fror ein wie das Reh im Scheinwerferlicht. Norman spürte, wie sich etwas in ihm verhärtete. Wenn er verlor, so würde er sterben, und wenn er starb, so würden auch seine beiden Töchterchen sterben. Dies würde er nicht zulassen. Der reine, ungebrochene Fokus ergriff von ihm Besitz. Er verdrängte die Panik und die Angst nicht; er speiste sich von diesen. Und so spielten die beiden Menschen noch einige Züge; der eine immer ängstlicher werdend, während der andere mit jedem Zug mehr und mehr aussah wie ein zum Töten bereiter Krieger.

Der zusehende Günther begann plötzlich laut zu lachen, konnte es sich angesichts der schlechten Züge nicht verkneifen. „Sie spielen hier gerade eine ganz außergewöhnlich schlechte Partie“, sagte er in seiner hohen, fast schon kindlich anmutenden, stets von Freude erfüllten Stimme. Norman hatte diese Stimme vor 2 Tagen zum ersten Mal gehört und sie seitdem zu hassen gelernt.

Sein Gegner war am Verzweifeln. Er hatte noch 25 Sekunden Zeit, Norman 18. In seiner Stirn könnte man ein gutes Bad nehmen und er zitterte so stark, als würde jetzt schon der Strom durch ihn fließen. Norman war so sehr auf das Schachbrett fokussiert, dass er seine am Stuhl und Elektroden befestigte linke Hand nicht mal wahrnahm. Er brauchte nur die rechte. Er brauchte nur die rechte, um die Figuren zu führen wie ein Schwert, präzise, konzentrierter als konzentriert, todbringend.

Und dann ertönte es; das Piepen. Es war die Uhr seines Gegners, der noch 10 Sekunden Zeit hatte. Norman hatte noch 13 Sekunden Zeit. Das Piepsen der Uhr dröhnte in Normans Ohren. Es war nicht nötig. Die Uhr musste nicht piepen, musste nicht für einen der beiden Spieler ihre letzten Herzschläge auditiv darstellen. Aber Sie fanden es amüsant. Es piepte, hörte auf, als Norman dran war, piepte, hörte auf, als Norman dran war, piepte, hörte auf, als Norman dran war, piepte, piepte, piepte, piepte. Auch Normans Uhr war nun unter 10 Sekunden. Es war ein durchgehend in der Luft liegendes Geräusch; das hohe, panikerregende, herzinfarktauslösende, todesgongschlagende Piepen. Die Hände beider Spieler rasten hin und her; von Figur zu Uhr, von Uhr zu Figur, hin und zurück, hin und zurück; die Augen fuhren so schnell übers Brett, dass es verwunderlich war, wie sie in ihren Höhlen verbleiben konnten. Piep, Piep, Piep. Stille. Die Uhr seines Gegners stand auf 0. Norman hatte noch 2,4 Sekunden auf seiner stehen. Norman hatte gewonnen, hatte sich gerade so den Sieg zurechtgewürgt.

Günther lachte und stimmte, in perfekter Tonlage, mit seiner spöttischen, von Freude erfüllten Stimme, einen hohen Singsang an:

„Die Zeit ist um

und damit ist Ihr Leben rum.

Sie werden gleich vergehen

und können nie mehr stehen.

Sie werden bald verwesen,

können davon nicht genesen.

Ihr Tod ist jetzt gewiss,

durch Ihr Leben geht ein Riss.

Ihr Leben ist jetzt rum,

tja, schade, sei es drum.

Auf ewig schwindet die Wonne

und das helle Licht der Sonne.

Gleich haben Sie nie mehr Not,

sind dann für immer tot.

Gleich werde ich Sie grillen

ganz gegen Ihren Willen.

Fühlen Sie sich besser gehetzt,

denn dieser Moment ist Jetzt.“

Normans Gegner stand für eine Sekunde das Entsetzen ins Gesicht geschrieben; dann begann er heftig am ganzen Körper zu zittern. War das die Angst oder… Nein, es war schon der Strom, der durch dessen Körper zu fließen begann. Normans Haare stellten sich ihm zu Berge, ein Effekt, der bei seinem Gegenüber wortwörtlich stattfand.

Der Strom floss für insgesamt 2 Minuten. Günther stand nur daneben und lachte lauthals, nicht manisch, nicht wie die Disney-Bösewichte aus Normans Kindheit, sondern so, als hätte ein Komiker gerade einen mittelmäßig guten und schrecklich vorhersehbaren Witz über die Eigenheiten des weiblichen Geschlechts erzählt. Günther sah den zitternden Leib, dessen Augen langsam flüssig wurden und sein Gesicht hinunterzulaufen begannen, wohl als einen netten Zeitvertreib an. Dass er hier gerade etwas abgrundtief Böses und Abscheuliches tat, war ihm gar nicht bewusst. Wobei böse und abscheulich natürlich menschliche Kategorien waren. Und allzu menschlich konnte Günther nicht sein, wenn man bedachte, dass er ein Roboter war.

Norman verspürte starkes Mitleid mit seinem Gegner. Er war es zwar letzten Endes, der sein Todesurteil unterzeichnet hatte, aber nur um sein eigenes Leben und dass seiner Töchter zu retten. Er hatte nichts gegen seinen Gegner. Vielleicht hatte auch er Familie, und selbst wenn nicht, so hatte er es trotzdem nicht verdient, so zu sterben. Niemand hatte es verdient, so zu sterben. Norman hätte wegsehen können, doch er war gegen Brutalität inzwischen abgehärtet. Er hatte schon etwas Schlimmeres gesehen. Etwas viel Schlimmeres… Außerdem war er es seinem Gegner schuldig.

Günther war immer noch am Lachen, als der Strom längst aufgehört hatte, zu fließen und der Körper seines Gegners tot auf dem Stuhl lag. Günther wischte sich die Lachtränen aus den Augen, machte das langgezogene, von Erleichterung und Freude erfüllte Ahhh-Geräusch, welches man stets nach einem langen Lachanfall ausstieß, und riss sich merklich zusammen. Norman sah ihm angsterfüllt und voller Trauer ob des grauenhaften Tods seines Gegners in die Augen. Diese Augen. Sie waren das einzige äußere Merkmal, an denen man erkennen konnte, dass es sich um Roboter handelte. Ansonsten sahen sie einfach aus wie normale Menschen. Aber die Augen waren… sie waren zwar menschlich, doch man sah, irgendwie sah man, dass sich dort hinter kein Mensch befand, sondern wesentlich mehr. Ohhhh, wesentlich wesentlich mehr.

Günther schüttelte den Kopf. „f7, also wirklich. f7.“ Der nächste Lachanfall überkam ihn. Die Tränen liefen ihm wieder aus den Augen, so als würde er um das Leben, das er genommen hatte, trauern, wo er doch in Wahrheit ob diesem frohlockte (Natürlich missdeutete Norman katastrophal Günthers Intention. Dieser lachte nicht über den grauenhaften Tod von Normans Gegner; schließlich war er kein Unmensch; sondern über das Schachspiel, welches selbst aus menschlicher Sicht als schlecht bezeichnet werden muss. Es sei Norman verziehen; schließlich kannte er Günther erst seit 2 Tagen). Norman starrte ihn nur angsterfüllt an. Nach einer Zeit hörte Günther wieder auf zu lachen, stieß wieder „Ahhh“ aus (dieses sogar noch länger als das erste, was Norman jedoch aufgrund eines sehr seriösen Mangels an Hirnschmalz nicht auffiel) und sagte zu sich selbst: „Nein, Günther, f7 ist nicht lustig. Es ist nur ein… ein… normaler Zug. Nicht lustig. Wirklich nicht lustig.“ Endlich richtete er seine Augen auf Norman. In ihnen ließ sich klar, ganz klar, echte ungespielte Belustigung erkennen.

„Ich hoffe, Sie haben Ihre Schachpartie genossen, mein guter Herr. Sie haben durchaus ein respektables Spiel hingelegt.“ Günther machte sich gerne einen Spaß daraus, übertrieben höflich zu sein. Er machte sich aus allem einen Spaß; selbst aus seiner Namensgebung. Ursprünglich war er einfach nur „Modell 142, 3XABOJ5L“ gewesen. Doch ein Roboter wie er gab sich mit einem derartigen Namen natürlich nicht zufrieden. Also hatte er für sich den Namen Günther gewählt, einfach nur, weil kein anderer Name für einen Roboter unpassender erschien.

„Haben Sie Lust, einmal gegen mich zu spielen, mein guter Herr?“

Norman fühlte den kalten Schweiß auf der Stirn und sein rasend schnell pochendes Herz. Er fühlte sich zu nichts in der Lage, erst recht nicht zu einer weiteren Schachpartie. Voller Mitleid sah er auf die gebrochene, tote Gestalt seines Gegners. Es war ein elender Anblick. „Seines Gegners“, fiel ihm auf. Er kannte noch nicht einmal dessen Namen und er hatte ihn dennoch zu Tode verurteilt. Er war nicht der Vollstrecker, das war Günther, aber der Richter; der war er schon. Er wusste nichts, absolut gar nichts über seinen Gegner und dennoch stieg sein Mitleid von Sekunde zu Sekunde mehr an (hätte Norman doch später nur ebenso Mitleid aufgewiesen; dann wäre er jetzt vielleicht noch am Leben). Doch Mitleid wurde von tiefer Angst überflutet, als Norman an seine Töchter dachte. Er wusste nicht, ob Anna und Laura noch lebten; er konnte nur beten. Und fragen. „Bitte, was ist mit meinen Kindern?“, fragte er den freudig dreinblickenden Roboter.

Auf dem Gesicht von Günther zeigte sich leichte Missbilligung, unter der deutlich Ärger schwelte, so als hätte Norman ihn während einer sehr amüsanten sonntaglichen Feier in lockerer Atmosphäre plötzlich an die morgige Arbeit erinnert. Dann hellte sich das Gesicht von Günther ebenso plötzlich auf. „Was besteht zum Großteil aus Wasser, ist noch nicht zu voller Größe herangewachsen und hat keine Nasen und Ohren?“

Norman riss entsetzt den Mund auf. „Oh mein Gott“, entfuhr es ihm leise.

„Eine unreife Wassermelone“, sagte Günther und prustete los vor Lachen. „Haha, da hab ich Sie rumgekriegt, oder?“ Er lachte weiter, mit einer diebischen Freude. Schnell wurde er wieder ernst, oder besser gesagt so wenig albern, dass man es als Seriosität wahrnahm. Immer noch freundlich lächelnd sagte er: „Ihren Kindern geht es gut.“ Er runzelte die Stirn, was seinen Zügen nichts an Freundlichkeit nahm, sondern ihnen eher einen verspielten, theatralischen Eindruck gab. „Da bin ich mir zumindest relativ sicher“, fügte er hinzu, als würde er Norman den Weg zum Bahnhof beschreiben, und wäre sich nicht zu 100 Prozent sicher, ob er jeden Richtungswechsel korrekt angegeben hatte. Norman erschauerte. Er warf erneut einen Blick auf die schlaff im ihm gegenüberstehenden Stuhl hängende Leiche seines Gegners und konnte ihn nicht so recht wieder von diesem lösen. Er musste an den Tod denken, den er in den letzten 2 Tagen viel zu oft gesehen hatte. Ihm schoss das Bild des abgerissenen Frauenkopfs in den (sich noch auf seinen Schultern befindlichen) Kopf. Ein Zittern überkam ihn und wie so oft in den letzten Tagen liefen ihm bitterliche Tränen übers Gesicht. Er weinte nicht um sich, sondern weinte um seine Töchter und seine Frau, seine Freunde und seine Eltern, seinen namenlosen Gegner. Er weinte für keinen spezifischen Menschen, sondern für die gesamte Menschheit, für jeden einzelnen Menschen, den es gab beziehungsweise gegeben hatte. Denn die, je nach Definition, Jahrhunderte oder gar Jahrtausende anhaltende totale Herrschaft des Menschen über den Planeten, die ihn weniger an die Spitze der Nahrungskette als vielmehr über diese erhaben gestellt hatte, hatte vor 2 Tagen, am 14. Juni des Jahres 2026 (einem Tag, der als das zentrale Datum der Menschheitsgeschichte in die Geschichtsbücher eingegangen wäre, hätte es denn noch Menschen gegeben, die diese führten) ein jähes Ende gefunden. Norman war, so viel hatten die Roboter ihm gesagt, einer der wenigen Überlebenden, auch wenn er immer noch keine Ahnung hatte, warum dies der Fall war (Es sollte tatsächlich bis zum Tage seines Todes dauern, ehe Norman den Grund herausfand. Aber dazu kommen wir später).

Und so saß Norman da; auf seinem Stuhl zusammengesunken; und weinte um den Untergang der Menschheit, um den Tod seines unschuldigen Gegners. Norman konnte es noch nicht wissen, doch in zwei oder vielleicht auch drei Jahren hätte er sich nichts sehnlicher gewünscht, als nochmal so weinen zu können.

ZWEI ODER DREI JAHRE SPÄTER, ODER: DAS MITTELSPIEL BEGINNT

Zwei oder drei Jahre später, im Jahr 2028 oder 2029 also, saß er immer noch hier oben. Mit „oben“ meinte er die Kuppe des Kitzbüheler Horns, auf der er bereits vor zwei oder drei Jahren um sein Leben gespielt hatte. Damals hatte er natürlich an vieles gedacht, aber garantiert nicht an die ihn umgebende Landschaft. Im Angesicht des Todes vergilbte sie. Nun war es umgekehrt. Nun war es eine seiner Hauptbeschäftigungen, sich die Landschaft anzusehen, da er nicht viel mehr zu tun hatte. Die Tage vergingen schnell und langsam zugleich. An manchen Stellen zogen sie sich hin, wurden endlos lang. Dann wiederum fiel Norman auf, dass bereits weitere 10 Tage vergangen waren, die ihm im Rückblick wie eine Stunde vorkamen. Eine ungewöhnlich erscheinende und doch so normale Kombination, die durch Langeweile, Routine und immer gleich verlaufende Tage ausgelöst wurde. Früher hatte er dieses Problem nicht gehabt. Früher war er stets offen für neue Menschen und neue Erfahrungen gewesen. Früher hatte er gerne etwas unternommen, um Abwechslung in sein Leben zu bringen. Aber früher war eben früher und noch viel weiter entfernt, als es dem „Früher“ ohnehin anhaftete. Früher, das war nicht nur eine andere Zeit, das war auch eine andere Welt. Und da man sich den Zeiten anpasst, und nicht umgekehrt, war auch Norman zu einem anderen Menschen geworden, zum Post-Apokalypse-Norman. Seine Lachfalten waren verschwunden. Sie hatten jenem gleichgültigen, doch auch mit einer gewissen Trauer und Erschöpfung verbundenen Blick Platz gemacht, der sich so oft unter Über-50-Jährigen Arbeitern finden ließ, die seit 30 Jahren Woche für Woche schufteten und ihren Körper abnutzten, als hätten sie noch einen zweiten in Reserve. In seinem Haar zeigten sich bereits graue Strähnen, wo es vor zwei oder eben vor drei Jahren noch voll gewesen war. Vom ganzen Sitzen und Nichts-Tun hatte sich sein Rücken verkrümmt. Norman begann wahrlich einen Buckel zu entwickeln, auch wenn dieser noch längst nicht in all seiner Gekrümmtheit vollendet war (und, so viel sei an dieser Stelle verraten, niemals den Zustand der vollkommenen Krümmung erreichen sollte). Norman war 38 oder vielleicht auch 39, aber sah aus wie ein des Lebens müder 50-Jähriger. Nicht, dass dies wirklich zählte. Norman könnte auch aussehen wie Adonis; er war dennoch veraltet, überholt. Er war so aktuell wie ein Klapphandy aus den 2000ern. Er hatte die Apokalypse überlebt, doch in die Welt, die sie zurückgelassen hatte, passte er so gut wie ein Dinosaurier in die Steinzeit. Die Apokalypse. Er wusste nicht einmal mehr, wann sie gewesen war. Es könnten weniger als zwei oder auch mehr als drei Jahre gewesen sein, aber Norman glaubte irgendwie, dass es zwischen zwei und drei Jahren waren; irgendetwas in die Richtung von 1000 Tagen. Anfangs hatte er versucht, die Tage seit der Apokalypse, seit dem schicksalhaften 14. Juni des Jahres 2026, zu zählen, diesen als Basis für eine neue Zeitrechnung zu nehmen, die man vielleicht mit s.d.A. (seit der Apokalypse) abkürzen konnte, aber er hatte schnell den Überblick und auch schlicht das Interesse verloren.

Wie lange auch immer es her war, er hatte ebenso lange keine Menschenseele mehr gesehen. Das letzte Gesicht eines Menschen war das zerfließende Gesicht seines Gegners gewesen. An dieses konnte er sich noch genau erinnern, so detailliert und so Digital-Film-gestochen-scharf, dass man es sich als Bild an die Wand hängen könnte (wenn man denn solch ein Bild an die Wand hängen will). Und es gab noch ein anderes Gesicht, das ihm in Erinnerung geblieben war: der abgerissene Frauenkopf. Ein abgerissener Kopf und ein zerfließendes Gesicht, na super, dachte sich Norman und erschrak leicht, nur ganz leicht über die beißend sarkastische Bösartigkeit dieses Gedankens. Er hatte sich inzwischen an bösartige Gedanken gewöhnt, die er früher nicht, wie die meisten Menschen, für sich behalten, aber gedacht hatte, sondern die ihm schlicht und ergreifend nicht in den Sinn gekommen waren. Er hatte mal gelesen, dass schwarzer Humor mit Intelligenz zusammenhing. Nun, wenn dies stimmte, so war er im Verlauf der letzten zwei oder drei Jahre um ein Vielfaches schlauer geworden, von einem absoluten Idioten zu einem relativ begabten Menschen (nur so viel sei erwähnt: Norman sollte in Zukunft noch so Einiges an Begabung dazugewinnen). Aber was zählte Begabung schon? Alles, was er je erreicht hatte, alles, was er je gedacht hatte, alles, was er je bewundert hatte, war NICHTS im Vergleich zu dem, was die Roboter konnten. Er war ein Nichts. Nun, auch zuvor war er ein Nichts gewesen, wenn er ehrlich mit sich war. Er war einer jener Durchschnittsmenschen gewesen, wie sie durchschnittlicher nicht sein konnten. Frau mit zwei Kindern, durchschnittliche Ein-Familien-Wohnung in einer durchschnittlichen deutschen Kleinstadt in einer durchschnittlichen deutschen Gegend. Es hätte nur gefehlt, dass ein Kind ein Junge und das andere ein Mädchen war. Auch in der Schule war er durchschnittlich gewesen. In der Unterstufe hatte er in nahezu allen Fächern eine Zwei bekommen; in der Oberstufe und damit seinem Abitur war dies durch jenen typischen Mix aus Zweien und Dreien ersetzt worden. Zu gut für Vieren, zu schlecht für Einsen; das Schicksal des mittelmäßigen Schülers. Danach hatte er studiert; auch dies heutzutage eine Norm. Er hatte BWL studiert; natürlich; das normalste und gängigste aller Studienfächer. Er hatte seinen Bachelor ebenso wie sein Abitur mit mittelmäßigen Noten abgeschlossen. Direkt danach war er zurück in seinen Geburtsort gezogen und hatte angefangen, dort in einem normalen Unternehmen als Büroangestellter zu arbeiten. Es war ein Beruf, für den man weder viel noch wenig Gehalt bekam, der weder prestigeträchtig noch verhasst war. Mit 28, einem typischen Alter, hatte er Klara geheiratet, die natürlich aus demselben Ort stammte wie er. Ein Jahr später war Laura und zwei Jahre darauf Anna zur Welt gekommen. Norman hatte ein Leben geführt, wie es normaler nicht sein konnte, ehe die Apokalypse gekommen war und Normalität in einen unerreichbaren Zustand verwandelt hatte Norman war sich nicht bewusst, dass er hier oben ebenfalls in völliger Normalität lebte, einer neuen Normalität. Diese war schon so sehr zur Normalität geworden, dass Norman sich gar nicht bewusst war, dass es die Normalität war. Es hatte den Punkt überschritten, an dem etwas schlicht so sehr in Fleisch und Blut übergegangen war, dass man es gar nicht wahrnahm. So wie man sich des Nachts blind in seinem Haus fortbewegen konnte, war die ihn umgebende Landschaft der Kitzbüheler Alpen, die Anwesenheit von Robotern, die Abwesenheit von Menschen und die Tatsache, dass auf der Erde vielleicht noch 10 Millionen Menschen (es waren deutlich weniger) am Leben waren, davon alle in der Hand der Roboter, nichts Außergewöhnliches mehr und auch nicht außergewöhnlich oder neu genug, dass er sie als Normalität wahrnahm, nein, sie waren einfach nur. Sie waren einfach Gegebenheiten und Norman hinterfragte sie ebenso wenig das Wetter.

„Schönes Wetter, oder?“, hörte Norman eine Stimme hinter sich. Er drehte sich um, auch wenn er natürlich wusste, wem diese Stimme angehörte. Hier oben gab es schließlich nur ein Lebewesen (trotz all der Tierdokus, die Norman früher so gern gesehen hatte, vergaß er, die hier oben lebenden Tiere dazuzuzählen). Günther. Mit langen Schritten kam der Roboter auf ihn zu. Sein Gesicht war eine einzige Lachfalte. Sonst sah es so schlicht und normal aus, wie ein Gesicht schlicht und normal aussehen kann. Er wirkte weder besonders stark noch besonders schnell, doch Norman wusste, dass er beides war. Er hatte Günther schon in Aktion gesehen und würde es nie vergessen, würde es nie vergessen können.

„Ja“, antwortete Norman. Es stimmte. Das Wetter war herrlich. Die Sonne schien an einem wolkenlosen Himmel. Doch es war nicht zu warm, nicht unangenehm heiß, sondern eben angenehm. Und wo angenehme Wärme und Sonnenschein in anderen Regionen der Welt halt einfach schön und angenehm waren, ließen sie hier das herrlichste aller Panoramen in all seinem Glanz erstrahlen.

Norman sah gerade nach Nordwesten; ungefähr in Richtung seiner ehemaligen Heimat, so wie Muslime, die sich beim Gebet Richtung Mekka wenden. Aber nicht nur die Krümmung der Erde war ihm im Weg, sondern etwas direkter die wilden Hänge des Wilden Kaisers. Er war für Alpenverhältnisse an sich ein kleiner oder zumindest kein hoher Bergzug, aber wirkte bei weitem größer als er war; wirkte wie Karl der Große, wo er eigentlich Napoleon war. Seine Spitzen liefen in steilen, steinernen Hängen zu, wie sie sich eigentlich erst in der Gegend von 3000 Höhenmetern finden ließen. Aber der Hauptgrund, aus dem er so groß wirkte, war der Einsame-Berg-Effekt. Die Berge um ihn herum strahlten in herrlichem Grün, waren zu niedrig, um steinerne Steilhänge aufzuweisen. Sie waren flach und freundlich; wirkten wie vergrößerte Versionen der 400-600-Höhenmeter-Mittelgebirgs-Berge, inmitten derer Norman aufgewachsen war; nein, inmitten derer Norman, der Vor-Apokalypse-Norman, der echte Norman, gelebt hatte. Im Vergleich zu diesen freundlichen harmlosen Bergen wirkte der Wilde Kaiser so brutal und unzivilisiert wie die Soldatenkaiser im Vergleich zu Marcus Aurelius. Stünde er im Süden, würde er nur wie ein Gebirgszug unter vielen wirken; nein, er wäre gar nicht erst zu sehen, da er von höheren Bergen versperrt werden würde. Richtung Süden wurden die Berge etwas steiler, doch behielten vorerst ihre Freundlichkeit bei. Dann fielen sie ab, in jenes breite, wie mit dem Lineal gezogene Tal der Salzach, das die flachen Kitzbüheler Alpen von den hohen Hohen Tauern trennte. Es bildete eine so perfekte Grenze, als habe ein Autist das alles erschaffen. Ist Gott ein Autist, fragte sich Norman, ehe ihm auffiel, dass er kein Kreationist war und glaubte, dass geologische Verschiebungen und nicht Gott die Alpen errichtet hatte. Hinter dem von hier aus logischerweise nicht erkennbaren Tal der Salzach erhoben sich, in zunehmender Entfernung immer höher und höher werdend, die Hohen Tauern; der höchste Gebirgszug Österreichs, auch wenn es ein „Österreich“ nicht mehr wirklich gab. Viele Gipfel waren, bis hierhin erkennbar, schneebedeckt, was in der aktuell herrschenden Hitze unpassend und doch oder gerade ob des Kontrasts wunderschön wirkte. Norman richtete seinen Blick nun von der Ferne auf seine direkte Umgebung; die Kuppe des Kitzbüheler Horns. Es war ein schöner Berg; das musste Norman sich eingestehen. Nach Kitzbühel hin lief er relativ flach und grün ab. Von dort aus schlängelte sich ein steiler, schmaler Betonweg in ebenso schmalen und steilen Serpentinen den Berg hinauf. Von hier aus kam auch die Seilbahn; die ursprünglich den Namen „Horngipfelbahn“ trug, aber jetzt nur noch „Die Seilbahn“ genannt wurde. Wo das Kitzbüheler Horn nach Westen hin flach abfiel, fiel es nach Norden und Nordwesten in einer Steilwand ab, die den Tarpejischen Felsen wie Kinderspielzeug wirken ließ. Als Norman sie das erste Mal gesehen hatte, war er sich sicher gewesen, dass die Roboter ihn hier herunterwerfen würden, dass dies ihre Hinrichtungsmethode sei. Aber nein; es war wohl zu offensichtlich und passend für sie, die geborenen Nonkonformisten.

Wohin Norman jedenfalls auch blickte; es sprang ihm nur die reine Schönheit in die Augen. Er konnte gar nicht anders, als Schönheit zu erblicken. Doch Norman konnte diese Landschaft nicht genießen, nicht wirklich. Äußere Schönheit kann man nur bei innerem Frieden wahrnehmen.