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Eine herrlich frische Liebeskomödie Alle glauben, dass die besten Freunde Sage und Charlie füreinander bestimmt sind. Obwohl Charlie jeden Monat eine neue Freundin hat und Sage noch nie eine richtige Beziehung hatte. Als Luke Morrissey auf dem Bexley-Campus auftaucht, bringt seine Anwesenheit sofort alles durcheinander. Charlie und Luke fühlen sich vom ersten Moment an zueinander hingezogen, was Sage die Möglichkeit gibt, Zeit mit Charlies Zwillingsbruder Nick zu verbringen. Aber Charlie hat Angst davor, zu seinen Gefühlen für Luke zu stehen. Und Sage fürchtet, Nick könnte sie für die Liebe seines Lebens halten. Sage und Charlie werden sich aufeinander verlassen müssen, auf ihre lebenslange Freundschaft, um die Dinge mit den Jungs, die sie lieben, zu klären. Die Tropes: Slow Burn, Best Friend's Brother, Friends to Lovers, Boarding School Romance, Highschool Romance, Opposite Attraction, Boy loves Boy, LGBTQIA+-Love, Secret Love, Found Family, Boarding School Alle Bücher von K.L. Walther The Summer of Broken Rules What happens after Midnight Die Bände sind unabhängig voneinander lesbar.
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Seitenzahl: 440
Veröffentlichungsjahr: 2025
ZWEI FREUNDE, DIE FÜREINANDER ALLES SIND – ZWEI LIEBENDE, DIE SICH NICHT TRAUEN, ZU IHRER LIEBE ZU STEHEN
So was wie zwischen Nick und Sage.
Was war denn zwischen uns?
Liebe, wurde mir klar. Liebe, aber eine Liebe, für die ich noch nicht bereit war.
Eine Liebe, die mir im Moment nur eine Riesenangst einjagte.
Mein Herz zog sich zusammen.
Du könntest es tun, Charlie, wurde mir klar und mein Körper erzitterte.
Du könntest dich einfach vorbeugen und Luke küssen.
K. L. Walther in der Reihe Hanser:
The Summer of Broken Rules – Als unsere Liebe begann
What happens after Midnight? – Die erste Nacht vom Rest unseres Lebens
Maybe Meant To Be – Füreinander bestimmt – vielleicht
K. L. Walther
Nur Freunde oder doch mehr?
Aus dem Englischen von Susanne Hornfeck
An meine Eltern:
Mom für die vielen langen Spaziergänge
und die vielen Stunden in der Kommandozentrale.
Und für Dad, weil Bexley ohne dich und deine Jahrbücher nicht mehr existieren würde.
In den Ritzen an meinem Fensterbrett steckten Zigarettenkippen, was Mom sofort bemerkte. »Die sind nicht von mir!«, platzte es aus mir heraus, als sie zwei davon hochhob, die ganz braun und versengt waren. Dabei verstand sich das eigentlich von selbst – schließlich wohnte ich gerade mal zehn Minuten in diesem Zimmer. Das Bett war noch nicht mal bezogen.
Missbilligend schüttelte sie den Kopf. »Nehmt doch nächstes Mal bitte einen Aschenbecher.«
»Vielleicht ist hier einer drin«, scherzte mein Vater und zog eine Schreibtischschublade heraus. Ich wunderte mich, dass die Putzleute die Kippen nicht bemerkt hatten. Mom hatte gleich beim Reinkommen das Fenster aufgerissen, weil der Geruch nach Putzmittel noch so stark war.
»Wer hat letztes Jahr hier gewohnt?«, fragte sie und pulte eine weitere Kippe heraus.
»Schuyler Cole«, sagte ich und musste lachen. Fast hätte ich Mom gebeten, mit dem Saubermachen aufzuhören, damit ich die Kippen nachher den Mädels zeigen konnte. Meine Freundin Reese hatte mir schon aus ihrem Zimmer im zweiten Stock geschrieben, dass die letzte Bewohnerin ihr Abschlussballkleid im Schrank hängen gelassen hatte.
War wohl kein schöner Abend für sie, hatte ich zurückgeschrieben.
»Schuyler Cole …«, überlegte meine Mutter. »Ist sie nicht …?«
»Ja, genau. Charlies Ex.«
Sie nickte. »Kommt er nachher noch vorbei, um Hallo zu sagen? Er könnte dir auch ein bisschen helfen. Wir wissen doch alle, wie sehr du es liebst, deine Koffer auszupacken.«
»Schön wär’s.« Ich lächelte. »Er ist noch beim Proben.« Charlie war schon eine Woche früher an die Schule zurückgekommen, weil dann immer schon die ersten Trainings und die Proben für das Musical begannen. Dieses Jahr würde Ab in den Wald gespielt werden, ein Stück, das verschiedene Motive aus den Märchen der Gebrüder Grimm aufgriff, und er hatte natürlich die Rolle des Märchenprinzen übernommen.
Mom seufzte. »Unser Prinz Charming. Und was ist mit Nicky?«
Ich schüttelte den Kopf. »Fußball.«
»Lass doch, Andrea«, meinte Dad lachend. »Wir brauchen keine Hilfe. Das ist Sages letztes Jahr hier an der Bexley. Wir schaffen das.«
Ich lächelte. Es war so schön, dass meine Eltern mich immer gemeinsam ins Wohnheim brachten, obwohl sie geschieden waren. »Oh, super!« Ich tat so, als würde ich gähnen. »Mir ist nämlich schon ganz schwummrig von dem Chlorgeruch.« Ich ließ mich auf die Matratze fallen und schloss die Augen. »Bitte weckt mich, wenn die Leute von Schöner Wohnen für das Fotoshooting kommen.«
Ich ging auf ein Internat, auch wenn das eigentlich nicht so geplant gewesen war. In der dritten Klasse träumte ich noch davon, später mal in Blau-Weiß gekleidet die Footballteams der örtlichen Highschool anzufeuern und vielleicht zur Abschlussballkönigin gewählt zu werden. Aber in der Achten zerplatzten diese Pläne dann mit einem Schlag wie Seifenblasen. Ich saß mit Charlie auf den Ehrenplätzen ganz hinten im Bus, und er erklärte mir, dass er nicht noch zum Eisessen und Fernsehen zu mir kommen könne, weil er seine Bewerbung für die Bexley School schreiben müsse. »Mom will, dass Nick und ich heute anfangen«, erklärte er. »Damit uns nicht am Ende die Zeit knapp wird.«
»Warte mal. Welche Bexley School?«, hatte ich gefragt. »Meinst du dieses Internat? Wo Kitsey hingeht? Ihr wollt da auch hin?«
»Na ja, schon«, meinte Charlie schulterzuckend. »Unsere ganze Familie geht da hin. Mein Großvater, Dad, Kitsey … Und Nicky und ich natürlich auch.«
Zu Hause angekommen, verputzte ich erst mal eine Portion Cookie-Dough-Eis und schaute eine Folge Gossip Girl, dann fing ich mit meiner Bewerbung an. Wenn Charlie an die Bexley School ging, würde ich das auch tun. Ich würde nicht zulassen, dass man uns trennte.
Lächelnd befestigte ich nun ein Bild von uns beiden über meinem Bett. Darauf trug ich Charlies Ersatz-Eishockeytrikot und hatte schwarze Streifen unter den Augen, stand auf seinen Schlittschuhen und ließ mich von ihm vor der Umkleide im Kreis herumwirbeln. Daneben hing ein Schnappschuss aus der fünften Klasse, der nach einer Schulaufführung von Charlie und die Schokoladenfabrik geknipst worden war, auf dem wir beide einen riesigen Blumenstrauß in der Hand hielten.
Meine Eltern waren inzwischen wieder weg, meine Mutter fuhr zurück nach Connecticut, mein Vater nach New York, und die Mädels und ich wollten gleich rüber ins Pearson Arts Center, kurz PAC genannt, zur Begrüßungsschulversammlung für das neue Schuljahr. »Okay, das reicht jetzt an Bildern.« Reese wedelte mit ihrem Handy. »Jennie hat die Liste mit den Neuen geschickt.«
»Oh, cool!« Nina sprang von meinem Schreibtischstuhl auf. »Ist ein Brite dabei?«
Ich lachte. »Trauerst du etwa immer noch Jamie hinterher?«
Nina wurde rot. »Hör mal, er war echt nett.«
»Und er hatte eine stinkreiche Freundin zu Hause sitzen, Miss Davies«, rief Reese ihr in Erinnerung. Nina und ich folgten ihr aus dem Zimmer, durch den Gang und die Treppen runter. Draußen wurden wir sofort vom Strom der Schüler mitgerissen. Bexley hatte sich zur Begrüßung herausgeputzt: An der Aula hingen unsere schwarz-blauen Schulflaggen, und bestimmt stand Schulleiter Griswold mit seinem Retro-Schnauzbart am Eingang und begrüßte jeden persönlich mit Handschlag. So lief es jedes Jahr, und obwohl ich mich auf der Fahrt zur Schule schon sehr darauf gefreut hatte, stieg ein leises Gefühl der Enttäuschung in mir auf, als hätte ich insgeheim gehofft, dass es diesmal anders wäre.
Aber es sah ganz so aus, als würde auch in diesem Jahr alles beim Alten bleiben.
»Okay, was ist jetzt mit Jennies Liste«, fragte ich, während wir uns Arm in Arm der Menge anschlossen. Jennie Chu war unser vierter Musketier, und als Vorsitzende des Schülerrats hatte sie Zugriff auf die Namensliste der Jungs, die in diesem Jahr das Postgraduierten-Programm unserer Schule besuchten. Die meisten hatten an ihrer Highschool schon einen Abschluss gemacht und kamen wegen des Sportangebots an die Bexley, bevor sie an ein College wechselten. Trotzdem nahmen sie noch am Unterricht des Abschlussjahrgangs teil. Sie wurden von allen nur die PGs genannt. Ninas Schwarm vom letzten Jahr, Jamie, war ein Fußball-PG gewesen.
Reese schaute auf ihr Handy. »Keine Briten«, verkündete sie. »Aber zwei Football-Jungs, beide aus Texas, ein Lacrosse-Bro aus Long Island …« Sie schaute auf und grinste mich an. »Sage, du hast ja so ein Glück.«
»Warum?«, fragte ich. »Geht Shawn Mendes dieses Jahr hier zur Schule?«
Meine Freundin schüttelte den Kopf. »Nein, aber ein PG namens Luke Morrissey und du wirst ihn schon sehr bald kennenlernen.«
Luke Morrissey, überlegte ich. Woher kenne ich den Namen?
»Oh mein Gott«, rief Nina. »Du wirst bei der Versammlung neben ihm sitzen. Morgan und Morrissey. Wegen der alphabetischen Sitzordnung!«
»Ich kenne den Namen«, meinte ich. »Was macht er hier?«
»Leichtathletik«, antwortete Reese. »Er kommt aus einem Ort in Michigan. Grosse Pointe.«
»Das liegt direkt neben Detroit«, informierte uns Nina, nachdem sie auf Google Maps nachgeschaut hatte. Sie sah mich an.
Schulterzuckend entgegnete ich: »Grosse Pointe klingt irgendwie bekannt.«
Aber woher?
»Such ihn auf Insta«, schlug Reese vor. Insta war ihre Antwort auf alles.
Ich lachte. »Niemals. Ich will nicht wissen, dass seine Familie einen Goldendoodle namens Waffle hat, bevor ich ihm persönlich begegnet bin.«
Reese sah mich mit hochgezogener Augenbraue an. »Waffle?«
»Ja! Wär doch niedlich, oder?«
»Sehr nie…« Aber Nina wurde von der Schülermenge unterbrochen, die nun vorwärtswogte. Wir ließen uns mit den anderen treiben und landeten schließlich getrennt voneinander im Auditorium des PACs. Hunderte Stimmen hallten von den weißen Wänden wider, während ich mich durch eine Horde Elftklässler-Jungs in gestreiften Poloshirts kämpfte. Auf einmal freute ich mich darauf, meinen neuen Sitzplatz zu finden.
Nachdem ich mich fast in den Luftballons vor dem Eingang verheddert hatte, war mir nämlich wieder eingefallen, wer Luke Morrissey war. Ich erinnerte mich an ein Gespräch im Mai mit Charlie, das so angefangen hatte: »Tante Caroline hat gestern angerufen und gesagt, der Junge, der meine Cousinen babysittet, kommt nächstes Jahr an die Bexley. Der, in den die kleine Tate verliebt ist …«
»Du bist der Babysitter von den Cousinen der Carmichael-Zwillinge!«, rief ich, sobald ich in meine Reihe einbog. Bei diesen Worten drehte sich ein Kopf …
Ein superhübscher Kopf.
Ein superhübscher Kopf, der so aussah, als hätte ich ihm ins Gesicht geschlagen. Seine Wangen liefen knallrot an, und als ich mich auf den Stuhl neben ihn fallen ließ, fuhr er sich mit der Hand verlegen durch die pechschwarzen Haare. (»So Haare, wo man mit den Händen durchwuscheln möchte«, erzählte ich den Mädels später.) Seine Augen huschten hinter einer Schildpattbrille hin und her. »Äh, wie bitte?«, fragte er.
»Du bist doch der Babysitter von den Cousinen der Carmichael-Zwillinge«, wiederholte ich.
»Oder Luke.« Der Junge nickte. »Man nennt mich auch Luke. Ist kürzer.«
Lächelnd streckte ich ihm die Hand hin. »Ich bin Sage.«
»Nett, dich kennenzulernen«, sagte Luke, dann verstummte er. Es war keine peinliche, aber eine schüchterne Stille.
Das störte mich nicht.
»Und warum bist du in Bexley?«, fragte ich, obwohl ich schon wusste, dass er Leichtathletik machte. Gleichzeitig hätte ich mich am liebsten selbst gekniffen, weil ich schon wieder so total begeistert klang. Wenigstens ist Charlie nicht hier. »Ihr zwei macht den Leuten Angst«, hatte Nick mal gesagt. »Ihr seid wie Sonnenschein auf Speed.«
»Oh«, sagte Luke. »Wegen meiner Unentschlossenheit.«
Ich blinzelte. »Was?«
Luke grinste, und ich spürte ein leises Flattern in meiner Brust. »Wegen meiner Unentschlossenheit.«
Fragend schaute ich ihn an. »Nicht wegen Leichtathletik?«
»Nein.« Er schüttelte den Kopf. »Ich meine, ja, ich mache Leichtathletik, aber deshalb bin ich nicht hier. Ich habe letztes Schuljahr meinen Abschluss gemacht, aber noch keinen Plan, was ich auf dem College studieren will.« Er zögerte. »Das, äh, klingt jetzt wahrscheinlich ein bisschen kindisch, aber ich fühlte mich einfach noch nicht bereit dafür.«
»Na ja, ich will dich ja nicht beleidigen«, sagte ich lachend, »aber du siehst auch nicht wirklich so aus.«
Luke lächelte und verdrehte die Augen. »Ja, ich weiß, dass ich eher wie vierzehn aussehe. Sogar meine Schwester Becca, die vierzehn ist, sieht älter aus als ich.«
»Hast du dich auch woanders beworben? Oder nur hier?«
»Nein, auch in Lawrenceville, Taft und Kent. Aber Bexley war meine erste Wahl.«
»Hast du Charlie und Nick schon getroffen?«
Noch ein Kopfschütteln. »Noch nicht. Kennst du sie gut?«
»Das kann man so sagen.« Ich grinste. »Wir haben als Kinder zusammen in der Badewanne gesessen.«
»Und wie sind sie so?«
»Oh, also Charlie ist einfach der Beste!«, sagte ich, aber dann verdunkelten sich die Lichter, und eine riesige Leinwand wurde vor dem blauen Samtvorhang auf der Bühne heruntergelassen. Mit einem Lächeln machte ich es mir auf meinem Sitz bequem. Was jetzt kam, war der Grund für den Massenandrang vorhin. Es war Tradition, dass der Schülerrat die Schulversammlungen moderierte, und für die Begrüßungsversammlung ließen sie sich jedes Mal eine megacoole Aktion einfallen.
»Aufgepasst«, flüsterte ich Luke zu. »Das wird krass!«
Was jetzt kam, war ein zehnminütiges Video im Stil von The Office, das einen Emmy verdient hätte. Der Sketch drehte sich um ein Pseudo-Schülerratstreffen, wo jedes Mitglied sich selbst und sein Amt verarschte. Die Vorsitzende Jennie hämmerte frustriert auf dem runden Besprechungstisch herum, Bexley sei zwar eine gute Schule, in diesem Jahr aber hätten sie die Aufgabe, sie zu einer großartigen Schule zu machen.
»Ich schätze Jennies Leidenschaft«, erklärte ihr Stellvertreter Samir Khan anschließend in einer dazwischengeschnittenen Interviewszene, »aber wenn Bexley wirklich eine großartige Schule werden soll, muss sie meine Idee unterstützen, ein besseres Schüler-Tutoren-System einzuführen, anstatt sich nur auf die Sport- und die Theaterabteilungen zu konzentrieren …«
Dann schwenkte die Kamera zu Jennie in der Bücherei, wo sie von den rothaarigen Carmichael-Zwillingen hingebungsvoll umsorgt wurde. »Sie sind wirklich extrem verspannt, verehrte Schulsprecherin«, erklärte Nick in seinem Hockey-Trikot, während er ihre Schultern massierte.
»Oh, Nick, ich weiß. Bitte scheu dich nicht, noch etwas fester zuzudrücken …« Sie seufzte glücklich, als Charlie ihr ein Stück Schokolade aus einer riesigen Pralinenschachtel anbot. Er trug dabei sein Märchenprinzkostüm und strahlte über das ganze Gesicht. (»Der Junge könnte mit seinem Lächeln ein Feuerwerk entfachen«, sagte Mom immer über ihn.)
»Und die hier, verehrte Jen, hat eine Himbeersahne-Füllung.« Er biss langsam und verführerisch von der Praline ab und leckte sich die Lippen, bevor er den Rest in Jennies Mund schob.
»Das sind sie«, flüsterte ich Luke ins Ohr.
Luke nickte, sagte aber nichts. Er schaute nur gebannt nach vorne und hörte zu, als Jennie nach dem Film auf die Bühne kam und die Schüler für das neue Schuljahr willkommen hieß. Dann stellte sie den Rest des Schülerrats vor. »Und zuletzt noch der Leiter unseres Kultur-AKs: Charlie Carmichael«, verkündete sie. »Seine Lieblingsfarbe ist Blau, er liebt Cool Ranch Doritos, und bevor ihr fragt: Nein, er arbeitet nicht als Model für Surfmode!«
Aus dem Augenwinkel bemerkte ich, wie Luke sich auf seinem Sitz vorbeugte.
»Hast du Lust, mit in die Mensa zu kommen?«, fragte ich, als die Lichter wieder angingen. »Ich möchte dir meine Freunde vorstellen.« Zwar dachte ich dabei vor allem an Charlie, aber er, Nick und Jennie würden nicht dabei sein. Der Schülerrat aß am ersten Abend immer zusammen mit Schulleiter Griswold und den Dekanen in einem Restaurant in der Stadt.
Auf Bexleys Kosten, hatte Charlie mir vorhin geschrieben. Ich hol mir ein Steak.
»Ja, gerne.« Luke folgte mir aus der Reihe. »Das wäre cool.«
»Es gibt zwei verschiedene Mensen«, erklärte ich, sobald wir das Gebäude verlassen hatten. »Leighton Hall ist größer und für die jüngeren Schüler. Die Addison Hall ist kleiner. Da gehen wir jetzt hin, weil dort nur Zwölftklässler essen dürfen.«
»Okay.« Luke nickte. »Das ist das Gebäude neben meinem Wohnheim. Und wo wohnst du?«
»Da drüben«, sagte ich und deutete hinter uns. »Im Simmons House. Das ist das Wohnheim für die Mädchen der Zwölften.«
Luke pfiff leise. »Ganz schön weit weg.«
»Stimmt, aber ich habe ein Fahrrad.« Mein geliebtes Mountainbike, das, statt über Waldtrails zu rasen, nun über die Kopfsteinwege von Bexley holpern musste. »Wespe« hatte Nick es vor zwei Sommern getauft, wegen der grellen schwarz-gelben Lackierung.
Eva Alpert hielt uns die Tür auf, als wir die Addison Hall erreichten. »Hallo, Sage!«
»Hi, Eva.« Mit einem freundlichen Lächeln stellte ich ihr Luke vor. »Das ist Luke. Er ist ein PG.«
Man konnte förmlich zusehen, wie Eva in der Türöffnung dahinschmolz. »Oh, sup… Äh, schön dich kennenzulernen«, stotterte sie und wickelte eine Locke um ihren Finger. »Es wird dir hier bestimmt gefallen.« Und ich ertappte sie dabei, wie ihre Augen Luke von oben bis unten scannten.
Hör auf, hätte ich am liebsten gesagt, weil sich sofort ein Beschützerinstinkt in mir regte. Ich nahm Lukes Arm und führte ihn ins Gebäude.
»Ich fühle mich ein bisschen bedrängt«, flüsterte er mir zu, sobald wir in der langen Schlange vor der Essensausgabe standen. Ein paar Köpfe vor uns konnte ich Reeses glatte dunkle Zöpfe erkennen. Egal, wo – sie war einfach nicht zu übersehen.
»Typisch Eva«, antwortete ich leise. »Sie ist nett, aber mit Jungs ist sie immer so.« Ich lachte. »Und du bist total ihr Typ.«
Ich dachte an Jeremy Tanaka, Nicks Mitbewohner in der Neunten. Eva war letztes Jahr kurz mit ihm zusammen gewesen; er sah zwar nicht annähernd so gut aus wie Luke, aber die beiden waren sich schon ein bisschen ähnlich. Beide hatten irgendwie so einen knuffigen künstlerisch-intellektuellen Vibe an sich.
»Oh, das tut mir leid für sie«, erwiderte Luke und schob die Hände in seine Taschen.
»Dann ist sie also nicht dein Typ?«, wollte ich wissen.
Grinsend schüttelte Luke den Kopf. »Nicht wirklich, nein.«
»Gut. Sie hat nämlich mal behauptet, dass Charlie als Schauspieler völlig überschätzt würde.« Prüfend schaute ich mich um, ob uns auch niemand zuhörte. »Aber ich glaube, das lag nur daran, weil sie eifersüchtig auf Greer Mortimer war.«
»Warum sollte sie auf Greer Mortimer eifersüchtig sein?«
»Weil Greer schon in drei Musicals mit Charlie rumknutschen durfte. Sie spielen immer das Paar, und Eva ist immer die Böse. Dieses Jahr ist sie die Hexe.«
»Ist Charlie auch Evas Typ?«
Ich lächelte. »Charlie ist jedermanns Typ.«
Kurz vor neun trabte Charlie endlich durch den Vorgarten meines Wohnheims. Er trug ein hellblau kariertes Hemd, die Ärmel bis zu den Ellbogen hochgekrempelt, seine üblichen Ledermokassins und dunkelblaue Stoffhosen mit einem schwarz-grünen Stoffgürtel, den ich ihm letztes Weihnachten geschenkt hatte.
»Hey, Prinz Charming!« Reese winkte ihn zu uns auf die Veranda, und fünf Sekunden später lag er schon neben mir in der Hängematte. Er legte den Arm um mich, und ich umarmte ihn ganz fest und roch den vertrauten Seifenduft von Irischer Frühling. Es kam mir so vor, als hätten wir uns seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen, weil die Carmichaels den ganzen Sommer in ihrem Ferienhaus auf Martha’s Vineyard verbracht hatten. Ich war zwar im Juli ein paar Wochen bei ihnen gewesen, aber das war gefühlt schon Ewigkeiten her.
»Das ist nur ein Kurzbesuch«, erklärte Charlie. »Ich muss gleich zurück ins Wohnheim. Die Party fängt gleich an.«
Wir lachten. Charlie war Vertrauensschüler im Daggett House, einem der Unterstufenwohnheime, und musste heute Abend ein paar Kennenlernspiele anleiten. Wir haben die Heizung im Gemeinschaftsraum voll aufgedreht für eine Runde Hot Yoga, hatte er mir nachmittags im Spaß geschrieben.
»Schade, du hast gerade Luke verpasst«, meinte Reese, während ich Charlie über seine rotgoldenen Haare strich.
»Wer ist Luke?«, fragte Charlie neugierig.
»Luke Morrissey«, erklärte Nina. »Der PG, der bei deinen Cousinen um die Ecke wohnt.« Wir hatten beim Spaghetti-Essen alles über ihn erfahren. »Ja, die Hoppers kenn ich schon ewig«, hatte Luke erklärt. »Adelaide, Tate und Banks sind echt cool.«
»Wir haben den ganzen Tag mit ihm verbracht«, fügte Reese hinzu. »Vor zehn Minuten ist er erst weg.« Schulterzuckend meinte sie: »Bei ihm im Wohnheim ist irgendein Treffen, wo er dabei sein muss.«
»Du musst ihn echt kennenlernen, Charlie«, sagte ich. »Er ist richtig cool.« Fragend schaute ich die Mädels an. »Oder?«
Ich wusste, dass sie mir zustimmen würden; wir hatten uns alle beim Abendessen in ihn verliebt. »Dem Himmel sei Dank für die alphabetische Sitzordnung«, hatte Nina mir zugeflüstert, als Luke erklärte, warum er ein PG-Jahr einlegte (»Ich nenne es die ›Ehrenrunde‹ meiner Highschoolzeit«).
»Auf jeden Fall«, stimmte Jennie zu. »Er ist total nett und interessant. Und er war echt schon überall! Gerade ist er aus Tokio zurückgekommen. Seine Mutter ist Japanerin, deshalb war er schon ein paar Mal dort.«
»Und er hat einen super Sinn für Humor«, sagte ich. »So einen coolen, knochentrockenen Sarkasmus.«
»Klingt so, als würdet ihr euch demnächst um ihn prügeln«, scherzte Charlie, ohne eine Miene zu verziehen, und stand dann auf. »Ich muss los. Zeit für ein bisschen Karaoke mit den Jungs.«
»Ihr wolltet doch Cookies backen.« Das war Nina.
»Ich dachte, ihr macht euch die Nägel«, sagte Reese.
»Und mir hast du was von Hot Yoga erzählt!«
Charlie zwinkerte uns zu. »Ja, ein volles Programm.«
»Bis morgen!«, riefen die Mädels im Chor. Er nahm meine Hand, weil ich ihn noch ein Stück begleiten wollte, um die neuesten Neuigkeiten zu erfahren. Wir begrüßten ein paar andere Zwölftklässlerinnen, die in Liegestühlen im Vorgarten lümmelten. Als Charlie ihnen freundlich zulächelte, fingen sie sofort an zu tuscheln.
Doch das Lächeln verschwand, sobald wir die Kapelle erreicht hatten, und ich spürte, wie er sich leicht gegen mich lehnte. »Müde?«, fragte ich.
Er seufzte. »Ich muss meinen toten Punkt überwinden.«
Ich schlang die Arme um ihn. »Freust du dich überhaupt, wieder hier zu sein?«
Seltsamerweise wich er der Frage aus. »Ihr scheint ja schon richtig besessen von dem Neuen zu sein«, meinte er stattdessen. »Muss ich mir Sorgen machen?«
»Charlie, ich habe ihn …« Ich verstummte und tat so, als würde ich auf meine nicht vorhandene Armbanduhr schauen, »vor knapp vier Stunden kennengelernt. Ich bin nicht total besessen von ihm.« Ich grinste. »Höchstens ein bisschen.«
»Wenigstens bist du ehrlich.«
Ich lachte. »Du musst ihn unbedingt kennenlernen.«
»Das hast du schon gesagt.«
»Ach, halt die Klappe! Er wird dein neuer bester Freund werden.«
»Ich brauche keinen neuen besten Freund«, sagte Charlie. »Ich hab doch dich.« Er hielt sein Handy in die Höhe und zeigte mir mindestens ein Dutzend ungelesener Nachrichten. »Und die ganzen Leute hier.«
Ich boxte ihn gegen den Arm. »Du redest nur Müll.«
Er lächelte. »Ich muss los.«
»Ja, okay«, seufzte ich. »Hab dich lieb.«
»Weiß ich doch«, zwitscherte er und ging schon davon.
Ich verdrehte die Augen und bog wieder auf den Weg zum Simmons ein, da hielt Charlies Stimme mich auf. Sie rief durch die Nacht: »Und ich hab dich lieb, Sagey Baby!«
Lachend schüttelte ich den Kopf.
Ja, sagte ich zu mir und tat so, als hätte ich nicht gesehen, wie niedergeschlagen seine Körperhaltung wirkte. Er ist froh, wieder hier zu sein.
Mein Zimmer roch wie der Tod, als ich aufwachte. Mein Handy verkündete laut piepsend, dass es sechs Uhr sei, Zeit für meine morgendliche Joggingrunde mit Sage. Ich wälzte mich aus dem Bett, schlüpfte in ein T-Shirt und Shorts und schnürte meine Schuhe zu.
»Und wie ist es gelaufen?«, fragte Sage, während wir auf das Königreich Weit Weit Weg zutrabten – unser Spitzname für die am weitesten entfernt liegenden Sportplätze, inspiriert von dem besten Fortsetzungsfilm aller Zeiten: Shrek 2. »Hast du gekotzt?«
»Ja«, berichtete ich. »Womit ich jetzt ganz offiziell von sämtlichen Sünden gereinigt bin.« Nach dem üblichen Name-Schuljahr-Wohnort-Kennenlernspiel hatte als Hauptevent ein ekelerregend professionelles Chicken-Nugget-Wettessen auf dem Programm gestanden. Ich war bis ins Halbfinale gekommen, aber ein Zehntklässler namens Dhiraj Bagaria hatte am Ende gewonnen, indem er sechzig Nuggets verdrückte, ohne auch nur ins Schwitzen zu kommen.
Als ich Sage das erzählte, lachte sie sich halbtot. »Nicht zu fassen.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich hätte gedacht, dass Paddy gewinnt.«
»Na ja«, meinte ich, »wenn er sich richtig reingehängt hätte, wäre er bestimmt Erster geworden.« Paddy Clarke war ein weiterer Daggett-Vertrauensschüler, der beim Abendessen immer mindestens drei Portionen hinunterschlang.
Grinsend drehte Sage sich zu mir. Ihre haselnussbraunen Augen glänzten. »Ich glaube, Paddy braucht ’ne Freundin.«
»Warum? Bist du interessiert?«, fragte ich und hätte am liebsten hinzugefügt: Er ist es nämlich!
Aber wie erwartet lachte Sage nur. Das tat sie immer, wenn wir über dieses Thema redeten. Manchmal versuchte ich, sie zu ködern: »Wenn du die Bexley-Bachelorette wärst, welche vier Typen würden ins Finale kommen?«, aber heute ließ ich sie damit in Ruhe. Stattdessen folgte ich ihr, als sie das Tempo anzog, und wir rannten ein Stück schweigend weiter durch das Kiefernwäldchen.
»Gehen wir heute ins Pandora’s?«, fragte ich, sobald wir wieder langsamer geworden waren und von den Feldern auf die Ludlow Lane einbogen. Jedes Jahr am ersten Schultag, nach einem mörderisch anstrengenden halben Unterrichtstag, gingen Sage und ich zum Mittagessen ins Pandora’s Café, das gegenüber von unserem Schulcampus lag.
»Klar.« Sage nickte, und während ich in Gedanken schon die bibeldicke Speisekarte durchging, hörte ich sie sagen: »Ich habe überlegt, Luke zu fragen, ob er mitkommt, wenn das okay für dich ist.«
Meine spontane Reaktion war, so zu tun, als hätte ich den Namen noch nie gehört. »Luke wer?«, fragte ich abwesend.
Aber dann musste ich lachen, weil Sage mir einen Schubs gab, anstatt zu antworten.
Mom weinte beim Abschied, als sie mich und Nick zusammen mit Dad letzte Woche für die Vorbereitungswoche an der Schule absetzte. Wir zwei wohnten in verschiedenen Wohnheimen, deshalb teilten wir uns für die »Operation Einzug« auf, bevor wir uns alle wieder auf der großen Campuswiese trafen, um uns zu verabschieden. »Ich kann es einfach nicht glauben«, flüsterte Mom und nahm Nick und mich gleichzeitig in den Arm. »Ich kann es nicht glauben, dass meine Zwillinge jetzt schon Zwölftklässler sind.« Dad dagegen konnte gar nicht mehr aufhören zu grinsen. »Das ist euer Jahr!«, erklärte er uns. »Ich weiß noch genau, wie ich damals in der Zwölften war …« Er schlug mir auf den Rücken. »Macht was draus.«
Pathetisch ausgedrückt könnte man sagen, dass mir die Bexley School im Blut liegt. Die Schule existiert schon seit dem Jahr 1816; seitdem musste sich das Internat mit Generationen von Carmichaels und ihren Versuchen, den Campus zu verwüsten, herumschlagen. Während der Prohibition versteckte mein Urgroßvater seinen schwarzgebrannten Schnaps unter einer Bodendiele im Mortimer House, mein Großvater war für den »Großen Brand im Daggett House« von 1956 verantwortlich, und Dad wiederum hätte in den 1980er-Jahren fast seine Abschlussfeier verschlafen. Das letzte Zeugnis war an meine Schwester Kitsey gegangen. Nick und ich wussten schon von klein auf, dass wir uns an der Bexley bewerben und dann auch hierhergehen würden. Es war einfach Tradition in unserer Familie.
Und hier standen wir nun, zurück für Runde Nummer vier. Und auch wenn es klischeehaft klingt – am ersten Tag konnte man die neuen Schüler immer sofort von den älteren unterscheiden. Die Neuntklässler sahen noch so aus, als wären ihre Kleider von ihren Müttern ausgesucht worden (aus Angst, gegen die Kleidungsvorschriften zu verstoßen). Sie flitzten wie Schildkröten mit ihren Rucksäcken über den Campus, als wären sie auf einer verrückten Ostereiersuche. »Nein, meine Liebe, der Mathematikunterricht findet im Carmichael Science Center statt«, hörte ich Mrs. Leveson zu einem Mädchen sagen. Ich grinste in mich hinein. Großvater hatte das CSC als Buße gestiftet, weil er als Schüler mal das halbe Daggett-Wohnheim niedergebrannt hatte.
Meine Freistunde verbrachte ich im Knowles Center, dem Schülertreff von Bexley. Es war ein offener Bereich im Souterrain mit viel Glas und warmem Holz. Die einzigen abgetrennten Räume waren die Redaktionsbüros der Schülerzeitung und des Jahrbuchs an einem Ende und der Tuck Shop, eine Cafeteria für die Schüler, auf der anderen Seite. Während der Beratungsstunde heute Morgen hatte ich mich mit Rose dort für einen Snack getroffen. Natürlich war der Laden völlig überfüllt, mit einer endlos langen Warteschlange. Ich hatte den Arm um sie gelegt und so getan, als würde ich einschlafen, während wir an der Kasse anstanden. Sie kicherte und vergrub ihr Gesicht an meiner Schulter, und dabei fiel mir auf, dass ihr Parfüm nach Zuckerkeksen roch, und wie einfach es war, sie zum Lachen zu bringen.
Mittlerweile hatte der Unterricht angefangen, und der Schülertreff war ziemlich leer. Ich machte es mir auf einem der schwarzen Sofas bequem, die am Rand des Tuck Shops standen, vor einem der deckenhohen Fenster in der Ecke, meinem Lieblingsplatz. Manchmal lernte ich hier, manchmal schaute ich Netflix oder schlief eine Runde. Heute war ein Schlaftag. Ich ließ mich auf das Sofa fallen, streckte mich lang aus und wünschte, ich hätte meine Kopfhörer dabei. So blieb mir keine Wahl, als mich von dem Klackern der Laptop-Tastaturen der anderen Schüler in den Schlaf wiegen zu lassen.
Zehn oder vielleicht auch fünfundvierzig Minuten später weckte mich eine Stimme. Eine Junge redete dicht neben mir, und obwohl ich ihn nicht sehen konnte – er war hinter der Rückenlehne des Sofas verborgen –, begriff ich schnell, dass er telefonierte.
Ich bin kein Lauscher, aber der Typ hatte eine angenehme Stimme, deshalb blieb ich einfach liegen und hörte zu. »Ja, ich habe gut geschlafen«, sagte er. »Es ist eben alles anders als zu Hause. Man kann jeden Ton hören. Wenn jemand den Flur entlanggeht oder die Klospülung …« Er seufzte. »Nein, Mom, du brauchst mir Becs White-Noise-Maschine nicht zu schicken. Ich bin gerade mal eine Nacht hier. Bestimmt gewöhne ich mich daran.«
Nein, hätte ich am liebsten gerufen. Lass dir die Maschine schicken! Du brauchst diese Maschine! Ich hatte nämlich eine, und das war ein echter Game Changer gewesen. Ich bekam sie in meinem zweiten Schuljahr, als Paddy und mir ein supermieses Zimmer zugewiesen wurde: zweiter Stock, direkt neben dem Klo. Paddy war erst skeptisch gewesen, aber nach der dritten Nacht hatte er seine Meinung geändert. Wir stellten außerdem fest, dass es noch effektiver war, wenn wir zu der Maschine noch unsere großen Standventilatoren anschalteten. Wir nannten es den Vortex.
»Der Unterricht war okay«, fuhr der Junge fort. »Heute haben wir nur einen halben Tag, wo wir alle Lehrer kennengelernt haben. Stell dir vor, meine Chemielehrerin weiß genau, wo wir wohnen. Sie war früher Lehrerin an …«
Welches Schuljahr er wohl ist?, fragte ich mich. Er schien zwar neu zu sein, klang aber älter als ein Neuntklässler. Außerdem hatte er nichts davon erzählt, dass er sich verlaufen hatte. Vielleicht ein neuer Zehntklässler? Es war ziemlich normal an der Bexley, dass in der Zehnten noch mal ein großer Schwung an Schülern dazukam. Die meisten Neulinge stammten aus den Neuenglandstaaten und kamen von Mittelschul-Internaten, die erst nach der neunten Klasse endeten. Und hätte Nana (Dads Mutter) bei Mom auch nur ein bisschen was zu sagen gehabt, hätten Nick und ich vermutlich auch diesen Weg genommen. Dad hatte sein ganzes Leben lang Privatschulen besucht, aber Mom war eine überzeugte Anhängerin des öffentlichen Schulsystems. »Ein Grund, warum wir in Connecticut leben«, erklärte sie Nana, »ist das Schulwesen. Jay und mir ist es wichtig, dass unsere Kinder beides kennenlernen: öffentliche und private Schulen.« Deshalb wechselten wir nach der Achten an die Bexley School; allerdings war der Hockeytrainer von unserer Schule in Darien nicht sehr begeistert gewesen, als er erfuhr, dass wir unseren Abschluss an einer anderen Schule machen würden.
»Und meine Mathelehrerin würde dir bestimmt gefallen«, fügte der neue Zehntklässler hinzu. »Sie heißt Mrs. Shepherd und sie erinnert mich an …«
Ruhig, dachte ich. Seine Stimme klang ruhig, aber auch ein bisschen ironisch, mit einer gewissen Coolness darin. Am liebsten hätte ich die Augen geschlossen und wäre wieder weggedöst. Nicht, weil seine Stimme einschläfernd geklungen hätte oder so, sondern weil sie so … na, beruhigend war. Es war seltsam entspannend, diesem fremden Jungen zuzuhören, wie er seiner Mutter von seinem Tag erzählte, einem Tag, der noch nicht mal zur Hälfte vorbei war.
»Aber Englisch war das totale CHZ«, sagte er jetzt in einem etwas genervteren Ton. Was bedeutete CHZ? »Sie haben mich in einen ganz schrecklichen Literaturkurs gesteckt. Die Literaturliste hatte Grundschulniveau …«
Und da dämmerte es mir. Ich wusste genau, wovon er redete: Dieser Basislektürekurs für Zwöftklässler, mit einem Lehrplan, der sich deutlich nach den PG-Schülern richtete, die nun mal eher sportlich orientiert waren. Und da machte es endlich Klick bei mir, und ich lächelte in mich hinein.
Das war kein neuer Zehntklässler.
»Nein, Mom, du brauchst da gar nichts zu tun. Ich habe mich schon darum gekümmert.«
Das ist er also, überlegte ich. Das ist Tates zukünftiger Ehemann. »Ich werde ihn heiraten, Charlie«, hatte mir meine sechsjährige Cousine, die sich gerne wie sechzehn aufführte, beim letzten Thanksgiving mitgeteilt. »Und du kannst nichts dagegen tun!«
»Genau«, fuhr Tates Fast-Verlobter jetzt fort. »Ich bin zur Verwaltung gegangen und habe darum gebeten, dass sie mich in einen anderen Kurs wechseln lassen.«
Und in welchen?
»Der einzige Kurs, der zu meinem Stundenplan gepasst hat, war Literatur des 19. Jahrhunderts. Drück mir die Daumen, dass Huck Finn nicht Pflichtlektüre ist.«
Ich grinste. Ist es aber.
»Ich muss jetzt los. In einer Viertelstunde fängt Geschichte an.« Er verstummte und lachte dann. »Nein, ich hab mich noch nicht verlaufen. Gestern habe ich ein Mädchen kennengelernt, das mir die ganzen Gebäude gezeigt hat, und ich hab mir alles in meine Campuskarte eingetragen.« Noch ein leises Lachen. »Ja, du kennst mich doch.«
Sage, dämmerte es mir. Sie machte schon seit der neunten Klasse Campusführungen und wurde regelmäßig von der Schulverwaltung dafür angefragt. Es war einfach toll, wie fröhlich und freundlich sie immer war – Sonnenschein in Menschengestalt.
Nun seufzte er und machte sich auf seinen Weg zum Geschichtsunterricht bereit. »Okay, bis später dann. Ich – oh, nein, ich habe die zwei noch nicht getroffen.«
Geduld, junger Padawan, dachte ich. Geduld.
»Ja, ich weiß, aber ich glaube, sie haben ziemlich viel zu tun. Sie sind immer sehr beschäftigt.«
Tja, schon.
»Aber nachher treffe ich Charlie.«
Stimmt, dachte ich. Immerhin war es meine Pflicht, mich zu vergewissern, ob er auch gut genug für Tate war. Schließlich hatte meine Cousine nur das Beste verdient.
Wir trafen uns auf der Campuswiese. Sämtliche Backsteingebäude mit den Wohnheimen der Zehnt- und Elftklässler sowie ein paar Unterrichtsgebäude grenzten an die grüne Rasenfläche, auf der es von Schülern nur so wimmelte. Quer über die Wiese zu gehen, war die perfekte Abkürzung zu allen möglichen Orten auf dem Campus. Bei gutem Wetter breiteten die Mädchen ihre Decken aus und machten Hausaufgaben, während Nick und ich mit ein paar Freunden eine Runde Campus-Golf spielten. So auch heute. Es war mindestens fünfundzwanzig Grad warm, die Sonne schien und überall saßen kleine Gruppen von Leuten. »Hey, Charlie!«, rief Quinn Bailey mir von den Stufen der Wexler Hall zu. Sie war eine Ex-Freundin von mir, die irgendwie nicht blickte, dass sie meine Ex war. Es sah so aus, als würde sie ihren Lacrosse-Schläger neu bespannen. Ich winkte ihr zu und spürte die Augen der Leute auf mir. Ja, die Campuswiese war zweifellos die Hauptbühne von Bexley.
Deshalb tat ich das, was ich am besten konnte.
Ich zog eine Show ab.
»Meine Verlobte!«, rief ich und rannte mit kitschigen Zeitlupenschritten auf Sage zu, die ihre langen, lockigen Haare wie immer zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte. Sie lächelte, und einen Wimpernschlag später kam sie mir in genau dem gleichen langsamen Tempo entgegen.
»Mein Auserkorener!«, rief sie zurück. Als Kinder hatten wir immer gesagt, dass wir irgendwann heiraten würden. Einen ganzen Nachmittag lang hatten wir unsere Hochzeit geplant und uns auf eine Kokos-Sahne-Torte und Flitterwochen in Hawaii geeinigt. Sogar heute redeten wir noch manchmal davon (kürzlich hatte ich eine Hochzeitsreise auf die Bermudainseln vorgeschlagen). Meine Eltern mussten immer lächeln, wenn sie das hörten.
Sobald wir uns in der Mitte der Fläche trafen, schwang ich sie hoch in die Luft und wirbelte sie herum.
»Komm, ich stell dir Luke vor.« Sage zog mich am Ärmel.
Luke.
»Okay, ich folge dir.« Beim Gehen legte ich ihr den Arm um die Schultern.
Sage holte tief Luft und legte dann los. »Luke Morrissey, darf ich dir Charlie Carmichael vorstellen, meinen besten Freund seit meiner Geburt!«
Er war groß gewachsen, sah aber sehr jung aus. Klassische Ray-Bans, in der gleichen Farbe wie seine strähnigen schwarzen Haare. Dazu ein dünnes, dunkelblaues Hemd, Bermudashorts und Sambas von Adidas. Es sah aus, als hätte er leichte Sichelfüße.
Das ist er also, dachte ich, dann stieß Sage mich an, und mir wurde klar, dass ich ihn einen Tick zu lange angestarrt hatte.
Tu was.
Ich machte es einfach wie Nick und streckte ihm die Faust entgegen. »Nett, dich kennenzulernen«, sagte ich. »Sage hat mir schon viel von dir erzählt.«
Luke schaute kurz auf meine Faust und schlug dann mit seiner leicht dagegen, so schnell, dass ich die Berührung kaum spürte. »Von dir auch.« Er rückte seine Sonnenbrille zurecht. Es schien, als wolle er noch etwas sagen, aber er schwieg.
»Okay!« Sage klatschte in die Hände. »Ich bin am Verhungern! Auf ins Pandora’s!«
»Also, Morrissey«, sagte ich, nachdem wir bestellt hatten, »was ist der Grund für deine Ehrenrunde an unserer Highschool?« (So würde ich es nennen, wenn ich ein PG-Jahr machen müsste.)
Luke, der neben Sage saß, rollte das Besteck aus seiner Serviette und erzählte, was ich schon wusste. »Er weiß nicht genau, was er im College machen will«, hatte Tante Caro letztes Frühjahr erzählt. »Ich habe vorgeschlagen, dass er ein PG-Jahr machen soll, um neue Erfahrungen zu sammeln und etwas mehr Zeit für seine Entscheidung zu haben. Du wirst dich doch ein bisschen um ihn kümmern, ja?«
»Das heißt also, du warst nicht zufrieden mit den Ergebnissen von deinen Collegetests?«, fragte ich, ohne groß darüber nachzudenken. Unter dem Tisch trat Sage mir sofort gegen das Schienbein.
Luke sah mich an, und plötzlich zappelte ich unruhig auf meinem Stuhl herum.
Ich wollte zurückrudern und dabei purzelten die Worte einfach aus meinem Mund. »Tut mir leid. Ich frage nur wegen Nick, meinem Zwilling. Na ja, er hat es nicht so mit diesen Tests. Er hat das Angebot, zum Hockeyspielen nach Yale zu gehen, und wir hatten alle Sorge, dass er irgendwo ein PG-Jahr machen muss, um seine Ergebnisse zu pushen. Zum Glück hat er den Collegetest im Mai dann gut bestanden.«
Und er wäre bestimmt nicht erfreut, wenn er wüsste, dass du das rumerzählst. Ich trat mir innerlich selbst gegen das Schienbein. Schließlich hat ihn das ganze letzte Jahr nichts so gestresst wie das!
Luke nickte nur.
»Weißt du schon, wofür du dich bewerben willst?«, fragte ich und überlegte dabei, ob das Pandora’s vielleicht die Glühbirnenmarke gewechselt hatte. Ich spürte förmlich, wie die Lampenstrahlen meine Haut versengten.
Luke rührte in seinem Eistee. »Noch nicht. Morgen habe ich einen Termin bei der Studienberatung.«
Ich nickte. »Gute Idee …« Ich verstummte, weil mein Handy auf dem Tisch vibrierte.
Sage lachte. »Okay, und jetzt verrate uns bitte, wer gerade ganz oben auf der Liste steht.«
»Auf welcher Liste?« Lukes Stimme klang leicht belustigt.
Sage warf mir ein liebreizendes Lächeln zu und erklärte ihm dann. »Auf der Mädchenliste für dieses Schuljahr. Charlie geht ständig mit einem anderen Mädchen und schießt es dann nach ein paar Wochen wieder ab.«
Ich blinzelte genervt. »Klar, nennt mich doch einfach König Heinrich …«
»Den Achten«, warf Luke gleichzeitig ein, als Sage sagte: »Stimmt doch. Catherine Howe trauert eurer stürmischen zweiwöchigen Romanze immer noch nach!«
»Hör nicht auf sie«, sagte ich zu Luke. »Sie übertreibt gerne.«
Sage schüttelte den Kopf. »Wer ist diesmal am Start?«
Ich seufzte. »Rose McKenzie.«
»Wer ist das?«, fragte Luke.
»Eine Elftklässlerin.« Sage konzentrierte sich wieder auf mich. »Sie spielt doch das Rapunzel in Ab in den Wald, oder?«
»Oui«, antwortete ich.
»Ah«, meinte Luke über Sages Schnauben hinweg. »Geschäftliches mit Privatem mischen – ganz schön mutig.«
Er legte den Kopf schief, und es dauerte einen Moment, bis ich es kapiert hatte. Sage lachte los, aber ich griff nur nach meiner Cola.
»Touché, Morrissey«, hörte ich mich sagen. »Touché.«
Ich hatte richtig gesehen – er hatte tatsächlich Sichelfüße.
Nicht sehr ausgeprägt, aber ein kleines bisschen. Es sah fast niedlich aus. Auf dem Weg zum Campus zurück musste ich ständig auf seine Füße schauen. Jedes Mal wenn er einen Schritt machte, bemühte ich mich, das leise Flattern in meinem Bauch zu ignorieren.
Es funktionierte nicht.
Luke räusperte sich. »Und? Wie ist Mr. Magnusson so?«
Mein Kopf schoss in die Höhe. Im gleichen Moment lief Sage voll in mich hinein. Es war immer eine echte Herausforderung für sie, beim Laufen einer geraden Linie zu folgen. Sie war ständig im Zickzack unterwegs. »Mr. Magnusson?« Ich drehte mich zu ihm.
Er nickte, und unsere Augen trafen sich. Mittlerweile trug er seine Sonnenbrille nicht mehr, und ich beschloss insgeheim, Nina auf keinen Fall zu sagen, dass sie recht hatte – seine Augen waren wirklich wunderschön. Tiefbraun, so wie die Wacholderbeeren auf Martha’s Vineyard.
»Ja«, sagte Luke. »Mr. Magnusson. Wie ist er so? Die Frau im Sekretariat sagte nur, seine Stunden wären ein echtes Erlebnis.«
Sage und ich lachten. »Mr. Magnusson ist der Goldschatz der Bexley School«, zitierte ich Dad. »Er ist schon Ewigkeiten hier, aber niemand weiß, wie alt er ist …«
»Wir schätzen ungefähr siebenundsiebzig«, meinte Sage.
»Stimmt«, sagte ich, weil Gus Magnusson sicher stramm auf die achtzig zuging. Er war schon Kitseys Englischlehrer in ihrem ersten Jahr hier gewesen und früher auch Dads. »Ah, Charles Carmichael«, sagte er, als ich heute Morgen in sein Klassenzimmer gekommen war. »Ich wusste, dass deine Reise dich irgendwann zu mir führen würde.« Dann hatte er mich ganz ernst angeschaut. »Wenn sich das Muster so fortsetzt wie bisher, musst du der klügste Carmichael sein.«
Als Sage und ich fertig waren mit unserem Bericht, starrte Luke uns mit großen Augen an. »Echt jetzt? Er korrigiert betrunken Klausuren?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Das ist nur ein Gerücht, aber ja, ich glaube schon. Meine Schwester hat noch Kontakt zu ihm, und er hat ihr zum Collegeabschluss eine Kiste mit seinen Lieblingsgetränken geschickt.«
»Alkohol?«, wollte er wissen.
»Nur Alkohol«, bestätigte ich. »Whiskey, Gin, Tequila und sehr viel Wodka.«
»Wow, schade, dass er nicht mein Hausleiter ist.« Jemand rief Sages Namen. Sie lächelte und schwirrte davon. »Das würde es perfekt machen.«
Ich zog eine Augenbraue hoch. Was würde was perfekt machen?
»Hier muss ich rein.« Luke deutete mit dem Kopf auf das Wohnheim. »In das Haus vom Großen Gatsby.«
Ein Schaudern durchfuhr mich. Hat Sage ihm das gesagt? Oder hat er sich das ernsthaft gerade erst ausgedacht? Brooks House war das größte Wohnheimgebäude auf dem Campus und sah ganz anders aus als alle anderen. Die Schule bestand zum größten Teil aus griechisch-römischen Backsteinhäusern, aber Brooks war aus hellbraunem Sandstein gebaut, mit zwei Etagen, zwei beeindruckenden Türmen an jedem Ende, zahlreichen Kaminen und einer lang gezogenen Veranda an der Frontseite. Es war eine echte Monstrosität, die ich Gatsbys Herrenhaus getauft hatte, nachdem wir das Buch in der Neunten gelesen hatten.
Luke schob seine Hände in die Taschen. »Ich muss jetzt los. In einer halben Stunde fängt mein Training an.«
Ich nickte. »Ja, ich auch. Probe in …« Ich schaute auf mein Handy. »Zehn Minuten.«
Er lachte, und ich spürte, wie einer meiner Mundwinkel ein bisschen nach oben wanderte. Wenn er lachte, bewegte sich sein ganzer Körper. »Tja, dann vielleicht bis …«
»Beim Abendessen?«, fragte ich.
Luke sah mich fragend an. »Gehst du nicht mit Tulpe zum Essen?«
Mein Magen zog sich zusammen. Stimmt … ja. Rose und ich waren nachher verabredet.
Trotzdem sagte ich schulterzuckend: »Durch die Ferne wächst die Liebe.«
»Ich weiß nicht, ob Erika das auch so sieht.«
»Anemone wird das schon verkraften.«
»Ich hoffe es. Lilien sind so empfindlich.«
»Keine Sorge. Margerite ist stärker als sie aussieht.«
Luke schaute zu Boden. Ohne ein weiteres Wort wandte er sich zum Gehen.
»Hey, eins noch!«, rief ich.
Er fuhr herum. »Ja?«
Ich schluckte, dann sagte ich es. »Du solltest dir die Einschlafhilfe wirklich zulegen.«
Er reagierte nicht wirklich, sondern sah mich nur mit hochgezogener Augenbraue an. »Meinst du?«
»Meiner bescheidenen Meinung nach, ja.«
Luke grinste. »Ich sollte sie mir also von meiner Mom schicken lassen?«
Ich nickte.
»Okay, cool. Danke für den Tipp.«
»Gern geschehen.« Die Worte kamen leiser aus meinem Mund als beabsichtigt. Ich räusperte mich und ging blindlings die Treppe hinunter. Jetzt würde ich definitiv zu spät kommen. »Bis dann …«
Luke lehnte immer noch grinsend an der Hauswand. »Grüß Iris schön von mir.«
Ich schüttelte den Kopf. »Sie spielt Rapunzel.«
»Und das heißt …?«
Ich zuckte nur die Schultern, um zu verbergen, wie ich zitterte. »Schlag es nach.«
Er lachte. »Werde ich benotet?«
»Für das Überfliegen einer Wikipedia-Seite?«
»Warte, du hältst Wikipedia für eine verlässliche Quelle?«
Ich starrte ihn in gespieltem Entsetzen an. »Du meinst, es ist nicht der Stolz der akademischen Welt?«
Mit einem Augenrollen angelte Luke sein Handy aus seiner Tasche. Ich sah mich um und sah Sage mit Cody Smith reden. Sie erzählte ihm mit wilden Armbewegungen irgendeine Geschichte, und Cody war total hin und weg von ihr und nickte. Larchmont, New York, überlegte ich. Was würde Sage wohl davon halten? Meiner Ansicht war die Chance groß, dass Cody es bis in die Finalrunde schaffte. Er würde vermutlich nicht die letzte Rose bekommen, aber ein Platz unter den letzten vier? Ja, das konnte ich mir gut vorstellen.
»Ah, verstehe«, sagte Luke. »Rapunzel ist zwar eine Prinzessin, aber«, er sah von seinem Handy auf und schaute mir in die Augen, »nicht die Angebetete des Märchenprinzen.«
»Und was machen die Leute hier so am Wochenende?«, fragte Luke am Freitag nach dem Abendessen. Die erste Woche war fast vorbei. Wie in den meisten Internaten gab es an der Bexley School am Samstagvormittag noch Unterricht, deshalb fing unser »Wochenende« erst am Samstagabend richtig an.
»Skandalöse Dinge«, antwortete Charlie und biss von seinem Cheeseburger ab. Ich saß neben ihm und schnippte mit dem Finger unter dem Tisch hart gegen seine Taille. Er fuhr zusammen und ich lachte.
»Kommt darauf an, wen du fragst«, erklärte Reese. »Wenn du so bist wie unser Charlie hier«, sie deutete mit einem Nicken auf ihn, »dann gehst du mit einem Mädchen zu einem abgelegenen Ort auf dem Campus …«
»Er hat’s kapiert, Reese«, unterbrach Charlie sie kurz angebunden.
»Und wenn du Nick Carmichael bist«, fügte Jennie hinzu, die nicht wusste, dass Luke Nick noch gar nicht offiziell kennengelernt hatte, »verbringst du den Abend mit Airhockey oder Videospielen im Gemeinschaftsraum deines Wohnheims.«
Charlie lachte. »Das stimmt.«
Ich kicherte ebenfalls und hatte sofort ein Bild im Kopf. Nicholas Carmichael mit strubbeligen Haaren und seiner geliebten Jogginghose, dazu diese hässliche Fleecejacke mit einem komischen Ethnomuster aus lauter sich beißenden Farben: Petrol, Rot, Braun und Senfgelb, wie er mit einem Xbox-Controller in der Hand auf der riesigen Couch im Gemeinschaftsraum seines Wohnheims lümmelte. Nick zog sich an den Wochenenden gerne zurück und chillte mit seinen Freunden. Er hatte kein Interesse am gesellschaftlichen Leben der Schule und enttäuschte damit regelmäßig seine Fans. Wenn ein Mädchen nicht in Charlie verknallt war, standen die Chancen gut, dass sie seinen Zwillingsbruder mochte, obwohl er sich an Samstagabenden fast nie blicken ließ.
»Und was ist mit euch Mädels?« Luke wickelte mit der Gabel ein paar Nudeln auf. Er hatte sich sein Abendessen bei der Wok-Station geholt, wo man sich die Zutaten selbst aussuchen konnte, und das Ergebnis sah köstlich aus. Ich starrte schon seit Minuten auf seinen Teller und stritt mit mir, ob ich ihn bitten konnte, mich mal probieren zu lassen. »Was macht ihr? Ein paar Leute haben was von einer Disco erzählt?«
»Du willst morgen Abend was mit uns machen?!« Nina klang so, als hätte Harry Styles gesagt, er würde lieber einen Abend mit uns verbringen, als auf einer Yacht voller Topmodels rumzuhängen.
»Na ja, um ehrlich zu sein, habe ich schon ein paar Einladungen für morgen«, erklärte Luke. »Die Footballspieler auf meinem Stockwerk wollen unbedingt, dass ich bei ihrem Pokerabend mitmache …« Charlie neben mir schnaubte verächtlich. »Aber vielleicht überlege ich es mir ja noch und beehre euch mit meiner Anwesenheit, wenn mir eure Pläne zusagen.« Wir kicherten.
»Okay, also, das ist der Plan.« Nina klatschte in die Hände, ihr Lächeln war einen Kilometer breit. »Wir …«
»Psst!«, unterbrach ich sie. »Sag ihm nichts, Nina Davies!«
Nina warf mir einen verwirrten Blick zu, schwieg aber.
Reese kapierte sofort, was ich vorhatte, und sagte zu Luke: »Auch wenn dieser Pokerabend wirklich unfassbar aufregend klingt, scheint es mir, als würdest du morgen doch lieber uns begleiten, oder?«
Er seufzte. »Ja. Ich will ihnen nicht schon so früh im Jahr das Geld aus den Taschen ziehen. Wenn es euch nichts ausmacht, würde ich mich lieber euch anschließen.«
Reese und ich grinsten uns teuflisch an. »Klasse«, sagte sie. »Aber du musst versprechen, dass du auch bei allem mitmachst, was wir geplant haben. Okay?«
»Reese …«, sagte Charlie warnend, aber sie winkte nur abwehrend.
»Einverstanden, Luke?«, wiederholte sie, ihr Gesicht ein Bild der Unschuld.
»Wir brechen aber nicht in eine Bank ein, oder?«, fragte er.
»Nein, das steht morgen nicht auf der Agenda.«
Er nickte. »Gut, dann bin ich dabei.«
Charlie stöhnte. Ich übernahm nun von Reese. »Wir treffen uns morgen um Punkt halb neun in deinem Gemeinschaftsraum. Wir haben einen straffen Zeitplan.«
»Bekomme ich wenigstens einen kleinen Tipp?«
Die Mädels und ich schüttelten die Köpfe.
»Carmichael?«, fragte er Charlie.
»Mach einfach, was sie sagen, Morrissey«, riet ihm Charlie. »Das ist am ungefährlichsten.«
Wie versprochen wartete Luke am nächsten Abend in dem riesigen Gemeinschaftsraum vom Brooks auf uns. Der Raum war fast leer, weil die meisten Jungs schon zu ihren samstagabendlichen Aktivitäten losgezogen waren.
Luke hing auf einem Sofa herum und hielt sein Handy ans Ohr. »Nein, Bec, es ist nicht so wie im Fernsehen«, hörte ich ihn mit leiser Stimme sagen. »Hier gibt es richtigen Unterricht und Hausaufgaben und Regeln.«
»Lu-uke …«, trällerte Nina. Er drehte sich zu uns um, und seine Augen wurden groß.
»Becca, ich muss los«, sagte er zu seiner Schwester, der jüngsten Morrissey. Er hatte noch zwei ältere Schwestern. »Sag Mom viele Grüße«, fügte er hinzu, dann legte er auf.
Dann allerdings schien es ihm bei unserem Anblick die Sprache zu verschlagen. »Ich weiß, wir sehen fabelhaft aus«, meinte Reese schließlich.
»Nehmen alle hier das Discomotto so ernst?« Er stand auf und schob die Hände in die Tasche seines grauen Kapuzenpullis.
»Nein«, erwiderte Nina. »Aber wir schon!«
»Und du auch«, sagte Jennie.
Bevor Luke protestieren konnte, mahnte Reese: »Du hast versprochen, alles mitzumachen.«
Er seufzte. »Na schön. Aber ich kann euch versichern, dass ich garantiert nichts Passendes in meinem Kleiderschrank habe. Wie lautet das Motto noch mal genau?«
»›Red Hot American Summer‹«, antwortete Jennie, und tatsächlich verkörperte jede von uns das Thema auf äußerst bewundernswerte Weise. Ich trug weiße Gymnastikshorts mit blauen Sternen darauf, ein rotes Tanktop, blaue Kniestrümpfe und meine weißen Lieblings-Nikes. Jennie und Nina waren ähnlich gekleidet, Reese dagegen hatte ein noch gewagteres Outfit gewählt und trug ein weißes Netzshirt mit einem roten Bikinioberteil darunter, dazu blaue Leggins und weiße Converse. Wir waren eine beeindruckende Gang.
»Okay«, sagte ich zu Luke, »wenn du nichts hast, ist das nicht so schlimm. Ich kenn da jemand, der dir was leihen kann.«
Zehn Minuten später schlüpften Luke und ich leise durch die Eingangstür vom Daggett House. Die anderen hatten freiwillig angeboten, draußen auf der Veranda zu warten. »Dürfen wir das überhaupt?«, flüsterte Luke. Ich führte ihn die Hintertreppe hoch.
»Ja und nein«, flüsterte ich. »Du schon, weil du ein Junge bist, aber Mädchen brauchen die Erlaubnis vom Hausleiter, wenn sie in ein Jungszimmer wollen. Aber weil wir nicht von einem Jungen aus dem Wohnheim begleitet werden, würde diese kleine Mission ziemlich sicher nicht auf Zustimmung stoßen.«
Im ersten Stock flitzten wir von der Treppe durch den Gang, Luke immer dicht hinter mir. Wir blieben vor einer Tür stehen. Auf dem Namensschild stand:
Charles Carmichael
Vertrauensschüler
Darien, Connecticut
Ohne zu zögern, drehte ich den Türknauf und wurde von einem leeren und makellos aufgeräumten Zimmer empfangen. Es war fast neun Uhr; vermutlich traf er sich mit Rose. Ich hatte ihn nicht mal gefragt, ob es okay war, wenn wir uns ein paar Klamotten liehen. Es würde ihn sicher nicht stören, solange wir sein Zimmer nicht verwüsteten.
Ich kramte in seiner Kommode und zog ein paar Sachen aus seinem Schrank. In der Zwischenzeit ging Luke langsam durch den Raum. Nachdem ich den letzten Gegenstand, den ich suchte, gefunden hatte, drehte ich mich um und sah, wie er Charlies Wanddeko betrachtete. Sein Blick wanderte über die schwarz-silberne Daggett-House-Flagge, die neben der dreieckigen rot-weiß-blauen Flagge eines Jachtclubs auf Martha’s Vineyard hing. Schließlich drehte er sich zu mir. »Und? Was hast du gefunden?«
Ich lächelte und hielt ihm die Sachen hin. »Ich warte draußen.«
Die Mädchen pfiffen leise, als ich mit einem sternegeschmückten Luke im Schlepptau wieder aus dem Wohnheim kam. »Auf Charlie ist einfach Verlass!«, verkündete Reese.
»Du siehst fantastisch aus«, hauchte Nina.
»Genau wie ein Hot American Summer.« Jennie nickte.
»Ich komme mir vor wie an Halloween«, meinte Luke.
»Du siehst klasse aus, glaub mir.« Ich drückte beruhigend seinen Arm. Obwohl Luke ziemlich dünn war, passten Charlies Klamotten ihm einigermaßen. Ich hatte Luke mit ein paar besonders patriotischen Kleidungsstücken ausstaffiert, darunter bunte Shorts mit einem Amerikanische-Flagge-Aufdruck.
»Also«, meinte Jennie, »wollen wir mit Teil eins des Abends starten?« Wir verließen die Veranda und zogen los in Richtung Sporthalle, wo die Disco stattfand.
»Es gibt mehr als einen Teil?«, fragte Luke.
»Oh ja«, sagte ich. »Es gibt auf jeden Fall mehr als einen Teil.«
»Wie viele genau?«
»Drei«, klärte Reese ihn auf. »Es sind drei Teile.«
»Okay.« Luke streckte die Brust heraus. »Dann mal los.«
Sobald wir den Ringer-Trainingsraum betraten, in dem die Disco stattfand, war mir klar, dass wir fünf die besten Outfits anhatten. Die anderen Mädchen hatten sich wenigstens in den passenden Farben angezogen, aber die Jungs sahen alle aus, als wären sie zufällig hereingestolpert. Alle trugen Sportklamotten in Schwarz, Blau oder Grau.
Echt schwach, meine Herren.
Reese, Jennie und Nina verschwanden sofort zum Tanzen in der Menge, aber Luke blieb neben mir stehen und schaute sich erst mal um. Ich berührte ihn am Arm und rief ihm zu, dass wir tanzen müssten. Das war eine Regel unter uns: Wenn wir in die Disco gingen, mussten die Mädels und ich tanzen, als gäbe es kein Morgen.
Luke sah mich mit hochgezogener Augenbraue an und antwortete etwas, aber die Musik war zu laut. Zum Glück konnte ich seine Lippen lesen. Wir müssen?
Ich nickte eifrig.
Seine Augen huschten herum, und ich nahm das als Zeichen, dass Tanzen nicht so sein Ding war. Ich stellte mich auf Zehenspitzen und beugte mich so dicht zu ihm, dass meine Lippen sein Ohr streiften. »Kannst du nicht so gut tanzen oder was?«
Luke bedachte mich mit einem Blick, der sagte: Dein Ernst?