The Summer of Broken Rules - K. L. Walther - E-Book
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The Summer of Broken Rules E-Book

K. L. Walther

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Beschreibung

Endlich kommen alle wieder auf dem Anwesen der Familie Fox auf Martha's Vineyard zusammen, um eine Hochzeit zu feiern. Das ist schwer für Meredith, denn vor 18 Monaten ist ihre Schwester Claire gestorben. Doch Meredith will ins Leben zurückkehren. Und sie freut sich darauf, an dem traditionellen Fox-Familienspiel teilzunehmen. Claire liebte es, und Meredith will es für ihre Schwester gewinnen. Gar nicht leicht, wenn der Gegner der supersüße unwiderstehliche Bruder des Bräutigams ist und Meredith bei seinem Anblick Konzentrationsprobleme hat. Im Laufe der Woche wird ihr klar, dass sie nicht nur das Spiel, sondern auch ihr Herz zu verlieren droht. Wird sie ihre Unbeschwertheit zurückgewinnen können? Nicht auszuschließen!

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Seitenzahl: 441

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Über das Buch

Meredith Fox hat sich nach dem Unfalltod ihrer Schwester Claire von ihrer Familie und den Freunden zurückgezogen. Doch in diesem Sommer ist sie fest entschlossen, sich während des jährlichen Familienurlaubs auf Martha‘s Vineyard wieder dem Leben zuzuwenden. Ihre Großfamilie versammelt sich zu einer Sommerhochzeit ihrer Cousine an diesem perfekten Ort. Und alle freuen sich darauf, am Fox-Familienspiel teilzunehmen, das traditionell während der Ferien stattfindet. Claire hat das Spiel immer geliebt, und Meredith ist entschlossen, für sie zu gewinnen.

Doch die Allianz mit einem wahnsinnig witzigen und gutaussehenden Trauzeugen macht es Meredith nicht leicht, sich auf das Spiel zu konzentrieren, obwohl sie überhaupt kein Interesse an einer neuen Beziehung hat, weil sie gerade von ihrem Freund sitzengelassen wurde.

Sie will sich einfach nicht in Wit verlieben. Im Laufe der Woche aber wird ihr klar, dass sie nicht nur das Spiel, sondern auch ihr Herz zu verlieren droht.

K. L. Walther

The Summer of Broken Rules

Als unsere Liebe begann

Aus dem Englischen von Rita Gravert

 

 

 

 

Wie immer für Dad. Danke für die mit Dave Matthews unterlegten Autofahrten, die Muschelsuppen und dafür, dass du uns den schönsten Ort auf Erden gezeigt hast.

 

Und für Trip, für die Traktorfahrten in der Dämmerung, die wilden Tubing-Ritte, die Steakessen um neun Uhr abends und dafür, dass du sein bester Freund warst.

Sonntag

Eins

Keiner hatte Pommes bestellt. Drei Schalen Muschelsuppe, aber keine Schale mit den besten Fritten von Cape Cod, Suchtfaktor garantiert. »Darf es noch etwas sein?«, fragte uns der Kellner, als wüsste er ganz genau, dass noch was fehlte. Vielleicht war es tatsächlich so. Vielleicht hatte er uns erkannt. Schließlich war es bei uns in der Familie Tradition, zur Feier unserer letzten Reiseetappe im Quicks Hole zu Mittag zu essen, bevor wir an Bord der Fähre gingen. Nur noch eine Stunde, und wir hätten endlich Martha’s Vineyard erreicht.

Ich erwischte meine Eltern dabei, wie sich ihre Blicke trafen. Darf es noch etwas sein? Nach so vielen Sommern war uns die Karte in Fleisch und Blut übergegangen – wir brauchten nicht mehr draufzuschauen. Unsere Bestellungen hatten sich tief in unser Gedächtnis eingegraben, und Pommes gehörten nicht dazu.

Weil immer Claire dafür gesorgt hatte, dass sie bestellt wurden. Die größte Portion, die Sie haben, hatte sie stets gesagt. Wir sind am Verhungern!

Da erst erkannte ich, dass diese Aufgabe nun mir zufiel. »Doch, eine Sache haben wir vergessen«, sagte ich und schluckte den Klumpen in meiner Kehle herunter. »Pommes bitte. Trüffelpommes.«

»Gute Wahl.« Unser Kellner nickte zufrieden und wandte sich in Richtung Küche. Schweigend saßen meine Eltern und ich an unserem hohen Tisch und versuchten krampfhaft, nicht auf den verwaisten vierten Stuhl zu starren. Meine Mutter hatte ihre Handtasche über die Lehne gehängt, als wollte sie die Leere kaschieren. Ob bewusst oder unbewusst, weiß ich nicht. Es wirkte, als wäre die Person, die dort saß, nur kurz auf die Toilette gegangen und würde bald wiederkommen.

Die Quicks Hole Tavern machte ihrem Namen alle Ehre. Schon eine Viertelstunde später bekamen wir unser Essen: drei dampfende Schalen mit New Englands magischem Gebräu und eine riesige Schale Pommes, garniert mit Parmesan und Petersilie. Ich schüttete die unverzichtbaren fünf Spritzer Tabasco in meine Suppe, und Dad hob sein Bierglas. »Auf Sarah und Michael«, sagte er. »Möge uns diese Woche immer in Erinnerung bleiben.«

Wir stießen an.

»Und auf unsere große Rückkehr«, fügte er hinzu und gab meiner Mutter einen Kuss auf die Wange. »Es ist viel zu lange her.«

Zwei Jahre, um genau zu sein. Schon vor meiner Geburt – vor 18 Jahren – hatte meine Familie auf Vineyard Urlaub gemacht, aber den letzten Sommer hatten wir zurückgezogen im ländlichen Teil des Bundesstaats New York verbracht. Wieder warf ich einen verstohlenen Blick auf den leeren Stuhl.

Ja, dachte ich. Es ist viel zu lange her.

Dann rührte ich mit dem Löffel meine Suppe um und beobachtete, wie die scharfe rote Soße Kreise zog und schließlich verschwand. Dabei fragte ich mich, ob sich in unserer Abwesenheit wohl etwas verändert hatte.

 

Eine Sache, die sich definitiv nicht verändert hatte, war Falmouth’s Steamship Authority. Während die Sonne hoch am blauen Julihimmel stand, hatte man das Gefühl, die Menschen warteten auf das tollste Konzert des Jahrhunderts. Die Tickets von Autos, Autos und noch mehr Autos wurden kontrolliert und warteten in nummerierten Reihen auf ihre jeweilige Fähre. Während meine Eltern und ich uns unseren Weg durch das Gedränge bahnten, flocht ich mein honigfarbenes Haar zu einem losen Zopf. In den Reihen parkten Wrangler Jeeps in allen Farben, von denen die meisten kein Dach und einige zudem keine Türen hatten, dafür dröhnte laute Musik aus den Lautsprechern. Dann gab es Volvos mit Kajaks auf dem Dach und elegante, silberne Range Rovers, die mit ihren Fahrradträgern noch massiver wirkten, als sie ohnehin schon waren. Ich hörte, wie ein kleines Kind einen Weinkrampf bekam. »Nein, Jeffrey, du bekommst jetzt keine Chips mehr!«, sagte seine Mutter, offenbar am Rande der Verzweiflung. Die Schlange der Passagiere bestand aus einer bunten Mischung aus Collegestudenten, Familien, Hunden, Fahrrädern, Rollkoffern und reiseerfahrenen älteren Paaren, die das Chaos in aller Seelenruhe betrachteten.

Als wir uns den Weg zurück zu unserem Ford Raptor bahnten, streckte Loki heftig hechelnd den Kopf aus dem Fenster. »Magst du ihm Wasser geben, Meredith?«, fragte meine Mutter, als wir wieder im Auto saßen. Wortlos nahm ich meine Wasserflasche und spritzte unserem Jack Russel einen Wasserstrahl direkt ins Maul. Er schluckte und trank wie ein Mensch. Den Trick hatte Claire ihm schon als Welpe beigebracht. »Später werden wir froh darüber sein«, hatte sie gesagt. »Dann müssen wir bei Spaziergängen keine Extraflasche für ihn mitnehmen.«

Es dauerte nicht lange, bis die Steamship Authority begann, die bullige Zwei-Uhr-Fähre The Island Home zu beladen.

»Warte, mach das Schiebedach auf!«, rief ich, als der Einweiser unser Auto auf die Fähre winkte, und mein Vater nahm den Fuß vom Gas. Mein Herz klopfte wild. Das war ein weiteres Ritual von Claire und mir. Eines, das ich am Leben erhalten wollte: Immer wenn wir auf die Fähre fuhren, hatten wir uns durch das Schiebedach herausgestreckt und gejubelt, als würden wir in einer Limousine sitzen. Meistens hatten die Leute zurückgejubelt, vor allem die Typen in den Wranglern. »Hey, Sexy!«, hatten einige von ihnen bei unserem letzten Ausflug gerufen. Damals war Claire siebzehn und ich sechzehn gewesen.

»Pech gehabt, sie ist schon vergeben!«, hatte meine Schwester zurückgerufen. Typisch Claire. Natürlich nahm sie an, dass sie mich gemeint hatten. Dabei hatte ich noch nie verstanden, warum sie ihr Licht so unter den Scheffel stellte. Hochgewachsen, sportlich, mit rotbraunen Locken und den coolsten Brillen überhaupt war Claire ein echter Hingucker. Da sie keine Kontaktlinsen tragen konnte, besaß sie eine sehr umfangreiche Sammlung von Brillen in allen Stilrichtungen, von Retro bis modern. An jenem Tag trug sie die rechteckige mit transparenten Gläsern.

Ich hingegen hatte helle Haare und dunkle Augenbrauen (»ungewöhnlich«, fanden die meisten) und war außerdem gute zwölf Zentimeter kleiner als meine Schwester. Das Einzige, was uns als Schwestern auswies, waren unsere grünen Augen. »Monkey Meredith«, hatte sie mich immer genannt, nachdem sie mich dabei erwischt hatte, wie ich auf die Regale unserer Speisekammer kletterte.

Als wir nun die Rampe der Fähre hochfuhren, jubelte ich nicht (die Jungs in den Wranglern dagegen schon). Stattdessen schloss ich die Augen und atmete tief ein. Ich liebte den salzigen Geruch des Meeres. Wie sehr ich das vermisst hatte. Er bedeutete mir viel. Meine Familie hatte immer Witze gemacht, dass wir den Duft des Meeres in einer Flasche fangen sollten, damit er in den bitterkalten New Yorker Wintern unsere Stimmung aufhellte.

Kaum stand unser Auto auf dem Autodeck der Fähre, schnallten meine Eltern sich ab. Loki bellte und sprang über die Mittelkonsole auf den Schoß meiner Mutter. Lachend klippte sie die Leine an sein grünes Halsband. »Das war deutlich«, sagte sie. »Gehen wir nach oben.«

Mit »oben« meinte sie das Sonnendeck der Fähre. Natürlich konnte man auch einfach im Auto bleiben oder auf einem der vielen Sitze im Innenbereich Platz nehmen. Aber genau wie mit der Meeresluft gab es einfach nichts Besseres, als den Wind in den Haaren zu spüren, während die Insel langsam in Sicht kam.

»Klingt gut …« Ich verstummte, als mein Handy plötzlich aufleuchtete und unerträglich hartnäckig im hinteren Becherhalter vibrierte. Auch der Name, der auf dem Display erschien, war unerträglich: »Ben Fletcher«.

In meinem Magen bildete sich ein Knoten. Ben hatte mir geschrieben.

»Ähm, geht schon mal vor«, hörte ich mich sagen, während ich auf den Namen starrte. Er verschwamm unter dem Tränenschleier in meinen Augen. »Ich komme sofort nach.«

Erst als Dad mir die Schlüssel gegeben hatte und mit Mom und Loki im Treppenaufgang verschwunden war, las ich Bens Nachricht: Wie läuft die Fahrt?

Das war’s. Kein Hallo, keine Entschuldigung, kein Sinneswandel.

Nicht, dass ich das gewollt hätte, aber trotzdem.

Wie läuft die Fahrt?

War das sein verdammter Ernst? Mehr nicht?

Schreib nicht zurück, flüsterte mir eine Stimme im Hinterkopf zu. Doch ich ignorierte sie und schrieb: Wir sind schon auf der Fähre.

Ah, okay, schrieb er zurück. Wie lange?

»Eine Stunde«, murmelte ich in mich hinein. Hundertmal hatte ich das ihm gegenüber erwähnt, nachdem ich voller Aufregung im April eine Einladung bekommen hatte. »Miss Meredith Fox« hatte dort in silbernen Buchstaben auf einem blauen Umschlag gestanden. »In der Antwortkarte muss ich angeben, ob ich jemanden mitbringe«, hatte ich Ben später erzählt, als ich in seinem Arm lag und wir Netflix schauten. »Willst du mein Begleiter sein?«

»Dein Begleiter?«, hatte er grinsend gefragt. »Na klar!« Und wir hatten uns geküsst.

Ich wischte meine aufsteigenden Tränen nicht fort. Wenn die Meredith von vor wenigen Monaten mich nun sehen könnte: auf dem Weg zu Sarahs Hochzeit nicht nur ohne Date, sondern ohne Freund. Nach vier Jahren Beziehung hatten Ben und ich Schluss gemacht.

Na ja, nicht ganz. Er hatte mit mir Schluss gemacht. Letzten Monat aus heiterem Himmel auf seiner Abschlussparty. In einem Moment hatten wir noch zur komischen Woodstock-Playlist seines Vaters getanzt und im nächsten zog er mich von der Tanzfläche und sagte Sachen wie: »Es war schön mit dir, aber vielleicht ist es besser, wenn wir nur Freunde sind … Fernbeziehungen funktionieren doch eh nicht …«

»Aber darüber waren wir uns doch einig«, unterbrach ich ihn. »Wir haben das alles besprochen, erinnerst du dich?« Mir wurde plötzlich schwindelig, und ich klammerte mich an seinen starken Arm. »Wir haben gesagt, wir wollen es versuchen.« Ben fing im Herbst an der University of South Carolina an, während ich in der Stadt blieb und lediglich den Clinton Hill hinauf ans Hamilton College wechselte. Dort arbeitete mein Vater als Fußballtrainer, und ich wollte nicht so weit von zu Hause weg. »Hast du das etwa vergessen?«

Ben antwortete nicht.

Meine Finger gruben sich tiefer in seinen Arm. »Tu das nicht, Ben.« Ich konnte nicht verhindern, dass meine Stimme zitterte. »Bitte, ich brauche dich. Nach allem, was passiert ist …«

»Ich weiß. Ich weiß.« Ben umarmte mich und drückte meinen Kopf an seine Brust. Normalerweise war das tröstlich, aber heute hatte ich das Gefühl, er wollte mich damit zum Schweigen bringen. »Ich liebe dich, Mer«, flüsterte er, und ich ließ mich gegen ihn sinken und begann zu weinen. Sein Herzschlag dämpfte die meisten seiner Worte und ließ mich in Schluchzer ausbrechen. Doch der letzte Satz gab mir die Kraft, mich aufzurichten. »Aber zur Hochzeit komme ich natürlich trotzdem«, schloss er. »Wenn du das willst.«

»Was?« Ich wich zurück und begann in der kalten Nachtluft zu frösteln. »Als mein Date?«

»Ja.« Er streckte die Hand aus und drückte meine Schulter. »Das ändert gar nichts.« Mit einem halbherzigen Lächeln zitierte er den altmodisch klingenden Satz, von dem er wusste, dass ich ihn mochte: »Du bist mir immer noch das liebste Mädchen im Arm.«

Ich weiß nicht mehr, was ich darauf geantwortet habe, aber es endete auf jeden Fall damit, dass ich auf meinen schwindelerregend hohen High Heels mit Keilabsatz die Flucht ergriff. Und zugegeben, es hatte auch zur Folge, dass ich auf dem Heimweg von der Polizei angehalten wurde. Weil ich zu schnell gefahren war? Oder von der Straße abgekommen bin? Da ich vor lauter Tränen kaum sprechen konnte, ließ mich Officer Woodley mit einer Verwarnung davonkommen (und eskortierte mich nach Hause).

Aus den Lautsprechern der Fähre ertönte ein lauter Piepton. Zeit zu gehen, dachte ich. Doch in dem Moment vibrierte mein Handy erneut in meiner Hand. Eine dritte Nachricht von Ben: Mer, ich wäre diese Woche wirklich mitgekommen.

Mir stieg die Hitze in die Wangen, und bevor ich es realisierte, hatte ich bereits seine Nummer gewählt.

Er hob nach dem ersten Klingeln ab. »Hey …«

»Ich wollte nicht, dass du kommst«, unterbrach ich ihn – den Tränen nahe. »Ich wollte meinen Freund dabeihaben und nicht meinen Arschloch-Ex!«

Stille.

Dann seufzte Ben. »Mer …«

Ich legte auf und wischte die Tränen fort. Ich musste sofort raus aus diesem Auto und an die frische Luft. Als ich nach dem Türgriff langte, ertönte das Schiffshorn. Inzwischen standen die Autos auf dem großen Pkw-Deck der Fähre so dicht an dicht, dass ich die Tür unmöglich aufbekam, ohne dabei eine Delle in das Auto neben mir zu schlagen. Da kam mir der rettende Gedanke. Das Schiebedach. Es stand immer noch offen, und ich versuchte auszublenden, wie viele Leute wohl mitangehört hatten, wie ich Ben am Telefon angebrüllt hatte. Ich wühlte in meinem Rucksack nach meiner Sonnenbrille, um die Flecken zu verbergen, die sich vom Weinen auf meinem Gesicht gebildet hatten, und setzte sie zusammen mit einer der Baseballcaps meines Vaters auf. Dann schwang ich mich hoch und aus dem Auto.

Auf meinem Gesicht breitete sich ein winziges Lächeln aus. Das wäre doch gelacht.

Aber ich hatte mich zu früh gefreut.

Statt direkt auf den Boden zu springen, griff ich nach einer der Halterungen des Dachgepäckträgers, ohne nachzusehen, ob der schmale Gang zwischen den Autos auch frei war. Ich schwang mich also im Tarzanstil nach unten und bekam einen halben Herzinfarkt, als mein Fuß auf etwas Weiches stieß.

Und mit etwas meine ich jemanden.

»Uff«, machte der Typ überrascht. Seine Schultern fielen nach vorn, und ich sah, wie er eine Hand auf die Stelle drückte, wo mein Fuß ihn getroffen hatte. Voll ins Gesicht, irgendwo neben seiner Nase. »Au!«

»’tschuldigung!«, platzte ich heraus. »Tut mir leid! Wirklich!«

»Schon in Ordnung«, gab er zurück. »Alles, äh, okay.«

Doch bevor er sich aufsetzen und einen Blick auf seine Angreiferin werfen konnte, war ich auch schon verschwunden. Ich rannte auf die Treppe zu und nahm zwei Stufen auf einmal in Richtung Sonnendeck.

 

Als die Insel in Sicht kam, legte meine Mutter den Arm um mich. Es war ein wunderschöner Tag ohne eine einzige Wolke am Himmel. Um den Leuchtturm in East Chop herum und über den Booten, die im Hafen von Vineyard Haven schaukelten, lag kein Nebel. »Was für ein Willkommen!«, rief mein Vater aus, und mein Blick trübte sich. Ich war in Gedanken bei Claire. Ein Teil von mir war froh, wieder hier zu sein, doch der andere Teil wollte, dass die Fähre auf der Stelle umdrehte und mich nach Hause brachte. Es fühlte sich falsch an, ohne meine Schwester nach Vineyard zu kommen. Sie hatte die Insel von uns allen am meisten geliebt. Es ist viel zu lange her, hatte mein Vater beim Mittagessen gesagt. Doch jetzt kam ich nicht umhin, mich zu fragen: War es lange genug?

»Ich wünschte, Claire wäre dabei«, flüsterte ich meiner Mutter zu.

»Das ist sie«, flüsterte meine Mutter zurück und drückte sanft meine Schulter. Dann deutete sie gen Himmel. »Sie lässt die Sonne auf uns scheinen.«

»Für Sarah«, sagte ich.

»Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Für uns alle.«

Zwei

Meine Cousine heiratete. Sarah Jane Fox und Michael Phillipe Dupré würden am Samstag, den 16. Juli, um vier Uhr nachmittags in der St. Andrew’s Church in Edgartown heiraten. Das gemeinsame Abendessen und die Feier sollten auf der Paqua Farm stattfinden.

Die Paqua Farm oder auch einfach nur »die Farm«, wie wir sie nannten, war schon vor dem Ersten Weltkrieg im Besitz der Familie Fox gewesen. Inzwischen war es jedoch kein landwirtschaftlicher Betrieb mehr, sondern ein ausgedehntes Anwesen mit rund 240 Hektar Land und über einem Kilometer Privatstrand zwischen Edgartown und Tisbury. Stundenlang ließen wir uns von den Wellen tragen und planschten dann selig in den berühmten Seen und Teichen von Vineyard herum. Meiner und Claires Lieblingssee war stets der abgeschiedene Paqua See gewesen.

 

Ich drückte den zappelnden Loki fest an mich, während mein Vater die gut drei Kilometer lange Sandpiste zur Farm entlangschoss und dabei jede Menge Staub aufwirbelte. »Langsamer, Dad«, mahnte ich vom Rücksitz, doch es ging in seinem Lachen unter. Die inoffizielle Geschwindigkeitsbegrenzung der Straße betrug vierzig Kilometer pro Stunde, doch diese Regel wurde von allen genüsslich gebrochen. »Früher haben wir da Rennen veranstaltet«, schwärmte Onkel Brad manchmal und schlug meinem Vater auf die Schulter. »Oh, wie wir geflogen sind.«

Früher hatte es mir ebenfalls Spaß gemacht, sich über Regeln hinwegzusetzen. Doch nun drehte sich mir der Magen um, und ich beugte mich vor, um einen Blick auf den Tacho zu werfen. Knapp unter achtzig. »Bitte, Dad!«, wiederholte ich. Diesmal ein bisschen schriller. Mein Herz klopfte. »Fahr langsamer!«

Meine Mutter legte meinem Vater eine Hand auf den Arm. »Tom«, sagte sie leise.

Als mein Vater daraufhin auf die Bremse trat, beruhigte sich mein Magen ein wenig. Der Geschwindigkeitsmesser bewegte sich auf dreißig herunter. Wir erreichten die Gabelung, wo ein hoher Wegweiser aus Holz Jahr um Jahr der Witterung trotzte. In diesem Jahr erstrahlte er jedoch in einem frischen weißen Anstrich – definitiv Tante Christine zu verdanken. Er wies die Richtung zu allen Sommerhäusern, von denen insgesamt acht auf dem gesamten Gelände der Farm verteilt waren. Keines von ihnen glich dem anderen. Einige waren größer, andere kleiner, doch alle waren rustikal gehalten, und jedes hatte einen Namen und seinen ganz eigenen Charakter. Da die meisten Hochzeitsgäste auf der Farm übernachteten, nahm ich an, dass sie alle belegt waren. Onkel Brad hatte meinem Vater sogar erzählt, dass ein Zeltlager eingerichtet worden war.

Mein Vater lenkte nach links, und wenige Minuten später knirschten die Reifen des Raptors über die kiesbelegte Auffahrt des Nebenhauses. Na ja, Parkplatz trifft es wohl eher. Die restlichen Häuser hatten Auffahrten, das Nebenhaus jedoch nur einen kleinen Parkplatz. Es war ein mit Zedernholzschindeln verkleidetes Cottage, das nur über das Erdgeschoss und ein Spitzdach verfügte und unseres war, wann immer wir auf Vineyard zu Besuch waren. Normalerweise mieteten wir es für drei Wochen, und den Rest des Sommers wurde es von verschiedenen Mitgliedern der erweiterten Familie und Freunden bewohnt. Zwei grüne Gartenstühle standen auf einer etwas verwitterten Veranda, die über ein großes grünes Feld blickte, das mit gelben Blumen gesprenkelt war. Die hohen Gräser und struppigen Bäume wiegten sich im Wind, und in der Ferne hörte ich, wie sich die Wellen am Strand brachen.

Wir sind da, dachte ich, und auf einmal hätte ich am liebsten einen Freudentanz aufgeführt. Wir sind da, wir sind da, wir sind da!

Durch die Eingangstür mit dem Fliegengitter ging es ins Wohnzimmer. Die ausgetretenen Dielen waren von einem geflochtenen Teppich bedeckt, und zwischen den beiden Fenstern, die nach vorn zeigten, stand vor einem kleinen Fernseher ein abgewetztes grün-weiß gestreiftes Zweiersofa. Die beiden Regale waren mit Büchern vollgestopft, und zahlreiche Fotos zierten die holzvertäfelten Wände. Es waren auch einige sehr alte Schwarz-Weiß-Fotografien darunter, die die jahrzehntelange Geschichte der Familie Fox und ihrer Freunde erzählten.

Der schmale Flur endete in einer kleinen Küchenzeile auf der einen und der Tür zum Zimmer meiner Eltern auf der anderen Seite. Geradeaus lag Claires und mein Zimmer – so winzig, dass es eher einer Schiffskajüte glich. Nicht selten hatte Claire mich nachts aufgeweckt, weil sie sich im Schlaf umgedreht und dabei gegen die Wand getreten hatte. ’tschuldigung, Mer, hatte sie dann mit verschlafener Stimme gesagt.

Ich biss mir auf die Lippe und machte die Tür zu unserem Zimmer auf. Nichts hatte sich verändert. Alles war noch genau wie früher. Dort stand die hellblaue Kommode, über der ein kleiner Spiegel mit einem Rahmen aus Meerglas und Muscheln und die Paqua-Karte hingen, die meine Schwester und ich als Kinder gezeichnet hatten. Bei so vielen Schnitzeljagden und Fangspielen hatten wir jeden Zentimeter der Farm erkundet.

Ein weißer Rattannachttisch stand passend zu den weißen Tagesdecken neben dem Etagenbett. Da Claire unter Höhenangst gelitten hatte, hatte sie immer unten und ich oben geschlafen. Die Leiter war schon vor langer Zeit zerbrochen und nie erneuert worden, doch ich hatte eine besondere Technik entwickelt, um an der Seite hochzuklettern.

Nachdem ich meine Reisetasche ausgepackt und mein Kleid für die Hochzeit sicher in einem Kleidersack aufgehängt hatte, hörte ich, wie die Hintertür des Nebenhauses auf- und wieder zuging. »Jemand zu Hause?«

Meine Eltern luden draußen noch das Auto aus. Ich rief ein Hallo zurück und hüpfte ins Wohnzimmer, nur um dort über den Teppich zu stolpern. Als ich den Kopf hob, setzte mein Herz für einen Moment aus. Dort stand Claire im Türrahmen und lächelte mich an.

Nein. Nein, das konnte nicht sein.

Als meine Cousine meinen Namen sagte, begannen meine Augen zu brennen. Denn während ich und Claire uns kein bisschen ähnlich sahen, hätte man sie und Sarah für eineiige Zwillinge halten können. Dieselben üppigen Locken in Herbstfarben, beide schlank, beide liebten es, barfuß herumzulaufen, und beide neigten den Kopf leicht, wenn sie lächelten. Erst als ich das rosa-graue Lilly-Pulitzer-Kleid und die Perlenohrringe erkannte, ließ meine Anspannung nach. Sarah. Es war Sarah.

»Hi«, sagte ich mit zittriger Stimme. Doch ich gab mir einen Ruck und ließ mich von der zukünftigen Braut fest umarmen. Ich hatte sie schon lange nicht mehr gesehen. Bestimmt viele Monate. Onkel Brad, Tante Christine, Sarah und ihre Brüder kamen aus Maryland und reisten für die Sommerferien immer nach Vineyard, wo sie das Laternenhaus bewohnten. Wenn man »adrett« im Wörterbuch nachschlug, dann könnte man ihre Weihnachtskarten gleich danebenlegen.

Inzwischen war Sarah sechsundzwanzig Jahre alt und hatte nach ihrem Studium an der Tulane vor ein paar Jahren angefangen, für die Umweltschutzbehörde in New Orleans zu arbeiten. »Wie läuft’s?«, fragte sie und löste sich aus unserer Umarmung, um mir durch ihre Hornbrille einen prüfenden Blick zuzuwerfen. Genau wie Claire hatte Sarah ein Faible für aufregende Brillen. Aber diese war ein bisschen zu groß geraten. Ich beobachtete, wie sie sich die Brille die Nase hochschob. Dabei fiel mein Blick auf die deutlich hervortretende Narbe auf ihrer Stirn, die von ihrem Haaransatz bis hin zu ihrer rechten Schläfe verlief. Größtenteils eine gerade, dünne Linie, machte sie über ihrer linken Augenbraue jedoch eine Zick-Zack-Kurve. Eine bleibende Erinnerung an die Glassplitter in jener schrecklichen Nacht im vorletzten Winter.

Ich blinzelte. »Wie geht es dir?«, wiederholte sie.

Ben. Sie sprach von Ben. Denn nachdem ich nicht mehr Claires Schulter zum Ausheulen hatte, hatte ich Sarah am Morgen nach seiner Abschlussparty angerufen. »Er–hat–gesagt,–er–würde–trotzdem–kommen«, schluchzte ich ins Telefon. »Wenn–ich–das–will.«

»Moment mal«, sagte sie. »Er hat was gesagt? Dass er Schluss macht, aber trotzdem kommen will?«

»Hmm.«

»Oh Goooott, Mer«, stöhnte Sarah. »Das tut mir leid. Was für ein Arsch. Bitte sag, dass du Nein gesagt hast.«

»Aber ich habe doch in der Antwortkarte angegeben, dass ich mit Begleitung komme«, sprudelte es aus mir heraus. »Auf deine Einladung. Ich habe dir gesagt, ich bringe jemanden mit. Ich brauche jemanden.«

»Nein, tust du nicht«, widersprach Sarah. »Nicht die Bohne. Ein Filet weniger, das gegessen wird – oder was auch immer er bestellt hatte –, wirft meine Hochzeit nicht über den Haufen.«

Jetzt lächelte ich meiner Cousine verschmitzt zu. »Heute hat er mir geschrieben.« Ich verschränkte die Arme vor der Brust. »Da hab ich ihn sofort angerufen und ihm gesagt, was er für ein Arschloch ist.«

Sarah keuchte. »Hast du nicht.«

Ich grinste. »Hab ich doch.«

Bei unserem Telefonat hatte ich zwar geheult, aber theoretisch stimmte es.

»Yes!« Sie erwiderte mein Grinsen. »Sehr gut, Mer! Du musst dich behaupten!«

Mein Lächeln geriet ins Wanken.

Du musst dich behaupten.

Das hatte Claire immer gesagt. »Ich weiß, dass es mich eigentlich nichts angeht«, hatte sie einmal gesagt. »Aber auf mich wirkt es, als müsstest du Ben gegenüber mehr für dich einstehen. Setz dich durch.«

So langsam begann ich zu realisieren, dass sich in unserer Beziehung immer alles um Ben gedreht hatte. Was ich wollte, hatte nie eine Rolle gespielt.

Claire hatte es gesehen, aber ich hatte nicht auf sie hören wollen. Sie hat keinen Freund, sie hatte noch nie einen, redete ich mir ein, während ich Jeans und süße Tops anzog, meine Haare in Locken legte und Eyeliner auftrug. Sie versteht das nicht. Sie irrt sich.

»Sarah!« Meine Eltern waren im Wohnzimmer aufgetaucht. Zu viert wurde der gemütliche Raum noch gemütlicher. Doch wir hatten es schon hinbekommen, uns zu zehnt hier hineinzuquetschen. »Dachten wir uns doch, dass wir dich gehört haben!«

»Tante Liz!« Sarah umarmte beide. »Onkel Tom! Herzlich willkommen!«

»Hübsch siehst du aus«, stellte meine Mutter fest, und ich bemerkte, wie ihr Blick auf Sarahs Narbe hängen blieb. Mein Herz setzte aus. Vielleicht nahm sie kaum wahr, wie gut die Wunde verheilt war, sondern sah stattdessen nur die Naht. Die Narbe wirkte ordentlich und sauber, aber auch grausam und brutal. Im Gegensatz zu meinen Eltern hatte ich nur Fotos von der Verletzung gesehen, aber es waren viele gewesen. Ich machte mir Sorgen, dass der Anblick meine Mutter für immer verfolgen würde. »Du strahlst ja, genau wie es sich für eine zukünftige Braut gehört!«

Sarah lächelte. »Ich bin nur kurz vorbeigekommen, um Hallo zu sagen.« Dann wandte sie sich an meinen Dad. »Und um dir zu sagen, dass das Klohäuschen voll ausgestattet ist.«

»Charmin-Toilettenpapier?«, entgegnete mein Vater.

Sie nickte ernst. »Selbstverständlich.«

Alle kicherten. Eine weitere Besonderheit des Nebenhauses bestand darin, dass es keine Toilette hatte. Alle Häuser auf der Farm hatten Außenduschen – himmlisch nach einem langen Strandtag –, aber unser Cottage hatte als einziges keine Toilette. Punkt. Stattdessen musste man einem ausgetretenen Pfad in den Wald folgen, der zu einem hohen, schmalen Holzhäuschen führte. Das war vor allem mitten in der Nacht keine leichte Aufgabe.

»Na dann!«, witzelte ich und wich, um meine Mutter endlich wieder einmal zum Lachen zu bringen, bis zur Fliegengittertür zurück. »Wo wir gerade beim Thema sind: Wenn ihr mich kurz entschuldigt …«

 

Sarah hatte uns gesagt, dass sie am Abend für alle ein Willkommensgrillen veranstalteten. Doch kaum hatte sie das Nebenhaus verlassen, holte ich eines der Strandräder aus dem Schuppen, pumpte die Reifen auf und machte mich auf Aufklärungstour. Etwas weiter die Straße hinunter lag die sogenannte »Hütte« mit ihren rostfarbenen Seitenwänden aus Holz. T-förmig gebaut und mit den einzelnen Zimmertüren auf die Terrasse hinausgehend, sah sie aus wie ein altes Motel. Als ich die vielen Autos entdeckte, die mit geöffnetem Kofferraum kreuz und quer daneben parkten, bremste ich ab. Um die Feuerschale vor der Hütte hatten sich mehrere Typen versammelt. Die Entourage des Bräutigams.

Mitten unter ihnen saß Michael selbst, er balancierte eine Bierdose auf dem Knie, während er wild gestikulierend irgendeine Story zum Besten gab. Selbst von Weitem war klar zu erkennen, wie gut er aussah: Michael hatte den Körperbau eines Quarterback, bronzefarbene Haut, dunkle Haare, durch die Sarah ständig mit der Hand fuhr, und dem weichsten Südstaatenakzent, den man sich vorstellen konnte. Er und meine Cousine hatten sich zwar an der Tulane kennengelernt, doch Michael hatte sein gesamtes Leben in New Orleans verbracht. Er hatte kreolische, französische und afrikanische Wurzeln. Als eingefleischter Footballfan arbeitete Michael inzwischen auf einem wichtigen Posten im Büro der Saints.

Als er mich entdeckte, hob er zum Gruß die Hand, doch im selben Augenblick stürzte ein Typ aus der Hütte. »Warum gibt’s nicht mehr Eis in der Gefriertruhe, verflucht?«, fragte er, und alle drehten sich zu ihm um. »Sein Gesicht sieht inzwischen echt übel aus. Als hätte er ein paar Runden im Ring gedreht …«

Viel Glück dabei, dachte ich. Worum auch immer es bei denen gerade ging. Mit Michael würde ich mich später unterhalten. Ich fasste den Lenker wieder fester und trat in die Pedale. Ich wurde ganz schön schnell und ließ das Fahrrad dann rollen, bis ich in die Straße einbog, die direkt zum großen Haus führte.

Das sogenannte »Große Haus« war eigentlich gar nicht Paquas größtes, sondern das älteste. Es war ein viktorianisches Farmhaus, verkleidet mit Zedernholzschindeln und verblichenen grünen Fensterläden, das als einziges auf dem gesamten Anwesen im Sommer nicht vermietet wurde, weil meine Großeltern Wink und Honey das ganze Jahr über dort lebten.

Gerade saßen sie auf der leicht durchhängenden Veranda. Honey schaukelte gemächlich in ihrer Hängematte, während Wink an einem Pfeiler lehnte und mich durch sein Fernglas schon längst erspäht hatte. »Ich beobachte Vögel«, pflegte er stets zu sagen, doch ich wusste es besser. Mein Großvater hatte gern im Blick, was auf der Farm so vor sich ging, und die Veranda des großen Hauses war die perfekte Spionagebasis. Da sie um das gesamte Haus herum verlief, sah man alles.

»Irgendwas Interessantes?«, fragte ich, nachdem ich mein Fahrrad auf den Ständer gestellt hatte.

»Julia und Rachel sind gerade angekommen«, erwiderte Wink, den Blick unverwandt in die Ferne gerichtet. »Sieht so aus, als hätte Ethan gerade einen Wutanfall, und Hannah muss ihre Ballettstunden wirklich lieben. Sie trägt selbst jetzt ein rosa Tutu.«

Ich lachte. Tante Julia war die jüngere Schwester meines Vaters. Mit ihrer Frau Rachel hatte sie zwei Kinder: Den sechsjährigen Ethan und die vierjährige Hannah. Derzeit war Tante Rachel hochschwanger mit ihrem dritten Kind, einem Jungen. Nächsten Monat sollte er kommen.

»Komm, setz dich zu mir, Liebes«, sagte Honey und klopfte neben sich auf die Hängematte. Ich gehorchte, und sie legte den Arm um mich. Vertrauter Lavendelduft umfing mich. Ich fand, dass meine Großmutter mit ihren langen, weißen Haaren, den blauen Augen, ihren weißen Leinentuniken und den schweren Halsketten, mit denen sie »etwas Farbe reinbringen« wollte, eine der schönsten Frauen überhaupt war. Die Ketten entwarf sie selbst, und sie waren in den Juweliergeschäften auf der Insel stets heiß begehrt.

»Sieht so aus, als wären schon alle da«, kommentierte ich. »Vorhin bin ich an der Hütte mit Michael und seinen Freunden vorbeigekommen.«

Wink ließ das Fernglas sinken. »Ja, er ist extra vorbeigekommen, um zu versprechen, dass sie sie nicht demolieren.«

Honey lachte. »Ich bin hin und weg von dem Jungen.«

Ich lächelte. Dass meine Großmutter eine Schwäche für Michael hatte, war kein Geheimnis. »Wo übernachtet seine Familie?«

»Christine hat sie im Moorhaus untergebracht«, antwortete Wink mit einer Handbewegung in die Ferne. »Steht alles in der Excel-Datei.« Er grunzte leise. »Himmel, man könnte denken, es sei ihre Hochzeit.«

»Na, na.« Honey verdrehte die Augen. »Nun sei mal nicht so, Andrew. Wir kennen doch alle Christine, und immerhin ist Sarah ihre einzige Tochter.«

Ich nickte und dachte dabei an die aufwendig gestaltete Einladungskarte samt kleinem Leuchtturm, der auf den Umschlag geprägt war. Dieses Detail war unmissverständlich Tante Christines Idee gewesen. »Mag ja sein, dass sie ein bisschen zugeknöpft ist«, hatte meine Mutter bemerkt. »Aber Geschmack hat sie.«

»Wenigstens hat Sarah sich durchgesetzt, was die Smokings betrifft«, kommentierte Wink. »Im Smoking eine Hochzeit mitten im Juli draußen zu feiern?« Er schüttelte den Kopf. »Das habe ich schon viel zu oft machen müssen, und ich sage euch, es ist kein Spaß.«

»Wobei Michael ein Smoking bestimmt hervorragend steht«, bemerkte Honey verträumt.

»Warum heiratest du ihn dann nicht, Bea?«, fragte Wink und zwinkerte mir zu. Unser Großvater zwinkerte uns oft zu. Ich kicherte. Deshalb hieß er bei uns Enkeln »Wink«.

»Sarah hat vorhin im Nebenhaus gesagt, dass sie eine Überraschung vorbereitet hat«, sagte ich. »Sie und Michael wollen heute irgendwas ankündigen.«

Meine Großeltern tauschten vielsagende Blicke.

»Ihr wisst es schon«, sagte ich. »Ihr wisst, worum es geht.«

»Kann sein.« Um Winks Mundwinkel zuckte ein Lächeln. »Vielleicht tun wir das.«

»Sag schon!«

Sein Lächeln wurde breiter.

Mit einem Stöhnen vergrub ich mein Gesicht in Honeys Schulter und spürte einen Augenblick später, wie sie mir einen Kuss auf den Kopf gab.

»Wir sind so froh, dich zu sehen, Meredith«, flüsterte sie. »So ungeheuer froh.«

 

Auf der Farm waren zahlreiche Cousinen und Cousins von mir versammelt, aber darunter hatten sich auch viele Freunde der Familie gemischt. So gehörten Eli, Jake, Luli und Pravika praktisch zur Familie. Als meine Eltern und ich bei der Grillparty im Laternenhaus ankamen, saßen sie bereits am Picknicktisch unter der großen Eiche.

»Guck mal, da ist ja schon die ganze Mannschaft versammelt«, sagte Mom und gab mir einen sanften Stups. Ich zögerte. Zwei Jahre. Fast zwei Jahre hatte ich meine Freunde nicht gesehen. Und ohne Claire würde alles anders werden. Sie war die Älteste gewesen, unsere unbestrittene Anführerin.

»Meredith!«, rief Pravika. »Meredith!«

Okay, los geht’s, dachte ich, als sich alle Köpfe mir zuwandten und ich ihre Blicke auf mir spürte. Plötzlich wurde ich ganz schüchtern. Ich war unglaublich schlecht darin gewesen, Kontakt zu halten. Von mir war fast gar nichts gekommen, und auf ihre Nachrichten, Anrufe, Snapchats und FaceTime-Anfragen hatte ich selten reagiert.

Pravika war die Erste, die ihre Arme um mich legte und mich so fest drückte, dass ich befürchtete, meine Lungen würden platzen. »Es tut mir so leid«, flüsterte sie. »Ich hab dich sehr lieb.«

Sofort fingen meine Augen an zu brennen. »Ich hab dich auch lieb«, flüsterte ich zurück.

»Himmel, Pravika, du erdrückst sie ja«, sagte Eli und umarmte mich ebenfalls, nachdem Pravika und ich uns voneinander gelöst hatten. »Du hast uns gefehlt.«

»Du mir auch«, erwiderte ich. »Coole Frisur.« Seit ich ihn zum letzten Mal gesehen hatte, hatte Eli seine hellbraunen Locken wachsen lassen. Inzwischen müssten sie ihm bis auf die Schultern reichen, und er hatte sie zu einem Man Bun hochgebunden. Er trat einen Schritt zurück und schob sich grinsend eine Locke hinters Ohr. »Danke.«

»Uäh, nee.« Jake schüttelte den Kopf. »Die Matte muss ab.«

»Du bist doch nur neidisch«, sagte Luli zu ihrem Bruder. »Weil du einen auf Prince William machst.«

Wir schauten auf Jakes schütteres Haar. Es war noch genug da, um es mit den Händen zu zerzausen, doch seit ich ihn zuletzt gesehen hatte, war es definitiv weniger geworden. Das lag in der Familie. »Was ist los, Jake?«, sagte ich, um das Thema zu wechseln. »Sagst du mir gar nicht Hallo?«

Damit war als Einzige noch Luli übrig. Während Jake, selbst wenn er sich dick mit Sonnencreme einschmierte, nach einer Stunde am Strand einen Sonnenbrand bekam, war Luli braun gebrannt, als lebte sie das ganze Jahr über am Meer. Sie war seine Adoptivschwester und stammte aus Zentralamerika. Im Gegensatz zu den anderen machte sie keinerlei Anstalten, mich zu umarmen. Alles, was sie sagte, war: »Schön, dich zu sehen, Meredith.«

»Finde ich auch«, sagte ich und schluckte schwer. Wieder dachte ich an die unbeantworteten Nachrichten. Wie hoch standen die Chancen, dass ihr gerade dasselbe durch den Kopf ging?

Mir zog sich der Magen zusammen.

Ziemlich hoch, dachte ich.

Betretenheit machte sich breit. Dann schlug Pravika vor, dass wir uns Essen holten. Sarah und Michael waren noch nicht eingetroffen, aber am Grill hatte sich bereits eine lange Schlange aus Familienmitgliedern, Brautjungfern, den Freunden des Bräutigams und anderen Gästen gebildet. Also gingen wir zum Haus und reihten uns ein. Selbst von hinten konnte ich sehen, dass Onkel Brad und mein Vater hinter dem Grill ihre Späße machten. Meine Mutter stand mit Tante Julia und Tante Rachel etwas weiter vorn in der Schlange. »Oh, ich kann es fühlen!«, rief sie aus, eine Hand auf Tante Rachels dickem Bauch. »Er hat getreten!«

Während wir warteten, warf ich einen Blick zurück zum Laternenhaus. Es war besonders hübsch: weiße Schindeln, hohe Fenster und ein winziges Dachgeschossstudio, das abends, wenn es hell erleuchtet war, wie eine Laterne aussah. Immer wieder schwang die Terrassentür auf und zu, Tante Christine ging ständig mit großen Schüsseln Kartoffelsalat oder Karaffen mit Saft für die Kinder ein und aus.

»Brauchst du Hilfe, Christine?«, fragte Honey aus ihrem Gartensessel heraus. Jedes der Häuser hatte die speziellen Adirondack Chairs, und die des Laternenhauses waren gelb gestrichen.

»Nein, nein«, versicherte Tante Christine meiner Großmutter. »Keine Sorge, ich mach das schon.« Sie seufzte. »Wenn nur Sarah und Michael endlich auftauchen würden.«

Plötzlich brachen alle in Jubel aus. Da waren sie endlich. Braut und Bräutigam kamen Hand in Hand auf die Party. Noch immer barfuß trug Sarah inzwischen ein blaues Cocktailkleid, und ihre Wangen leuchteten rosig von der Sonne. Sie hatte kein Make-up aufgetragen, und genau wie Michaels war ihr Haar nass und strähnig. Wahrscheinlich waren sie am Strand gewesen und hatten dort die Zeit vergessen – Sarah war noch nie für ihre Pünktlichkeit bekannt gewesen.

»Hallo, alle miteinander!«, rief sie, bevor ihre Mutter zu ihr marschieren und sich beschweren konnte (»Du bist spät dran«). Lächelnd winkte sie in die Runde. »Ich hoffe, es ist okay, wenn wir eure Party crashen?«

 

Es war schön, wieder mit meinen Freunden zusammen zu sein. Nachdem wir uns die Teller vollgeladen hatten, eroberten wir wieder den Picknicktisch und blieben noch lange sitzen, nachdem wir unsere Burger vertilgt hatten. »Wisst ihr was«, sagte Eli, nachdem Pravika zugegeben hatte, dass ihr Sommerjob bei Murdick’s Fudge sie hatte süchtig werden lassen.

»Was?«, fragten wir im Chor.

»Ich habe ihn gesehen«, sagte Eli aufgeregt. »Heute, in der Stadt.«

Alle außer mir stöhnten auf.

»Warte mal«, sagte ich und drehte mich zu Eli um. »Wer ist er? Du hast jemanden?«

»Nein, hat er nicht«, sagte Luli, bevor Eli dazu kam, den Mund aufzumachen. Spöttisch schüttelte sie den Kopf. »Er hat nur diesen einen Typen ein paarmal in Edgartown gesehen und glaubt jetzt, sie wären füreinander bestimmt. Deshalb stalkt er ihn.«

»Haha.« Eli verdrehte die Augen. »Ich stalke ihn nicht.«

»Woher weißt du dann, dass er Segellehrer im Jachtclub ist?«

»Uuh, im Jachtclub?«, flötete ich. »Schicki!«

»Hör zu«, sagte Eli. »Er hat eine Windjacke getragen! Ist ja schließlich nicht so, als hätte ich am Hafen abgehangen und ihn dabei beobachtet, wie er eine Stunde gibt.«

»Komisch«, sagte Jake trocken. »Wenn ich mich recht erinnere, meintest du doch, dass die Kids echt gut waren.«

Eli vergrub seinen Kopf in den Händen, und wir lachten.

Ich stieß ihn an. »Sag schon, wo hast du ihn heute gesehen?«

»Er ist gerade in die Buchhandlung gegangen.« Eli seufzte. »Was bedeutet, dass er liest, und wen auch immer ich date, er muss gerne lesen.«

»Warum bist du dann nicht reingegangen?«

»Weil …« Er zögerte, seufzte dann erneut und starrte auf seinen leeren Teller. »Weil ich keine Ahnung hatte, was ich zu ihm sagen soll.«

»Ach komm schon«, sagte Luli und band ihr Haar auf wenig subtile Art genau wie Eli zu einem Dutt hoch. »Hi, ich heiße Eli. Ich hab dich neulich am Jachtclub gesehen und finde dich unglaublich heiß. Deshalb habe ich dir seitdem nachspioniert …«

»Okay, okay.« Elis Wangen waren so rot geworden, dass ich hätte schwören können, Flammen knistern zu hören. »Hör auf damit.«

Liebevoll drückte Luli seinen Arm und wandte sich dann mir zu. »Was ist mit dir, Meredith?«, fragte sie.

»Was soll mit mir sein?«, fragte ich zurück und spürte die Anspannung zwischen uns.

»Na ja, wir haben gehört, dass Ben dich abgesägt hat«, sagte sie so unverblühmt, dass meine Wangen ebenso rot wurden wie Elis. »Was bedeutet, dass du allein hier bist.« Sie neigte den Kopf. »Willst du nicht auch jemanden stalken?«

»Ich stalke ihn nicht!«, protestierte Eli.

Der gesamte Tisch kicherte, während ich mein Bestes tat, gleichgültig zu klingen. »Nein«, sagte ich. »Ich glaube nicht.«

»Warum nicht?«, fragte Pravika. »Hochzeiten sind doch der beste Anlass, um Leute aufzureißen.« Sie gestikulierte in Richtung Rasen, wo ein paar Jungs eine Partie Cornhole spielten. »Perfekt für einen Flirt.«

»Kann schon sein«, sagte ich. »Aber ich bin nicht auf der Suche nach Trostsex.« Entschlossen schüttelte ich alle Gedanken an Ben ab. »Ich bin hier, um Sarah und Michael zu feiern und Zeit mit meiner Familie zu verbringen.« Meine Stimme erstarb, und ich wünschte mir zum millionsten Mal, dass Claire neben mir säße. »Und mit euch«, fügte ich hinzu. »Ich will bei euch sein, bei meinen Freunden und meiner Familie.« Dann wedelte ich mit dem Finger, wie Tante Christine es normalerweise tat. »Lasst bloß die Finger von den Flirts!«

 

Obwohl wir so lange beisammengesessen und gelacht hatten, spürte ich, auch nachdem unser Tisch sich aufgelöst hatte, die Distanz zwischen mir und Luli. Eli und Jake gesellten sich zum Cornhole-Spiel, und Pravika ging zu Sarah, um ihren Verlobungsring aus der Nähe zu betrachten. Unterdessen gesellte sich Luli zu einer Freundin, die mit ihrem Freund Arm in Arm etwas abseits stand. Das hätten Ben und ich sein sollen, dachte ich wehmütig. Doch dann befahl ich mir streng, mit dem Jammern aufzuhören. Schließlich heiratete Sarah, und ich war hier, um Spaß zu haben!

Doch zunächst musste ich mich bei Luli entschuldigen. Ihr Name war im Laufe der vergangenen achtzehn Monate unzählige Male auf meinem Display aufgeblinkt, und ich hatte sie immer wieder weggedrückt. Warum? Weil ich jeden Moment, den ich nicht im Bagelshop von Clinton gearbeitet hatte, mit Ben verbrachte. Nach dem Unfall hatte ich mich noch verzweifelter an ihn geklammert und mich mit meinen Schulfreunden nur hin und wieder zum Mittagessen getroffen. Bevor ich mich versah, sagte ich eine Einladung nach der anderen ab, egal, ob es darum ging, sich gemeinsam aufzuhübschen oder vor Partys vorzuglühen. »Wow, Meredith«, hatte eine Freundin einmal auf einer Party gesagt, während ich ihr die Haare hielt. Total betrunken hing sie über der Kloschüssel und schaffte es dennoch, irgendwie zu lachen. »So viel Zeit haben wir seit Ewigkeiten nicht mehr zusammen verbracht.«

Morgen, dachte ich nun und beobachtete, wie Luli ihrer Freundin zulächelte, während sie sich begrüßten. Morgen entschuldige ich mich dafür, dass ich sie ausgeschlossen habe. Dass ich sie geghostet habe.

Da mein Magen immer noch knurrte, entschied ich, dass es Zeit für den Nachtisch war. Ich glitt von der Bank und ging zum Buffet. Keine leichte Aufgabe. Überall standen Leute. Eigentlich hatten Sarah und Michael ihre Hochzeit klein halten wollen, aber mir kam es vor, als wären allein auf diesem Grillfest hundert Gäste versammelt.

»Meredith!« Tante Julia umarmte mich, und ich traf auch Michaels Mutter und seine ältere Schwester, deren kleiner Sohn die süßesten Pausbäckchen überhaupt hatte. Dann warfen mich Ethan, Hannah und ein paar der jüngeren Kinder zu Boden. Ich rang für ein paar Minuten mit ihnen und kümmerte mich weder um die Grasflecke, die unser Kampf auf meinen Klamotten hinterließ, noch um mein wüstes Haar.

»Kinder!«, rief Tante Rachel von der Veranda aus. »Das reicht!«

Nachdem ich mir den Staub abgeklopft hatte, versuchte ich unauffällig einen Bogen um eine Gruppe Brautjungfern zu machen, wurde jedoch von einer Hand auf meinem Arm aufgehalten. »Warte mal, bist du nicht Meredith?«, fragte mich eine junge afroamerikanische Frau mit einem breiten Lächeln und blitzend weißen Zähnen. Es war Danielle, Sarahs Trauzeugin. Ich erkannte sie vom Instagram-Profil meiner Cousine. »Claires Schwester?«

Claires Schwester.

»Ja«, antwortete ich. »Bin ich.« Ich spürte, wie ich lächelte. Ich wurde gern so genannt. Obwohl ich ein Jahr jünger war, war Claire an der Clinton Highschool stets »Merediths Schwester« gewesen. Während ich zu Spielen und Partys ging und jeden kannte, war sie ruhig und schüchtern gewesen und hatte sich stets hinter ihren Hausaufgaben versteckt. »Du solltest dich als Schulsprecherin zur Wahl stellen«, hatte Claire mich ermutigt. Doch als es so weit war, tat ich es nicht. Die Vorstellung, womöglich zu gewinnen und sie danach nicht anrufen zu können, jagte mir Angst ein.

Danielle drückte sanft meinen Arm. »Claire war die Coolste überhaupt«, sagte sie sanft. »Wir haben sie kennengelernt, als sie Sarah in New Orleans besucht hat.« Traurig schüttelte sie den Kopf. »Sie war so voller Leben.«

»Ja.« Ich nickte, und mein Lächeln wurde breiter, doch zugleich sammelten sich Tränen in meinen Augen. »Das war sie.« Ich blinzelte die aufkommenden Tränen fort. So war Claire gewesen: voller Leben. Vor allem auf Vineyard. »Mein Glücksort«, hatte sie die Insel genannt. Die drei Wochen waren immer viel zu schnell vergangen. »Später will ich hier leben«, hatte sie einmal gesagt. »Nach dem College suche ich mir einen Job und verbringe den ganzen Sommer hier.«

Ich stellte mir gern vor, dass sie in Edgartown Books oder in der Buchhandlung Bunch of Grapes in Vineyard Haven arbeiten würde. Claire, die nie einen Schritt ohne ein Buch getan und mir beigebracht hatte, es ebenfalls so zu halten.

Jemand rief Danielles Namen, und ich nutzte die Gelegenheit, mich davonzustehlen. Mein Magen verlangte jetzt wirklich nach einem Nachtisch.

In einer der großen Gefriertruhen neben dem Buffettisch warteten Tante Christines berühmte Eiscreme-Sandwiches auf mich. Allein bei dem Anblick stöhnte ich auf: handgroße Schokoladenkekse mit einem Riesenklecks Eiscreme in der Mitte. Schokolade, Vanille, Minze, Bananencremetorte – alles, was das Herz begehrte. Die verschiedenen Geschmacksrichtungen waren in mit Wachspapier ausgelegten Kartons aufgereiht, die natürlich in Tante Christines Schönschrift beschriftet waren.

Ich nahm mir ein Minz-Sandwich, eines mit Salz und Karamell und eines mit Honig-Lavendel und entdeckte dann meine Großeltern, die noch immer in ihren Gartensesseln Hof hielten. Wink hatte seinen Arm beiläufig um Honeys Hüfte gelegt. Nachdem ich einen Bissen von meinem Eiscreme-Sandwich genommen hatte, bei dem mein Gehirn ebenfalls zu Eis gefror, schlängelte ich mich zu ihnen durch, in der Hoffnung, dass sie Sarahs geheime Ankündigung ausplauderten.

Als ich bei ihnen ankam, hatten sie bereits jemand neuen in eine Unterhaltung verstrickt – einen geheimnisvollen Typen, der mit dem Rücken zu mir stand. »Du kannst mich Wink nennen«, sagte mein Großvater gerade. »Und das ist meine Braut Honey.«

Lächelnd biss ich erneut von meinem Sandwich ab. Obwohl Wink und Honey bereits seit einem halben Jahrhundert verheiratet waren, stellte er sie immer noch als seine Braut vor. In dem Moment fiel mir plötzlich ein, was ich einmal vor vielen Jahren zu Claire gesagt hatte: »So nenne ich ihn irgendwann auch.« Es war einer dieser Sommer auf der Farm gewesen, und wir saßen beide in einen Gartensessel gequetscht. »Ich sage dann ›Das ist mein Bräutigam‹ statt ›Das ist mein Mann‹.«

Meine Schwester schnaubte. »Und wie heißt er, bitte schön? Dieser geheime Bräutigam?«

»Woher soll ich das denn wissen?«, sagte ich. »Ich habe ihn ja noch nicht getroffen.«

»Stephen!«, hatte Claire kichernd ausgerufen. »Er heißt Stephen!«

»Stephen?«

»Stephen.«

Ich hatte so getan, als würde ich ernsthaft darüber nachdenken, bevor ich einen Kitzelangriff auf sie startete.

Jeden Sommer hatte Sarah Taylor Swifts frühe Alben rauf und runter gespielt. Darunter gab es einen Song, den ich von früh bis spät gehört und selbst unter der Dusche gesungen hatte. Ich bekam einfach nicht genug davon. Nun summte ich leise den Text, ganz so, als würde ich ihn immer noch täglich hören.

Als Honey mich entdeckte, hellte sich ihr Gesicht auf. Sie winkte mich zu sich, mit schmelzenden Eissandwiches und allem Drum und Dran. »Liebes!«

»Hallo«, sagte ich. Als sich der geheimnisvolle Typ umdrehte, musste ich all meine Kraft zusammennehmen, um weiterhin einen Fuß vor den anderen setzen und mein freundliches Lächeln beibehalten zu können, statt auf der Stelle kehrtzumachen und das Weite zu suchen, wie ich es am Nachmittag auf der Fähre getan hatte. Als ich die blau unterlaufene Prellung auf seiner Wange sah, wurde mir flau im Magen. Sie verlief unter dem Auge und über die gesamte Nase. »Uff«, hatte er gemacht, als ich ihn getreten hatte. »Au!«

Ja, uff, dachte ich. Au.

Drei

Ich redete mir ein, dass er mich unmöglich erkannt haben konnte. Unmöglich. Schließlich hatte ich eine Kappe und eine Sonnenbrille getragen. »Das ist Wit«, sagte Honey nun zu mir. »Er gehört zu den Jungs, die in der Hütte übernachten. Michaels Bruder.«

Bruder?, dachte ich ungläubig. Der Typ sah Michael kein bisschen ähnlich. Er war drahtig, nicht größer als eins siebzig und hatte einen rotblonden Haarschopf, der so aussah, als könnte er einmal glattgestrichen werden.

»Eigentlich Stiefbruder«, sagte Wit mit einem deutlich hörbaren Südstaatenakzent. »Er ist mein Stiefbruder.«

»Oh.« Ich nickte. »Verstehe.«

»Seine Mutter und mein Vater haben geheiratet, als ich sechzehn war«, erklärte er. »Ich bin aus Vermont.«

»Coole Sache«, bemerkte ich, und mir wurde auf einmal überaus bewusst, dass ich wie ein kleines Kind mit jeder Hand ein Eiscremesandwich umklammert hielt. Weirdo. Schnell versteckte ich die Hände hinter meinem Rücken und versuchte, das Eis unauffällig fallen zu lassen.

»Coole Sache?« Wit neigte den Kopf und sah mich prüfend an. »Ich dachte, du kommst aus dem Bundesstaat New York?«

Mein Oberkörper versteifte sich. »Woher weißt du das?«

Er wies auf meine Großeltern, die sich heimlich davongeschlichen hatten und nun zur Veranda gingen, wo Sarah und Michael miteinander tuschelten. Sie wollten doch irgendwas ankündigen, dachte ich. Ist es jetzt so weit?

»Was haben sie dir noch erzählt?«, fragte ich Wit etwas schärfer als beabsichtigt. Gerade hatte es geklungen, als wäre er über meine ganze Lebensgeschichte im Bilde, und obwohl ich Honey liebte, traute ich ihr zu, dass sie die ganze Sache mit Ben ausgeplaudert hatte.

»Ganz ruhig, Officer«, sagte er und hob die Hände. »Nicht viel. Du bist Meredith Fox, achtzehn Jahre alt und fängst im Herbst am Hamilton College an. Nur die Basics.« Er lächelte. »War das in Ordnung?«

Statt zu antworten, wandte ich den Blick ab. Ihm direkt gegenüberzustehen, hatte ein ungewohntes und unangenehmes Gefühl in mir ausgelöst. Denn sein Lächeln war so schief, dass man unwillkürlich zurückgrinsen musste, und seine Augen erst … über dem dunklen Veilchen strahlten sie wie aus einem der Fantasyromane entstiegen, die Claire und ich so gern lasen. Es waren die Augen eines verführerischen Fremden, bei dem man sich nicht sicher war, ob man ihm trauen konnte, aber mit dem man schon bald ein Bett teilen musste, aus irgendeinem unerfindlichen Grund, den deine Mission erforderte. Und irgendwann verliebte man sich natürlich unsterblich ineinander und würde alles füreinander tun. Seine Augen hatten eine Farbe, die es im echten Leben eigentlich überhaupt nicht gab: Sie waren gold umrandet und schimmerten in einem dunklen Türkis.

Kein Witz, Claire, dachte ich. Türkis!

»Wie alt bist du?«, fragte ich und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Neunzehn«, antwortete Wit und verschränkte seine ebenfalls. Als wären wir in einem Duell oder so.

Ahmte er mich etwa nach?

»Du bist also am College?«

Ein Nicken. »Bin gerade mit meinem ersten Jahr an der Tulane durch.«

»Himmel, was haben die bloß alle mit diesem College?«, murmelte ich in mich hinein. Sarah, Michael, Wit und, wenn das alles nicht passiert wäre, auch meine Schwester.

»Was hast du gesagt?«, fragte Wit.

»Nein, ähm, nichts.« In meinem Nacken kribbelte es. »Scheint nur so, als würden es alle da ganz toll finden.«

Wit schwieg einen Augenblick. »Stimmt, die meisten finden es toll da.« Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Aber das hängt ganz davon ab …«

»Alle mal herhören!«, wurde er von Sarahs Stimme unterbrochen. Leicht und lebhaft klang sie. Wir drehten uns um. Sarah stand auf einer der hölzernen Bänke auf der Veranda, Michael an ihrer Seite. »Kommt mal alle her, bitte …«

Die Grillgesellschaft schob sich in ihre Richtung und versammelte sich um Sarah und ihren Verlobten, als wären sie Schauspieler auf einer Bühne. Ich versuchte nicht, bei Wit zu bleiben, und er versuchte auch nicht, bei mir zu bleiben. Also schob ich mich zwischen Eli und Pravika. Luli und Jake waren auch da. »Wer war denn der Typ, mit dem du eben geredet hast?«, fragte Pravika.

»Niemand Besonderes«, gab ich zurück. »Bloß einer aus Michaels Crew.«

»Michaels Stiefbruder«, sagte Eli zeitgleich. Natürlich kannte er mal wieder alle Einzelheiten. »Der, der auf der Fähre praktisch zusammengeschlagen wurde.« Er kicherte. »Hast du das Veilchen gesehen? Sein halbes Gesicht ist blau!« Er stieß mir den Ellbogen in die Seite. »Hat er dir erzählt, wer das war?«

»Er weiß es nicht«, sagte ich schnell und betete innerlich, dass das der Wahrheit entsprach. Hitze stieg mir in den Nacken. »Die Person hatte angeblich eine Sonnenbrille auf.«

Die anderen beiden nickten, und wir lenkten unsere Blicke wieder auf Sarah.

»Michael und ich sind überglücklich, dass wir diese Woche alle gemeinsam verbringen«, sagte sie gerade. »Um unsere Familie, Freunde und unsere Hochzeit zu feiern.« Als alle klatschten, lachte sie, doch dann wurde ihre Miene ernst. »Leider ist ein ganz besonderer Mensch nicht mehr unter uns. Meine Cousine Claire.« Ihre Stimme schwankte, und Michael griff nach ihrer Hand.

Genau wie jemand nach meiner griff.

»Ist schon okay«, flüsterte Eli. »Alles in Ordnung.«

Ich nickte und drückte seine, so fest ich konnte.

»Diese Woche ist nicht nur uns gewidmet«, sagte Sarah. »Sondern es geht auch darum, Claires Andenken zu ehren.« Sie lächelte oder gab zumindest ihr Bestes, um ein Lächeln hervorzubringen. »Und ich glaube, ich spreche im Namen der gesamten Familie Fox, wenn ich sage, dass es nur einen Weg gibt, ihr gebührend zu gedenken.«

Moment mal, dachte ich, und mein Herz schlug schneller. Wovon redet sie?

»Wisst ihr noch, wie ihr alle die Antwortkarten ausgefüllt habt?«, fragte Michael, nachdem er und Sarah sich beinahe unmerklich zugenickt hatten. »Wie ihr diese langweiligen Kästchen angekreuzt habt?«

»Das letzte war nicht langweilig«, widersprach Sarah und schlug ihm spielerisch auf die Brust. »Ich fand es sogar ziemlich spannend!« Inzwischen grinste sie bis über das ganze Gesicht. »Erinnert ihr euch an das?«

Da wir die Antworten schon vor Monaten abgeschickt hatten, bekam niemand auch nur ein Nicken zustande, doch mir fiel es auf einmal wie Schuppen von den Augen. WILLSTDUANSPIELENTEILNEHMEN? hatte auf der silbern umrandeten Karte gestanden. Ohne groß darüber nachzudenken, hatte ich JA