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Eine Nacht, die ein ganzes Leben verändern kann Der neue Liebesroman der Spiegel-Bestseller-Autorin K. L. Walther! Als Lily Hopper beschließt, ihre Rolle als gewissenhafte Musterschülerin und Lehrerliebling abzulegen und vor dem Schulabschluss an dem traditionellen Streich teilzunehmen, erwartet sie Spaß, Nervenkitzel und eine Geschichte, die sie noch ihren Enkeln erzählen wird. Was sie nicht erwartet, ist, sich wieder in ihren Ex zu verlieben. Der ist nämlich der Drahtzieher des gigantischen Spiels, und die beiden müssen zum ersten Mal seit ihrer Trennung wieder als Team funktionieren – und sofort sprühen die Funken zwischen ihnen. Hoffentlich schaffen sie es diesmal, nicht wieder alles zu vermasseln. Denn sie wissen eigentlich beide, dass sie füreinander bestimmt sind. Wenn Eifersucht einen fast die Liebe des Lebens kostet - Eine sommerliche Liebeskomödie voller Quatsch, Chaos und Action - Für Fans von Jenny Han und Colleen Hoover
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Seitenzahl: 439
DAS SPIEL HAT FAST BEGONNEN!
Als Lily Hopper beschließt, ihre Rolle als gewissenhafte Musterschülerin und Lehrerliebling abzulegen und vor dem Schulabschluss an dem traditionellen Schulstreich teilzunehmen, erwartet sie Spaß, Nervenkitzel und eine Geschichte, die sie noch ihren Enkeln erzählen wird … was sie nicht erwartet, ist, sich wieder in ihren Ex zu verlieben. Der ist nämlich der Drahtzieher des gigantischen Spiels, und die beiden müssen zum ersten Mal seit ihrer Trennung wieder als Team funktionieren – und sofort sprühen die Funken zwischen ihnen. Hoffentlich schaffen sie es diesmal, nicht wieder alles zu vermasseln. Denn sie wissen eigentlich beide, dass sie füreinander bestimmt sind.
Von K. L. Walther sind bei dtv außerdem lieferbar:
The Summer of Broken Rules – Als unsere Liebe begann
K. L. Walther
Die erste Nacht vom Rest unseres Lebens
Aus dem Englischen von Susanne Hornfeck
An die Tibble-Zwillinge:
Wie oft hat er uns die Geschichte erzählt?
Wie oft haben wir darüber gelacht?
Dieses Buch ist für uns.
Seinen Ängsten muss man sich stellen. Ich hatte nur nicht erwartet, schon so früh am Morgen mit einer solchen Herausforderung konfrontiert zu werden. Irgendwann am Nachmittag – ja, okay, aber vor acht Uhr morgens? Mit halb geschlossenen Augen tappte ich gähnend die Treppe runter und traf in der Küche auf meine Mutter. Sie musterte die gegenüberliegende Ecke argwöhnisch, als hätte sie Streit mit der Espressomaschine, die dort auf der Specksteinplatte stand. »Es ist Zeit.« Sie sah mich an. Ihr Mund war eine gerade Linie, nur ein Mundwinkel war in einem Anflug von Optimismus ein winziges bisschen in die Höhe gewandert. »Wir müssen sie ausprobieren.«
»Nein, müssen wir nicht«, wehrte ich hastig ab. »Wir müssen gar nichts ausprobieren.«
Mom drehte sich um und hielt die Tupperdose mit Biscotti in die Höhe, die Mrs. DeLuca gestern vorbeigebracht hatte. Unsere Nachbarin war es auch gewesen, die uns diese Espressomaschine beschert hatte; sie hatte sich eine größere gekauft, wollte die alte aber nicht wegwerfen. Sie funktionierte schließlich immer noch perfekt – angeblich. Wir hatten sie noch nie benutzt. »Doch, Lily, wir müssen«, sagte Mom. »Mrs. DeLuca hat ausdrücklich gesagt, dass die Biscotti am besten schmecken, wenn man sie in einen Cappuccino tunkt.«
Ich betrachtete die goldbraunen Mandelkekse. Ehrlich gesagt sahen sie absolut köstlich aus … und ich hatte wirklich Riesenhunger. »Na schön«, gab ich nach. »Probieren wir sie aus.«
Meine Mutter drückte mit einem Grinsen die Tupperdose an sich und deutete auf einen der Küchenschränke mit Edelstahlfront. »Ich glaube, die Bedienungsanleitung ist irgendwo in der unteren Schublade.«
Das war mein Stichwort. Zu den Stärken meiner Mutter zählen das Verstauen von Essensresten im Kühlschrank, die Bedienung der Mikrowelle und das Anschalten des Wasserkochers. Und wir sind uns beide einig, dass sie sich darauf beschränken sollte. Die Küche war mein Reich, deshalb fiel der Cappuccino natürlich auch in meinen Aufgabenbereich.
Nachdem ich die Anleitung gefunden hatte, die ungefähr so dick war wie ein Autohandbuch, und dazu noch eine ungeöffnete Packung Kaffeebohnen, stellte ich mich vor die Maschine. Ein Cappuccino besteht zu zwei Dritteln aus Milch, rief ich mir in Erinnerung und untersuchte die Wasserdampfdüse. Eine Tasse Espresso und dazu aufgeschäumte, erhitzte Milch.
Also fast kein Kaffee!
Weil, meine Mutter und ich mochten eigentlich keinen Kaffee. Wirklich gar nicht.
Mom war nach oben verschwunden, um sich anzuziehen, stand aber wieder neben mir, bis ich die Bohnen gemahlen hatte. Der Geruch von Kaffee erfüllte die Küche, und ich deutete durch die durchdringenden Duftschwaden auf ihr Outfit. »Es ist so unfair, dass du so was anziehen darfst.«
Während ich ein Sommerkleid und meinen Schulblazer tragen musste, war sie mit einer roten Leggins mit Flecktarnmuster und einem luftigen lila T-Shirt bekleidet. Sie sah aus wie ein Model für eine Sportmarke, vor allem, als sie noch theatralisch die Hüfte vorstreckte. »Tja, weißt du, nach der ersten Stunde werde ich mich erst mal eine Runde auf mein Peloton setzen«, neckte sie mich und schüttelte mit den Händen ihre Haare auf. Abwesend tat ich es ihr nach, nur waren meine Haare leider nicht blond gelockt wie ihre, sondern nur leicht gewellt und krass rot. Mich erkannte man immer schon aus einem Kilometer Entfernung. Vermutlich habe ich die Haare von meinem Vater geerbt, aber das hatte ich sie, ehrlich gesagt, nie gefragt. Er wusste nicht, dass es mich gab, und ich fand das auch ganz gut so. Er gehörte einfach nicht zu meinem Leben, und er fehlte mir auch nicht. Ich konnte mir auch nicht vorstellen, dass ich mir jemals wünschen würde, Kontakt zu ihm zu haben. Ich hatte meine Mutter, das reichte mir.
»Hübscher Nagellack«, fügte ich trocken hinzu. Aus den Flipflops meiner Mutter schauten zehn lavendelblau lackierte Zehennägel hervor. Warum Schüler einen strengen Dresscode einhalten mussten und das Kollegium nicht, wollte mir einfach nicht einleuchten. »Wo hast du den her?«
»Oh, der kommt aus meiner Lieblingsboutique«, erwiderte sie lächelnd und zwinkerte mir zu. »Nicht weit von hier. Einfach nur die Treppe hoch …«
Ich seufzte nur und widmete mich wieder der Barista-Challenge. Der Espresso floss ohne Störung in die Tassen, dann holte ich die Milch aus dem Kühlschrank und schäumte sie zu einer fluffigen weißen Wolke auf.
»Sollen wir erst die Kekse reintunken?«, fragte sie mich, nachdem ich zwei Cappuccino-Tassen vor uns gestellt hatte. »Oder einen Schluck probieren?«
Wir beschlossen, erst zu probieren.
»Achtung, kleine Finger raus«, verkündete meine Mutter. Wir zählten stumm auf drei und hoben die Tassen an den Mund.
»Igitt …«, krächzte ich gleich darauf mit verbrannter Zunge. »Schmeckt trotzdem noch nach Kaffee!«
Mit gerümpfter Nase schüttete meine Mutter ihren Cappuccino in die Spüle und bedeutete mir, es ihr nachzutun. »Wir machen es mit Tee«, erklärte sie. »Heute Abend kochen wir uns einen Tee und weichen die Biscotti darin auf, okay?«
»Einverstanden.« Ich nickte. »Und wie wär’s jetzt mit einem richtigen Frühstück?« Ich ging zum Kühlschrank; vorne im Fach standen zwei Gläser mit Schraubverschluss. »Ich habe gestern Abend noch Overnight Oats für uns angesetzt«, sagte ich. »Ich finde, mittlerweile hab ich das Verhältnis von Ahornsirup, Erdnussbutter und Bananenscheiben perfekt austariert, und diesmal sind sogar noch Chiasamen mit drin.«
Meine Mutter überlegte. »Ich hätte mehr Lust auf Pfannkuchen«, gestand sie dann. »Kann ich das für die Mittagspause mitnehmen?«
Mit einem Kopfschütteln reichte ich ihr das Glas. Aber als ich nach oben sprintete, um meinen Rucksack zu holen, musste ich grinsen. Wenn sie wirklich Pfannkuchen wollte, mussten wir uns beeilen.
Kurz darauf stürmten wir aus dem Haus, beide mit unseren Schulsachen beladen. Das Meer wünschte uns rauschend einen guten Morgen, und unwillkürlich schloss ich die Augen und sog den salzigen Geruch ein. Unser Haus, ein weißes Cottage mit einem Schindeldach und dunkelgrünen Fensterläden, stand zwar ganz am Rand des Viertels, in dem die Lehrer der Ames School wohnten, aber dafür hatte es andere Vorteile. Zum Beispiel, dass wir einen Strand als Garten hatten. Seit ich zwei war, also seit sechzehn Jahren, schlief ich zum Wellenrauschen des Atlantiks ein. Ich hatte praktisch mein ganzes Leben an der Küste von Rhode Island verbracht. Oder besser gesagt: hier, an dieser Schule.
»Hallo, Hopper-Ladys!«, rief jemand, als wir durch die Straßen eilten. Die Flipflops meiner Mutter klatschten auf den Asphalt, und meine Ballerinas warnten mich schon jetzt, dass der Tag für mich mit Blasen enden würde. »Ist das nicht ein wunderschöner Morgen?«
»Herrlich!«, antwortete meine Mutter auf Penny Bickfords Gruß, die in einem eleganten Businessanzug auf das Schulgelände zusteuerte. Ich ertappte die Schulleiterin der Ames School dabei, wie sie das sportliche Outfit meiner Mutter kritisch musterte, aber sie sagte nichts. Sie verkniff sich stets jeden Kommentar, weil meine Mutter die beliebteste Lehrerin der Abteilung für Literatur und Sprachen war – vielleicht sogar der ganzen Schule, wenn die Superlative in den Jahrbüchern der Wahrheit entsprachen. Lieblingslehrkraft? Diese Medaille war längst vergeben. Zwar war das diesjährige Jahrbuch noch nicht herausgekommen, aber da das Schuljahr in zwölf Tagen endete, würde es bald ausgeteilt werden, und alle wussten, dass Leda Hopper die Top-Favoritin auf den Titel war.
Als ihre Tochter hatte ich das Glück, hier zur Schule gehen zu dürfen. Die Lehrerkinder – auch Fac Brats genannt – mussten kein Schulgeld bezahlen, sonst hätten wir uns eine Privatschule wie die Ames School niemals leisten können.
»Noch mal herzlichen Glückwunsch, Lily«, sagte die Rektorin mit einem stolzen Lächeln. Sie kannte mich schon so lange, dass sie mich wie ihre Enkelin behandelte. »Deine Rede wird bestimmt ganz wunderbar.«
»Danke.« Mit roten Wangen erwiderte ich ihr Lächeln. Bei der Schulversammlung letzte Woche war verkündet worden, dass ich eine der Rednerinnen beim Schuljahresabschluss sein würde. Eine große Ehre, aber ich hatte trotzdem Bammel davor. Während der oder die Jahrgangsbeste bei der Zeugnisvergabe auf der großen Bühne sprach, würde ich als Zweitbeste meine Rede am Abend davor beim feierlichen Abschiedsdinner halten. Diese Rede sollte kein würdevoller Rückblick werden, sondern geistreich und lustig sein. Es ging eher darum, die anderen zum Lachen zu bringen.
Nur leider war ich nicht gerade für meine Talente als Stand-up-Comedienne bekannt.
»Okay, immer schön cool bleiben«, flüsterte mir meine Mutter zu, als wir die mit einem Dach versehene Holzbrücke überquerten, die auf den Schulcampus führte. Wir wurden langsamer und fielen in ein gemütliches Spaziertempo.
Ein malerischer Anblick breitete sich vor uns aus, hübsche Häuser aus Backsteinen, Holz und Zedernschindeln, die als Unterrichtsgebäude oder Wohnheime dienten, und überall wimmelte es von Schülern. Einige drehten ihre morgendlichen Laufrunden, während andere eben erst aus dem Bett gerollt waren und nun zum Frühstück in die Mensa schlurften. Wir kamen an ein paar Mädchen vorbei, die sich kichernd über das bevorstehende Abschlussfest der neunten Klasse unterhielten.
»Ja, Ross hat mich gestern Abend gefragt«, sagte eines der Mädchen. »Es war so süß. Er bat mich, ihm bei den Mathehausaufgaben zu helfen, und unter die letzte Frage hat er ›Gehst du mit mir zum Abschlussfest?‹ geschrieben.«
»Gut gemacht, Ross«, murmelte meine Mutter lächelnd. Ihre Schüler redeten mit ihr nicht nur über Grammatik und Der große Gatsby. Sie hatte so eine Art, mit der sie die Kinder ermutigte, ihr gegenüber ganz offen zu sein. Dass sie darauf bestand, mit Vornamen und nicht mit »Ms Hopper« angesprochen zu werden, war ein erster und sehr wirkungsvoller Schritt, um das Vertrauen der Schüler und Schülerinnen zu gewinnen. Alle vergötterten sie, obwohl sie sehr streng benotete.
Die Neuntklässlerinnen waren die Jüngsten an der Ames School, wo Schüler in den Stufen neun bis zwölf unterrichtet wurden. Sie bemerkten uns sofort. »Leda, rate, was passiert ist!«, kreischten sie, und während Mom sämtliche Einzelheiten erzählt bekam, tat ich so, als würde ich ebenfalls zuhören, und dachte dabei an die Abschlussfeier in meinem ersten Jahr an der Schule. Er hatte mich angerufen und sich ganz förmlich vorgestellt, als würden wir uns nicht längst schon kennen, und dann in einem nervösen, überhasteten Wortschwall gefragt, ob ich mit ihm auf das Fest gehen würde. »Ja, das wäre schön«, hatte ich erwidert, und ein paar Wochen später war mein goldenes Kleid am Ende des Abends voller Salzwasserspritzer und Sand gewesen. Er hatte mich nach Hause begleitet, unterwegs hatten wir barfuß am Strand Fangen gespielt, und ich hatte ihn geküsst, als er mich in seinen Armen gefangen hatte. Seine Lippen waren trotz des Winds ganz warm gewesen. »Tagg.« Ich erinnerte mich, wie ich seinen Namen mit einem breiten Lächeln geflüstert hatte. Beide waren wir ganz außer Atem gewesen.
»Du bist dran«, sagte er und lachte. Und dann küsste ich ihn wieder und rannte in die Dunkelheit davon, in der Hoffnung, er würde mir folgen.
Ich wünschte, wir könnten die Zeit zurückdrehen. Die Worte zogen wie ein leises Murmeln durch meinen Kopf. Ich wünschte, wir könnten die Zeit zu diesem allerersten Abend zurückdrehen …
»Lily?« Ich blinzelte und stellte fest, dass meine Mutter mich fragend ansah. Die Schülerinnen waren verschwunden; offenbar waren sie zur Mensa abgebogen, während wir weiter dem Weg zur Hubbard Hall folgten, dem altehrwürdigen Hauptgebäude des Campus. Meine Mutter hielt mir die Tür auf und wuschelte durch meine Haare, als ich an ihr vorbei durch die Öffnung ging.
Mit den hohen weißen Säulen, den eleganten Ziegelsteinkaminen und den vielen Fenstern erinnerte die Hubbard Hall an das Herrenhaus einer der Gründerfamilien Amerikas. Das Gebäude wurde von einer Dachterrasse gekrönt und beherbergte in den oberen Stockwerken die Alumni-Abteilung, die Stipendiatenförderung und die Studienberatung. Das Erdgeschoss dagegen wurde von der Schülerlounge dominiert. Überall standen Ledersofas und Ohrensessel, und Perserteppiche bedeckten den Boden, sodass man sich wie in einer Hotellobby fühlte. An den cremeweißen Wänden gab es immer etwas Neues zu entdecken; regelmäßig hingen dort wechselnde Ausstellungen von Schülerwerken, dazu Ames-Erinnerungsstücke wie alte Zeitungsartikel oder Fotos und sogar ein paar museumsreife Schulflaggen.
Der riesige Kamin hinter der Lounge wurde von deckenhohen Bücherregalen und kleinen Lernnischen umrahmt. Links davon lagen die Redaktionen von Schülerzeitung und Jahrbuchs, auf der rechten Seite befand sich die Hauptattraktion des Gebäudes, ein kleines Restaurant, das von allen nur liebevoll das »Hub« genannt wurde. Über den Sitzecken hingen altmodische Schiffslaternen und die weiße, holzvertäfelte Wand wurde von einer beeindruckenden Sammlung an Schwarz-Weiß-Fotos geschmückt, auf denen Fischer stolz ihren Fang präsentierten.
Oh, und natürlich gab es dort auch eine extrem leckere Speisekarte. Alle versuchten bei jeder Gelegenheit, in den Pausen oder in einer Freistunde, einen Tisch zu ergattern, um schnell was zu essen.
Hier frühstücken durften allerdings nur Zwölftklässler und Lehrkräfte. Wir schoben uns durch die Tür und stellten fest, dass der Raum völlig überfüllt war. »Tja, wie gut, dass ich gewisse Vorkehrungen getroffen habe«, sagte meine Mutter und führte mich zu einem Tisch ziemlich weit hinten. Ich nahm an, dass er nur deshalb noch unbesetzt war, weil auf einem zusammengefalteten Blatt Papier groß RESERVIERT! stand.
Meine Mutter pflückte das Blatt von der schimmernden Holzoberfläche und schob es in ihre Handtasche, aber noch bevor wir es uns auf den Teakholzstühlen gemütlich machen konnten, stürzte sich schon der Oberboss des Hub auf uns. »Es ist nicht gestattet, Tische zu reservieren«, erklärte Josh mit unbewegter Miene, den Bleistift wie immer hinters Ohr geklemmt.
»Ich hätte gerne die Pfannkuchen mit Zimtbutter«, erwiderte meine Mutter fröhlich. »Und bitte nicht an Vanillesoße sparen.«
Josh bedachte sie mit einem strengen Blick. »Leda.«
Sie legte den Kopf schief und lächelte. »Josh.«
Weil ich meiner Mutter und ihrem Freund nicht beim Flirten zuhören wollte, schaute ich mich im Hub um. Jeder andere würde meinen, dass sie sich zankten, aber Ledas sonnige Art war die perfekte Ergänzung zu Joshs ernstem Charakter. Jeder wahre Romantiker würde mir zustimmen, dass sie ein Traumpaar waren.
Das halbe Jungs-Lacrosseteam der Schule hatte sich in eine Sitzecke gezwängt und diskutierte über die jüngste Niederlage in den Playoffs, während sie imaginäre Bälle in imaginären Sticks schwangen. Am Tisch daneben saß Zoe Wright. Als sie mich sah, warf sie die Arme in die Höhe. Ihr habt verloren!, flüsterte sie mir stumm zu. Findet euch damit ab!
Ich schüttelte lächelnd den Kopf, aber dann fiel mein Blick auf Tagg Swell und Alex Nguyen, die nebeneinander am Tresen saßen. Alex redete wie eine Maschinenpistole und biss nebenbei riesige Stücke aus seinen Waffeln, während Tagg systematisch Ketchup auf seinem Rührei verteilte.
Igitt, dachte ich und beobachtete ihn trotzdem mit einem leisen Ziehen im Bauch. Er musste immer alles mit Ketchup essen.
»Aber, ich meine, bist du dir auch sicher?«, sagte Alex gerade. »Weil …«
Ich verdrehte die Augen. Bestimmt redeten sie über Taggs letzte Trennung. Er war letztes Jahr mit Blair Greenberg zusammengekommen, und ihre Beziehung wäre für jedes Boulevardblatt ein gefundenes Fressen gewesen. In der einen Sekunde waren sie wie verrückt ineinander verknallt, in der nächsten stritten sie bis aufs Blut und schrien sich bei den Samstagsdiscos vor der ganzen Schule an. Die Schülerschaft hatte sich an dieses Hin und Her längst gewöhnt, doch dann hatte Tagg plötzlich gestern mit Blair Schluss gemacht. »Und wenn schon!«, hatten wir nur abgewinkt, aber in Wirklichkeit starben alle fast vor Neugier. Jeder wollte wissen, was zwischen den beiden vorgefallen war. War die Trennung endgültig? Oder würden sie in ein paar Tagen wieder zusammenkommen?
Weil, wie schon gesagt, wir Zwölftklässler standen kurz vor unserem Abschluss an der Ames School. Und jetzt, wo die Schule in nur zwei Wochen zu Ende war, hatten sämtliche Oberstufenschüler nur noch maximal drei Dinge im Kopf.
Eins davon war natürlich die Prom.
Und Tagg Swell hatte seiner Freundin ohne erkennbaren Grund kurz davor den Laufpass gegeben. »Ja, ich bin mir sicher«, erklärte er Alex jetzt. »Ich will mit jemand anderem hingehen.«
Und mit wem?, fragte ich mich. Im gleichen Moment sagte Alex: »Mit wem?«
Endlich stellte Tagg die Ketchupflasche wieder auf den Tisch. »Na ja, das ist doch klar, oder?« Er grinste seinen besten Freund an. »Mit dir natürlich, Alexander.«
Alex spielte sofort mit und hob sein Wasserglas zu einem Toast. »Es wäre mir eine Ehre, Taggart. Was hältst du von farblich abgestimmten Ansteckblumen?«
Ein kleiner Kloß tauchte in meinem Hals auf. Taggs und Alex’ Jungsfreundschaft war wirklich etwas Besonderes. Sie standen sich so nahe wie siamesische Zwillinge. »Wir haben uns im ersten Ames-Jahr in Mathe kennengelernt und wussten es einfach«, hatte Alex mir mal erzählt. »Wer ihn heiratet, bekommt mich mit dazu.«
Ich boxte ihn gegen den Arm. »Oh nein, die Unglückliche!«
Oh Gott, wie lange war das her.
Kurz darauf hörte ich Josh besiegt seufzen. Meine Mutter hatte seinen Widerstand gebrochen. »Okay, Lily«, sagte er zu mir. »Und was hättest du gern zum Frühstück? Deine Mutter« – er bedachte sie mit einem tadelnden Blick – »nimmt die Pfannkuchen mit Zimtbutter.«
»Einen Orangensaft, bitte«, sagte ich, öffnete meinen Rucksack und kramte darin herum. »Und einen Löffel dazu.« Triumphierend präsentierte ich mein Glas mit den Overnight Oats. »Ich habe mein eigenes Frühstück dabei.«
»Sehr gut!« Josh schnalzte begeistert mit den Fingern. Eigentlich ironisch, dass ausgerechnet er das Hub leitete – in Wahrheit war er nämlich ein Gesundheitsfanatiker. »Genau davon spreche ich immer, Lil. Das gefällt mir.« Er sah meine Mutter an. »Du solltest dir an den Essgewohnheiten deiner Tochter ein Beispiel nehmen.«
Meine Mutter legte die gefalteten Hände auf den Tisch. »Zu deiner Information: Sie hat gestern Abend eine wunderbare Hähnchenpfanne mit Gemüse gekocht. Und ich habe ihr geholfen.«
Josh sah mich an, ob ich das bestätigen konnte, und ich nickte. »Aber Zimtbutter-Pfannkuchen klingen auch sehr lecker«, fügte ich hinzu. »Kann ich vielleicht noch eine Gabel zu meinem Löffel bekommen? Dann kann ich ein paar Bissen klauen.«
Josh stöhnte und wir lachten. »Nervensägen«, sagte er. »Ihr zwei seid echte Nervensägen. Erst reserviert ihr unerlaubt einen Tisch. Und jetzt das hier.« Er schüttelte den Kopf.
»Nervensägen? Also bitte!«, sagte meine Mutter, nachdem ihr Freund in der Küche verschwunden war. »Ich würde uns eher als Traumfrauen bezeichnen.«
»Genau«, stimmte ich zu. Ich liebte diese Frühstücke mit ihr. »Wir zwei sind echte Traumfrauen, keine Frage.«
»Ich weiß nicht, ob du es gemerkt hast, Lily, aber Blair hat dich heute in Mathe förmlich mit Blicken erdolcht«, bemerkte meine Freundin Pravika. Wir verbrachten unsere Freistunde zusammen mit Zoe auf dem Ocean’s View, einer halbrunden, mit Muscheln verkrusteten Terrasse mit Blick auf den Atlantik. Sie grenzte an ein großes, kreisförmiges Wiesengelände, das treffend der »Circle« genannt wurde. Es war das Herzstück des Schulgeländes, der perfekte Ort, um vor dem Unterricht, in Freistunden und nach Schulschluss gemütlich abzuhängen. Weiße Liegestühle und Hängematten waren auf der Wiese verteilt, und wenn irgendwas davon frei war, musste man es sich sofort schnappen.
»Wirklich? Blute ich schon?«, erwiderte ich ungerührt. Wir drei sonnten uns auf der Mauer, die um den Ocean’s View herumführte. »Sie sollte ein bisschen an ihrer Zielgenauigkeit arbeiten.«
»Wer saß denn heute neben dir?«, wollte Zoe wissen.
Ich antwortete nicht, denn ehrlich gesagt hatte Blair tatsächlich voll ins Schwarze getroffen.
»Lily …«, trällerten meine Freundinnen.
»Er war spät dran«, erklärte ich. »Es gab keine anderen freien Plätze mehr.«
Sie lachten, und ich bemühte mich, nicht an Taggs Augen zu denken. Heute hatten sie grau ausgesehen anstatt leuchtend grün wie sonst, weniger schimmernd. »Stört es dich, wenn ich mich neben dich setze?«, hatte er geflüstert, und ich hatte meine ganze Willenskraft zusammennehmen müssen, um nicht mit den Fingern durch seine dunkelbraunen Haare zu fahren und ihm sanft den Nacken zu streicheln. Es war mehr als ein Jahr her, seit wir das letzte Mal so dicht nebeneinandersaßen. Wir hatten eine Taktik entwickelt, uns in der Schule möglichst aus dem Weg zu gehen, ein meisterhaft choreografierter Tanz, der dazu führte, dass wir uns nur während des Unterrichts begegneten. Aber heute war Tagg irgendwie aus dem Takt gekommen, und wir mussten nebeneinandersitzen, was dann wiederum mich völlig aus dem Tritt brachte. Es schmerzte richtig, nicht unter dem Tisch seine Hand auf meinem Knie zu spüren. Oder dass er mir keinen Kuss aufs Handgelenk drückte und seine Finger zwischen meine schob …
Warum?, fragte ich mich zum hundertmillionsten Mal. Warum hast du das getan?
»Ich frage mich, mit wem er jetzt wohl zur Prom geht«, überlegte Zoe.
»Keine Ahnung«, meinte Pravika. »Vielleicht mit einer Zehntklässlerin. Die ganzen Sportler sind doch –«
»Können wir vielleicht mal mit diesen Prom-Spekulationen aufhören?«, murrte ich. »Wen interessiert das schon? Wir werden es noch früh genug erfahren.«
Zoe und Pravika schwiegen, weil mich Anfang der Woche unser Schulsprecher Daniel Rivera mit einem wunderschönen Lilienstrauß gebeten hatte, sein Prom-Date zu sein. Ich war zwar allergisch gegen Lilien, hatte mir aber nichts anmerken lassen; ich hatte die Blicke der Leute auf mir gespürt und gelächelt und die Blumen an mich gedrückt. Einfach nicht an die Folgen denken, hatte ich mir eingeredet, obwohl ich wusste, dass ich bald überall Ausschlag haben würde. Du freust dich! Zeig allen, wie sehr du dich freust!
Ich seufzte. »Entschuldigt. Keine Ahnung, warum ich so gereizt bin.«
Meine Freundinnen nickten langsam, als wüssten sie sehr wohl den Grund dafür. Röte kroch meinen Hals hoch. »Es ist nicht zu spät, es dir noch mal anders zu überlegen«, hatte Zoe erst kürzlich zu mir gesagt. »Ich weiß, du hast noch nie in deinem Leben ein Versprechen gebrochen, aber mit Daniel zum Abschlussball zu gehen, ist kein Ehegelübde – du hast keinen Eid geleistet oder so. Wenn du keine Lust hast, sein Date zu sein – warum tust du es dann?«
Weil ich die Blumen angenommen habe, hätte ich fast geantwortet. Ich habe sie genommen und zu Hause gleich in den Müll geworfen, deshalb kann ich sie nicht mehr zurückgeben.
Und selbst wenn ich könnte, würde ich es nicht tun. Ein Prom-Date zuzusagen, war vielleicht nicht wirklich ein Versprechen, aber es war schon eine Verpflichtung. Und ich stand zu meinen Verpflichtungen.
Wolken schoben sich vor die Sonne. »Okay, neues Thema …«, fing Pravika an. »Heute Morgen in Bio haben die Jungs die ganze Zeit über den Streich geredet.« Sie räusperte sich. »Ich meine, darüber, dass es so aussieht, als würde es dieses Jahr keinen geben.«
»Ooh ja«, murmelte Zoe. »Ich habe da auch so meine Zweifel. Der Narr hat bis jetzt ziemlich wenig von sich hören lassen.«
»Ziemlich wenig? Er ist so stumm, als hätte man ihm den Mund mit Klebeband versiegelt«, sagte ich. Der Abschlussstreich war eine weitere Schultradition, aber eine, die im Verborgenen ablief. Die Schüler waren regelrecht besessen davon, weil die ganze Sache so geheimnisumwoben war. Denn nicht jede beliebige Schülerin oder Schüler aus der Zwölften konnte sich einen Streich ausdenken und in die Tat umsetzen – nein, das durfte nur »der Narr«. Seine Identität blieb stets geheim; nur der vorherige Narr wusste, wer der nächste sein würde, und gab sozusagen die »Narrenkappe« an ihn weiter. Und nur wenn der Streichemeister eine Truppe benötigte, um seinen Plan umzusetzen, wurden noch andere in das Geheimnis eingeweiht.
Aber sie verrieten keinem was, das war Ehrensache.
Zoe hatte recht; es sah nicht so aus, als würde es dieses Jahr einen Streich geben. Die Reihenfolge war immer Streich, Prom, Zeugnisübergabe. Und die Prom stand quasi schon vor der Tür! Die Mädels hatten längst die Kleider im Schrank hängen und Friseurtermine ausgemacht.
»Wer, glaubst du, ist es?«, fragte Pravika. Sie deutete auf die andere Seite des Circle, wo Blair Greenberg in einem Liegestuhl Hof hielt. »Ich wette auf sie.«
»Echt jetzt, Vicky?« Ich rümpfte die Nase.
»Klar.« Pravika nickte. »Sie wäre auf jeden Fall gerissen genug dafür.«
Ja, was das angeht, spielt sie definitiv ganz vorne mit, dachte ich und biss mir auf den kleinen Finger. Ich wusste schon, warum ich mich so weit wie möglich von ihr fernhielt.
»Ich persönlich hoffe ja, es ist Alex.« Zoes Bemerkung lenkte uns von Blair ab. »Ich habe jedenfalls bei ›Krassester Klassenclown‹ für ihn gestimmt.«
»Zoe, da haben alle für ihn gestimmt«, meinte Pravika. Ich musste grinsen. Alex Nguyen wäre der perfekte Narr. Er dachte sich schon die ganze Schulzeit über dumme Streiche aus.
»Und das wird er auch bis zum Ende so durchziehen.« Tagg hatte das in der zehnten Klasse zu mir gesagt, als wir in der Bücherei zusammen Hausaufgaben machten, die Beine unter dem Tisch ineinander verhakt. »Der Narr zu werden, wäre für Alexander Nguyen wie ein Oscargewinn.«
»Und du würdest ihm helfen«, hatte ich damals gesagt. »Wenn er zum Narren ernannt wird, würdest du keine Sekunde zögern.«
Wir starrten uns ein paar Sekunden lang an, dann verzog sich Taggs Gesicht zu einem frechen Lächeln. »Nein«, erwiderte er mit einem Leuchten in seinen immergrünen Augen. »Das würde ich nicht.«
»Ich bin echt neugierig, was Alex tun würde«, kicherte Pravika. »Bestimmt denkt er sich was richtig Geniales aus, wofür er ein Team braucht.« Mit hoch gezogener Augenbraue sah sie uns an. »Wärt ihr dabei?«
Zoe stöhnte. »Mädchen, mach mir doch keine falschen Hoffnungen!«
Pravika drehte sich zu mir. »Lily?«
»Nein.« Meine Antwort kam ohne Zögern.
»Warum nicht?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Da gibt es tausend Gründe. Erstens würde ich es niemals schaffen, mich heimlich aus dem Haus zu schleichen. Ihr wisst doch, was für eine Nachteule meine Mutter ist. Sie korrigiert immer bis zwei Uhr morgens ihre Klassenarbeiten.« Ich wedelte mit der Hand. »Mich anzuheuern, würde also gar nichts bringen.«
»Warte mal, gibt es deshalb dieses Jahr keinen Streich?«, witzelte Zoe. »Weil du dich nicht rausschleichen kannst?« Sie senkte die Stimme. »Bist du der Narr?«
Ich zeigte ihr den Vogel.
Meine Freundinnen lachten.
»Quatsch, das wissen wir doch.« Pravika grinste. »Du würdest es niemals sein, Lily.«
»Genau.« Ich erwiderte ihr Lächeln und hoffte, dass die beiden nicht merkten, wie gezwungen es war. Ich hatte keine Chance, jemals der Narr zu sein oder an seinem Narrenspiel beteiligt zu werden, weil die Schülerschaft der Ames School sich nie wirklich sicher sein konnte, wo meine Loyalitäten lagen. Bei ihnen? Oder bei den Lehrern, die mich großgezogen hatten? Als Lehrerkind stand ich zwischen allen Stühlen.
Josh wollte abends vorbeikommen und kochen. Weil die Gefahr also gebannt war, dass Mom sich irgendein Fertiggericht reinzog, blieb ich auf dem Campus und ging mit meinen Freundinnen in die Mensa. Die Enchiladas, die es zum Abendessen gab, trieben uns den Schweiß auf die Stirn, aber wir ertrugen die Schärfe, teilten uns anschließend noch ein Stück Schokoladenkuchen und gingen dann getrennte Wege. Zoe und Pravika schlenderten in ihr Wohnheim hinüber, während ich noch schnell im Postzimmer vorbeiging. Ames-Schüler schauten häufig in ihre Postfächer – und das nicht nur wegen irgendwelcher Amazon-Prime-Lieferungen. Die Lehrer gaben auf diesem Weg auch korrigierte Hausaufgaben, Versuchsprotokolle, Essays oder Klausuren zurück, anstatt kostbare Unterrichtszeit dafür aufzuwenden. Auch Mitteilungen der Schulverwaltung landeten in unseren Fächern. Ich schloss mein Postfach auf und fand darin eine Lateinarbeit von Mr. Hill – die Note 1 in seiner typischen, leicht schiefen Schrift geschrieben. Außerdem noch eine Erinnerung vom Dekanat, dass ein Entwurf meiner Rede für das Abschlussdinner drei Tage vor der Feier zur Genehmigung vorliegen musste. Mrs. Epstein-Fox hatte mir nur eine Zwei minus für mein Versuchsprotokoll in Physik gegeben, aber bevor ich ihren Kommentar lesen konnte, entdeckte ich noch eine sehr seltsam aussehende Nachricht in meinem Fach: ein schwarzer Umschlag, auf dem mit ausgeschnittenen Zeitungsbuchstaben LILYHOPPER geschrieben stand.
Wie so ein gruseliges Erpresserschreiben.
Mit einem flauen Gefühl riss ich hastig den Brief auf und zog eine Karte hervor. Wieder nichts Handschriftliches, nur ausgeschnittene Buchstaben. Darauf stand:
Das Spiel hat fast begonnen.
Es startet in achtundvierzig und du hast vierundzwanzig Zeit, um dich zu entscheiden.
Willst du dich meiner Narrentruppe anschließen?
Mail deine Antwort an NarrenSpiel XXIII @gmail.com.
Wenn ja, warte auf weitere Anweisungen.
»Oh, Alex«, flüsterte ich leise und starrte die Karte so eindringlich an, dass die Worte vor meinen Augen verschwammen. Er war es; da war ich mir sicher. Diese Nachricht klang genau wie er! »Warum ich?«
Auf meinem Nachhauseweg versuchte ich, cool und gelassen zu bleiben, und scheiterte kläglich. Gott sei Dank hatten sich die meisten Internatsschüler schon in ihre Wohnheime zurückgezogen, und die Leute von der Campus-Security – Campo genannt – lächelten mir nur kurz zu und winkten aus ihren Autos, obwohl mein steifer, entsetzter, paranoider Gang doch für alle der sichere Beweis sein musste, dass ich die neueste Dealerin auf dem Campus war. Pot oder Koks, was ist dir lieber? Nein, Paypal ist nicht möglich, ich nehme nur Cash.
Bevor ich aus dem Postzimmer flüchtete, hatte ich die Einladung des Narren tief in meinem Rucksack versteckt. Man hätte schon alle Schulbücher und Ordner rausziehen müssen, um sie zu finden. Schnell zur Brücke, befahl ich mir mit angehaltenem Atem. Sobald du die hinter dir hast –
»Hi, Lily«, rief jemand hinter mir. Ich drehte mich um und stellte fest, dass Anthony DeLuca mich eingeholt hatte, das einzige andere Fac Brat auf dem Campus. Er ging in die elfte Klasse und war der Segelpartner von Daniel, nachdem Tagg das Segeln aufgegeben hatte, um sich ganz aufs Schwimmen zu konzentrieren.
Ich zwang mein rasendes Herz, sich zu beruhigen. Alles war gut. »Hey, Anthony«, erwiderte ich lässig. »Hattest du einen schönen Tag?«
»Vor allem einen langen Tag«, erwiderte er, während wir gemeinsam die überdachte Brücke überquerten. »Die Abschlussklausuren werden der totale Albtraum.« Er stöhnte. »Du hast so ein Glück, dass du in der Zwölften bist.«
Ich lachte. Die Abschlussklasse musste am Schuljahresende keine Klausuren mehr schreiben. Wir hatten unsere Studienplätze schon – wozu also noch? Die letzten beiden Schulwochen waren eine reine Formalität, wir mussten zwar immer noch Aufgaben erledigen, hatten aber fast keinen richtigen Unterricht mehr. In meinem »Shakespeare neu gesehen«-Literaturkurs zum Beispiel verbrachten wir die Stunden damit, uns verschiedene Verfilmungen anzusehen. Heute hatten wir Baz Luhrmanns Shakespeare in Love fertig geschaut.
Anthony und ich gingen gemeinsam durch unser Viertel, bis wir sein Haus erreichten. Es hatte eine breite Veranda und war deutlich größer als unseres, weil sein Vater der Schuldekan war. Durch die offenen Fenster konnte ich Dialogfetzen der Disney-Serie hören, die seine jüngeren Schwestern anschauten. »Hast du Vaseline?«, fragte er mich, bevor er sich verabschiedete.
»Äh, ja, zu Hause.« Verwundert sah ich ihn an. »Warum?«
Er zeigte auf meine Ballerinas. »Du läufst so komisch. Bei Blasen hilft Vaseline total gut. Zumindest lindert sie den Schmerz.«
»Okay, danke.« Ich schluckte und merkte, dass meine Fersen tatsächlich schrecklich brannten. Ich war nur zu abgelenkt gewesen, um darauf zu achten. »Ciao, Anthony.«
»Bis dann, Lily.«
Sämtliche Lichter im Cottage brannten, wie ein Leuchtturm, der mich durch die Dunkelheit lotste. Joshs Wagen stand in der Einfahrt, und ich freute mich, dass er noch da war. Zusätzlich zu seiner Tätigkeit als Restaurantleiter des Hub und Schwimmtrainer der Schule war er noch Hausvater bei den Zehntklässler-Jungs und lebte in einem Apartment bei ihnen im Wohnheim.
Offenbar hat er heute Abend keine Aufsicht. Sonst wäre er längst weg, um über seine Schützlinge zu wachen.
»Hallo!«, rief ich und knallte die Haustür zu. »Ich bin wieder da!«
»Hallo, Lily!«, antwortete mir ein ganzer Chor an Stimmen.
Ich schloss die Augen und blieb einen Moment im Flur stehen. Würde ich lieber woanders wohnen wollen? Nein, auf keinen Fall. Aber war es seltsam, dass meine Lehrer auch unsere Nachbarn und Freunde waren? Ja, manchmal schon. Ich konnte die Schule nie wirklich ganz hinter mir lassen.
Eins, zwei, drei, zählte ich und marschierte dann mit einem sonnigen Lächeln ins Wohnzimmer. »Mmm, riecht lecker«, sagte ich. »Was gab’s zum Essen?«
»Karotten-Ingwer-Suppe und Knoblauchbrot.« Josh sprang vom Sofa auf. »Soll ich dir einen Teller warm machen? Wir haben was übrig gelassen.« Er grinste. »Deiner Mutter hat es geschmeckt.«
»Mir auch«, bemerkte Bunker Hill, mein Lateinlehrer, der in dem roten Samtsessel neben dem Bücherregal saß. »Zuerst dachte ich ja, die Suppe könnte etwas sehr herbstlich für Ende Mai sein, aber Mr. Bauer hat mir das Gegenteil bewiesen.« Er prostete Josh mit seinem Whiskeyglas zu und wandte sich dann wieder an meine Mutter. »Leda«, sagte er, »ich bin ja eher ein Scotch-Trinker, aber dieser Bourbon hat wirklich eine angenehm weiche Note.«
»Danke«, erwiderte sie. »Das ist ein Bulleit. Bulleit Bourbon.«
»Also, ich muss sagen, heute Abend hast du mich bekehrt.«
Meine Mutter lachte. »Ich besorge dir eine Flasche«, meinte sie. »Ich oder mein Mann.«
»Meinst du mich?«, rief Josh aus der Küche.
»Kommt drauf an«, gab meine Mutter zurück. »Du weißt ja, es gibt viele Männer in meinem Leben.«
Bunker Hill, ihr Mentor, gehörte auch dazu. Er unterrichtete schon seit ewigen Zeiten an der Schule und war so eine Art Vater, Großvater und exzentrischer Onkel für meine Mutter, alles in einer Person. Manche Leute behaupteten, er wäre seit zwanzig Jahren an der Schule, andere meinten, ein halbes Jahrhundert. Oder vielleicht sogar schon so lange wie der riesige Ahornbaum auf dem Circle?
Ich hielt eisern den Mund, wenn meine Mitschüler mich nach Bunker Hill ausfragten, weil ich ihnen den Spaß an den Campuslegenden nicht verderben wollte. Der alte Mann hatte es verdient, ein Rätsel zu bleiben. »Dann verrate uns wenigstens seinen richtigen Namen!«, hatten Tagg und Alex ständig gebettelt. »Er kann doch unmöglich Bunker heißen. Das wäre viel zu cool!«
Für einen normalen Montagabend war das Wohnzimmer ziemlich voll. Mehrere Mitglieder des Lehrerkollegiums mitsamt ihren Lebensgefährten und -gefährtinnen hatten Moms und Joshs ruhiges Abendessen für zwei in eine richtige Party verwandelt. Meine Mutter lud dauernd Leute zu uns ein. Ihre Tür stand immer offen.
Ich unterhielt mich ein bisschen mit den Erwachsenen, aber nachdem ich meine Suppe und ein Stück Knoblauchbrot verdrückt hatte, nahm ich meinen Teller von dem Vintage-Couchtisch aus verwittertem Treibholz und stand auf. Meine Mutter hatte offenbar aufgeräumt; es lagen keine Sachen mehr darauf herum. Die ganzen alten Ausgaben von Vogue,Cosmopolitan und dem People Magazine waren verschwunden. »Das war echt lecker.« Ich zeigte Josh den leeren Teller. »Ich würde der Suppe ein VG geben.«
Wir benoteten Joshs Rezepte gerne. VG oder »verdammt gut« war die beste Note.
Dann verabschiedete ich mich von der Runde und verkündete, dass ich mich an meine Hausaufgaben setzen müsse. Josh folgte mir in die Küche. »Bitte nimm mich mit«, flüsterte er, während ich Teller und Glas in die Spülmaschine stellte. »Bitte!«
»Nur, wenn du meine Hausaufgaben machst«, erklärte ich.
Josh seufzte tief. »Ich bin so was von urlaubsreif.«
Die meisten aus dem Kollegium verließen die Schule während der großen Ferien. Weil sie für ihre Wohnungen auf dem Campus keine Miete bezahlen mussten, besaßen viele noch anderswo ein Haus oder eine Wohnung. Josh zum Beispiel hatte eine wunderschöne Hütte in Montana.
»Noch zwölf Tage«, tröstete ich ihn augenzwinkernd, bevor ich mich in mein Zimmer verzog. Es war klein und hatte eine pfirsichfarbene Tapete. Die Farbe hatte ich mir ausgesucht, als ich noch klein war, aber mittlerweile hatte mein Zimmer durch die vielen Fotos und meine Sammlung von Nationalpark-Postern noch eine deutlich individuellere Note bekommen. Meine Mom und ich hatten uns vorgenommen, jeden einzelnen Naturpark zu besuchen, bevor ich mit dem College begann. Diesen Sommer wollten wir unsere Tour in Alaska abschließen. Ich schaltete meine Lichterkette ein, zündete eine Duftkerze mit Blumenduft an und schlüpfte in eine Jogginghose und ein T-Shirt mit einem Georgetown-Aufdruck. Dann flocht ich meine Haare zu einem nachlässigen Zopf und holte Vaseline und Pflaster aus dem Bad, um meine Blasen zu verarzten. Sogar meine kleinen Zehen waren geschwollen. »Viel besser«, seufzte ich kurz darauf erleichtert. Ich war zwar keine Krankenschwester, aber ich würde überleben.
Okay, und jetzt zu meiner selbst auferlegten Lernzeit. Seufzend öffnete ich meinen Rucksack und zog die Bücher, meinen Laptop und ein vollgestopftes Mäppchen heraus. Ääh. Heute Abend war ich absolut nicht in der Stimmung zum Lernen, obwohl wir von den Lehrern nur noch richtig entspannte Hausaufgaben bekamen. Es gab Schüler an der Schule, die abends nie lernten und stattdessen lieber absurd früh aufstanden. Pravika zum Beispiel stand fast jeden Morgen um vier Uhr auf. »Du spinnst doch!«, hatte ich ihr mal gesagt. »Da würde ich lieber bis vier wach bleiben.«
Mit gerunzelter Stirn kramte ich am Boden meines Rucksacks herum. Wo ist mein Kaugummi? Weil, egal, ob ich zu Hause lernte oder in der Bibliothek, ohne Orbit Süße Minze ging bei mir gar nichts. Ohne Kaugummi konnte ich mich nicht konzentrieren.
Als ich die zerdrückte Packung ertastet hatte, tat mein Herz einen frohen Hüpfer … doch dann berührten meine Finger etwas aus Papier, und sofort zog sich mein Magen zusammen.
Die Einladung des Narren. Wegen der halben Nachbarschaft bei uns im Wohnzimmer hatte ich den Brief erfolgreich verdrängt, aber offenbar wollte er sich das nicht gefallen lassen. Ich biss mir auf den kleinen Finger und las Alex’ Nachricht noch einmal.
Willst du dich meiner Narrentruppe anschließen?, hieß es darin, und ich könnte schwören, eine Uhr ticken zu hören. Ich hatte nur noch ein paar Stunden Zeit, um mich zu entscheiden, ob ich bei dieser lustigen Aktion mitmachen wollte.
Wäre es denn lustig?, fragte eine Stimme in mir, aber mein Verstand erstickte diesen Gedanken gleich wieder. Nein, es wäre vor allem gefährlich.
Zu gefährlich. Was, wenn wir erwischt würden?
Meine Mutter würde mich umbringen.
Ich zerriss den Umschlag in zwei Hälften und vergrub ihn in meinem Papierkorb. Dann steckte ich mir einen Kaugummi in den Mund und schlug mein Physikbuch auf, um mich meinen Hausaufgaben zu widmen.
Aber noch bevor ich damit fertig war, kramte ich die Einladung wieder heraus und klebte die beiden Hälften sorgfältig zusammen.
Vielleicht, dachte ich, als ich kurz darauf in mein Bett kletterte. Ganz vielleicht.
Morgen würde ich mit Alex reden.
An Alex ranzukommen, war schwieriger als erwartet. Anstatt im Hub zu frühstücken, machte ich Eiweißomeletts für Mom und mich, bevor wir zum Campus fuhren. Der Tag war grau und regnerisch. »Am besten lass ich heute im Unterricht ein bisschen Musik laufen, damit keiner einschläft«, meinte sie, während sie unser Auto auf ihren Lehrerparkplatz vor dem Unterrichtsgebäude manövrierte. »Das ist das perfekte Schlafwetter.«
Mit einer Mischung aus Lachen und Gähnen stimmte ich ihr zu. Ich klappte meinen Regenschirm auf und trottete in meinen Geschichtsunterricht. Weil der Lehrer ein großer Fan davon war, die Schüler ohne Vorwarnung aufzurufen, würde bestimmt keiner aus der Klasse schlafen. Im Gegenteil – alle würden mit Kaffee oder Energiedrinks bewaffnet in den Unterricht kommen, um sich diese Blamage zu ersparen. Pravika zum Beispiel hatte immer einen Dirty Chai Latte dabei. Was immer das sein sollte.
Später am Vormittag flitzte ich während der Lehrersprechstunde rüber in die Schülerlounge, in der Hoffnung, Alex dort zu treffen. Heute würde niemand auf dem Circle abhängen; es regnete viel zu stark. »Bitte sei da, bitte sei da«, flüsterte ich vor mich hin und zog die große Tür der Hubbard Hall auf.
Erwartungsgemäß wimmelte es im gesamten Erdgeschoss von Schülern, aber nach einer Runde durch den regennassen, rutschigen Saal entdeckte ich ihn: Er chillte auf einem Sofa mit Tagg und ein paar Freunden.
Mist, dachte ich. Tagg.
Auch er war vom Regen reingespült worden.
Sollte Alex der Narr sein, hatte er hundertprozentig Tagg als Helfer angeheuert. Es konnte gar nicht anders sein. Alex half Tagg und Tagg half Alex – so war es schon immer gewesen. »Trotz der unglücklichen Umstände finde ich dich megacool, Lily«, hatte Alex gesagt, nachdem zwischen Tagg und mir Schluss war. »Ehrlich.« Er zwang sich zu lächeln. Uns beiden war klar, dass wir von jetzt an nicht mehr viel zusammen abhängen würden. »Es tut mir so leid.«
»Danke.« Ich hatte schief zurückgegrinst. »Ist schon okay; er ist eben dein bester Freund.«
Alex nickte. »Das stimmt.«
Bei der Erinnerung daran fühlte ich einen Stich im Herzen. Ein ganzer Abend mit Tagg. Ich wusste nicht, ob das für oder gegen den Streich sprach. Gestern neben ihm im Unterricht zu sitzen, hatte echt wehgetan, aber gleichzeitig war damit auch ein großer Wunsch von mir in Erfüllung gegangen. Weil – ich vermisste ihn. Ich vermisste ihn sehr.
Ich beobachtete, wie mehrere Mädchen aus den unteren Klassen selbstbewusst auf das Sofa zusteuerten, alle in gewachsten Regenmänteln und bunten Gummistiefeln. Es war nicht schwer zu erraten, was sie vorhatten. Ganz in der Nähe saß Blair Greenberg in einem Sessel. Sie verdrehte nur die Augen und warf sich ihr glänzendes braunes Haar über die Schultern.
Anders als bei Tagg und mir hatte sich ihr gemeinsamer Freundeskreis nicht groß darum gekümmert, wenn die beiden stritten oder sich trennten. Alle blieben cool und taten so, als sei nichts.
Mein Magen zog sich zusammen. Ob Alex auch Blair gefragt hatte? Hatte er seinen ganzen engsten Freundeskreis rekrutiert? Und wenn ja, wie kam er dann auf mich?
Bevor ich mich entscheiden konnte, musste ich das wissen. Ich war nicht der Typ, der Dinge einfach auf sich zukommen ließ. Ich brauchte mehr Informationen. Worum ging es bei dem Streich? Wer war daran beteiligt? Und ich brauchte Zeit, um in Ruhe darüber nachzudenken.
Alex und ich sind ja zusammen in Physik, fiel mir da ein, aber in typischer Alex-Nguyen-Manier kam er erst kurz vor dem Läuten ins Klassenzimmer geschlendert. Als würde es seine Ankunft verkünden und nicht den Beginn des Unterrichts.
Mrs. Epstein-Fox verbrachte die Stunde damit, verschiedene Gleichungen an die Tafel zu kritzeln. Ich schrieb alle gewissenhaft in mein Heft ab, ohne sie wirklich zu verstehen. Aber falls ich später noch Hilfe bräuchte, konnte ich immer noch Daniel fragen. Wir saßen in ein paar Fächern nebeneinander und lernten oft zusammen. Physik war sein bestes Fach, und er nutzte jede Gelegenheit, damit anzugeben. Wegen seinem extremen Hang zum Mansplaining war ich regelmäßig kurz davor, ihm meine Wasserflasche über den Kopf zu kippen, aber wenigstens beantwortete er meine Fragen.
Sobald die Stunde vorbei war und wir in die Mittagspause gehen konnten, wollte ich zu Alex rüberhuschen. Aber noch bevor ich den halben Weg zurückgelegt hatte, warf er sich bereits den Rucksack über die Schulter und hielt sich das Handy ans Ohr. »Hallo, Paul«, hörte ich ihn sagen. Und dann noch, kurz bevor er auf dem Gang verschwand: »Ja, für mich das Übliche bitte, vielen Dank. Taggart will heute allerdings mal was anderes. Er hätte Lust auf ein Diabolo …«
Provisions, begriff ich. Alex bestellte Mittagessen bei Provisions, einem Sandwichladen in der Stadt. Josh behauptete, das Essen dort sei völlig überbewertet, aber der Rest der Schule war komplett anderer Meinung.
Hastig schrieb ich Zoe und Pravika, dass ich nicht in die Mensa kommen würde. »Wo willst du hin?«, fragte eine Stimme. Ich drehte mich um. Daniel stand neben mir und spähte neugierig auf meinen Handybildschirm. »Ah, du willst zu Provisions?«
»Oh, ähm …« Ich richtete mich kerzengerade auf. Das war nicht das erste Mal, dass Daniel in meine Nachrichten spickte. »Ja.« Ich steckte mein Handy ein und nahm meinen Schirm. »Ich dachte, ich trotze mal dem Regen.«
Daniel hielt seinen Schirm in die Höhe. »Dann leiste ich dir Gesellschaft«, bot er an.
Bitte nicht, seufzte ich innerlich. Ich bin auf einer Mission!
Außerdem hatte ich keine Lust, mit Daniel Mittag zu essen. Das würde alles noch komplizierter machen. »Wenn du seine Prom-Einladung annimmst, sendet das ein falsches Signal«, hatte Pravika mich gewarnt. »Jeder weiß, dass er schon seit Ewigkeiten in dich verknallt ist, und jetzt, wo du auch noch mit ihm zur Prom gehst …« Sie schüttelte den Kopf. »Du solltest ihm endlich sagen, dass du nur mit ihm befreundet sein willst.«
»Ja, klar«, hörte ich mich antworten. »Gehen wir.«
Daniel lächelte, und wir zogen gemeinsam los. Aber während ich ein straffes Tempo anschlug – ich wollte diese Gelegenheit mit Alex auf keinen Fall verpassen –, spazierte Daniel ganz gemütlich vor sich hin. »Hey, wieso hast du es so eilig?«, fragte er, kurz bevor wir das Schultor erreichten. In dem Moment rief jemand meinen Namen. »Lily!«
Es war Gabe, der in einem kleinen Wachhäuschen an der Pforte Dienst hatte.
»Hey, Gabe«, sagte ich und steuerte widerstrebend auf ihn zu. »Was geht?«
»Alles super.« Er grinste. »Die Schule gibt mir eine Riesenchance.«
»Was für eine Chance?« Daniel blickte skeptisch.
»Ich darf endlich aus dieser Einzelzelle raus«, erklärte Gabe und deutete auf das kleine Backsteinhaus. »Harvey geht in Rente, ich übernehme seinen Wagen und seine Schicht, und sie stellen jemand Neues ein, der hier Wache schiebt.« Triumphierend tippte er mit seiner Faust gegen meine. »Endlich gehöre ich auch zum Patrouillen-Team.«
»Glückwunsch!«, rief ich. Gabe hatte sich schon immer gewünscht, mit der Campo auf der »Straße« unterwegs zu sein. »Ich wette, du kannst es kaum erwarten.«
»Ja, klar. Total.« Er nickte. »Die erste Schicht ist schon übermorgen. Ich soll bis zum Ende des Schuljahrs mit Harvey fahren, damit er mich einarbeiten kann.«
Ich trat von einem Fuß auf den anderen. Mr. Harvey war zwar nicht der Leiter der Campo, aber er hatte mit Sicherheit die meiste Erfahrung mit den »Kriminellen« von Ames. Er hatte Schüler erwischt, die sich aus ihren Wohnheimen schlichen, die auf dem Sportplatz knutschten, betrunken nach Discoabenden den Mond anhimmelten oder auf dem Tennisplatz Drogen vertickten.
Vor ihm hatte ich am meisten Angst, wenn ich dem Narren bei seinem Streich helfen würde. Alle an der Schule waren felsenfest überzeugt davon, dass der Streich im letzten Jahr nur deshalb so reibungslos gelaufen war, weil Mr. Harvey in der Nacht nicht auf dem Campus gewesen war. Stattdessen saß er zu Hause und erholte sich von einer Knie-OP.
Nachdem wir Gabe gratuliert hatten, überquerten Daniel und ich die Straße und gingen weiter in die Stadt. Im Provisions mit den gelben Außenwänden und der dunkelblau-weiß gestreiften Markise war nicht viel los.
Leider war auch Alex nirgends zu sehen.
»Guten Tag!«, begrüßte uns der Besitzer, während ich mich noch mal im Laden umschaute, obwohl Alex sein Essen offensichtlich längst abgeholt hatte und wieder verschwunden war. Frustriert ließ ich die Schultern hängen. »Was darf’s sein?«
Daniel stupste mich an. »Willst du bestellen?« Er hielt seine Bankkarte in die Höhe. »Ich lade dich ein.«
Ich bemühte mich, freundlich zu schauen. Ich wollte auf keinen Fall, dass Daniel mein Essen bezahlte, fürchtete aber, unhöflich zu wirken, wenn ich sein Angebot einfach ablehnte.
Deshalb wählte ich den indirekten Weg, nach dem Vorbild meiner Mutter: »Okay, dann zahl ich’s dir nachher mit Paypal zurück.« Und bevor er protestieren konnte, ratterte ich hastig meine Bestellung herunter. Fünf Minuten später saßen wir mit Puten- und Roastbeef-Sandwiches, Pommes und großen Getränkebechern an einem Hochtisch. Und als Nachtisch gab es Karamellbrownies mit Meersalz.
Die Sandwiches von Provisions waren so mächtig, dass man sie nur schweigend essen konnte. Eine Weile kauten wir stumm vor uns hin. »Es gibt Neuigkeiten«, meinte Daniel schließlich, während ich einen großen Schluck Pepsi trank.
Mein Puls schlug schneller. Neuigkeiten? Was für Neuigkeiten?
»Gute oder schlechte?«, fragte ich.
»Na ja, vielleicht nicht ganz so spektakulär wie Gabes Beförderung«, erklärte er sarkastisch, »aber ich würde schon sagen, dass es gute Neuigkeiten sind.« Er grinste. »Ich habe heute in der Redaktion vorbeigeschaut – die Jahrbücher sind endlich gekommen.«
Stirnrunzelnd stellte ich meinen Becher ab. »Was meinst du mit ›endlich‹? Müssten sie nicht schon längst da sein?« Traditionell wurden die Jahrbücher am vorletzten Freitag vor den Ferien ausgeteilt … in zwei Tagen also.
Daniel lehnte sich zu mir. Obwohl er nicht Mitglied der Redaktion war, gehörte es zu seinen Pflichten als Schulsprecher, die Jahrbücher zu verteilen. »Nein, waren sie eben nicht«, flüsterte er, für den Fall, dass uns neugierige Mithörer belauschten. »Die Druckerei hat den Druck immer wieder verschoben, und dann ist auch noch was bei der Lieferung schiefgegangen. Swell musste letzte Woche erst bei FedEx anrufen und denen die Hölle heißmachen …« Er sah mich vielsagend an. »Du weißt ja, wie er sein kann.«
»Mm-hmm«, sagte ich leichthin. Tagg hatte viele besondere Eigenschaften, und wenn nötig, konnte er ziemlich energisch und stur sein. Er hatte es also geschafft, das ganze Schlamassel in Ordnung zu bringen, obwohl er nur als kleiner Fotoredakteur in der Redaktion mithalf. Typisch.
Daniel redete weiter über das Jahrbuch, wie erleichtert der Chefredakteur nun sei und dass er vorgeschlagen hätte, doch schon mal einen Blick reinzuwerfen, aber dass er, Daniel, das natürlich abgelehnt habe, weil …
Erst als Daniel seine Hand auf meine legte, wurde mir bewusst, dass ich mit den Fingern auf dem Tisch getrommelt hatte. »Hey, woran denkst du gerade?«, fragte er.
»Ans Klavierspielen«, log ich und blinzelte.
Daniel legte den Kopf schief. »Ich wusste nicht, dass du Klavier spielst.«
»Ein bisschen«, erklärte ich schulterzuckend. »Aber nicht besonders oft und nicht besonders gut.« Ich zog meine Hand weg und griff nach meinem Brownie. Tagg hatte mich nie bei meinem Herumgeklopfe gestört. Stattdessen hatte er seine Hand neben meine gelegt, sodass es aussah, als würde jemand auf einem unsichtbaren Klavier spielen. »Welches Lied?«, hatte er grinsend gefragt und versucht, sich meinem Rhythmus anzupassen.
Meistens endete es damit, dass wir beide gemeinsam versuchten Alle meine Entchen zu spielen. »Ihr solltet unbedingt vor großem Publikum auftreten«, rief Alex ironisch über den Tisch. »Die Karten wären innerhalb von Sekunden ausverkauft.«
Wir lachten, und dann erzählte ich Tagg, worüber ich mich geärgert hatte. Ich hatte ihm immer alles erzählt, bis letztes Jahr, weil ich mich seitdem fast nur noch über ihn geärgert hatte.
Über ihn und über sie. Diese ganzen Mädchen, die eines Morgens aufwachten und beschlossen, total verliebt in Taggart Matthew Swell zu sein und alles zu tun, um ihn zu erobern, obwohl er doch mir gehörte. Und anstatt einfach mit ihm zusammen zu sein, musste ich plötzlich um ihn kämpfen.
Zumindest hatte es sich so angefühlt.
Ich wickelte den Brownie aus und schob mir ziemlich ungraziös die Hälfte in den Mund. Wie Leda bei einer nächtlichen Heißhungerattacke. Daniel kam nun wieder auf die Jahrbücher zurück. »Aber Manik und ich haben dann doch eine Schachtel aufgemacht und die Bestenlisten überflogen«, gestand er mit einem listigen Lächeln. »Du stehst auch ein paar Mal ganz vorne, falls es dich interessiert.«
»Echt jetzt?«, fragte ich, den Mund voller Browniekrümel. Meine Neugier war geweckt. »Wo denn?«
»›Lieblings-Fac Brat‹.«
Ich schluckte. »Das liegt daran, dass ich das einzige Lehrerkind unter den Zwölfern bin. Bei den Jungs ist die Spalte leer, oder?«
Daniel nickte und machte dann alles noch viel schlimmer, indem er sagte: »Und ›Lehrerliebling.‹«
»Na toll«, murmelte ich.
»Ich bin auch der Lehrerliebling.« Daniel freute sich offensichtlich darüber. »Außerdem bist du ›Kommt mit allen gut aus‹.« Er kicherte. »Oh, und ›Die perfekte Schwiegertochter‹.« Er trank einen Schluck. »Ganz schön beeindruckende Sammlung.«
Ich biss in die zweite Hälfte meine Brownies. Mehr fiel mir dazu nicht ein. Lieblings-Lehrerkind? Lehrerliebling? Lieblingsschwiegertochter?
Das sagte ja wohl alles. Ich war nett, allgemein beliebt, respektiert und höflich.
Und eine blöde Streberin.
Nach dem Unterricht ging ich direkt nach Hause. Komme erst nach dem Abendessen, hatte meine Mutter mir vorhin noch geschrieben. Hab ein Treffen mit der Englischabteilung und muss noch ein paar Klausuren vorbereiten.
Oh Mann, schrieb ich zurück.
Oh Mist, antwortete sie, was völlig verständlich war. Klausuren vorzubereiten war bestimmt kein Spaß, aber ich freute mich trotzdem, das Haus für mich zu haben. Seit dem Mittagessen mit Daniel kreisten meine Gedanken nur noch um ein Thema, und ich wollte bei meinen Grübeleien nicht gestört werden. Ich war so abgelenkt, dass ich aus Versehen meinen Regenschirm im Klassenzimmer liegen ließ und völlig durchnässt zu Hause ankam. Mittlerweile goss es in Strömen. Die Wellen auf dem Meer wogten auf und ab. Genau wie mein Magen.
»Na schön«, sagte ich zu mir, setzte mich an meinen Schreibtisch und schaltete meinen Laptop an. »Okay, dann mal los …« Mit der einen Hand öffnete ich eine neue Seite in meinem Browser, mit der anderen kramte ich in der obersten Schublade herum. Meine schrumpeligen Finger kribbelten, als sie meine zusammengeklebte Streich-Einladung fanden. Die Vierundzwanzig-Stunden-Frist schmolz rasend schnell dahin, genau wie mein Selbstvertrauen.
Mail deine Antwort an [email protected], las ich zum hundertsten Mal. Dabei fielen mir die römischen Ziffern auf. XXIII – oder in anderen Worten: dreiundzwanzig. Wie förmlich, wie altmodisch. Wie Alex. Bis ich eine Antwort abfeuern konnte, loggte ich mich aus [email protected] aus und beschloss, einen neuen Account zu erstellen – nur um sicherzugehen, dass sich keine elektronische Briefspur zu mir zurückverfolgen ließ.
Mehrere Versuche später war glö[email protected] geboren. Alex war unser Narr, und ich war eines der Glöckchen an seiner Narrenkappe. Bereit und willens, ihm bei der Umsetzung seines großen Plans zu helfen und mit ihm die Schule zu unterhalten.
Ich kann es nicht glauben, dass ich das wirklich tue, dachte ich mit zusammengebissenen Zähnen.
Von: glö[email protected]
Betreff: Antwort auf deinen verstörenden Erpresserbrief
Hi,
ja, ich bin dabei … solange wir dabei keine albernen Narrenkappen tragen müssen.
Lily
Ich kniff die Augen zu und drückte auf Senden, dann öffnete ich sie wieder und starrte eine ganze Weile auf den Bildschirm. Ich klickte sogar, um meinen Posteingang zu aktualisieren, aber als keine Antwort kam, akzeptierte ich die Niederlage und ging ins Bad, um heiß zu duschen.