Mayre im Reich der Meerjungfrauen - L. Frank Baum - E-Book

Mayre im Reich der Meerjungfrauen E-Book

L. Frank Baum

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Beschreibung

Ein spannendes Unterwasser-Abenteuer von L. Frank Baum, Autor der bekannten Buchreihe "Der Zauberer von Oz". "Niemand", sagte Käpt'n Bill feierlich, "hat jemals eine Meerjungfrau gesehen und lange genug gelebt, um davon zu erzählen." "Warum nicht?", fragte Trot und blickte ernst in das Gesicht des alten Seemanns. "Weil Meerjungfrauen Feen sind, und von uns Sterblichen nicht gesehen werden sollen", antwortete Käpt'n Bill. "Aber wenn jemand sie sieht, was dann, Käpt'n?" "Dann", antwortete er und wackelte langsam mit dem Kopf, "lächeln und winken die Meerjungfrauen ihm zu, und er taucht ins Wasser ein und ertrinkt." "Ich würde gerne eine Meerjungfrau sehen, Käpt'n Bill", sagte das Kind ernst. "Wie, und ertränkt werden?", rief er aus. "Nein, und überleben, um davon zu erzählen. Wenn sie schön, heiter und freundlich sind, können sie nicht böse sein, da bin ich mir sicher." So erzählt der alte einbeinige Käpt'n Bill eines Tages der kleinen Mayre Griffiths, Spitzname Trot, von den Meerjungfrauen. Ihr Gespräch wird jedoch belauscht, und als sie am nächsten Tag eine Meereshöhle an der Küste besuchen, werden sie von mehreren Meerjungfrauen überrascht, die sie einladen, sie in ihr Unterwasserreich zu begleiten. Dort lernen die beiden Besucher an der Seite der freundlichen Meerjungfrauen die Schönheiten und Gefahren der Tiefsee kennen. Als jedoch der böse Zauberer Zog, ein abscheuliches Mischwesen aus Mensch, Fisch, Vogel und Reptil, die Gunst der Stunde nutzt, und sie auf sein verwunschenes Schloß entführt, finden sie sich plötzlich in einer lebensbedrohlichen Lage wieder. Es scheint fast, als würden sie tatsächlich nicht überleben, um von den Meerjungfrauen zu erzählen... Empfohlenes Alter: 5 bis 10 Jahre. Große Schrift, auch für Leseanfänger geeignet.

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Inhalt.

Vorwort.

Kap. 1. Trot und Käpt‘n Bill.

Kap. 2. Die Meerjungfrauen.

Kap. 3. Der Grund des tiefen blauen Meeres.

Kap. 4. Der Palast der Königin Aquareine.

Kap. 5. Die Seeschlange.

Kap. 6. Die Erforschung des Ozeans.

Kap. 7. Der hochmütige Kabeljau.

Kap. 8. Ein Unterwasser-Bankett.

Kap. 9. Der niedergeschlagene Oktopus.

Kap. 10. Die unentdeckte Insel.

Kap. 11. Zog der Schreckliche und seine Seeteufel.

Kap. 12. Das verzauberte Schloß.

Kap. 13. Gefangene des Seeungeheuers.

Kap. 14. Käpt’n Joe und Käpt’n Bill.

Kap. 15. Die Magie der Meerjungfrauen.

Kap. 16. Die Spitze der Großen Kuppel.

Kap. 17. Das goldene Schwert der Königin.

Kap. 18. Ein verzweifelter Fluchtversuch.

Kap. 19. König Anko eilt zur Rettung.

Kap. 20. Das Heim des Meereskönigs.

Kap. 21. König Joe.

Kap. 22. Trot überlebt, um davon zu erzählen.

Vorwort.

DIE Meere sind groß und ausgedehnt. Ich glaube, zwei Drittel der Erdoberfläche sind mit Wasser bedeckt. Welche Wesen diese Gewässer bewohnen, war für die Landbewohner schon immer ein Gegenstand der Neugier. Zuweilen kommen seltsame Kreaturen aus den Meeren, und vermutlich gibt es in den Tiefen des Ozeans viele, die seltsamer sind als alles, was der sterbliche Blick je gesehen hat.

Diese Geschichte ist phantasievoll. In ihr sprechen und handeln die Meeresbewohner ungefähr so, wie wir es tun, und vor allem die Meerjungfrauen sind den Feen, mit denen wir vertraut sind, nicht unähnlich. Doch sie sind echte Meeresbewohner, und mit Ausnahme von Zog, dem Zauberer, sollen sie alle in den Tiefen des Ozeans existieren.

Mir wurde gesagt, daß einige sehr gelehrte Menschen leugnen, daß Meerjungfrauen oder Seeschlangen jemals die Ozeane bewohnt haben, aber es wäre sehr schwierig für sie, eine solche Behauptung zu beweisen, wenn sie nicht unter Wasser gelebt hätten, wie Trot und Käpt‘n Bill es in dieser Geschichte taten.

Ich hoffe, meine Leser, die Dorothys Abenteuer im Lande Oz so lange verfolgt haben, werden an Trots ebenso seltsamen Erlebnissen interessiert sein. Der Ozean hat mich immer als ein wahres Wunderland angesprochen, und diese Geschichte wurde mir oft von meinen jungen Korrespondenten in ihren Briefen vorgeschlagen. In der Tat haben viele Kinder mich angefleht, „etwas über die Meerjungfrauen zu schreiben“, und ich bin der Bitte bereitwillig nachgekommen.

Hollywood, 1911.

L. Frank Baum

Kapitel 1.

Trot und Käpt‘n Bill.

NIEMAND“, sagte Käpt‘n Bill feierlich, „hat jemals eine Meerjungfrau gesehen und lange genug gelebt, um davon zu erzählen.“

„Warum nicht?“, fragte Trot und blickte ernst in das Gesicht des alten Seemanns.

Sie saßen auf einer Bank, die um einen riesigen Akazienbaum gebaut war, der am Rande der Klippe wuchs. Unter ihnen brandeten die blauen Wellen des großen Pazifiks an den Fels. Ein Stück hinter ihnen lag das Haus, ein schmuckes, weiß gestrichenes Häuschen, umgeben von riesigen Eukalyptus- und Pfefferbäumen. Noch weiter hinten – eine Viertelmeile entfernt, aber in einer Biegung der Küste erbaut – lag das Dorf mit Blick auf eine hübsche Bucht.

Käpt‘n Bill und Trot kamen oft zu diesem Baum, um dort zu sitzen und den Ozean unter ihnen zu beobachten. Der Seemann hatte ein „Fleisch-Bein“ und ein „Walnuß-Bein“, und er sagte oft, daß das hölzerne das bessere der beiden sei. Einst hatte Käpt‘n Bill die ‚Anemone‘ befehligt, die ihm auch gehörte, ein Handelsschoner, der entlang der Küste fuhr; und in diesen Tagen war Charlie Griffiths, der Trots Vater war, der Kamerad des Kapitäns gewesen. Aber seit Käpt‘n Bills Unfall, bei dem er sein Bein verlor, war Charlie Griffiths der Kapitän des kleinen Schoners, während sein alter Herr friedlich bei der Familie Griffiths an Land lebte.

Das war ungefähr zu der Zeit, als Trot geboren wurde, und der alte Seemann gewann das kleine Mädchen sehr lieb. Ihr richtiger Name war Mayre, aber als sie groß genug geworden war, um zu gehen, machte sie jeden Tag so viele kleine geschäftige Schritte, daß sowohl ihre Mutter als auch Käpt‘n Bill ihr den Spitznamen „Trot“, „Laufschritt“, gaben, und so wurde sie später meist genannt.

Es war der alte Seemann, der dem Kind beibrachte, das Meer zu lieben, es beinahe so sehr zu lieben wie er und ihr Vater, und diese beiden, die den „Anfang und das Ende des Lebens“ darstellten, wurden enge Freunde und ständige Begleiter.

„Warum hat niemand je eine Meerjungfrau gesehen und es überlebt?“, fragte Trot noch einmal.

„Weil Meerjungfrauen Feen sind, und von uns Sterblichen nicht gesehen werden sollen“, antwortete Käpt’n Bill.

„Aber wenn jemand sie sieht, was dann, Käpt’n?“

„Dann“, antwortete er und wackelte langsam mit dem Kopf, „lächeln und winken die Meerjungfrauen ihm zu, und er taucht ins Wasser ein und ertrinkt.“

„Aber können sie denn nicht schwimmen, Käpt’n Bill?“

„Das macht keinen Unterschied, Trot. Die Meerjungfrauen leben tief unten, und die armen Sterblichen kommen nie wieder herauf.“

Das kleine Mädchen war für einen Moment nachdenklich. „Aber warum tauchen die Leute ins Wasser, wenn die Meerjungfrauen lächeln und winken?“, fragte sie.

„Meerjungfrauen“, sagte er ernst, „sind die schönsten Kreaturen der Welt – oder auch des Wassers. Du weißt, wie sie aussehen, Trot, sie haben eine schöne Frauengestalt bis zur Taille und dann ist die die andere Hälfte von ihnen ein Fisch, mit grünen, purpurfarbenen und rosa Schuppen.“

„Haben sie Waffen, Käpt’n Bill?“

„Natürlich, Trot; dieselben Waffen wie jede andere Dame. Und hübsche Gesichter, die lächeln und mächtig süß und fesselnd aussehen. Ihre Haare sind lang, weich und seidig und fließen im Wasser um sie herum. Wenn sie aus den Wellen emporsteigen, wringen sie das Wasser aus ihren Haaren und singen Lieder, die direkt ins Herz gehen. Wenn jemand unglücklich genug ist, gerade dann in ihrer Nähe zu sein, wird er von der Schönheit und den süßen Liedern der Meerjungfrauen wie verzaubert, und dann stürzt er sich in die Wellen, um zu den Meerjungfrauen zu gelangen. Aber die Meerjungfrauen haben kein Herz, Trot, nicht mehr als ein Fisch, also lachen sie, wenn die armen Leute ertrinken und kehren sich gar nicht daran. Darum sage ich, und ich sage, daß es wahr ist, daß niemand jemals eine Meerjungfrau sah und es überlebte, um davon zu erzählen.“

„Niemand?“, fragte Trot.

„Überhaupt niemand.“

„Aber woher wissen Sie es dann, Käpt’n Bill?“, fragte das kleine Mädchen und blickte mit großen, runden Augen zu ihm empor.

Käpt’n Bill hustete. Dann versuchte er zu niesen, um Zeit zu gewinnen. Dann zog er sein rotes Baumwoll-Taschentuch heraus und wischte sich damit über den kahlen Schädel. Er rieb so heftig, als ob er dadurch klarer denken konnte. „Sieh mal, Trot; ist das nicht eine Brigg da draußen?“, fragte er und deutete auf ein Segel weit draußen im Meer.

„Wie kann irgend jemand etwas über Meerjungfrauen wissen, wenn diejenigen, die sie gesehen haben, nie überlebt haben, um von ihnen zu erzählen?“, fragte sie wieder.

„Was denn über sie wissen, Trot?“

„Über ihre grünen und rosa Schuppen und ihre hübschen Lieder und nassen Haare.“

„Sie wissen es nicht, schätze ich. Aber Meerjungfrauen müssen natürlich so sein, ansonsten wären sie keine Meerjungfrauen.“

Sie dachte darüber nach. „Jemand muß überlebt haben, Käpt’n Bill“, erklärte sie schließlich. „Andere Feen wurden von Sterblichen gesehen; warum nicht auch Meerjungfrauen?“

„Vielleicht haben sie das, Trot“, antwortete er nachdenklich. „Ich erzähle es dir, wie es mir gesagt wurde, aber ich habe mich bisher nie damit aufgehalten, mich in der Angelegenheit weiter zu erkundigen. Es scheint, als würden die Leute nicht so viel über Meerjungfrauen wissen, wenn sie sie nicht gesehen hätten, und doch soll das Opfer nach allen Berichten zwangsläufig ertrinken.“

„Vielleicht“, schlug Trot milde vor, „hat jemand eine Photographie von einer von ihnen gefunden.“

„Das könnte sein, Trot“, antwortete Käpt’n Bill.

Käpt’n Bill war ein netter Mann, und Trot wußte, daß er gern immer alles erklärte, damit sie es völlig verstehen konnte. Der alte Seemann war kein sehr großer Mann, und manche Leute hätten ihn als rundlich oder sogar dick bezeichnet. Er trug ein blaues Matrosenhemd mit weißen Ankern an den Ecken des breiten, viereckigen Kragens, und seine blaue Hose war unten sehr weit. Er trug immer ein Hosenbein über seinem Holzglied und manchmal flatterte es wie eine Fahne im Wind, weil es so weit und das Holzbein so dünn war.

Sein grober Wollmantel war ein seemännischer Überzieher und reichte bis zu seiner Taille. In den großen Taschen seiner Jacke hatte er ein wundervolles Klappmesser, seine Pfeife und Tabak, viele Stücke Schnur, Streichhölzer und Schlüssel und viele andere Dinge verstaut. Wann immer Käpt’n Bill eine rundliche Hand in eine seiner Taschen steckte, beobachtete Trot ihn mit atemlosem Interesse, denn sie wußte nie, was er herausziehen würde. Das Gesicht des alten Seemanns war wettergegerbt. Er hatte einen Haarkranz um seinen Hinterkopf und einen Bartkranz um den Rand seines Gesichts, der von Ohr zu Ohr und unter seinem Kinn entlang lief. Seine Augen waren hellblau und hatten einen freundlichen Ausdruck. Seine Nase war groß und breit, und seine wenigen Zähne waren nicht stark genug, um Nüsse zu knacken.

Trot mochte Käpt’n Bill und hatte großes Vertrauen in seine Weisheit. Sie empfand große Bewunderung für seine Fähigkeit, Kreisel, Pfeifen und Spielsachen mit diesem wunderbaren Taschenmesser zu schnitzen. Im Dorf gab es viele Jungen und Mädchen in ihrem Alter, aber es machte ihr nicht annähernd so viel Spaß, mit ihnen zu spielen, wie mit dem alten Seemann das Meer zu durchstreifen und seinen faszinierenden Geschichten zu lauschen.

Sie wußte alles über den Fliegenden Holländer, Captain Kidd und das ‚nasse Grab‘, und wie man einen Wal harpuniert oder einem Eisberg ausweicht oder eine Robbe fängt. Käpt’n Bill war auf seinen vielen Reisen fast überall auf der Welt gewesen. Er war wie Robinson Crusoe auf wüsten Inseln gestrandet und von Kannibalen angegriffen worden und konnte über eine Menge anderer aufregender Abenteuer erzählen. Dadurch war er ein wunderbarer Kamerad für das kleine Mädchen, und was auch immer Käpt’n Bill wußte, würde Trot mit Sicherheit ebenfalls bald wissen.

„Wie leben die Meerjungfrauen?“, fragte sie. „Leben sie in Höhlen oder schwimmen sie nur im Wasser herum wie Fische?“

„Kann ich nicht sagen, Trot“, antwortete er. „Ich habe Taucher darüber befragt, aber keiner von ihnen ist jemals über ein Meerjungfrauennest gestolpert, soweit ich gehört habe.“

„Wenn sie Feen sind“, sagte sie, „müssen ihre Häuser sehr hübsch sein.“

„Vielleicht ist dem so, Trot, aber gewiß sind sie sehr feucht.“

„Ich würde gerne eine Meerjungfrau sehen, Käpt’n Bill“, sagte das Kind ernst.

„Wie, und ertränkt werden?“, rief er aus.

„Nein, und überleben, um davon zu erzählen. Wenn sie schön, heiter und freundlich sind, können sie nicht böse sein, da bin ich mir sicher.“

„Meerjungfrauen sind Meerjungfrauen“, bemerkte Käpt’n Bill in seiner feierlichsten Stimme. „Es wäre nicht gut, wenn wir uns zu ihnen gesellen, Trot.“

„May-re! May-re!“, rief eine Stimme aus dem Haus.

„Ja, Mama!“

„Kommt zum Abendessen, du und Käpt’n Bill.“

Kapitel 2.

Die Meerjungfrauen.

AM nächsten Morgen, sobald Trot geholfen hatte, das Frühstücksgeschirr abzutrocknen und es in den Schrank zu legen, machten sich das kleine Mädchen und Käpt’n Bill auf den Weg zur Klippe. Die Luft war weich und warm und die Sonne verwandelte die Wellenkämme in funkelnde Diamanten. Jenseits der Bucht eilte das letzte der Fischerboote aufs Meer hinaus, denn die Fischer wußten, daß dies ein idealer Tag war, um Steinbarsch, Pfeilhecht und Gelbschwanz zu fangen.

Der alte Mann und das junge Mädchen standen auf der Klippe und beobachteten das alles interessiert. Das hier war ihre Welt. „Heute Morgen ist das Wetter kein bißchen rauh. Lassen Sie uns eine Bootsfahrt machen, Käpt’n Bill“, sagte das Kind.

„Das ist genau das Richtige für mich“, erklärte der Seemann. Also suchten sie den gewundenen Pfad, der die Klippe hinunter zum schmalen Strand führte, und begannen vorsichtig den Abstieg. Trot bekümmerte sich überhaupt nicht wegen des steilen Pfads oder der losen Steine, aber Käpt’n Bills Holzbein war auf einem Abhang nicht so nützlich wie auf einer Ebene, und er mußte aufpassen, daß er nicht abrutschte und stürzte.

Nach einer Weile erreichten sie schließlich den Sandstreifen und gingen zu einer Stelle direkt unter dem großen Akazienbaum, der auf der Klippe wuchs. Auf halbem Weg zur Spitze der Klippe hing eine kleiner schuppenartiger Bau, der Trots Ruderboot schützte, denn es war notwendig, das Boot außerhalb der Reichweite der Wellen zu ziehen, die bei Flut wütend gegen die Felsen schlugen. Ungefähr so hoch, wie Käpt’n Bill ihn erreichen konnte, war ein eiserner Ring fest an der Klippe befestigt, und an diesen Ring war ein Seil gebunden. Der alte Seemann löste den Knoten und begann, das Seil herauszuziehen, und das Ruderboot kam aus seinem Schuppen und glitt langsam zum Strand hinunter. Es hing an zwei Bootskränen und wurde gerade so abgelassen, wie ein Boot von der Seite eines Schiffes abgelassen wird. Als es den Strand erreichte, hakte der Seemann die Seile aus und schob das Boot in die Brandung. Es war ein hübsches kleines Fahrzeug, leicht und stark, und Käpt’n Bill wußte, wie man es segeln oder rudern konnte, so wie Trot es sich wünschte.

Heute entschieden sie sich zu rudern, darum kletterte das Mädchen in den Bug und ihr Begleiter steckte sein Holzbein in die Brandung, „damit sein Fuß nicht naß wurde“ und stieß das kleine Boot ab, als er an Bord stieg. Dann ergriff er die Ruder und begann sanft zu paddeln.

„Wohin, Kommodore Trot?“, fragte er fröhlich.

„Es ist mir egal, Käpt’n. Es macht einfach Spaß, auf dem Wasser zu sein“, antwortete sie und ließ eine Hand über Bord hängen. So ruderte er um die nördliche Landzunge herum, wo die großen Höhlen lagen, und so sehr sie die Fahrt auch genossen, begannen sie doch bald die Hitze der Sonne zu spüren.

„Das ist die Totenhöhle, weil dort einmal ein Skelett gefunden wurde“, bemerkte das Kind, als sie an einem dunklen, gähnenden Rachen in der Klippe vorüberfuhren. „Und das ist die Hummelhöhle, weil die Hummeln dort oben Nester bauen. Und hier ist die Schmugglerhöhle, weil die Schmuggler darin Dinge versteckt haben.“

Sie kannte alle Höhlen gut, und Käpt’n Bill ebenfalls. Viele von ihnen öffneten sich direkt am Wasser, und es war möglich, mit ihrem Boot weit in ihre dunklen Tiefen zu rudern.

„Und hier ist die Echohöhle“, fuhr sie verträumt fort, als sie sich langsam die Küste entlang bewegten, „und die Riesenhöhle, und – oh, Käpt’n Bill! Glauben Sie, daß in dieser Höhle einmal irgendwelche Riesen waren?“

„Ich schätze, es müssen welche darin gewesen sein, Trot, sonst würde man sie nicht so nennen“, antwortete er und hielt inne, um seinen kahlen Kopf mit dem roten Taschentuch abzuwischen, während die Ruder im Wasser hingen.

„Wir waren noch nie in dieser Höhle, Käpt’n“, bemerkte sie und betrachtete das kleine Loch in der Klippe – ein Torbogen, durch den das Wasser floß. „Lassen Sie uns jetzt hineingehen.“

„Wozu, Trot?“

„Um zu sehen, ob da ein Riese ist.“

„Hm. Hast du keine Angst?“

„Nein, und Sie? Ich glaube nur nicht, daß sie groß genug ist, damit ein Riese hineinkommt.“

„Dein Vater war einmal hier drinnen“, bemerkte Käpt’n Bill, „und er sagt, daß sie die größte Höhle an der Küste ist, aber tief nach unten reicht. Sie ist voll Wasser, und das Wasser reicht bis ganz unten in den Ozean hinab, aber bei Flut kann man sich an der Höhlendecke den Kopf stoßen.“

„Es ist jetzt Ebbe“, gab Trot zurück. „Und wie könnte ein Riese darin wohnen, wenn die Decke so niedrig ist?“

„Nun, das könnte er nicht, meine Kleine. Ich denke, daß man sie Riesenhöhle genannt haben muß, weil sie so groß ist, und nicht, weil irgendein riesiger Mann dort gelebt hat.“

„Gehen wir hinein“, sagte das Mädchen wieder. „Ich würde sie gerne erkunden.“

„In Ordnung“, antwortete der Seemann. „Dort drinnen wird es kühler sein als hier draußen in der Sonne. Wir werden nicht sehr weit gehen, denn wenn sich die Gezeiten ändern, könnten wir vielleicht nicht wieder herauskommen.“ Er nahm die Ruder auf und ruderte langsam auf die Höhle zu. Der schwarze Torbogen, der ihren Eingang markierte, schien zuerst kaum groß genug, um das Boot hindurchzulassen, aber als sie näher kamen, wurde die Öffnung größer. Das Meer war hier sehr ruhig, denn die Landzunge schützte es vor der Brise.

„Paß auf deinen Kopf auf, Trot!“, warnte Käpt’n Bill, als das Boot langsam in den Felsenbogen fuhr. Aber es war der Seemann, der sich statt des kleinen Mädchens ducken mußte. Allerdings nur für einen Moment. Gleich hinter der Öffnung war die Höhle höher, und als das Boot in das dunkle Innere glitt, fanden sie sich auf einem ziemlich ausgedehnten Meeresarm wieder. Eine Zeitlang sprach keiner von ihnen, und nur das leise Plätschern des Wassers an den Bootswänden war zu hören. Ein schöner Anblick traf die Augen der beiden Abenteurer und hielt sie stumm vor Erstaunen und Entzücken.

Es war nicht dunkel in dieser ausgedehnten Höhle, doch schien das Licht von unterhalb des Wassers zu kommen, das überall um sie herum in einer exquisiten Saphirfarbe leuchtete. Wo die kleinen Wellen an den Seiten der Felsen emporkrochen, leuchteten sie wie glitzernde Juwelen, und jeder Tropfen Gischt schien ein Edelstein zu sein, der eine Königin ausstatten konnte. Trot stützte ihr Kinn auf ihre Hände und ihre Ellbogen auf ihren Schoß und betrachtete diesen bezaubernden Anblick mit großem Vergnügen. Käpt’n Bill zog die Ruder ein und ließ das Boot treiben, während er ebenfalls stillsaß und die Szene bewunderte.

Langsam kroch das kleine Gefährt weiter und weiter in das trübe Innere der riesigen Höhle, während seine beiden Passagiere sich an den ständig offenbarten Schönheiten kaum sattsehen konnten. Sowohl der alte Seemann als auch das kleine Mädchen liebten den Ozean in all seinen verschiedenen Stimmungen. Für sie war er ein ständiger Begleiter und ein idealer Kamerad. Wenn er stürmte und tobte, lachten sie vor Freude; wenn er große Brecher gegen die Küste warf, klatschten sie freudig in ihre Hände; wenn er schlummernd zu ihren Füßen lag, hätschelten sie ihn, aber sie liebten ihn immer.

Hier war das Meer noch Meer. Es war unter die Kuppel aus überhängendem Fels gekrochen, um sich von Saphiren gekrönt und in ein azurblaues Gewand gekleidet zu zeigen, und in dieser Gestalt neue und unerwartete Reize zu offenbaren. „Guten Morgen, Mayre“, sagte eine freundliche Stimme.

Trot fuhr zusammen und sah sich verwundert um. Neben ihr im Wasser waren kleine Wirbel – Kreise in Kreisen – wie sie entstehen, wenn etwas unter die Oberfläche sinkt. „Haben – haben Sie das gehört, Käpt’n Bill?“, flüsterte sie ehrfürchtig.

Käpt’n Bill antwortete nicht. Er starrte mit weit aufgerissenen Augen auf eine Stelle hinter Trots Rücken, und er zitterte ein wenig, als ob er fröre. Trot drehte sich um, und dann erstarrte sie auch. Aus dem blauen Wasser erhob sich ein wunderschönes Gesicht, um das eine Masse langer, blonder Haare schwebte. Es war ein süßes, mädchenhaftes Gesicht mit Augen, die so tiefblau waren wie das Wasser und mit roten Lippen, deren zartes Lächeln zwei Reihen perlengleicher Zähne entblößte. Die Wangen waren mollig und rosig, die Brauen fein gezeichnet, während das Kinn rundlich war und ein hübsches Grübchen hatte.

„Das Allerschönste auf der ganzen Welt“, murmelte Käpt’n Bill mit einer Stimme, aus der man den Schrecken heraushörte, „und niemand hat je überlebt, um – um davon zu erzählen!“

Darüber erscholl ein fröhliches Gelächter, ein Gelächter, das durch die Höhle perlte und widerhallte. Gleich neben Trot erschien ein neues Gesicht, das noch schöner war als das erste, mit einer Fülle brauner Haare, die die schönen Züge umgaben. Und die Augen lächelten freundlich in die des Kindes. „Sind Sie eine – eine Meerjungfrau?“, fragte Trot neugierig. Sie hatte keine Angst. Sie schienen beide sowohl sanft als auch freundlich zu sein.

„Ja, Liebes“, war die sanfte Antwort.

„Wir sind alle Meerjungfrauen!“, rief ein lachender Chor, und hier und da, überall um das Boot herum, erschienen wunderschöne Gesichter, die gerade aus der Oberfläche des Wassers lugten.

„Sind Sie auch Fische?“, fragte Trot, sehr erfreut über diesen wunderbaren Anblick.

„Nein, wir sind alle Meerjungfrauen“, antwortete die Braunhaarige. „Die Fische sind teilweise wie wir, weil sie im Meer leben und sich bewegen müssen. Und du bist auch teilweise wie wir, liebe Mayre, aber du hast unbequem steife Beine, damit du auf dem Land gehen kannst. Aber die Meerjungfrauen lebten schon vor den Fischen und den Menschen, also haben beide etwas von uns übernommen.“

„Dann müssen Sie Feen sein, wenn Sie schon immer gelebt haben“, bemerkte Trot und nickte weise.

„Das sind wir, Liebes. Wir sind die Wasserfeen“, antwortete die mit den blonden Haaren, kam näher und erhob sich, bis ihr schlanker, weißer Hals deutlich hervortrat.

„Wir – wir sind verloren, Trot!“, seufzte Käpt’n Bill mit einem blassen, kummervollen Gesicht.

„Das glaube ich nicht, Käpt’n“, antwortete sie ruhig. „Diese hübschen Meerjungfrauen werden uns keinen Schaden zufügen, da bin ich mir sicher.“

„Gewiß nicht“, sagte die, die zuerst gesprochen hatte. „Wenn wir so böse wären, euch Schaden zufügen zu wollen, könnte unsere Magie euch ebenso leicht an Land erreichen wie in dieser Höhle. Aber wir lieben kleine Mädchen sehr und möchten ihnen nur Gutes tun und ihr Leben glücklicher machen.“

„Ich glaube euch!“, rief Trot ernst.

Käpt’n Bill stöhnte.

„Rate einmal, warum wir dir erschienen sind“, sagte eine andere Meerjungfrau, die an die Seite des Bootes schwamm.

„Warum?“, fragte das Kind.

„Wir haben dich gestern sagen gehört, daß du gerne eine Meerjungfrau sehen würdest, und so haben wir beschlossen, dir deinen Wunsch zu erfüllen.“

„Das war wirklich nett von Ihnen“, sagte Trot dankbar.

„Außerdem haben wir all die dummen Dinge gehört, die Käpt’n Bill über uns gesagt hat“, bemerkte der Braunhaarige lächelnd, „und wir wollten ihm beweisen, daß sie falsch sind.“

„Ich habe nur gesagt, was ich gehört habe“, protestierte Käpt’n Bill. „Ich habe noch nie zuvor eine Meerjungfrau gesehen, ich konnte es nicht genau wissen, und ich hätte nie gedacht, daß ich einmal eine sehen und es überleben würde, um davon zu erzählen.“

Wieder hallte die Höhle von fröhlichem Gelächter wider, und als es verstummte, sagte Trot: „Darf ich bitte Ihre Schuppen sehen? Und sind sie grün und lila und pink, wie Käpt’n Bill gesagt hat?“ Sie schienen unentschlossen, was sie dazu sagen sollten, und schwammen ein Stück weit weg, wo die schönen Köpfe eine Gruppe bildeten, die entzückend anzusehen war. Wahrscheinlich besprachen sie sichmiteinander, denn die braunhaarige Meerjungfrau kam bald wieder an die Seite des Bootes und fragte:

„Möchtest du unser Königreich besuchen und all die Wunder sehen, die tief unten im Meer existieren?“

„Ich würde gerne“, antwortete Trot prompt, „aber das könnte ich nicht. Ich würde ertrinken.“

„Darauf kannst du wetten!“, rief Käpt’n Bill.

„Aber nein“, sagte die Meerjungfrau. „Wir würden euch beide zu den Unsrigen machen, und dann könntet ihr genauso mühelos im Wasser leben wie wir.“

„Ich weiß nicht, ob ich das möchte“, sagte das Kind, „zumindest für immer.“

„Du brauchst nicht einen Moment länger bei uns zu bleiben, als du möchtest“, erwiderte die Meerjungfrau und lächelte, als ob die Bemerkung sie amüsierte. „Wann immer du nach Hause zurückkehren möchtest, versprechen wir dir, dich wieder an diesen Ort zu bringen und dir dieselbe Gestalt wiederzugeben, die du jetzt hast.“

„Hätte ich einen Fischschwanz?“, fragte Trot ernsthaft.

„Du hättest den Schwanz einer Meerjungfrau“, war die Antwort.

„Welche Farbe hätten meine Schuppen – rosa oder lila?“

„Du darfst die Farbe selbst wählen.“

„Paß auf, Trot!“, sagte Käpt’n Bill aufgeregt. „Du denkst doch nicht darüber nach, etwas so Dummes zu machen, oder?“

„Natürlich tue ich das“, erklärte das kleine Mädchen. „Wir bekommen nicht jeden Tag solche Einladungen, Käpt’n, und wenn ich jetzt nicht gehe, werde ich vielleicht nie erfahren, wie die Meerjungfrauen leben.“

„Was mich angeht - mir ist es egal, wie sie leben“, sagte Käpt’n Bill. „Ich möchte nur, daß sie mich am Leben lassen.“

„Es besteht keine Gefahr“, beharrte Trot.

„Das habe ich schon oft gehört. Das sagten all die anderen Leute, als sie nach den Meerjungfrauen tauchten und ertranken.“

„Wer?“, fragte das Mädchen.

„Ich weiß nicht wer, aber ich habe gehört...“

„Sie haben gehört, daß niemand jemals eine Meerjungfrau gesehen und es überlebt hat“, sagte Trot.

„Um davon zu erzählen“, fügte er hinzu und nickte. „Und wenn wir hinuntertauchen, werden wir das nicht überleben.“

Alle Meerjungfrauen lachten darüber, und die Braunhaarige sagte: „Nun, wenn Sie sich fürchten, so kommen Sie nicht mit. Sie können Ihr Boot aus dieser Höhle rudern und uns nie wiedersehen, wenn Sie das möchten. Wir haben nur gedacht, es würde der kleinen Mayre gefallen und wären bereit, ihr die Sehenswürdigkeiten unseres schönen Zuhauses zu zeigen.“

„Ich würde sie auf jeden Fall gern sehen“, sagte Trot mit vor Vergnügen blitzenden Augen.

„Ich auch“, gab Käpt’n Bill zu, „wenn wir überleben würden, um davon zu erzählen.“

„Glauben Sie uns nicht?“, fragte die Meerjungfrau, richtete ihre schönen Augen auf die des alten Seemanns und lächelte freundlich. „Fürchten Sie, daß Sie uns nicht darin vertrauen können, daß wir Sie sicher zurückbringen?“

„N-n-nein“, sagte Käpt’n Bill, „das ist es nicht. Ich muß auf Trot aufpassen.“

„Dann werden Sie mit mir kommen müssen“, sagte Trot entschieden, „denn ich werde diese Einladung annehmen. Wenn Sie nicht mitkommen wollen, Käpt’n Bill, gehen Sie nach Hause und erzählen Mutter, daß ich die Meerjungfrauen besuche.“

„Sie würde mich umbringen!“, stöhnte Käpt’n Bill schaudernd. „Ich schätze, ich versuche es doch mit dem Besuch da unten.“

„In Ordnung, ich bin bereit, Fräulein Meerjungfrau“, sagte Trot. „Was soll ich tun? Einfach hineinspringen, mit meinen Kleidern und allem?“

„Gib mir deine Hand, Liebes“, antwortete die Meerjungfrau und hob einen schönen weißen Arm aus dem Wasser. Trot nahm die schlanke Hand und fand sie warm und weich und kein bißchen ‚fischig‘.