McKinsey kommt Molières Tartuffe - Rolf Hochhuth - E-Book

McKinsey kommt Molières Tartuffe E-Book

Rolf Hochhuth

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Beschreibung

»Der Mann hat ein Gespür für Themen …« Marcel Reich-Ranicki »Der Mann hat ein Gespür für Themen …« Marcel Reich-Ranicki Über vier Millionen Arbeitslose in Deutschland. Das ist ein Skandal. Und Rolf Hochhuth gehört nicht zu denen, die wegschauen. Bankvorstände, die zweistellige Millionengehälter einstreichen, Milliardengewinne erzielen und Tausende auf die Straße setzen, sind ihm ein Greuel. Und das sagt er auch. Den Mächtigen, die seine Kritik trifft, ist das sehr peinlich – und ihren feinsinnigen Freunden in der Kulturindustrie natürlich erst recht. Das Ergebnis solcher Konflikte findet sich in diesem Band: ein kleines Gedicht von 16 Zeilen, ein Schauspiel, das vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe endet, und ein zweites, das an die Zensur zu Zeiten von Molière erinnert.

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Rolf Hochhuth

McKinsey kommt / Molières Tartuffe

Zwei Theaterstücke

Mit einem Essay von Gert Ueding

Deutscher Taschenbuch Verlag

Originalausgabe 2003© Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.Rechtlicher Hinweis §44 UrhG: Wir behalten uns eine Nutzung der von uns veröffentlichten Werke für Text und Data Mining im Sinne von §44 UrhG ausdrücklich vor.

eBook ISBN 978-3-423-40107-4 (epub) ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-13134-6

Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher sowie Themen, die Sie interessieren, finden Sie auf unserer Website www.dtv.de

Inhaltsübersicht

McKinsey kommt: Schauspiel in fünf Akten mit fünf Epilogen

ERSTER AKT Mercedes kauft die Oerlikon-Waggonfabrik

ZWEITER AKT Rausgeworfene I

DRITTER AKT »Global Player« beim »Medientraining«

VIERTER AKT Rausgeworfene II

FÜNFTER AKT Aktien steigen, wenn Arbeitnehmer fallen

Molières Tartuffe: Schauspiel in drei Akten

ERSTER AKT

ZWEITER AKT

DRITTER AKT

Gert Ueding: Griff in die Zeit

McKinsey kommt

Schauspiel in fünf Akten mit fünf Epilogen

Vier Millionen

– arbeitslos: Doppelt so hoch die Gewinne,

dank »Effizienz« nur halb so vieler Jobs:

So zynisch ist’s im Sinne

der Bosse, die rationalisieren – ob’s

auch den Staat erdrückt,

allein die Last der Outcasts zu tragen.

Kein Gewissen, die Herren, die beglückt

freistellen statt – rauswerfen sagen.

Personen in Auftrittsfolge und Doppelbesetzungen

ERSTER AKT

Mercedes kauft die Oerlikon-Waggonfabrik

HILDE ZUMBUSCH: auch Gräfin

KURT: auch Brown

GROSSVATER: auch Vorsitzender

ENKELIN: auch Petentin

ZWEITER AKT

Rausgeworfene I

HERTA: auch Richterin

INGE: auch Demonstrantin

DRITTER AKT

»Global Player« beim »Medientraining«

PRÄSIDENT:  auch Schulze-Memmingen

BROWN: auch Kurt

MEDIENBERATER: auch Wetzel

GRÄFIN: auch Hilde Zumbusch

Pause

VIERTER AKT

Rausgeworfene II

WALTER

CHRISTA

FRANZ

FÜNFTER AKT

Aktien steigen, wenn Arbeitnehmer fallen

VORSITZENDER: auch Großvater

RICHTERIN: auch Herta

RICHTER: auch Kurt

HILDE ZUMBUSCH: auch Gräfin

SCHULZE-MEMMINGEN: auch Präsident

PETENTIN: auch Enkelin

WETZEL: auch Medienberater

BERICHTERSTATTER

ZUSCHAUER

Der Regisseur entscheide, ob er die fünf Epiloge nach dem Beispiel von ›Ende gut – alles gut‹ wie Shakespeares: ›Nachspruch, vom König gesprochen‹, jeweils ans Ende jedes Aktes setzt oder wie den Prologus vor › Troilus und Cressida‹ an den Anfang oder während des Aktes von einem der Mitspielerinnen oder Mitspieler, die aus der Szene heraustreten, an der Rampe sprechen läßt. Die Epiloge sollen von einem der an der Szene Beteiligten gesprochen werden. Eventuell auch zur Überbrückung des Umbaus vor geschlossenem Vorhang. Jeden der fünf Nachsprüche spricht ein Arbeitsloser...

ERSTER AKT

Mercedes kauft die Oerlikon-Waggonfabrik

»...unsere Demokratie, die an einem schweren Geburtsfehler leidet: sie bestimmt nur die staatliche, nicht auch die wirtschaftliche Ordnung. Demokratie impliziert Gleichheit der Rechte. Die Bürgerinnen und Bürger sind jedoch nur vor den staatlichen Gesetzen gleich, vor den ›Gesetzen‹ einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung sind sie jedoch krass ungleich. Hier entscheidet nicht die Mehrheit, sondern das Eigentum. Deshalb war unsere bürgerliche Demokratie von allem Anfang an nur eine halbe. Und diese Hälfte schrumpft zusehends, je mehr die undemokratische Wirtschaft die demokratische Politik dominiert.«

Arnold Künzli in der ›Basler Zeitung‹ vom 20.9.1996

»Stellen Sie sich vor, Coop und Migros würden fusionieren. Kein Mensch käme auf die Idee zu behaupten, damit entstünde mehr Wettbewerb, das Gegenteil träfe zu. Mit Fusionen werden Konkurrenten beseitigt. Hält der Trend an, wird der Kapitalismus am Schluss seine eigene Marktwirtschaft killen. Sie wird mangels frischer Wettbewerbsluft ersticken.

Am Fusionshochzeitstag lachten die United Banks Switzerland-Mächtigen, wo immer sie gefilmt oder fotografiert worden waren, ihre unbändige Freude ins Publikum. Dabei kostet die Fusion 13000Arbeitsplätze oder vielleicht noch mehr, davon 7000 in der Schweiz. Seither beschäftigt mich der Gedanke, weshalb die Herren sich nicht einmal bemühten, zumindest so etwas wie Betroffenheit zu mimen. Sind sie herz- und gefühllos? Das würden beide bestimmt bestreiten. Meine Erklärung: Das System zwingt sie zum Erfolg um jeden Preis – was immer Erfolg bedeuten mag.«

Helmut Hubacher in der ›Basler Zeitung‹ vom 9.1.1998

Im ICE, zweite Klasse. Zwei oder drei – je nach Breite der Bühne – der großen Fenster, vor denen je ein Tisch mit je vier Plätzen an jeder seiner Längsseiten. Am mittleren allein sitzen Hildegard und Kurt sich gegenüber. Die Rampe begrenzt den (zu schmalen) Gang durch den Waggon, das heißt: Die Sessel der Reisenden stehen so nahe wie möglich an der Rampe, fast so nah wie der Souffleurkasten.

Das sanfte Rauschen des schönen Zuges lenkt gar nicht vom Dialog ab; auch nicht der – oft grandiose – Landschaftsfilm bei machtvollem Sonnenlicht, der hinter den Fenstern abrollt, so daß die Illusion erweckt wird, man fahre in Höchsttempo auf der reizvollen Strecke Basel– Karlsruhe. Die Schnelligkeit, mit der die schwarzwaldnahen Hügel, Felder, Weinberge, Weiden, Wälder, Ortschaften zwischen Freiburg und Baden-Baden vorübergehen und zurückbleiben, verhindert, sich auf sie als einzelne einzulassen; das heißt, durch sie dekonzentriert zu werden. Das betrifft ebenso die zwei, die hier reden und einander zuhören, wie die Zuschauer.

Wo das Theater Geld genug hat, kann ein Mitfahrer, können auch mehrere Statisten an dem Tisch (oder an den zwei Tischen) gezeigt werden, die links und rechts neben dem hier mittleren Tisch noch zu sehen sind... lesende Statisten oder auch ein schlafender, auch ein rauchender... vor allem zwei mit Kopfhörern, Musikkonsumenten. Ein Buch, selbstverständlich, lesen wenige, höchstens Zeitung... auch einer oder einige durch den Waggon Gehende, Frauen wie Männer.

HILDE, Ende Vierzig, elegantes mohnrotes Reisekostüm, Rock. Sie lacht: Wieso sollte es mich stören – rieche sogar gern Rauch im Haar meines Freundes...

KURT, etwa fünfzig, unterwegs zu seinem Arbeitsplatz als Bundesrichter. Er lacht: Meine Schadenfreude war unzähmbar, daß die Grünen aus Landtagen rausgeflogen sind, nach ihrer Forderung, Benzin müsse das Doppelte kosten! Daß auch kleine Leute Auto fahren wollen, ja müssen, ist diesen Ökofundis ein wildfremder Gedanke.

HILDE: Auch wirtschaftlich blöde: Schon vor dreißig Jahren lebte jeder sechste Deutsche von der Autoindustrie oder ihren Zulieferern.

KURT, der seine Pfeife gestopft und angezündet hat: Ein kolossaler Erfolg für Sie, Hilde, daß die Regierungshörigen in Karlsruhe gezwungen waren, Ihre Verfassungsklage überhaupt anzunehmen – Ihr persönlicher Sieg!

HILDE: Meine Argumente enthalten keinen Vorwurf; wie ein Lebewesen abstirbt, so die Verfassung: Die vor einem halben Jahrhundert das Grundgesetz schrieben, können in ihrer Angst vor einer neuen politischen Diktatur eine wirtschaftliche überhaupt nicht im Blick gehabt haben, denn die Wirtschaft lag in Trümmern...

KURT, nickt amüsiert, lacht: Jede Generation starrt kurzsichtig auf das, was ihr auf den Nägeln brennt. Die 1948 dem Volk das Plebiszit verwehrten, fürchteten, Volksabstimmungen machten geneigt, Diktaturen zu errichten!

HILDE, lacht ihn aus: Sie werden doch nicht geglaubt haben, die hätten das ehrlich gemeint! Einige hatten doch persönlich fünfzehn Jahre früher dem Hitler sein Ermächtigungsgesetz beschert und setzten die Lüge in die Welt, das Volk habe den Führer gemacht. Kurt nickt ernst.

HILDE, wieder ihr ansteckendes Lachen, das sie charakterisiert: So auch mit der Fünf-Prozent-Klausel: Nur Jaspers – ein Philosoph! hat rebelliert als einziger, daß die Fünf-Prozent- Klausel nachträglich ins Grundgesetz reingemogelt wurde.

LAUTSPRECHER DES ICE: Verehrte Fahrgäste, wir erreichen in wenigen Minuten Offenburg. Dort haben Sie 11Uhr 58Anschluß an einen InterRegio nach Hausach, Hornberg, Triberg und Villingen, Bahnsteig drei.

KURT: Ja, der Jaspers. Gäb’s die Klausel nicht, wäre Ihre Partei längst im Bundestag! Dann könnten die Arbeitslosen mitreden, statt daß nur über sie geredet wird.

Geräusch des bremsenden, in den Bahnhof einfahrenden, ziemlich abrupt haltenden Zuges, dann der sich öffnenden Türen.

HILDE: Das Grundgesetz ist veraltet, weil es zwar regelt, daß wir allein vor dem Gesetz gleich sind. Nicht aber vor der Wirtschaft, die heute jeden viel stärker im Griff hat. Alle dreißig Jahre sind andere Mächte obenauf. Wenn Don Carlos ausruft: ›Geben Sie Gedankenfreiheit!‹ war das todesmutig in seiner Zeit. Zweihundert Jahre später müßte er rufen: Zähmt die Wirtschaft!

KURT, lacht: Don Carlos hätte es aber heute schwerer als der frühere, weil die Mächte nicht mehr nur einen Kopf haben, wie damals der König von Spanien, heute ist die Macht: Banken und Konzerne – eine Hydra, der einzelne wehrloser.

HILDE: Meinte schon Voltaire: Er werde lieber von einem Löwen regiert als von zweihundert Ratten! Bin neugierig, wir haben nun als Finanzminister einen Sozi, wird der verhindern, daß weiterhin Mercedes null Gewinnsteuern zahlt?

KURT: »Verhindern«? – Erst der Sozi hat’s doch ermöglicht: hat Mercedes erlaubt, weil die Chrysler kauften, Verlustvorträge bis zu 11Milliarden zu konstruieren! Noch Jahre keinen Pfennig Steuer zu zahlen, völlig pervers: Mercedes hat einen Milliardenkonzern dazugewonnen, doch darf das verbuchen als Verlust – während jeder einzelne, der auch nur das Haus seiner Eltern erbt, dafür natürlich Steuern zahlt.

Die ›Stuttgarter Zeitung‹ meldete am 17.3.1999: »Detaillierte Angaben über die Steuerzahlungen von Daimler-Chrysler in den letzten Jahren sind nicht zu erhalten.

Der Verlustvortrag von 11,9Milliarden DM (1997) wurde im Zuge der Fusion mit Chrysler aufgelöst und auf zukünftige Jahre verteilt, so daß er weiterhin steuerlich genutzt werden kann.«

HILDE, nickt: Der Witz, Sindelfingen einst die reichste Gemeinde, weil da neben Mercedes auch IBM noch sitzt, wurde zu einer armen, weil die zwei Giganten ihre Milliardengewinne nicht versteuern!

Ein Mann, etwa siebzig, und seine etwa zwanzigjährige Enkelin sind zugestiegen – man hört die Türen sich automatisch schließen. Sie belegen die vier Sessel nebenan mit sich und ihrem Gepäck, ohne die Sprechenden abgelenkt zu haben.

KURT, lacht: Trifft auch auf Starnberg zu, die Gemeinde, in der die meisten Millionäre wohnen – weil die keine Steuern zahlen, ist Starnberg total verarmt. Die Millionäre haben Ostdeutschland gekauft, was sie sofort zur Hälfte von der Steuer absetzen konnten.

Der Großvater hat die ›Neue Zürcher Zeitung‹ und ›Blick‹ auf den Tisch gelegt; seine Enkelin den ›Tagesanzeiger‹ und die ›Basler Zeitung‹.

HILDE, hinter vorgehaltener Hand, leise, amüsiert: Vier Schweizer Zeitungen... erstaunlich, daß einer, der ›Blick‹ liest, auch die ›Neue Zürcher Zeitung‹ hat...

KURT: Wäre ja trostlos, wären wir Abziehbilder der Zeitungen, die wir lesen.

HILDE, lakonisch: Sind wir!

KURT, belustigt mit Kopfnicken zu den zwei Eingestiegenen: Dem Volk aufs Maul schauen, die erste Pflicht einer Parteigründerin. Hören wir also zu.

So geschieht’s: Die beiden lachen zwar, reden aber nicht mehr, sondern nehmen zur Tarnung ›FAZ‹ und ›SZ‹, die sie neben sich liegen hatten.

Prompt lohnt sich das, denn die junge, schöne Intellektuelle redet aggressiv lustig-laut, jedoch in einem sie geradezu entstellenden Schwyzerdütsch ihren in nicht ganz so kräftig ausgeprägtem Dialekt antwortenden Großvater an.

Die Schweizer lehnen ab, ihre Sprache einen Dialekt zu nennen; selbst feinste Hochschulgermanisten sprechen Schwyzerdütsch. Sie bekennen sich also, wie kein Deutscher das wagte, zu ihrem Heimatidiom besonders auch in öffentlichen Reden, weil ihnen Volksmund oder Mundart, nur von Ausländern bösartig Slang oder Jargon genannt, helfen, ihre sprachliche Minderheit im deutschsprechenden Raum gegen das sogenannte Hochdeutsch zu behaupten, das im »großen Kanton« gesprochen wird, den die meisten Schweizer so wenig mögen wie der kleinere Bruder den größeren.

Selbst Walter Muschg, der seine › Tragische Literaturgeschichte‹ und seine Essays in vorbildlicher deutscher Wissenschaftsprosa schrieb, vermochte verächtlich, weil dadurch eingeschüchtert, zu sagen – obgleich er mit Deutschen, nicht aber mit Landsleuten, höflich doch unwillig Hochdeutsch sprach: »Wissen Sie, der konnte reden wie ein Berliner – immer vorneweg mit dem Maul!« Ähnlich abfällig, auch vor allem ihrer Sprache wegen, äußerte sich Jacob Burckhardt über Berliner; er hat in Berlin studiert.

Unsere beiden Fahrgäste sprechen so ausgeprägt Schweizerdütsch wie für nichtschweizerische Deutschsprechende gerade noch verständlich.

ENKELIN, lachend, aber doch als ernster Vorwurf: Daß du dich nicht genierst, Großvater, dich öffentlich mit dem ›Blick‹ erwischen zu lassen!

GROSSVATER, ironisch: In der Wut ist ›Blick‹ gut. Reimt sich sogar! – guck dir die Visage an von diesem Berliner: Kinn wie ein Bulldozer!...

Mit diesem Satz hält er die teils blutrote Titelseite von ›Blick‹ hoch. Im Affekt wird jeder Mensch rassistisch, mindestens dann, wenn es um Geld geht und wenn Ausländer ihn entrechten.

ENKELIN: Dieser Deutsche war aber noch zartfühlend, gemessen an seinem Unterling von Mercedes, der ganze zweieinhalb Minuten, du hörst richtig, Großvater: zweieinhalb Minuten erübrigt hat, der Belegschaft in Oerlikon zu eröffnen, daß Daimler-Chrysler diese älteste Waggonfabrik der Schweiz dichtmacht und 800Leute »wegsaniert«...

GROSSVATER: Ja, hab’ ich gelesen über die Schließungen. Im Fernsehen haben sie’s nicht gezeigt: Die wußten, wie schweinisch der Auftritt dieses Deutschen ausfallen werde. Schade, die Belegschaft hat diesen Hund nicht gelyncht!

ENKELIN, lacht: Was hat Geßler getan, gemessen an dem? Geßler hat den Eidgenossen für seinen Habsburger, der übrigens Schweizer war, den Zehnten abkassiert – wer wäre heute nicht selig, er zahlte nur 10Prozent! Doch dieser Deutsche nimmt Schweizern die Existenz – folglich: warum nicht auch ihm das Leben nehmen wie Tell dem Geßler!

GROSSVATER: Bleibt ja keineswegs bei 800Entlassenen, dazu kommen 2500, die in den Zuliefererfirmen ihr Brot nicht mehr verdienen! Warum hat unsere Bahn ihre älteste Waggonfabrik vor der Schließung durch Ausländer nicht gerettet?

Sie hat, angewidert wie von ungut Riechendem, diese Zeitung hochgenommen und ihm hingehalten als Corpus delicti; Aufruf eines mit »bd.« zeichnenden Mitarbeiters, der seinen Schweizer Landsleuten zu Recht vorwirft, ohne »nationalen Stolz« bei deutschen Tochterfirmen von Daimler-Chrysler jetzt die Waggons zu bestellen, die aufgrund des Stuttgarter Machtworts in der Schweiz künftig nicht mehr gebaut werden dürfen. »Wer geohrfeigt wird, hält normalerweise nicht auch noch die andere Seite hin!« So schließt dieser vernünftige Aufruf, jene zu boykottieren, die ruchlos zwei stets schwarze Zahlen schreibende Unternehmen in den Kantonen Basel und Zürich vernichtet haben – aus Geldgier. Im Schweizer Fernsehen am Montag, 15.11.1999, in der Sendung ›Schweiz aktuell‹, wurde angedeutet, daß Daimler-Chrysler auch deshalb Oerlikon und Pratteln liquidiert habe, weil Subventionen an die Fabriken nicht länger gezahlt wurden, da die Schweiz keinen Anlaß sah, an Deutsche verkaufte Firmen zu begünstigen.

ENKELIN: Endlich wirft auch die ›NZZ‹ die Frage auf, ob ihr Politiker euch dermaßen gleichgültig verhalten dürft! Ihr könnt doch nicht zugucken – auch die Deutschen nicht, wenn jetzt Briten die feindliche Übernahme von Mannesmann betreiben!

GROSSVATER: Was nennst du ›feindliche‹ Übernahme?

ENKELIN: Wenn Ausländer einheimische Arbeitsplätze killen, um Landsleute nicht zu liquidieren bei Fusionen. Der Staat darf’s der Wirtschaft nicht allein überlassen, ob sie rentable Betriebe Ausländern verhökert!

GROSSVATER: Bist aber zu jung, gesehen zu haben, wohin Staatsdirigismus im Osten geführt hat! Wie soll der Staat mit seinem Gewissen vereinbaren, daß er die Vernichtung der Tante-Emma-Läden durch Warenhäuser ungerührt hinnimmt, weil da nur 3Personen arbeitslos werden – doch Geld einschießt, wo sonst 3000 auf der Strecke blieben? Ist der Angestellte der Swissair, zum Beispiel, wert, durch den Bundesrat gerettet zu werden, nicht aber Uhrmacher oder Metzger, deren Läden von Großen erdrückt wurden? Nein, Kind, so geht’s nicht: Die sogenannten Spitzenpolitiker müssen Steuern senken! Müssen ihre Administration reduzieren: Berlin hat 167000Verwaltungsangestellte – so viele wie Basel Einwohner!

ENKELIN: Und kein Beamter zahlt in Deutschland einen Cent für seine Pension – die einzige Kaste, die ihre vorbildliche Altersversorgung umsonst kriegt!

GROSSVATER: Ja – geschenkt aus den Steuern der Mitbürger. Warum, glaubst du, hat Onkel Erich seinen Betrieb verkauft? Weil er auf 1Million Reingewinn, wenn er keine einzige Mark davon für sich genommen hat, sondern diese Million zu 100Prozent im Betrieb weiterarbeiten lassen wollte: 66 – du hörst richtig – 66Prozent Steuern zahlen mußte...

ENKELIN: Sicher nur in Deutschland?

GROSSVATER: Zugegeben, nur in Deutschland – aber...

HILDE, die aufgestanden ist und an den Tisch der Schweizer tritt: Entschuldigen Sie, ich habe zugehört, wie nun auch die Schweiz unsere Nöte kennenlernt. Ich heiße Hilde Zumbusch, habe die Partei der Arbeitslosen gegründet – hier meine Karte. Wenn Sie auch eine haben...

GROSSVATER, steht auf, um sich vorzustellen: Stucki, Nationalrat... meine Wähler sind Berner, bitte, setzen Sie sich zu uns.

HILDE: Sie verzeihen, mußte einfach zuhören nach Ihren ersten Sätzen... Danke Ihnen.

ENKELIN: Freue mich, daß eine Parteigründerin zugunsten Arbeitsloser uns anspricht: bin auch noch ohne Job.

HILDE, geht an ihren Tisch zurück und sagt zu Stucki: Bin oft in der Schweiz, schicke Ihnen mein Partei-Programm.

GROSSVATER, ENKELIN: Danke. Immer willkommen.

KURT: Lustig, wie die Enkelin ihren Großvater wegen der ›NZZ‹ attackiert hat! Zu allen Dreien: Neulich las ich in der ›NZZ‹, führende Wallstreet-Ökonomen hätten mit einem Rückgang der Arbeitslosigkeit auf 4,8Prozent gerechnet. Da aber dann zu ihrer Überraschung doch 75000 mehr Arbeitslose zu registrieren waren, hätten die Finanzmärkte mit kräftigen Kursavancen reagiert. Im Ernst!

ENKELIN, lacht: Aktien steigen, wenn Arbeitnehmer fallen!

HILDE: George Grosz hätte unser System so niederträchtig nicht gezeichnet wie diese Verlautbarung der ›NZZ‹; Triumphgeheul über Entlassungen, weil so die Renditen steigen!

GROSSVATER: Neu ist, daß die solche Niederträchtigkeiten heute erstmals öffentlich propagieren!

LAUTSPRECHER: Verehrte Fahrgäste, unser ICE läuft in Kürze in Karlsruhe ein. Dort haben Sie 12Uhr 05 mit einem InterRegio Anschluß nach München Hauptbahnhof, über Stuttgart auf Bahnsteig sieben.

Kurt steht auf–nimmt Hildes leichten Koffer und seine schwere Ledermappe, um beides zum Ausgang zu tragen; während

HILDE, den Schweizern zunickend, sagt: Wir hören voneinander.

KURT, während er schon türwärts geht: Sie sind am Ziel: Karlsruhe.

HILDE: Nicht am Ziel. Am Anfang!

Vorhang

ENKELIN