Medienrezeptionsforschung - Helena Bilandzic - E-Book

Medienrezeptionsforschung E-Book

Helena Bilandzic

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Beschreibung

Dieses Lehrbuch bietet einen kompakten und theoretisch fundierten Einstieg in die wichtigsten Ansätze der kommunikationswissenschaftlichen Rezeptionsforschung. Im Mittelpunkt steht das Individuum, das sich einem Medium zuwendet und es nutzt – die dabei ablaufenden kognitiven, emotionalen und verhaltensbezogenen Aspekte werden systematisiert und anhand von Beispielen dargestellt. Der Rezeptionsprozess wird umfassend beleuchtet – von der Medienselektion bis hin zur Verarbeitung medialer Informationen und der Rolle der Interaktivität. Ein weiteres wichtiges Feld sind die konkreten Formen des Rezeptionserlebens, z. B. Emotionen und Stimmung, Spannung und Interesse, Identifikation und parasoziale Interaktion sowie Realismus und Unterhaltungserleben.

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Helena Bilandzic Holger Schramm Jörg Matthes

Medienrezeptionsforschung

UVK Verlagsgesellschaft mbH · Konstanz

Prof. Dr. Helena Bilandzic ist Professorin für Kommunikationswissenschaft mit dem Schwerpunkt Rezeption und Wirkung an der Universität Augsburg.

Prof. Dr. Holger Schramm ist Professor für Medien- und Wirtschaftskommunikation an der Universität Würzburg.

Prof. Dr. Jörg Matthes ist Professor für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft mit dem Schwerpunkt Werbeforschung an der Universität Wien.

Online-Angebote, elektronische Ausgaben sowie zusätzliche Materialien zum Buch sind erhältlich unter www.utb-shop.de.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

© UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz und München 2015

Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart Titelfoto: Shutterstock Druck: fgb freiburger graphische betriebe, Freiburg

UVK Verlagsgesellschaft mbH Schützenstr. 24 · 78462 Konstanz · Deutschland Tel.: 07531-9053-0 · Fax: 07531-9053-98www.uvk.de

UTB-Band-Nr. 4003ISBN 978-3-8463-4003-5

eBook-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheim

Inhalt

Vorwort

1

Einführung

1.1

Medienrezeptionsforschung als Feld

1.2

Wichtige Begriffe

1.3

Neue Medienumgebungen, neue Rezeptionsweisen?

1.4

Die Auseinandersetzung mit dem Medieninhalt

1.5

Zusammenfassung

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2

Verarbeitung von Medieninhalten

2.1

Theoretische Grundlagen von kognitiven Prozessen bei der Medienrezeption

2.2

Informationsaufnahme: Wahrnehmung und Aufmerksamkeit

2.3

Informationsverarbeitung: Speicherung und Abruf

2.4

Erinnerung, Abruf und Vergessen

2.5

Zusammenfassung

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3

Selektivität und Gratifikationen

3.1

Selektion bei der Medienrezeption

3.2

Nutzen- und Belohnungsansatz

3.3

Konsistenztheoretischer Ansatz

3.4

Zusammenfassung

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4

Interaktivität

4.1

Interaktivität bei der Medienrezeption

4.2

Verständnisse von Interaktivität

4.3

Interaktivität im Rezeptionsprozess

4.4

Zusammenfassung

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5

Involvement, Resonanz und Selbstreferenzierung

5.1

Involvement

5.2

Resonanz und Selbstreferenzierung

5.3

Zusammenfassung

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6

Emotion und Stimmung

6.1

Grundlagen

6.2

Kategorien und Dimensionen von (Medien-)Emotionen

6.3

Empathie und Spannung

6.4

Emotionale Erregung

6.5

Regulation von Stimmungen und Emotionen

6.6

Einfluss von Emotionen auf die Verarbeitung von Medieninhalten

6.7

Zusammenfassung

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7

Narratives Erleben und Präsenz

7.1

Narratives Erleben

7.2

Präsenz

7.3

Zusammenfassung

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8

Wahrnehmung von Medienfiguren

8.1

Grundlagen der Wahrnehmung von Medienfiguren

8.2

Parasoziale Interaktionen und Beziehungen mit Medienfiguren

8.3

Identifikation mit Medienfiguren

8.4.

Sozialer Vergleich mit Medienfiguren

8.5

Zusammenfassung

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9

Realitätsbezug und empfundener Realismus

9.1

Realitätsbezug des Medienproduktes: Faktualität und Fiktionalität

9.2

Empfundener Realismus

9.3

Zusammenfassung

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10

Unterhaltung und Rezeptionsvergnügen

10.1

Was ist Unterhaltung?

10.2

Unterhaltung als Erleben zwischen Überforderung und Langeweile

10.3

Unterhaltung trotz Überforderung und Belastung?

10.4

Unterhaltung als Meta- bzw. Makroemotion

10.5

Die Forschungsansätze zum Meaningful Entertainment

10.6

Zusammenfassung

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11

Verarbeitung persuasiver Kommunikation

11.1

Grundbegriffe

11.2

Heuristische und systematische Informationsverarbeitung

11.3

Urteilsbildung während oder nach der Rezeption

11.4

Abwehrverhalten bei der Medienrezeption

11.5

Zusammenfassung

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12

Soziale Dimensionen der Medienrezeption

12.1

Was sind mögliche soziale Dimensionen der Medienrezeption?

12.2

Soziale Konstellationen bei der Medienrezeption

12.3

Medienrezeption als Folge des sozialen Umfelds

12.4

Zusammenfassung

Zum Weiterlesen

13

Kulturelle und interkulturelle Dimensionen der Medienrezeption

13.1

Medienrezeption als Kulturpraktik

13.2

Medienrezeption im interkulturellen Vergleich

13.3

Zusammenfassung

Zum Weiterlesen

Literatur

Index

Vorwort

Medienrezeption hat viele Gesichter: Ein Leser liest die Tageszeitung, eine Zuschauerin sieht fern, ein User nutzt das Internet und eine Hörerin hört sich eine Sendung im Radio an. Die Trivialität und Alltäglichkeit der Situation lädt zu einer Simplifizierung ein: Es hat den Anschein, als würden die Inhalte, so wie sie angeboten werden, von den Menschen auch genau so aufgenommen, vollständig und auf die Art und Weise, wie der Medieninhalt es nahelegt. Es scheint, als würden die Inhalte von jedem Menschen gleich verstanden und behalten. Das ist ein fundamentaler Irrtum. Dass Menschen Medieninhalte nicht eins zu eins in ihrem Gedächtnis abbilden, dass sie manchen Aspekten Aufmerksamkeit schenken und anderen nicht, dass sie die Inhalte verschieden erleben und bewerten, begründet die Existenz der Medienrezeptionsforschung. Dieses Forschungsfeld untersucht die Prozesse, die während der Zuwendung zu einem Medium ablaufen; es betrachtet und systematisiert dabei die kognitiven, emotionalen und verhaltensbezogenen Aspekte, die zu unterschiedlichen Mustern in der Wahrnehmung, Interpretation und dem Erleben führen.

Die Frage, wie Medieninhalte verarbeitet und erlebt werden, ist nicht nur akademisch und grundlagenwissenschaftlich interessant. Viele Bereiche der Kommunikations- und Medienpraxis können von den Erkenntnissen der Medienrezeptionsforschung profitieren: Im Journalismus ist es etwa hilfreich, die spezifischen Mechanismen der menschlichen Informationsverarbeitung sowie der Aufmerksamkeitslenkung zu kennen, um Nachrichten und Berichte zielgruppenadäquat zu gestalten. In der Werbung ist es wichtig, die emotionalen Reaktionen eines Publikums auf das Produkt und die Werbung zu antizipieren und zu wissen, wann Widerstände bei den Konsumenten zu erwarten sind. Bei der Produktion von Fernsehserien wird interessieren, dass Zuschauerinnen und Zuschauer langdauernde Beziehungen zu Figuren aufbauen und sich Programmloyalität unter anderem aus diesem Umstand erklärt.

Dieses Lehrbuch wendet sich an BA- und MA-Studierende der Medien- und Kommunikationswissenschaft sowie andere interessierte Studierende und Forscherinnen und Forscher. Da die Medienrezeptionsforschung ein relativ junges Forschungsfeld ist, übernimmt dieses Lehrbuch auch die Funktion, das Feld zu strukturieren und eine Orientierung in der weitläufigen Forschungslandschaft zu bieten.

Das Lehrbuch ist in dreizehn Kapitel gegliedert, die die wichtigsten Themen der Medienrezeptionsforschung kompakt und für Einsteiger leicht verständlich darstellen. Die Kapitel sind jeweils Überblicke, die das Feld in seiner Entstehung, seinen Grundzügen sowie der aktuellen Forschung verorten. Zur weiteren Vertiefung sind ausgewählte Literaturhinweise mit Kommentaren angegeben. Übungsaufgaben bieten Wissens- und Transferfragen, die dem Leser und der Leserin zur Kontrolle beim Erkenntnisfortschritt dienen können. Um eine systematische Weiterrecherche zu unterstützen, stellen wir auf der Website www.utb.de/shop eine thematisch sortierte Literaturliste bereit.

Die Entstehung dieses Lehrbuches hat Rüdiger Steiner vom UVK-Verlag tatkräftig unterstützt. Wir danken ihm herzlich für seinen wertvollen Rat und seine Geduld. Unseren Probeleserinnen und -lesern, die das Projekt mit ihrer Expertise und ihrem Feedback weitergebracht haben, gilt ebenfalls besonderer Dank: Freya Sukalla, Prof. Dr. Susanne Kinnebrock und Christian Schwarzenegger. Constanze Küchler, Adina Mutter und Anna Wagner waren uns bei der formalen Bearbeitung der Kapitel eine große Hilfe.

Wir widmen dieses Buch unseren Familien, die dieses Projekt mit Wohlwollen und Toleranz begleitet haben.

Augsburg, Würzburg und Wien im Januar 2015

Helena Bilandzicv Holger Schramm

2 Verarbeitung von Medieninhalten1

Lernziele

Sie lernen die Grundlagen der Wahrnehmung, Aufmerksamkeit und Informationsverarbeitung kennen.

Sie verstehen, wie Medieninformationen abgespeichert, gelernt und abgerufen werden können.

Sie erlernen die Grundlagen für die Erklärung von verschiedenen Phänomenen bei der Rezeption von Medienbotschaften, wie die Erinnerung und das Verständnis von Nachrichten oder Spielfilmen.

2.1 Theoretische Grundlagen von kognitiven Prozessen bei der Medienrezeption

Bei der Verarbeitung von Medienbotschaften, beispielsweise bei Nachrichten oder Spielfilmen, nehmen Rezipienten in der Regel eine aktive Rolle ein. Sie selektieren wichtige Informationen von unwichtigen, integrieren die Informationen in bestehende Wissensschätze, lernen neue Informationen, speichern diese ab und können sie – unter bestimmten Bedingungen – später wieder abrufen. Aktiv bedeutet dabei nicht zwangsläufig, dass sich die Rezipienten jedes einzelnen Schrittes bewusst sind und diese willentlich beeinflussen. Viele Prozesse laufen auch ganz automatisch ab, im Grunde wie auf Autopilot. Für das Verständnis dieser grundlegenden Prozesse ist es notwendig, dass wir uns in diesem Kapitel mit den kognitiven Grundlagen der Rezeptionsforschung beschäftigen. Darunter fällt die Beschreibung des menschlichen Denkens und Verstehens bei der Nutzung von unterhaltungs- oder informationsorientierten Medienangeboten und der damit verbundenen Prozesse wie Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Informationsverarbeitung und Informationsspeicherung. Wir lernen in diesem Kapitel grundlegende Prozesse bei der Medienrezeption kennen. Viele der im Folgenden vorgestellten Konzepte und Modelle stammen aus der psychologischen Kognitionsforschung. Sie liefern einen wichtigen Hintergrund für die folgenden Kapitel in diesem Buch.

Der kognitive Apparat des Menschen

Ein Begriff, der in der Rezeptionsforschung eine sehr große Rolle spielt, ist Kognition. Unter Kognition versteht man vereinfacht die Gesamtheit der informationsverarbeitenden Prozesse und Strukturen eines intelligenten Systems (vgl. z. B. Kluwe, 2001; Wirth, 1997). Darunter fallen eine Reihe von Phänomenen wie Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Denken, Problemlösen sowie Sprachverarbeitung und Sprachproduktion. All diese Eckpfeiler sind eng miteinander verbunden. Wir können uns den Begriff Kognition im Allgemeinen als einen Prozess vorstellen, der mehrere Stufen zwischen einem Reiz und einer dadurch verursachten Reaktion beschreibt. Bezogen auf die Medienrezeption erklärt die kognitive Perspektive, wie Menschen beim Umgang mit Medien Informationen wahrnehmen, sie aufnehmen, verarbeiten, abspeichern und wieder abrufen können.

Definition: kognitive Prozesse

Unter kognitiven Prozessen bei der Medienrezeption versteht man alle informationsverarbeitenden Vorgänge, die ab der Wahrnehmung eines Reizes bis zur dadurch verursachten Reaktion ablaufen. Darunter fallen Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Denken, Problemlösen, Sprachverarbeitung und Sprachproduktion.

Seit der sogenannten kognitiven Wende in den 1970er-Jahren wird der kognitive Apparat des Menschen in der psychologischen Grundlagenforschung vereinfacht in Analogie zu einem Computer beschrieben, der Informationen aufnehmen, verarbeiten und abspeichern kann und dessen Rechenleistung begrenzt ist (vgl. Neisser, 1974; Schank & Abelson, 1977). Ausgangspunkt fast aller psychologischen Modelle des menschlichen kognitiven Apparates ist daher die Annahme, dass die Umgebung eines Organismus als interne Repräsentation abgebildet und gespeichert werden kann. Der kognitive Apparat wird dabei als ein informationsverarbeitendes System verstanden, das durch seine Sinnesorgane Informationen aufnimmt, sie in interne Repräsentationen umwandelt, sie verarbeitet, aber auch verändern und reproduzieren kann. Die Verarbeitung der wahrgenommenen Informationen – beispielsweise einer Fernsehnachricht – erfolgt dabei immer auf Basis der bisher gespeicherten Informationen bzw. des bisher vorliegenden Wissens oder der bestehenden Prädispositionen der Rezipienten.

Schon auf Basis dieser vereinfachten Vorstellung wird deutlich, dass interne Repräsentationen kein simples Abbild der Umgebungsinformation darstellen. Dies hat mindestens zwei Gründe:

Erstens operiert der kognitive Apparat hoch selektiv. Dies liegt in erster Linie daran, dass unsere Ressourcen zur Informationsaufnahme und -verarbeitung limitiert sind, wie wir später noch ausführlicher sehen werden. Das bedeutet, nur ein geringer Teil der auf uns einströmenden Informationen wird tatsächlich beachtet und weiter verarbeitet.

Zweitens hängen die Verarbeitung der einströmenden Informationen sowie die interne Repräsentation erheblich vom aktuellen Zustand des kognitiven Systems ab, also unserem Vorwissen, Einstellungen, Stimmungen, Emotionen oder unserer kognitiven Auslastung.

Abb. 2.1 zeigt das Grundmodell des kognitiven Apparates nach Wickens et al. (2004), das sich in ähnlicher Form auch bei anderen Autoren wiederfinden lässt (vgl. Kluwe, 2001; Lang, 2000). Das Modell besteht aus mehreren grundlegenden Komponenten: (1) Dem sensorischen System, das für wenige hundert Millisekunden sensorisch verfügbare Informationen abbildet; (2) der Aktivierung dieser Informationen durch unsere Wahrnehmung; (3) dem Arbeitsgedächtnis, das die Informationen beinhaltet, die zu einem bestimmten Zeitpunkt bewusst sind; (4) dem Langzeitgedächtnis als permanentem Wissensspeicher sowie (5) der Reaktionsselektion und -ausführung.

Das Schaubild zeigt einen idealtypischen Informationsverarbeitungsablauf. In einem ersten Schritt nimmt unser sensorischer Apparat auditive, visuelle, olfaktorische oder haptische Reize auf. Dieses sensorische System verfügt zwar über eine sehr hohe Kapazität, allerdings sind diese Reize nur sehr kurz verfügbar. Durch den Prozess der selektiven Aufmerksamkeit wird ein Teil dieser sensorischen Informationen für die weitere Verarbeitung ausgewählt. Nur dieser Teil gelangt dann in den Wahrnehmungsapparat. Die wahrgenommene Information kann mit dem Wissen aus dem Langzeitgedächtnis abgeglichen werden. Damit wird den eingehenden Informationen Sinn und Bedeutung verliehen.

Abb. 2.1: Grundmodell des kognitiven Apparates (vgl. Wickens et al., 2004)

Dies kann nun zu zwei unterschiedlichen Prozessen führen:

Erstens können sowohl die eingehenden Informationen als auch Informationen aus dem Langzeitgedächtnis in das Arbeitsgedächtnis übertragen werden. Hier erfolgt nun eine Verarbeitung der Information in Form von Gedanken oder Entscheidungen. Am Ende dieses Prozesses steht die Reaktionsselektion bzw. die Reaktionsausführung. Zudem kann die Information im Langzeitgedächtnis gespeichert werden. Beispielsweise registrieren die Rezipienten beim Schauen eines Werbeblocks im Kino eine Vielzahl von Werbeinformationen. Ein Teil dieser Informationen gelangt in den Wahrnehmungsapparat, beispielsweise Informationen über den Geschmack eines neuen Softdrinks. Diese Information wird vor dem Hintergrund des bereits bestehenden Wissens über Softdrinks eingeordnet und im Gedächtnis abgespeichert. Für diesen Prozess können die Rezipienten je nach Situation und Schwierigkeit der Informationen geringe oder hohe Aufmerksamkeitsressourcen investieren. Schließlich gelangen die Rezipienten zu der Entscheidung, den Drink einmal zu probieren und setzen dies ggfs. später auch um.

Zweitens kann eine direkte Reaktionsselektion und -ausführung erfolgen, ohne dass eine weitergehende Verarbeitung im Arbeitsgedächtnis erfolgt. Dies wären automatische Reaktionen und Handlungen, über die Rezipienten nicht weiter nachdenken. Beispielsweise kann bei Werbebotschaften das Markenimage verbessert werden, ohne dass die Rezipienten dies bemerken und ohne dass sie kognitive Ressourcen investieren (vgl. z. B. Schemer, Matthes, Wirth & Textor, 2008). Auch die sogenannte implizite Urteilsbildung, die wir später kennen lernen werden, beschreibt einen solchen Prozess.

Zusammenfassend zeigt das Modell alle wichtigen Eckpunkte im Informationsverarbeitungsprozess, die wir im Folgenden etwas genauer unter die Lupe nehmen werden. Entscheidend an diesem einfachen Modell ist, dass die Prozesse nicht immer von links nach rechts ablaufen müssen. Der Prozess kann vielmehr an jedem Punkt des Modells gestartet werden.

2.2 Informationsaufnahme: Wahrnehmung und Aufmerksamkeit

Warum übersehen Rezipienten in einem Medienangebot bestimmte Einzelheiten, und warum fällt es den Rezipienten schwer, ihre Aufmerksamkeit mehreren Reizquellen gleichzeitig zu widmen? Um diese Fragen zu beantworten, müssen wir uns mit zwei grundlegenden Phänomenen beschäftigen, die bei allen Rezeptionsphänomenen eine wichtige Rolle spielen: Wahrnehmung und Aufmerksamkeit.

2.2.1 Wahrnehmung

Wahrnehmung ist ein grundlegender und essentieller Prozess im menschlichen Organismus. Sie umfasst nicht nur haptische, visuelle, auditive, olfaktorische oder gustatorische Reize, sondern auch die Wahrnehmung des Körpers sowie die Wahrnehmung von Sprache und Zeit (vgl. für einen umfassenden Überblick Hagendorf, Krummenacher, Müller & Schubert, 2011). Nicht all dies ist für die Rezeptionsforschung von Belang. Entscheidend ist an dieser Stelle die grundlegende Feststellung, dass Wahrnehmungsprozesse gegenüber bewussten, willentlichen Eingriffen weitgehend abgeschottet sind; sie verlaufen schnell und ermöglichen damit eine optimale Anpassung an die physikalische Umwelt. Demgegenüber sind Denkprozesse verhältnismäßig langsam und auch der bewussten Kontrolle zugänglich (vgl. Lang, 2000; Wirth, 1997). Zudem haben wir bereits weiter oben festgestellt, dass die menschliche Wahrnehmung nicht als ein Abbild der Umwelt im Sinne einer physikalisch korrekten Beschreibung verstanden werden kann. Menschen stehen nur eine begrenzte Anzahl von Sinnesorganen zur Verfügung. Das bedeutet, dass nicht alle physikalischen Reize für uns wahrnehmbar sind. Neben den Begrenzungen infolge der beschränkten Leistungsfähigkeit unserer Sinnesorgane gibt es noch einen anderen Grund, warum wir nicht alle Reize wahrnehmen können: die Aufmerksamkeit, mit der wir unsere Umgebung (wie beispielsweise Medienbotschaften) betrachten.

2.2.2 Aufmerksamkeit

In der Regel werden zwei zentrale Funktionen von Aufmerksamkeit unterschieden (vgl. im Folgenden Wirth, 2001): Erstens die Selektion von relevanten Informationen aus einer Fülle von Reizen und zweitens der Abgleich von einströmenden Informationen mit bestehenden Wissensbeständen, damit wir aus einer Flut von Reizen Bedeutung generieren können. Aufmerksamkeit wird dabei meist als ein Wechselspiel zwischen dem willentlichen Lenken auf Umweltreize und dem unwillkürlichen Generieren von Aufmerksamkeit durch Umweltreize verstanden.

Merksatz

Die Wahrnehmung des Menschen verläuft in der Regel schnell und automatisch. Demgegenüber sind Denkprozesse verhältnismäßig langsam und der bewussten Kontrolle zugänglich.

Man unterscheidet willkürliche und unwillkürliche Aufmerksamkeit. Die willkürliche Aufmerksamkeit (auch Top-down-Processing) ist durch das Vorwissen, die Erwartungen oder die Einstellungen der Rezipienten geprägt. Die unwillkürliche Aufmerksamkeit (auch Bottom-up-Processing) richtet sich nach den Eigenschaften der Medienstimuli. Sie wird auch als datengeleitete Informationsverarbeitung bezeichnet.

Willkürliche und unwillkürliche Aufmerksamkeit

Beispielsweise können wir bei der Medienrezeption gezielt unsere Aufmerksamkeit auf eine Nachrichtenbotschaft lenken, die die vermittelten Informationen vor dem Hintergrund bestehender Wissensbestände einordnet und abspeichert (vgl. das Grundmodell des kognitiven Apparates in Abb. 2.1). Dies nennt man kontrollierte oder willkürliche Aufmerksamkeit (vgl. im Folgenden Wirth, 2001; siehe auch Kahneman, 1973; Neisser, 1974). Solche kontrollierten Aufmerksamkeitsprozesse sind uns bewusst und sie beanspruchen kognitive Kapazitäten. Allerdings können sie durch ständige Wiederholung automatisiert werden, so dass sie zu einem späteren Zeitpunkt schneller und mit geringerem kognitivem Aufwand ablaufen. Beispielsweise müssen sich Spieler von Computerspielen zu Beginn eines neuen Spiels stark auf die Schlüsselreize des Spiels konzentrieren. Nach entsprechender Übung ist dies nicht mehr notwendig, so dass die Spieler automatisch und ohne starke willentliche Anstrengung reagieren können.

Oder wir werden zum Beispiel im Fernsehen mit Werbung konfrontiert, in der plötzlich für uns interessante Bilder gezeigt werden. Als Folge lenken wir – gewissermaßen als Reaktion auf die Werbereize – unsere Aufmerksamkeit auf den Inhalt der Werbung. Dies fällt unter die Rubrik unwillkürliche bzw. automatische Aufmerksamkeit. Unwillkürliche Aufmerksamkeitsprozesse sind uns zwar bewusst, sie verlaufen jedoch unkontrolliert und werden durch Umweltreize ausgelöst. Sie sind gewissermaßen von außen gesteuert. Das bedeutet: Unsere Aufmerksamkeit wird unwillkürlich geweckt durch auffällige Reize oder Objekte, beispielsweise Farben, Bewegungen oder Geräusche. Diese Reize erwecken unsere Aufmerksamkeit, ohne dass wir das bewusst steuern können. Willkürliche und unwillkürliche Aufmerksamkeit werden häufig auch als Top down und Bottom up bezeichnet. Das Top-down-Processing beschreibt jene Informationsverarbeitung, die durch das Vorwissen, die Erwartungen oder die Einstellungen der Rezipienten gesteuert wird. Das Bottom-up-Processing bezeichnet die datengeleitete Informationsverarbeitung, die sich nach dem Stimulus richtet. Zudem bestehen beim Menschen sogenannte latente Aufmerksamkeitsdispositionen, die aktiviert werden, wenn wir mit bestimmten Reizen konfrontiert werden. Interessieren wir uns beispielsweise aufgrund unserer persönlichen Situation generell stark für das Thema Kinderbetreuung, so ist die Wahrscheinlichkeit, dass uns dieses Thema im Fernsehen auffällt, größer als bei geringem Interesse, selbst wenn wir das Geschehen auf dem Bildschirm nur nebenbei verfolgen.

Wenn wir nun bei der unwillkürlichen Aufmerksamkeit den Reizen folgen, wie können wir dann aus der Flut von Informationen bei der Medienrezeption Sinnvolles von Unwichtigem unterscheiden? Zur Beantwortung dieser Frage wird in der Regel auf drei Mechanismen verwiesen (vgl. Wirth, 2001).

Zum Ersten gibt es beim Menschen latente Selektionsdispositionen, die in angeborenen Reflexen oder grundlegenden Bedürfnissen verankert sind. Beispielsweise ist davon auszugehen, dass Rezipienten bei Werbeplakaten ihre Blicke stärker auf Personen richten als auf Gegenstände. Auch sexuelle Reize lösen reflexartige Reaktionen aus, was die Aufmerksamkeit auf diese Reize lenkt.

Zweitens lösen überraschende oder potenziell bedrohliche Reize eine Orientierungsreaktion aus. Solche Reize können Normverletzungen, Regelbrüche oder auch akustische oder visuelle Pegelsprünge wie z. B. laute Schreie oder Lichtveränderungen sein. Als Folge werden sensorisch die Rezeptorschwellen gesenkt, was die Wahrnehmungsempfindlichkeit unseres Informationsverarbeitungssystems erhöht. Auch tritt eine Verlangsamung der Herzfrequenz für vier bis sechs Sekunden ein (vgl. Lang, 2000). Besonders intensive oder bedrohliche Reize lösen jedoch keine Orientierungsreaktion mehr aus, sondern eine Schreck- oder Abwehrreaktion. Denken wir beispielsweise an einen Horrorfilm, in dem eine ruhige, beschauliche Szene abrupt durch ein schreckliches Szenario unterbrochen wird. Nicht selten wenden wir hier – zumindest zunächst – die Augen ab.

Drittens lässt sich mit dem Priming