Meer geht immer - Nadja ten Peze - E-Book

Meer geht immer E-Book

Nadja ten Peze

0,0

Beschreibung

Ein Herz, zwei Männer und ein Baby Zwei Jahre ist es her, dass sich Marie zwischen zwei Männern nicht entscheiden konnte. Nach dem Tod ihres Mannes fühlte sich die dreifache Mutter einfach noch nicht wieder bereit für eine neue Beziehung. Nun wird ihre Älteste siebzehn Jahr alt - und ihre beste Freundin eröffnet ihr plötzlich, dass sie mit ihrem Mann nach Italien zieht. Marie ist geschockt. Doch bei dieser einen großen Veränderung soll es nicht bleiben, alle um sie herum scheinen in eine neue Lebensphase aufzubrechen. Und dann tauchen völlig unerwartet auch noch die beiden Männer von damals wieder in ihrem Leben auf. Die Ereignisse überschlagen sich, Marie muss Entscheidungen treffen. Soll es der schöne Holländer sein? Oder doch der Revierförster mit den sanften braunen Augen? Und was ist eigentlich mit ihrer ältesten Tochter los? Marie weiß nicht mehr, wo ihr der Kopf steht. Aber sie begreift, dass es allein an ihr liegt, ob sie glücklich wird.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 308

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Die Autorin

Impressum

Kapitel 1

Hallo, Marie!« Die beste aller Freundinnen kommt lachend auf mich zu und drückt mir ihre kleine Tochter Alva in den Arm.

»Oh, Ina, sie wird ja von Tag zu Tag hübscher«, rufe ich aus und halte das kleine Mädchen zärtlich auf meinem Arm.

»Ich muss dringend zur Toilette Marie, sorry. Schon auf dem Weg zu dir habe ich mir fast in die Hose gemacht«, erwidert Ina, grinst mich an und verschwindet eilig auf meinem Gäste-WC.

Typisch Ina, denke ich schmunzelnd und nehme den kleinen Wonneproppen mit in die Küche. »Deine Mami kommt gleich wieder und solange spielen wir mit Rowdy Hoppe-Reiter«, sage ich und setze die Kleine auf den Rücken meines Appenzeller Sennenhunds, der in der Küche unter dem Tisch geschlafen hat und nun freundlich wedelnd vor mir steht.

Ihre kleinen Finger umklammern fest meine Hände, als sich Rowdy, der treueste und liebste Hund der Welt, langsam in Bewegung setzt. »Alva mehr, Alva mehr«, gluckst die Kleine und ihre blonden Locken fliegen.

Was für ein süßes Kind, denke ich. Ihr Vater Isolino ist ein waschechter Italiener, gutaussehend, groß und charmant. Die südländische Hautfarbe hat sie von ihm und die wunderschönen blonden Locken von ihrer Mutter. Eine gelungene Mischung. Ich bin überglücklich, dass Ina diesen tollen Mann bei einem Italienurlaub mit mir vor fast zwei Jahren lieben und kennen gelernt hat. Meine Freundin hatte mit ihren vierzig Jahren die Hoffnung auf ein eigenes Kind schon aufgegeben. Ihre Beziehungen hielten entweder nie lange oder die Männer, die Ina interessant fand, waren anderweitig vergeben. Mit Isolino war es Gott sei Dank anders. Die beiden verliebten sich gleich beim ersten Treffen und auch die Entfernung konnte sie nicht trennen. Jetzt sind sie eine kleine Familie. Allerdings pendelt Lino, wie Ina ihn zärtlich nennt, zwischen Italien und Deutschland hin und her. Er arbeitet bei einer großen Messebaufirma als Art Director und kann viele Projekte von Deutschland aus managen. Als die Kleine auf die Welt kam, hat Ina ihren Job als Gestalterin für visuelles Marketing aufgegeben, um sich ganz ihrer kleinen Familie zu widmen.

Ina kommt nun zurück und bleibt in der Küchentür stehen. Sie sieht zu uns herüber – ich stehe neben Rowdy, bereit zuzugreifen, falls die Kleine fällt, die aber völlig entspannt auf dem Hund thront. »Hey, ihr zwei«, ruft Ina schmunzelnd, »ihr habt wohl Spaß zusammen.«

Ich sehe auf. »Den haben wir doch immer. Alva ist mein größter Schatz«, antworte ich grinsend und drücke der Kleinen einen liebevollen Kuss auf die Wange.

Alva ist ausgesprochen fröhlich und ausgeglichen. Meine drei Kids mögen sie auch sehr und freuen sich jedes Mal, wenn sie mit Ina zu Besuch ist.

Ina lehnt ihm Türrahmen, die Arme verschränkt. »Wollen wir eine Runde mit Rowdy durch den Wald laufen? Das Wetter ist traumhaft heute?«, fragt sie und schaut mich dabei mit ihren blauen Augen unternehmungslustig an.

Ich bin spontan begeistert. »Gute Idee, lass uns gleich losgehen. Wir haben noch genau zwei Stunden, bis meine hungrige Bande um dreizehn Uhr von der Schule kommt.« Lachend gebe ich Ina ihre kleine Tochter zurück und hole die Hundeleine aus dem Flur. Rowdy springt schon aufgeregt um mich herum und bellt laut. »Ja Rowdy, alles gut, jetzt geht’s los« versuche ich ihn zu beruhigen.

Ina ist mir gefolgt und hat Alva in ihren Buggy gesetzt. Neugierig schaut sie zum Hund. »Wuff, Wuff«, ruft sie und klatscht in ihre Händchen.

Ina krault Rowdy hinter den Ohren. »Rowdy ist wirklich der beste Familienhund der Welt. Wenn wir irgendwann einmal einen Hund haben, dann bestimmt einen Appenzeller«, erklärt sie und fährt mit einer Hand über sein weiches Fell.

Keine zehn Minuten später laufen wir durch den sonnigen Winterwald. Die Äste der Bäume biegen sich unter der Last des Schnees, der letzte Nacht gefallen ist. Alvas Wangen leuchten rot in der klaren Luft.

»Puh, ganz schön kalt. Zum Glück scheint die Sonne heute, das macht den Spaziergang angenehmer«, bemerkt Ina und schiebt den Buggy durch den Schnee.

»Einfach herrlich, diese Wintertage«, gebe ich lächelnd zurück. »Obwohl ich ja eher ein Sommertyp bin. Und wenn ich an die warmen Tage in Italien denke, bekomme ich schon etwas Fernweh.«

Mein Freundin schaut mich von der Seite an und meint lachend: »Was soll Lino denn sagen? Er friert sich hier im kalten Deutschland den Allerwertesten ab, nur wegen mir. Manchmal habe ich schon ein schlechtes Gewissen und …«

Augenblicklich klingeln bei mir alle Alarmglocken. Abrupt bleibe ich stehen und schaue Ina fragend an. »Was soll das denn heißen? Du spielst doch wohl nicht mit dem Gedanken, nach Italien zu gehen?«

Auch Alva bleibt stehen, ein paar Schritte vor mir. Eine Hand am Buggy schaut sie zu mir. Umständlich drückt sie dann Alva in ihren warmen Fußsack.

Meine Alarmglocken werden lauter. »Hey, Ina, hast du mir vielleicht etwas zu sagen?«, bohre ich nach und suche ihren Blick, nachdem sie sich wieder zum mir umgedreht hat.

Sie kommt zu mir, liebevoll nimmt sie meine Hand und sagt verlegen: »Marie, ich wollte es dir eigentlich noch nicht sagen, aber wenn du mich jetzt schon darauf ansprichst … Ja, wir haben vor, im Frühjahr nach Tresstino zu ziehen.«

Das erwischt mich kalt. »Was? Im Frühjahr nach Tresstino? Das ist doch jetzt nicht dein Ernst«, entgegne ich aufgebracht und meine Wangen glühen, nicht nur wegen der Kälte. »Wann wolltest du es mir denn sagen? Zwei Wochen bevor ihr umzieht, oder was?«, rufe ich jetzt außer mir vor Enttäuschung und spüre Tränen in den Augen.

Ina sieht mich betroffen an. »Natürlich hätte ich es dir in den nächsten Tagen gesagt. Ich wollte es dir schonend beibringen. Glaube mir bitte.«

Wir stehen da im Schneewald und sehen uns an. Im Buggy gluckst Alva vor sich hin. Rowdy schnüffelt an einem verschneiten Busch gleich neben mir. Es ist still, ja, irgendwie friedlich, nur passt das nicht zu den Gefühlen in mir. Ich bin fassungslos. Ina geht nach Italien! Meine beste Freundin! Wir hatten immer alles miteinander geteilt. Als meine drei Kinder geboren wurden, war sie jedes Mal noch vor meinen Eltern im Krankenhaus und bei der Beerdigung meines Mannes vor fast sechs Jahren stand sie neben mir und hielt meine Hand. Ich war dabei, als sie ihren Lino in der Toskana kennenlernte und sie war es, die mich tröstete, als ich mich dort unglücklich in Gerrit, einen Holländer, verliebte.

»Italien ist doch nicht aus der Welt. Wir können uns doch besuchen«, versucht Ina mich jetzt zu beruhigen und nimmt mich liebevoll in den Arm. Nun kann auch sie die Tränen nicht mehr zurückhalten und wir schluchzen beide, während wir uns in den Armen liegen.

»Ach, Ina, es tut mir leid, dass ich so unfair zu dir war. Natürlich wünsche ich dir alles erdenklich Gute in Italien. Das musst du mir glauben. Nur der Gedanke daran, dass du nicht mehr in meiner Nähe bist, macht mich so schrecklich traurig«, antworte ich niedergeschlagen, löse mich aus der Umarmung, wische an meinen Augen rum und schaue zu Alva, die versucht, Schneeflocken aufzufangen. Es hatte wieder angefangen zu schneien, die Sonne war fort. »Und die kleine süße Maus kann ich dann auch nicht mehr so oft sehen. Sie wird mich bald nicht mehr erkennen und weinen, wenn ich sie auf den Arm nehme«, sage ich betrübt und die Tränen sammeln sich wieder in meinen Augen.

Ina legte ihren Arm um meine Schulter. »Hey, so schlimm wird es schon nicht werden. Aber wenn wir noch länger hier im Schnee stehen, sind wir festgefroren und brauchen uns keine Gedanken mehr über unsere Zukunft zu machen«, sagt sie grinsend und nickt mir aufmunternd zu. »Komm, lass uns schnell nach Hause gehen. Ich freue mich auf einen warmen Tee mit Honig. Alva und Rowdy sehen auch schon aus wie Schneemänner.«

Ich schaue zum Hund, der sofort meinen Blick bemerkt, den Busch sein lässt und zu mir kommt. Auf seinem dunklen Rückenfell hat sich tatsächlich eine dünne Schneeschicht gebildet, ebenso auf dem Buggy und Alvas Mütze. Jetzt erst bemerke ich, dass es immer stärker schneit. »Oh mein Gott, was bin ich für eine Egoistin. Stehe hier und heule dir den Kopf voll und die kleine Alva bekommt eine Lungenentzündung. Nix wie raus aus dem Wald«, antworte ich schuldbewusst, schnappe mir den Buggy und mühe mich ab, ihn durch den Neuschnee zu schieben. Die kleinen Räder sind über und über mit Schnee bedeckt und lassen sich kaum noch lenken. Ich ackere und schiebe, aber es geht nicht so richtig voran. Die Schneeflocken beißen in meinem Gesicht. Rowdy hingegen scheint Spaß zu haben, er läuft voran, schüttelt sich immer wieder den Schnee aus dem Fell und jagt Flocken. Alva juchzt und wirft die Hände hoch. Und ich gebe auf und bleibe stehen. »Verdammt, hier kommen wir mit dem Kinderwagen nicht mehr weiter«, sage ich genervt und versuche die Räder des Buggys vom Schnee zu befreien.

Ina schaut mir für einen Moment zu und holt dann Alva samt Fußsack aus dem Kinderwagen. »Also, Marie, du kannst es gerne noch bis Mitternacht versuchen. Ich laufe dann schon mal zurück«, sagt sie entspannt und zwinkert mir zu.

Verwirrt schaue ich sie an. »Willst du den Buggy hier im Wald stehen lassen?«

Sie zuckt mit den Schultern. »Eigentlich nicht, aber haben wir eine Wahl? Besser warm zu Hause ohne Buggy, als erfroren mit«, antwortet sie lachend und drückt die Kleine in ihrem warmen Fußsack fest an sich.

»Rie, mit. Rie. mit«, ruft Alva und klatscht mit ihren dicken Fäustlingen in ihre Händchen.

»Ja, mein Schatz, Marie kommt auch mit«, sagt Ina beruhigend und drückt ihr einen zärtlichen Kuss auf die Stirn.

Rowdy, der beste aller Hunde, ist zu uns gekommen und schaut uns auffordernd an. Dann schüttelt er sich zum wiederholten Mal den Schnee aus seinem dicken Winterfell. »Wenigstens Rowdy ist nicht kalt«, stelle ich fest – und muss dann doch lachen. Seufzend zerre ich den Buggy unter eine dicke Eiche. »Hoffen wir, dass wir ihn morgen wiederfinden«, sage ich, bevor wir uns auf den Rückweg machen.

Keine halbe Stunde später sitzen wir, jede mit einer Tasse heißen Tees mit Honig, in meiner warmen Küche. Die frische Luft und das Tragen an Inas Brust hat Alva müde und zufrieden auf Inas Schoß einschlafen lassen. Rowdy hat sich noch vor der Haustür seines kompletten Schnees entledigt und liegt nun wunschlos glücklich in seinem Hundekorb vor dem Terrassenfenster im Wohnzimmer.

Ich schaue gedankenverloren zum Küchenfenster hinaus. Draußen tobt mittlerweile ein richtiger Schneesturm. »Zum Glück sind wir wieder zu Hause. Ich dachte schon, wir finden nicht mehr zurück«, sage ich noch immer fröstelnd und nippe an meinem heißen Tee.

»Tja, der Buggy dürfte jetzt schon eingeschneit sein. Ich denke nicht, dass wir ihn morgen finden. Aber was soll’s, es gibt Schlimmeres als ein eingeschneiter Kinderwagen«, entgegnet Ina und ich muss wieder einmal über ihre optimistische Lebenseinstellung schmunzeln.

Meine beste Freundin! Nichts kann sie so schnell aus der Fassung bringen. Mit ihrer positiven Art hat sie mich schon oft aufgebaut, wenn ich am Verzweifeln war. Dafür liebe und bewundere ich sie wirklich von ganzem Herzen. Ich werde Ina schmerzlich vermissen, wenn sie nach Italien zieht, das weiß ich jetzt schon. Ich schaue wieder nach draußen, wo der Schnee immer dichter vom Himmel fällt.

Als ob sie meine Gedanken gelesen hätte, sagt Ina nun sanft: »Hey, Marie, an was denkst du?« Und ohne eine Antwort abzuwarten, fügt Sie hinzu: »Ich wollte wirklich mit dir reden und dir alles erklären. Es kommt für mich genauso überraschend. Lino hat mir letzte Woche gesagt, dass er im Hauptsitz der Firma einen super Job angeboten bekommen hat. Er könnte im Frühjahr nächsten Jahres anfangen. Natürlich hat er mich erst gefragt, ob ich mir vorstellen könnte, in Italien zu leben. Und was soll ich sagen? Sonne, Strand und Meer! In meiner Euphorie habe ich sofort Ja gesagt und später ist mir erst in den Sinn gekommen, dass ich einiges dafür aufgeben muss.« Bekümmert schaut sie mich an. Dann zeigt sie auf Alva, die noch immer auf ihrem Schoß schläft. Vorsichtig steht sie auf, verlässt auf leisen Sohlen die Küche, um die fest schlafende Alva in ihre Kuscheldecke gewickelt auf mein breites Sofa im Wohnzimmer zu legen. Ich folge ihr leise bis zur Wohnzimmertür. Von dort sehe ich, wie sie ihr zärtlich einen Kuss auf die Stirn gibt.

Gemeinsam kehren wir in die Küche zurück. Die Tür bleibt weit offen, so können wir uns in der Küche unterhalten und haben die Kleine im Blick. Liebevoll nimmt Ina meine Hand und sagt leise: »Marie, was würdest du an meiner Stelle tun?«

Behutsam streiche ich ihr über die Wange. »Weißt du noch, was du mir vor fast zwei Jahren, als ich mich nicht zwischen Gerrit und Christian entscheiden konnte, gesagt hast? Höre auf dein Herz. Ich habe es getan und gemerkt, dass es für mich, zu dieser Zeit besser war, mich für keinen von beiden zu entscheiden. Und genau das sage ich jetzt zu dir. Höre auf dein Gefühl. Liebst du Lino von ganzem Herzen? Dann tu es, du kannst nichts falsch machen.«

Nun hat Ina Tränen in den Augen. »Oh Marie, ja, ich liebe Lino und kann mir ein Leben ohne ihn nicht mehr vorstellen. Es ist das erste Mal, dass ich für einen Mann umziehen würde, und dann auch noch gleich in ein anderes Land. Ich muss verrückt sein«, stöhnt sie und schaut mich dabei ungläubig an.

Jetzt muss ich trotz aller Traurigkeit lachen. »Du bist nicht verrückt. Du bist verliebt«, entgegne ich und stupse sie sanft in die Seite. »Hey, ich hoffe, du vergisst deine alte Freundin in Deutschland nicht und freust dich auf meine Besuche. Es kann nämlich sein, dass ich dich mindestens drei- bis viermal im Jahr besuchen komme.«

Ina schüttelt den Kopf, dann lacht sie erleichtert auf und sagt: »Ich bin so froh, dass du es mir nicht schwer machst, Marie. Du kannst von mir aus ein halbes Jahr bei uns bleiben, am besten bringst du deine Kids auch noch mit. Hach, ich freue mich jetzt schon auf euren Besuch.« Schnell springt sie auf, nimmt mich in ihre Arme und ein paar Tränen kullern über ihre Wangen. Wir drücken uns ganz fest.

Als sie sich wieder gesetzt hat, sage ich bestimmt und feierlich: »Wir werden immer die besten Freundinnen bleiben, daran ändert auch die Entfernung zwischen uns nichts. Das verspreche ich dir, Ina.«

Ina nickt mit Inbrunst und grinst breit. »Aber wir sind ja noch nicht weg. Erst im Frühjahr wollen wir uns in Tresstino etwas Passendes suchen. Wir haben also noch den ganzen Winter«, antwortet sie sichtlich erleichtert.

In diesem Moment kommt Rowdy zu uns in die Küche, gähnt einmal kurz und tapst dann zu Ina, setzt sich neben ihren Stuhl und sieht sie auffordernd an. Sie lächelt ihm zu, streicht ihm über das weiche Fell und krault ihm die Ohren, was er sichtlich genießt.

Ich schaue es mir an, dann sage ich leise und nachdenklich: »Ja, Gott sei Dank haben wir noch etwas Zeit.«

Kapitel 2

Ina zieht nach Italien! Es geht mir immer wieder durch den Kopf, als ich am selben Abend auf meiner Couch im Wohnzimmer sitze. Eine Tasse Tee steht vor mir auf dem Couchtisch und ich starre ins Leere. Draußen ist es dunkel und es schneit noch immer. Ich denke zurück an den Tag mit Ina. Es fiel mir schwer, mir nicht anmerken zu lassen, wie traurig mich die Nachricht ihres Umzugs macht. Ina ist so happy mit ihrer kleinen Familie und ich möchte ihr auf keinen Fall ein schlechtes Gewissen machen. Schließlich ist es ihr Leben und ich gönne es ihr von Herzen, dass sie endlich den richtigen Mann gefunden hat. Gleichzeitig fühlt es sich so unwirklich an. Meine beste Freundin wohnt dann nicht mehr um die Ecke, sondern im fast zweitausend Kilometer entfernten Italien. Keine Marmeladenfrühstücke mehr in meiner Küche, keine gemeinsamen Spaziergänge im Wald, keine gemeinsamen Ausflüge mit den Kindern. Oh je, wie werden meine drei Kids auf die Nachricht reagieren? Ina ist mehr als eine Freundin auch für sie. Sie gehört quasi zur Familie. Bei dem Gedanken an ihren baldigen Umzug steigen mir erneut die Tränen in die Augen, ich schnappe mir eines der Sofakissen und schluchze hinein. »Verdammt, wie kannst du mir das nur antun?«, murmle ich leise ins Kissen. »Du kannst mich doch hier nicht allein lassen!« Dann pfeffere ich das Kissen in den Raum. Es landet neben der Stehlampe, die das Wohnzimmer in ein warmes Licht taucht.

Ich kauere mich auf dem Sofa zusammen. Ina gehörte all die Jahre einfach zu meinem Leben. Sie war wie die Schwester, die ich leider nie hatte. Alles konnte ich mit ihr bereden und oft hat sie mir auch den Kopf gewaschen, wenn ich wieder einmal in einer Selbstmitleidsphase steckte. Mit ihrer erfrischenden optimistischen Art hat sie mich immer wieder bestärkt nicht aufzugeben. Gerade nach dem Tod meines Mannes Daniel vor sechs Jahren hat sie mir Mut gemacht und auch meinen Kindern Kraft und Liebe gegeben. Meine älteste Tochter Lotta war zu der Zeit gerade elf Jahre alt. Mattis war sieben und meine Kleinste, Nele, fünf Jahre. Oft bin ich fast verzweifelt an den Herausforderungen dieser schweren Zeit, aber Ina war wie ein Fels in der Brandung und zeigte mir immer wieder, dass es auch noch schöne Zeiten im Leben gibt. Wie oft haben wir lachend in meinem Garten gesessen und den Kindern beim Spielen mit Rowdy zugeschaut. Wenn mein Hund mit Lotta kleine Kunststücke vorführte und vergeblich versuchte, die Bälle aufzufangen, die die Kids ihm zuwarfen. Mit ihr konnte ich über alles reden, was mich belastete. Das Verhältnis zu meiner Mutter war noch nie das Innigste, was nach dem Tod meines Vaters vor zwölf Jahren nicht unbedingt besser wurde. Sie war eine konservative und eher kühle Frau, die mir immer das Gefühl gab, nicht richtig zu sein. Meine Kindererziehung kritisierte sie immer wieder mit den Worten: »Na, das hätte es in deiner Kindheit nicht gegeben, Marie. Aber du musst es ja wissen. Ich meine es doch nur gut, mein Kind.« Oft rief ich Ina noch spät abends an, um mir bei ihr Luft zu machen, wenn ich mich wieder einmal über meine Mutter geärgert hatte. Meine Kinder gingen damals nie gerne zur Oma, freuten sich aber immer riesig, wenn sie bei Ina übernachten durften. Das war eine schwere Zeit, die ich ohne meine beste Freundin nie durchgestanden hätte.

Ich nehme einen Schluck Tee und stelle die Tasse wieder ab. Gott sei Dank hat sich das Verhältnis zu meiner Mutter in den letzten zwei Jahren total verändert. Seit sie einen neuen Mann an ihrer Seite hat, ist sie wie ausgewechselt. Frederik Graf zu Putlitz hat ihr Herz im Sturm erobert. Und obwohl er zwölf Jahre jünger als meine Mutter ist, haben sie vor einem Jahr geheiratet. Ich bin so glücklich, dass sie noch einmal einen so tollen und herzlichen Mann gefunden hat. Auch meine drei Kids gehen jetzt wieder gerne zu ihrer Oma und ihrem Grafen-Opi, wie sie ihn liebevoll nennen.

Ich seufze tief und schnappe mir das nächste Kissen, an das ich mich klammere. Ach Ina, was soll ich nur ohne dich tun? Du warst dabei, als ich mich Hals über Kopf, in unserem gemeinsam Italienurlaub in einen Holländer verliebte. Dass ich dazu überhaupt noch fähig war nach dem Tod von Daniel hatte ich selbst nicht für möglich gehalten. Aber es ist passiert und ich spürte wieder Schmetterlinge in meinem Bauch. Doch wegen unglücklicher Umstände und Missverständnisse trennten wir uns, bevor es überhaupt begann … Gerrit, denke ich, das war sein Name. Manchmal wüsste ich schon gern, wie es ihm jetzt geht und wo er lebt. Vor über zwei Jahren habe ich Gerrit in Italien das letzte Mal gesehen. Es war eine wunderschöne Nacht. Die Sterne leuchteten über uns, als wir uns am Strand zärtlich liebten. Seine liebevolle und gleichzeitig humorvolle Art zog mich von Anfang an in den Bann. Doch als ich wieder in Deutschland war und über uns nachdachte, fühlte es sich plötzlich nicht mehr richtig an. Hatte ich Angst, mich auf ihn einzulassen, oder war es vielleicht doch der Gedanke an Christian, den sympathischen Revierförster, den ich kurz zuvor kennengelernt hatte? Auch ihn habe ich seitdem nicht mehr gesehen. Ich war so verwirrt, als ich aus Italien zurückkam, dass ich mich entschloss, keinen von beiden eine Chance zu geben. Ich wollte erst einmal mit mir selbst klarkommen und mein Leben mit meinen drei Kids genießen.

Ich drücke mit einer Hand weiter das Kissen an mich, mit der anderen greife ich zur Teetasse und nehme einen Schluck. Tja, Marie, das ist jetzt schon eine ganze Weile her. Vielleicht wäre es jetzt wieder an der Zeit für einen Mann an deiner Seite, denke ich lächelnd und streichle liebevoll das Fell meines Hundes. Aber die guten Männer wachsen bekanntlich nicht auf den Bäumen und außerdem bin ich ja auch nicht mehr die Jüngste mit meinen zweiundvierzig Jahren. Vielleicht sollte ich eine Annonce aufgeben oder im Internet nach einem passenden Partner suchen: Single-Lady mittleren Alters mit drei Kids sucht attraktiven Mann fürs Leben. Ach was, Marie, denke ich und verscheuche den Gedanken. Wie hat Ina immer zu mir gesagt: »Wenn der Richtige dich sucht, wird er dich auch finden.« Tja, vielleicht hat sie auch damit recht, wie schon so oft in meinem Leben.

»Hi, Mama«, ruft Lotta, als sie gegen dreizehn Uhr zur Tür hereinschneit. Ihre braunen, langen Haare fliegen durch die Luft und ihre Schultasche landet in der Ecke der Küche. »Ich habe einen Mordshunger. Was gibt es heute?«, fragt sie und schaut mir grinsend über die Schulter, als ich die Spagetti auf unsere beiden Teller verteile.

Ich balanciere Spagetti mit der Spagetti-Gabel und sehe sie an. »Hey, du hast es ja wieder besonders eilig. Bitte die Schultasche in den Flur, Lotta«, entgegne ich.

Sie springt einmal um den Tisch herum und schnappt sich wieder ihre Tasche. »Ja, ja, wird erledigt, Feldmarschall Kramer«, antwortet sie lachend, stürmt in den Flur und stellt ihre Tasche an der Garderobe ab, wie ich aus den Augenwinkeln sehen kann.

Keine zwei Minuten später sitzen wir am gemütlichen Küchentisch in unserem kleinen Reihenhaus, das ich noch gemeinsam mit Daniel gekauft habe. Ach Daniel, wie sehr vermisse ich ihn immer noch. Über sechs Jahre ist es nun schon her, dass er von uns ging, und die Zeit heilt leider keine Wunden … Ich stochere in meinen Spagetti.

»Hallo Mama.« Lotta stupst mich von der Seite an. »Hast du keinen Hunger oder träumst du am helllichten Tag?«

Ich sehe auf und zu meiner Tochter. Gerade schiebt sie sich noch eine Gabel Spagetti in den Mund. »Doch, doch«, antworte ich noch immer etwas abwesend.

»Puh, ich bin satt! Es war sehr lecker«, sagt sie grinsend und schiebt den leeren Teller von sich. Im Schnellessen stellt sie immer wieder neue Rekorde auf. Dann sieht sie mich an und fährt fort: »Du, Mama, weil die zwei Kleinen noch nicht da sind, wollte ich gerne mal mit dir reden.«

Erstaunt schaue ich Lotta an. Wenn sie so offiziell mit mir reden will, ist meist etwas im Busch. »Okay, schieß los. Was hast du auf dem Herzen?«, fordere ich sie lächelnd auf und schiebe meinen Teller zur Seite.

Nervös faltet sie ihre Servierte zusammen und schaut mich liebevoll an. »Du weißt ja, dass ich Holland so liebe, auch unsere Urlaube am Meer. Als Papa noch lebte, waren sie für mich immer ein großes Erlebnis.«

Ich mustere sie aufmerksam und bin gespannt, worauf das hinausläuft. Die Ferien in Holland waren auch für mich immer die schönste Zeit des Jahres. Die Kinder hatten so viel Spaß beim Burgenbauen am Strand und beim Lagerfeuer auf unserem Campingplatz. Wehmütig denke ich zurück und Tränen sammeln sich in meinen Augen. Schnell schaue ich aus dem Fenster, um meine Gefühle zu verbergen.

Lotta spricht mit ernster Stimme unbeirrt weiter: »Mama, seit Papas Tod waren wir nicht mehr dort und das ist jetzt schon sechs Jahre her. Wie wäre es, wenn wir über Silvester alle nach Holland fahren? Ich habe schon ein tolles Ferienhaus für uns gefunden.«

Überrascht schaue ich meine Tochter an. Sie ist wirklich kein Kind mehr mit ihren siebzehn Jahren. Ihre braunen langen Haare umschmeicheln ihr hübsches Gesicht, das ihrem Vater sehr ähnelt. Dass sie Holland so vermisst, hätte ich nie gedacht. Die letzten Jahre haben wir einfach nicht mehr darüber gesprochen. Ein Fehler, wie mir jetzt klar wird. Zärtlich streiche ich ihr über die Wange und antworte lächelnd: »Du überraschst mich immer wieder, Lotta. Und ja, auch ich habe auch schon öfter daran gedacht. Schön, dass du dir darüber Gedanken machst. Jetzt bin ich aber gespannt. Wo hast du denn ein Häuschen für uns gefunden?«

Aufgeregt springt sie vom Stuhl und zieht mich ins Wohnzimmer an den Couchtisch. Dort liegt mein Laptop und sie klappt es auf. Schnell gibt sie einen Begriff in die Suchleiste ein und sagt: »Guck mal, Mama, wie gefällt dir das?«

Ich beuge mich vor und starre auf den Bildschirm. Dort erkenne ich die holländische Nordseeküste. Möwen ziehen am Himmel ihre Bahn und die Schafe grasen friedlich am Deich. Ein kleines typisch holländisches reetgedecktes Häuschen mit Garten und gemütlichem Kaminofen steht zur Vermietung an Urlaubsgäste bereit. »Das sieht ja schnuckelig aus, Lotta«, rufe ich begeistert. »Da hast du aber wirklich ein besonders schönes Haus ausgesucht.«

Meine Tochter schaut mich zufrieden an und sagt lächelnd: »Tja, Mama, ich kenne doch deinen Geschmack, und im Internet findet man immer etwas Passendes.«

Ich runzle die Stirn und schaue mir die Seite etwas genauer an. Dann frage ich: »Wo in Holland steht das Haus denn?«

Lotta gibt den genauen Standort bei Google-Maps ein und die Route wird berechnet. »Genau dreihundertachtzig Kilometer bis Westerland. Das ist in Nordholland, Mama. Ein kleines verträumtes Örtchen direkt am Amstelmeer. Das Wattenmeer ist ganz ihn der Nähe und die tollen Nordseestrände von Den Helder oder Callantsoog sind nur wenige Kilometer entfernt. Ist das nicht toll?«, ruft sie begeistert.

Ich starre auf die Landkarte. Westerland? Ist das nicht …? Gerrit! Ja, natürlich, dort hatte »mein« Holländer seine Surfschule. Oh Gott! Genau dort soll ich mit meinen Kids Silvester verbringen? Ich war nie dort. Leider hat das Schicksal es damals nicht zugelassen, dass ich Gerrit in Westerland besuche.

»Mama, was hast du denn auf einmal? Dir gefällt das Haus doch, oder?« Fragend schaut mich Lotta an und zeigt auf die Fotos. »Schau mal, wie herrlich es da ist. Oder ist es dir zu weit mit dem Auto?«

Meine Wangen fangen an zu glühen, als ich auf die schönen Bilder der Webseite schaue. »Haus Noordzeestrand – Hartelijk welkom!« So steht es dort in geschwungenen Buchstaben. Wie oft habe ich von so einem Häuschen geträumt. Wieder den Wind in den Haaren spüren und im Strandpavillon eine »groote Schokomel« trinken, was unserer heißen Schokolade ähnelt, nur mit »ganz veel Slaagroom«. Westerland in Nordholland – ist es Zufall, dass Lotta genau in diesem Ort ein Ferienhäuschen für uns gefunden hat? Oder ein Wink des Schicksals? Ich starre weiter auf den Bildschirm und kaue auf meiner Unterlippe.

»Hallo, Mama, was ist nun? Irgendwie guckst du nicht gerade begeistert. Ich finde bestimmt auch etwas anderes, wenn es dir nicht gefällt.«

Ich sehe meine Tochter an. Lotta runzelt die Stirn. Das macht sie immer, wenn sie sich unwohl fühlt. »Nein, nein, das ist wirklich eine sehr schöne Gegend und das Häuschen sieht niedlich aus«, beeile ich mich zu antworten und drücke ihr einen Kuss auf die Wange.

Ihr Gesicht hellt sich wieder auf, dann sagt sie leise: »Zuerst habe ich in Domburg nach einem Ferienhaus gesucht. Da waren wir ja immer mit Papa in den Ferien. Weißt du noch, Mama, als wir uns alle so im Sand eingebuddelt hatten, dass die Strandwacht kommen und uns wieder ausgegraben musste?«

Ich muss unweigerlich lächeln. »Oh ja, daran erinnere ich mich noch gut. Rowdy war gerade ein paar Monate alt und lief laut kläffend um uns herum«, antworte ich und sehe die Bilder wieder vor mir, als ob es gestern war. Daniel vor Kraft strotzend. Seine blauen Augen lachen mich fröhlich an, als er mit den Kindern johlend ins Meer rennt. Das war die schönste Zeit meines Lebens.

Liebevoll nimmt Lotta meine Hand und als ob sie meine Gedanken gelesen hätte, sagt sie flüsternd: »Mama, ich dachte, es wäre gut, wenn wir an einem anderen Ort in Holland Urlaub machen. Vielleicht ist es für uns alle ein Neuanfang.«

Zärtlich schaue ich meine Älteste an und merke einmal mehr, was für eine wundervolle junge Frau sie geworden ist. Daniel wäre so stolz auf sie. Ich spüre, wie mir Tränen in die Augen steigen. Warum musste er kurze Zeit später krank werden und sterben? Noch immer schnüren mir Wut und Verzweiflung die Kehle zu. Warum musste es gerade ihn treffen? Diese Frage habe ich mir in den Jahren immer wieder gestellt. Doch leider bekam ich keine Antwort. Ich habe gelernt, damit zu leben und mir mit meinen Kindern ein neues Leben aufzubauen. Aber die Erinnerung an diese wunderbaren Momente bleibt für immer in meinem Herzen. Ich wische mir hastig über die Augen und reiße mich dann zusammen. Entschlossen schaue ich meine Tochter an. »Ja, du hast recht, Lotta. Ich möchte so gerne wieder mit euch nach Holland. Dieses kleine Land hat es uns einfach angetan und das Häuschen ist wunderschön. Also abgemacht, wir buchen für Silvester«, antworte ich und nehme sie behutsam in meine Arme.

Jetzt laufen auch ihr Tränen über die Wangen und sie schmiegt ihren Kopf an meine Schulter. »Ach, Mama, ich bin so glücklich, dass du Ja gesagt hast. Papa wird ganz bestimmt von oben zuschauen und sich mit uns freuen.«

Keine zwei Stunden später nach diesem emotionalen Gespräch mit Lotta stapfe ich mit Rowdy durch den mittlerweile etwas abgetauten Schnee. Seit gestern ist kein neuer Schnee mehr gefallen. Hoffentlich steht der Buggy noch unter der Eiche, denke ich, als ich den Weg hinter unserem Haus in den Wald nehme. Noch einmal geht mir unser Gespräch durch den Kopf. Nie hätte ich gedacht, dass Lotta so viele positive Erinnerungen an unsere Hollandferien hat. Es freut mich sehr, dass sie sich genauso für das Meer begeistern kann wie ich. Lange Zeit habe ich versucht, die Erinnerungen zu verdrängen. Aber jetzt ist die Zeit gekommen und ich fange an zu lächeln bei dem Gedanken an das gemütliche Häuschen. Leider hat sie ausgerechnet Westerland ausgesucht. Der Ort, mit dem ich unweigerlich Gerrit verbinde. Natürlich mache ich ihr deswegen keine Vorwürfe, schließlich weiß sie bis heute nicht, dass Gerrit der Mann war, in den sich ihre Mutter nach dem Tod ihres Vaters neu verliebt hatte. Westerland – ein kleines ruhiges Örtchen am nördlichstes Zipfel Hollands. Unweigerlich muss ich lächeln bei dem Gedanken, dort bald Silvester mit meinen Kids zu verbringen. Je mehr ich darüber nachdenke, umso mehr freue ich mich auf ein paar Tage an der winterlichen Nordseeküste.

Rowdy zerrt an seiner Leine und schnüffelt am Gebüsch entlang. Es ist ein grauer Tag und langsam fängt es wieder an zu schneien. Ich konzentriere mich auf den Waldweg vor mir und lasse den Blick schweifen. »Das muss doch hier gewesen sein«, murmele ich und schaue auf die verschneiten Bäume. Ich bleibe vor einer dicken Eiche stehen. Wo ist der Buggy? Scheint doch nicht so einfach zu sein, einen Kinderwagen im Wald wiederzufinden. Dann spüre ich ein Rucken an der Leine. »Rowdy, halt«, kann ich gerade noch rufen, da liege ich auch schon im Schnee und mein Appenzeller zieht mich mindestens zehn Meter über die Erde. Schnüffelnd bleibt er schließlich vor einer anderen dicken Eiche stehen und gräbt mit seinen Pfoten etwas aus, was verdächtig nach Inas Buggy aussieht.

Ich liege perplex am Boden und starre zu ihm hinüber. Dann rappele ich mich mühselig auf und klopfe mir den Schnee von der Kleidung. Wehgetan habe ich mir zum Glück nicht. Rowdy hat aufgehört zu graben, bellt einmal kurz und sieht mich auffordernd an. »Rowdy, hast du mich erschreckt«, rufe ich aus. Dann sehe ich an mir herab und stelle fest, dass meine neue Winterjacke und meine Hose mit lehmigen Waldboden und Schnee verschmiert sind. »Toll gemacht, Rowdy«, schimpfe ich ihn an.

Reumütig schaut er mit seinen treuen Augen zu mir herüber, als ob er sagen wollte: Hey, warum schimpfst du mit mir? Ich habe doch deinen Kinderwagen gefunden.

Sofort wird mir klar, dass der arme Hund das Richtige getan hat und ich ihn zur Belohnung angeschrien habe. Ich atme einmal kurz durch und beuge mich zu ihm herab. Er kommt zu mir und ich kraule ihn hinter dem Ohr und gebe ihm ein Leckerli. »Sorry, Rowdy, tut mir leid. Ich bin so froh, dass du den Buggy gefunden hast und die schmutzigen Sachen sind mein Problem«, murmele ich, grinse ihn an und streichle ihm über sein nasses Fell. »Komm, jetzt müssen wir uns aber auf den Heimweg machen. Es wird schon langsam dunkel«, sage ich dann, schnappe mir den Buggy und schiebe ihn durch den immer dichter werdenden Schneewirbel. Der Wind wird ebenfalls stechender und bläst mir kalt ins Gesicht. Ich beneide meinen Hund um sein warmes Winterfell, denn trotz Mütze, Handschuhen und warmer Winterjacke friere ich erbärmlich.

Ich stapfe vorwärts, Rowdy bleibt an meiner Seite. Gütiger Himmel, wann kommt denn endlich die Hauptstraße, frage ich mich irgendwann wütend. Ich kann kaum noch den Weg vor mir erkennen. Und das alles wegen diesem blöden Kinderwagen! Wenn Ina wüsste, dass ich jetzt frierend im Wald herumirre, wäre sie zurecht sauer auf mich. Ich schimpfe vor mich hin und ziehe mit der einen Hand Rowdy und mit der anderen den Kinderwagen über den nassen Waldweg. Endlich sehe ich die Lichter von Autos – die Bundesstraße. Jetzt kann es nicht mehr weit sein. Hauptsache, erst einmal aus dem Wald heraus, denke ich und erreiche den Fahrradweg, der entlang der Straße verläuft und zu den ersten Häuserreihen führt, die ich schemenhaft, im Halbdunkeln erkenne. Ich marschiere weiter. Plötzlich blendet mich ein grelles Licht und ein Ranch Rover bremst scharf hinter mir ab. Als ich mich umdrehe, sehe ich, dass der Geländewagen umkehrt und auf mich zufährt. Oh Gott! Die Angst kriecht mir langsam den Nacken hoch, ich marschiere stramm weiter und ziehe Rowdy näher an mich heran. Was, wenn ich jetzt auf offener Straße überfallen und ausgeraubt werde oder vielleicht noch Schlimmeres passiert? Mein Herz schlägt mir bis zum Hals, als der Wagen anhält, ein Mann aussteigt und langsam auf mich zukommt. »Marie?«, höre ich ihn durch das dichte Schneegestöber rufen. »Marie, bist du das?«

Ich stapfe wild entschlossen vorwärts, eine Hand am Buggy, in der anderen die Hundeleine. Habe ich jetzt schon Wahnvorstellungen durch die Kälte? Wer ruft denn hier draußen meinen Namen? Ich habe vor einiger Zeit in einem Buch von einem Bergsteiger gelesen, dass man unter bestimmten Bedingungen im Schnee Halluzinationen bekommen kann. Allerdings war da die Rede von minus 30 Grad Celsius.

»Marie«, ruft der Fremde noch einmal gegen den Sturm an und folgt mir.

Ich fahre herum und brülle über die Schulter: »Wenn Sie nicht sofort stehen bleiben, lass ich meinen Hund auf Sie los.«

Er kommt weiter näher. »Das kannst du ruhig machen. Rowdy wird mir sicher nichts tun«, ruft er scheinbar amüsiert zurück.

Ich bleibe stehen. Woher kennt dieser Kerl den Namen meines Hundes? Aufgewühlt ziehe ich Rowdy dicht an meine Seite. Jetzt ist der Fremde nur noch wenige Schritte von mir entfernt und ich erkenne schemenhaft sein Gesicht unter einer schwarzen Mütze. Das kann doch nicht wahr sein … Oder doch? Ich blinzle durch das Schneegestöber. »Christian?«, rufe ich dann verwundert aus. »Was machst du denn hier?«

Er bleibt vor mir stehen und grinst mich an. Der Mann, den ich für meinen potenziellen Mörder gehalten habe. »Marie, ich habe dich sofort erkannt und Rowdy natürlich auch«, sagt er und beugt sich herunter, um meinem Hund ein Leckerli zu geben, das dieser schwanzwedelnd annimmt.

Ein schöner Beschützer bist du, denke ich und schaue zu, wie er Christian in aller Seelenruhe aus der Hand frisst.

»Na, wenigstens Rowdy scheint mich noch zu kennen«, sagt Christian, lacht mich jetzt schelmisch an und richtet sich wieder auf.

Ich starre ihn an, während auf der Bundesstraße Autos durchs Schneegestöber an uns vorbeirollen. Christian! Tatsächlich, er ist es. Seit über zwei Jahren habe ich nichts mehr von ihm gehört. Nachdem ich ihm gesagt habe, dass ich noch Zeit für mich und meine Kinder brauche, hat er sich irritiert zurückgezogen. Unsere erste Begegnung damals war in seiner Waldhütte, als er mich und Rowdy aufnahm, nachdem wir uns total verlaufen hatten und triefend nass vor seiner Tür standen. Oh Gott, und jetzt bin ich schon wieder in einer so peinlichen Situation. Er muss ja wirklich denken, es sei mein Hobby, durch verschneite oder regennasse Wälder zu rennen und darauf zu warten, dass mich irgendjemand nach Hause bringt. »Also«, beginne ich zögernd, »entschuldige bitte, Christian. Aber mit dir hätte ich heute und hier sicherlich nicht gerechnet«, antworte ich schlotternd vor Kälte und Aufregung.