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Lotte freut sich, als Yara, ihre beste Freundin aus Hamburg, überraschend vor der Tür ihres Hotels im Seebad Binz steht. Yara behauptet, dass sie Lotte nur besuchen wolle. In Wahrheit hat sie sich eine Auszeit von ihrem Verlobten Kai genommen. Als der Arbeitsaufwand in der Küche der Villa Sehnsucht zu groß wird, übernimmt Yara kurzerhand gemeinsam mit der restlichen Crew die Küche. Zu ihrem Leidwesen ist Till, der sie als ungelernte Köchin nicht akzeptiert, immer in ihrer Nähe. Er lässt sie keinen Moment aus den Augen und liefert sich mit ihr einen Schlagabtausch nach dem nächsten. Dann meldet sich Kai und verlangt Antworten. Doch die Zeit, als Yara zu allem Ja gesagt hat, ist vorbei. Zum ersten Mal will sie herausfinden, was sie wirklich zu ihrem Glück braucht. »Mila Summers schreibt mit einer Leichtigkeit, die verzaubert!« Katharina Herzog
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Seitenzahl: 361
Veröffentlichungsjahr: 2025
Mila Summers
Ein Rügen-Roman
Lotte hat vor kurzem die Leitung der Villa Sehnsucht in Binz übernommen, als ihre Oma Else sich dazu entschied, auf eine Weltreise zu gehen. Wenige Monate vor ihrer eigenen Hochzeit steht Yara, Lottes beste Freundin, vor der Tür des Hotels. Yara behauptet, dass alles bestens sei und sie ihre Freundin nur besuchen wolle. Was sie verschweigt: Sie hat sich sehr spontan eine bewusste Auszeit von Hamburg und von ihrem Verlobten genommen.
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Mila Summers lebt mit ihrem Mann, den beiden Kindern, der quirligen Jack-Russell-Hündin und den beiden Schildkröten in Nordbayern und hat immer Sehnsucht nach dem Meer. Deshalb verbringt sie ihren Urlaub am liebsten an Nord- und Ostsee, lässt sich eine frische Meeresbrise um die Nase wehen, während sie den Sand unter den Füßen spürt und mit ihrer Familie Burgen am Strand baut. Seit 2015 schreibt sie erfolgreich romantische Wohlfühlromane, die sich inzwischen rund eine Million Mal verkauft haben. Mit ihren Büchern stürmt sie regelmäßig die Kindle- und die BILD-Bestsellerlisten.
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
Positiv zu denken bedeutet nicht, dass man immer glücklich und zufrieden sein muss. Es bedeutet, dass man auch an schweren Tagen weiß, dass es wieder bessere Tage geben wird. Mit diesem Sinnspruch eines unbekannten Yogi auf den Lippen ging ich auf die Villa Sehnsucht zu.
»Yara, bist du das wirklich? Kneif mich mal einer. Das kann doch nicht sein. Was machst du denn hier?«
Kaum dass ich die schneeweiße Villa Sehnsucht, ein Haus der Bäderarchitektur an der Binzer Promenade auf Rügen, betreten hatte, stürmte auch schon meine beste Freundin Lotte aus der Lobby des Hotels auf mich zu. Dann nahm sie mich freudestrahlend so fest in die Arme, dass mir fast die Luft wegblieb. Das alles passierte so schnell, dass ich gar nicht wusste, wie mir geschah.
Als sie mich wieder losließ, leuchteten ihre blauen Augen mit der Sonne über der Ostsee in meinem Rücken um die Wette, während sie mich so herzlich anlächelte, dass ich gar nicht anders konnte, als es zu erwidern.
»Na, ich dachte mir, ich komme dich mal wieder hier in deinem Hotel besuchen, nachdem wir uns zuletzt vor Monaten gesehen haben. Außerdem: Meer geht immer. Oder?«, versuchte ich mich in einem Scherz, um meine Angespanntheit zu überspielen.
Denn im Grunde war ich zu Lotte gekommen, da ich keinen anderen Ausweg gesehen und dringend aus Hamburg weggemusst hatte.
»Na, die Überraschung ist dir geglückt. Ich freue mich wahnsinnig, dass du zu mir auf die Insel gekommen bist. Kommt Kai auch?«, fragte sie, während sie suchend über meine Schulter sah.
»Ach, du kennst doch Kai. Der hat in seiner Kanzlei so viel zu tun, dass er nicht alles stehen und liegen lassen kann, um spontan mit mir zu verreisen. Also dachte ich mir, ich komme allein.«
Lotte legte ihren Arm um meine Schultern und zog mich in den Blauen Salon. Für gewöhnlich wurde der Blaue Salon erst am Nachmittag zum Afternoon Tea geöffnet, in dem köstliche Kuchen, Torten, Macarons und vieles mehr angeboten wurden. Alles selbstverständlich täglich frisch in der eigenen Küche zubereitet. Dazu wurden Kaffee und Tee gereicht, in den Sommermonaten auch hausgemachter Mango-Hibiskus- und Zitroneneistee.
Als kleines Mädchen war ich ständig in der Küche meines Elternhauses, hatte mit meiner Mutter und meiner Großmutter gebacken und später auch viel gekocht. Wenn es nach mir gegangen wäre, dann hätte ich meine Liebe zum Kochen und zu gutem Essen gerne zum Beruf gemacht. Meine Eltern waren jedoch strikt dagegen, denn weder waren die Arbeitszeiten familienfreundlich noch die Gehälter erstrebenswert. Also hatte ich mich in eine Ausbildung zur Steuerfachangestellten geflüchtet, nur um später als Yogalehrerin zu arbeiten.
Das Leben ging schon seltsame Wege.
Lotte bedeutete mir, an einem der freien Tische Platz zu nehmen, nachdem sie Svea Treffkorn, der Rezeptionistin, Bescheid gegeben hatte, dass sie nicht gestört werden wolle.
»Na, nun erzähl mal. Wie lange bleibst du? Hast du überhaupt Zeit für einen Urlaub? Schließlich heiratest du in drei Wochen. Das ist alles so aufregend. Felix hat sich sogar extra einen Anzug gekauft. Kannst du ihn dir darin vorstellen?« Sie lachte und schüttelte amüsiert den Kopf.
Felix war Lottes Freund. Die beiden arbeiteten in der Villa Sehnsucht, wo sie sich im vergangenen Jahr kennen- und lieben gelernt hatten, nachdem Lottes Großmutter spontan zur Kur fahren und Lotte die Leitung des Hotels übernehmen musste. Tatsächlich hatte sich Else Steltner allerdings mit ihrer Jugendliebe Ivar in Estland getroffen und nach ihrer Rückkehr die Leitung der Villa Sehnsucht endgültig ihrer Enkeltochter anvertraut. Felix arbeitete seither sowohl als Hausmeister für das Hotel als auch als Arzt im Sana-Krankenhaus in Bergen.
»Aktuell laufen keine Kurse, da ich mir vor der Hochzeit nicht zu viel Stress machen wollte, also kann ich ein bisschen länger bleiben. Natürlich nur, wenn du ein Zimmer für mich hast. Ich hoffe, ich bereite dir keine Umstände. Vielleicht hätte ich mich doch besser vor meiner Ankunft bei dir gemeldet.« Sofort rührte sich mein schlechtes Gewissen, wenn ich an diese spontane Aktion dachte.
Lotte legte ihre Hände auf meine.
»Selbstverständlich habe ich ein Zimmer für dich, Yara. Im April ist die Villa Sehnsucht selten ausgebucht. Du kannst aber auch zu Felix und mir in die Wohnung kommen. Ganz, wie du möchtest.«
Lotte freute sich aufrichtig über meinen Besuch. Sie schien mir abgekauft zu haben, dass ich mal eben alles und jeden in Hamburg stehen und liegen gelassen hatte, um kurz vor meiner Hochzeit ein paar Tage auf Rügen zu verbringen.
Aber Lotte hatte auch nicht mitbekommen, wie sehr Kai und ich uns in den letzten Wochen gestritten hatten. Sie wusste nichts davon, dass der Drang, schnellstmöglich Reißaus zu nehmen, mit jedem Tag, den die Hochzeit näher rückte, stärker wurde.
Als Kai gestern Abend in einem Zweisternerestaurant ausflippte, weil ihm das Fleisch zu sehr durchgebraten war, war das der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Ohne lange Erklärungen war ich aufgestanden, hatte meine Tasche geschnappt und war nach draußen in die frühlingshafte Hamburger Nacht entschwunden. Zu Hause hatte ich wahllos Klamotten in den Koffer geworfen, mir eine Zugverbindung nach Binz für den kommenden Morgen rausgesucht und mein Handy ausgestellt.
Zwar hatte ich befürchtet, Kai könnte zu mir kommen und Sturm läuten, doch zum Glück war alles ruhig geblieben.
Seit dem Zwischenfall im Restaurant hatte ich nichts mehr von ihm gehört. Was vermutlich daran lag, dass ich mein Handy, nachdem ich dem Bahnmitarbeiter in der App mein Ticket für die Verbindung nach Binz gezeigt hatte, nicht wieder angeschaltet hatte.
Ich wollte mir gar nicht ausmalen, was Kai dazu sagte, dass ich Hals über Kopf aus Hamburg abgehauen und nach Rügen geflüchtet war.
»Ich würde lieber im Hotel bleiben. Dann störe ich Felix und dich nicht in der Wohnung und kann am Morgen gleich am Strand spazieren und schwimmen gehen.«
Lotte nickte verständnisvoll.
»Das ist kein Problem. Da ich ohnehin jeden Tag hier bin, sehen wir uns so oder so. Aber erzähl: Wie läuft es mit der Hochzeit? Sind alle Vorbereitungen abgeschlossen, oder muss noch etwas erledigt werden? Ich habe schon ein ganz schlechtes Gewissen, weil ich dir nicht mehr helfen kann. Und das, obwohl ich deine Trauzeugin bin. Aber Hamburg ist dann doch zu weit weg.« Entschuldigend senkte Lotte den Blick.
»Mach dir deshalb mal keine Sorgen. Es ist alles organisiert. Kai und ich hatten sogar schon die letzte Anprobe unserer Hochzeitskleidung. Mein Kleid musste ein wenig enger gemacht werden. Kannst du dir das vorstellen? Aber die Schneiderin sagte, das sei bei den meisten Bräuten so. Und du bist eine wunderbare Trauzeugin. Die Einladungskarten und Tischkarten, die du erstellt hast, sind so wunderschön, wie ich mir das vorgestellt habe. Es ist einfach wunderbar, dich als Freundin zu haben. Und das nicht nur, weil du so eine erstklassige Graphikdesignerin bist.«
Bei meinen Worten wurde meine Kehle eng, und ich spürte Tränen aufsteigen.
Lotte, deren Augen ebenfalls wässrig schimmerten, zog mich abermals in ihre Arme.
»Das hab ich doch gerne gemacht, liebe Yara.«
»Oh, was ist denn hier los? Ist etwas passiert? Wird es wieder einen Angriff geben? Muss ich in den Luftschutzbunker gehen?«
Lottes Großtante Agnes stand plötzlich in der Tür und schaute bestürzt in unsere Richtung. Um ihre Beine schlich ihre schwarze Katze Miss Moneypenny und machte einen schrecklich gelangweilten Eindruck.
»Nein, nein. Es ist alles bestens, Großtante Agnes. Mach dir keine Sorgen. Yara ist zu uns auf die Insel gekommen, um uns zu besuchen. Ist das nicht toll?«
Agnes kam mit ihrer Katze im Schlepptau zu uns an den Tisch.
»Yara?« Sie überlegte laut und sah mich dabei prüfend von allen Seiten an, während sie ihren Zeigefinger auf die Unterlippe legte.
Lottes Großtante litt an Demenz, hatte aber oft ungewöhnlich klare Momente, in denen sie alle überraschte. Dennoch hatte sie Lotte im vergangenen Jahr ziemlich auf Trab gehalten. Zum Glück half ihr nun eine Betreuerin, die sich um sie kümmerte und dafür sorgte, dass sie nicht wieder in ihrem roten Samtbademantel, den sie zu jeder Tages- und Nachtzeit trug, badete oder das Hotel auf eigene Faust verließ.
»Ach, jetzt weiß ich. Wir haben uns beim Jungmädelbund kennengelernt, richtig? Ich fand das ja immer schrecklich fad dort. Und dann immer diese blöden Parolen, die kneifenden Uniformen und das ewige Fahnenschwingen.«
»Yara ist meine Freundin aus Hamburg, Großtante Agnes«, stellte Lotte richtig.
»Die, die diesen aalglatten Schnöselanwalt heiraten will?«
Bei ihren Worten konnte ich mir ein Lachen nicht verkneifen. Denn damit hatte sie Kai ziemlich genau beschrieben.
»Großtante Agnes!«, rief Lotte empört, um sie zu bremsen.
»Was denn? Man wird doch noch die Wahrheit sagen dürfen«, erwiderte sie, verschränkte die Arme vor der Brust und reckte dabei demonstrativ das Kinn in die Höhe.
Miss Moneypenny lag eingerollt wie ein Knäuel zu ihren Füßen und schlief. Offenbar langweilte unsere Unterhaltung sie schrecklich.
»Entschuldige bitte«, sagte Lotte an mich gewandt und brachte Agnes nach oben in ihr Zimmer. Als sie zurück war, seufzte sie leise.
»Großtante Agnes ist manchmal sehr direkt. Ich entschuldige mich noch mal für ihr Verhalten. Aber sie trägt ihr Herz auf der Zunge. Und sosehr ich mich auch bemühe, ich werde sie kaum davon überzeugen können, nicht alles laut auszusprechen, was sie denkt.«
Ich winkte ab.
»Mach dir keine Gedanken, Lotte. Ich weiß selbst, wie Kai ist. Aber er hat auch gute Seiten.«
An die konnte ich mich zwar kaum erinnern, doch ich versuchte es zumindest immer wieder. Schließlich wollte ich den aalglatten Schnöselanwalt, wie Agnes ihn bezeichnet hatte, in wenigen Wochen heiraten.
Oder?
Sosehr ich mich bemühte, mich auf Kais andere, bessere Seiten zu konzentrieren – es wollte mir schlichtweg nicht gelingen. Ständig wanderten meine Gedanken in das Hamburger Restaurant, in dem er sich gestern furchtbar danebenbenommen und wie ein arroganter Snob verhalten hatte. Es war für mich unvorstellbar, jemals wieder dieses Lokal zu betreten.
Und so ging es mir mittlerweile leider mit einigen Einrichtungen in Hamburg. Im Miniaturwunderland in der Speicherstadt hatte er sich so laut über einige Landschaften und Szenen geäußert, dass ich mich regelrecht geschämt hatte. In der Hamburger Kunsthalle lief es nicht viel besser, Kai ließ kein gutes Haar an der Ausstellung, dabei wurden die größten Impressionisten ausgestellt. Die Werke seien unbedeutend und der Eintrittspreis überteuert, wie er befand.
»Frau Steltner, ich bräuchte Sie an der Rezeption. Offenbar liegt für eine der Ferienwohnungen eine Doppelbuchung vor. Das sollten wir uns am besten gleich mal ansehen und besprechen, wie wir da verfahren wollen. Dummerweise sind zwei Stammgäste betroffen, Dr. Lingen und Frau Weber.«
Svea Treffkorn, die Rezeptionistin, trug ihre Haare zu einem festen Knoten im Nacken gebunden, was ihr ein elitäres und strenges Aussehen verlieh.
Auch wenn ich wusste, dass Lotte große Stücke auf sie hielt, war ich mir im Klaren darüber, dass Lotte und sie nicht unterschiedlicher sein könnten. Während meine Freundin als Hotelchefin besonders mit ihrer offenen herzlichen Art punkten konnte, musste sich Frau Treffkorn um den reibungslosen Ablauf des Tagesgeschäfts kümmern. So ergänzten sich die beiden Frauen perfekt.
»Ich komme gleich«, beeilte sich Lotte zu sagen.
»Entschuldige bitte, Yara, aber die Pflicht ruft. Ein Hotel zu leiten ist manchmal schwieriger, als einen Sack Flöhe zu hüten. Wenn ich Svea nicht hätte … Oma Else hat mir schon bei meiner Ankunft im letzten Jahr gesagt, was Svea für ein Glücksgriff ist. Und sie hat recht behalten. Um wie vieles leichter das alles im letzten Jahr doch gewesen wäre, wenn sie sich nicht um ihre Tochter hätte kümmern müssen und danach ihren Jahresurlaub genommen hätte.«
Lotte zuckte bei ihren Überlegungen mit den Schultern und stand auf.
»Vielleicht wären Felix und du euch dann aber nicht nähergekommen. Wer weiß?«, gab ich zu bedenken.
Lotte lächelte.
»Auch wieder wahr. Alles hat sein Gutes, denke ich. Manchmal dauert es nur ein bisschen länger, das festzustellen. Was meinst du?«
Bei Lottes Worten fragte ich mich unwillkürlich, was gut daran war, dass Kai sich gestern im Restaurant so furchtbar danebenbenommen hatte. Noch fehlte mir die Weitsicht, das Positive darin zu sehen. Aber vielleicht würde die Einsicht kommen.
Jetzt wollte ich erst mal so richtig auf Rügen ankommen, ein wenig Zeit für mich haben und über alles in Ruhe nachdenken. Dann würde ich weitersehen.
»Kommst du, Yara? Ich zeige dir gleich dein Zimmer.«
Die erste Nacht in der Villa Sehnsucht verbrachte ich mehr oder weniger schlaflos. Ständig kreisten meine Gedanken um Kai und unsere Beziehung. Und als das Karussell einfach nicht stehen bleiben wollte, stand ich kurzerhand um kurz nach fünf Uhr am frühen Morgen auf, um einen langen Strandspaziergang zu machen.
Nachdem ich mir meine Jeans und den dicken Pullover übergezogen hatte, schnappte ich mir meine Jacke an der Garderobe. Zwar waren die Temperaturen tagsüber schon frühlingshaft, in der Nacht war es allerdings noch recht kalt.
Auf leisen Sohlen stahl ich mich aus meinem Zimmer, ging die mit Teppich ausgelegten Treppen nach unten in die Lobby und hielt geradewegs auf den Ausgang zu.
Als ich draußen ankam, nahm ich einen tiefen Atemzug, schloss die Augen für einen Moment und ging über die Promenade an den Strand.
Wie erwartet, war er menschenleer, ich hatte den Strand und das Meer ganz für mich allein. Und obwohl die Sonne erst in knapp einer Stunde aufgehen würde, fühlte ich mich nicht unwohl in der Dunkelheit. Ganz im Gegenteil. Es kam mir fast so vor, als legte sich die Morgendämmerung wie ein Mantel schützend um mich.
Ohne darüber nachzudenken, ging ich zur Seebrücke, die ein ganzes Stück vom Hotel entfernt lag. Das Rauschen des Meeres war das Einzige, das ich hörte. Sogar die Möwen schienen noch zu schlafen. Nichts von wegen früher Vogel und so.
Nach einigen Metern musste ich ein Gähnen unterdrücken, die Müdigkeit versuchte, mich zu übermannen. Doch die Vorstellung, mich wieder ins Bett zu legen, nur um erneut im Gedankenkarussell gefangen zu sein, erschien mir wenig verheißungsvoll. Also ging ich weiter und bemühte mich, nicht ständig an Kai und unsere Beziehung zu denken, sondern mich an meiner Umgebung zu erfreuen.
Und so wie ich gingen auch meine Gedanken auf Wanderschaft. Ich musste wieder daran denken, wie behütet ich aufgewachsen war. Als Einzelkind richteten meine Eltern den Fokus von Kindesbeinen an voll und ganz auf mich. Es war ihre Entscheidung, welches Gymnasium ich besuchen sollte, und sie redeten mir auch mit Erfolg meinen Berufswunsch zur Köchin aus. Ob mir deshalb Kais Auftreten in dem Restaurant so gegen den Strich gegangen war? Weil ich wusste, wie viel Liebe und Passion die Köchinnen und Köche des Leibhaftig in ihre Kreationen legten? So, wie ich es am liebsten selbst getan hätte?
Aber wieso länger über die Vergangenheit nachdenken, sie lag hinter mir und konnte nicht mehr geändert werden. Eine Ausbildung zur Köchin hatte ich zwar nicht absolviert, aber über Umwege doch noch eine berufliche Erfüllung gefunden.
Meinen Eltern hatte ich erst sehr spät erzählt, dass ich mich mit einem eigenen Yogastudio selbständig machen wollte. Wie erwartet, hatten sie die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen und mich beschworen, meinen Entschluss zu überdenken. Doch sosehr sie auch gegen meine Pläne waren, ich hielt an meinem Traum fest und bereute ihn nicht einen Tag.
Rückblickend betrachtet kam es mir vor, als hätte ich mich nur allzu gerne auf den Rat meiner Eltern verlassen, um mir selbst keine Gedanken darüber machen zu müssen, welchen Weg ich im Leben einschlagen sollte. Es war bequem, und niemand konnte mir etwas vorwerfen. Schließlich wussten Eltern doch, was für das eigene Kind gut war, oder nicht?
Als ich ihnen nach der Eröffnung des Yogastudios Kai vorstellte, waren sie um einiges versöhnlicher. Er war genau der Schwiegersohn, den sie sich für mich gewünscht hatten, was mir schon bei unserem ersten Aufeinandertreffen in der kleinen Studentenkneipe, in die Lotte mich mitgenommen hatte, klar war. Ob ich deshalb wohl gleich ein gutes Gefühl hatte? Weil ich wusste, meine Eltern würden Kai mögen? Nicht wie Jakob, meinen ersten Freund, der mit seiner schwarzen Lederjacke, dem Motorrad und den unzähligen Tattoos leider so gar nicht von meinen Eltern akzeptiert worden war. Daher hatte ich mich an jenem Abend in der Kneipe beruhigt zurückgelehnt und mich darüber gefreut, dass meine Eltern sich keine Sorgen um mich und meine Zukunft machen mussten. Ein Rechtsanwalt als Ehemann, der zudem noch zu einer der einflussreichsten Familien Hamburgs gehörte, war in ihren Augen so etwas wie ein Sechser im Lotto.
Und auch ich hatte mich sehr darüber gefreut, dass zwischen uns vieren alles so harmonisch ablief. So sehr, dass ich mich über Kais spitze Bemerkungen und sein Fehlverhalten in so manchen Situationen nicht geärgert hatte. Schließlich verstand er sich gut mit meinen Eltern. Und diese gaben mir das Gefühl, dass ich sie mit dem kultivierten, gebildeten Mann an meiner Seite nicht enttäuscht hatte.
Was aber, wenn ich mich selbst enttäuschte? Wenn ich nicht auf Dauer mit Kai zusammen sein konnte, weil ich seine narzisstische Art nicht länger ertrug?
Seufzend blieb ich stehen, zog meine Schuhe und die Socken aus und vergrub meine Füße im kalten Sand, wie um mich selbst zu spüren.
Als die ersten zaghaften Sonnenstrahlen die Morgendämmerung durchbrachen, setzte ich mich in den Sand und beobachtete das Naturschauspiel, ganz für mich allein.
Kleine Wellen umspülten meine Füße. Das Wasser war so kalt, dass ich mir nicht vorstellen konnte, darin zu schwimmen. Aber es war trotzdem schön, hier zu sein. Am Meer. Auf Rügen. Bei Lotte, meiner besten Freundin.
Dummerweise hatte ich es jedoch noch nicht über mich gebracht, Lotte den wahren Grund für mein Kommen zu offenbaren. Als ich in der Villa Sehnsucht war und sie mich sofort fest in die Arme nahm, wollte ich ihr die Wiedersehensfreude nicht mit meinen Problemen verderben.
Außerdem bestand noch immer Hoffnung. Kai und ich, wir konnten das wieder hinkriegen, wenn wir ehrlich und offen miteinander waren.
Ich spürte deutlich, dass ich aus meiner Komfortzone herauskommen musste, wenn ich etwas verändern wollte. Und das wollte ich ganz dringend. Dazu zählte auch, mit Kai zu reden und ihm klarzumachen, dass ich seine Ausbrüche nicht weiter dulden würde. Egal, ob in der Öffentlichkeit oder im Privaten. Wenn ihm unsere Beziehung wichtig war, dann würde auch er merken, dass wir an uns arbeiten mussten.
Gleichzeitig fragte ich mich, wie sehr ich Kai wirklich liebte. Als wir uns auf der Uniparty kennenlernten, hatte Kai sich sehr viel Mühe gegeben, meine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Er ließ nicht locker, bis ich ihm meine Handynummer gegeben und ihm versprochen hatte, dass wir uns wiedersehen würden.
Doch kaum hatte er, was er wollte, schien er sich in unserer Beziehung zu langweilen. Er war ein Jäger. Auch wenn er sich nicht nach anderen Frauen umsah, jedenfalls nicht, soweit ich das beurteilen konnte. Vielleicht hatte sein aufbrausendes Wesen etwas damit zu tun, dass er sich in unserer Beziehung nicht mehr wohlfühlte?
Die Erkenntnis traf mich mit der Wucht eines Vierzigtonners. Doch es half nichts, ich musste mich den Fakten stellen. Denn so, wie es gerade zwischen uns lief, litten wir beide. Die Frage war nur, ob wir auch beide bereit waren, etwas zu verändern.
Abermals schloss ich meine Augen, während der neue Tag bedächtig voranschritt und die Natur nach und nach zum Leben erwachte. Möwen kreisten über mir am Himmel, manche von ihnen landeten ganz in meiner Nähe am Strand auf der Suche nach einem geeigneten Frühstück, nur um festzustellen, dass die Leckerbissen woanders warteten. Vereinzelt passierten Jogger und Wanderer den Strandabschnitt, den ich bisher für mich allein gehabt hatte, nahmen jedoch keine Notiz von mir. Was mir sehr recht war.
Auch wenn ich wusste, dass sich etwas in meinem Leben ändern musste, wollte ich mich in den kommenden Tagen hier bei Lotte etwas ablenken. Ich würde mir eine Aufgabe suchen. Vielleicht konnte ich für ihre Gäste morgens oder abends eine Yogastunde anbieten. Oder aber ich griff ihr anderweitig im Haus unter die Arme. Erst gestern hatte sie mir gesagt, dass es in einem Hotel immer etwas zu tun gab. Daran würde ich sie erinnern, wenn ich sie bat, mich ein wenig einzuspannen. Mir würde schon eine Ausrede einfallen, warum ich nicht nur auf der faulen Haut liegen wollte.
Langsam aber sicher kroch die Kälte in meine Glieder. Ich zog meine Socken und Schuhe über und stand auf. Dann klopfte ich mir den Sand von der Hose und ging zurück ins Hotel, wo Lotte in der Zwischenzeit sicher schon angekommen war.
Es erfüllte mich mit Stolz, mit der Eigentümerin der Villa Sehnsucht, nämlich mit Lotte, befreundet zu sein. Voller Dankbarkeit für diesen wunderbaren Ort ging ich an der frei stehenden Badewanne im Vorgarten vorbei, die bereits mit Frühlingsblumen bepflanzt und ein besonderer Hingucker war, den man sogar von der Promenade aus bewundern konnte.
Im Frühstücksraum brannte Licht, die ersten Gäste hatten sich bereits dort eingefunden. Die Tageszeitung lag aus, und es duftete nach frisch aufgebrühtem Kaffee.
Freudig blickte ich der friedvollen und ruhigen Atmosphäre entgegen, als ich Lotte am Rezeptionstresen mit Frau Treffkorn und einem Mann in Kochmontur wild diskutieren sah. Offenbar war selbst hier nicht alles eitel Sonnenschein.
Langsam näherte ich mich dem Trio, unsicher, ob es besser wäre, zu verschwinden oder meiner Freundin Schützenhilfe zu leisten. Noch konnte ich nicht einschätzen, worum es ging, fing ich doch nur vereinzelte Gesprächsfetzen auf, die keinen Aufschluss brachten.
»… Das ist zu eng getaktet. Wir haben dafür keine Kapazitäten«, sagte der Mann, der mit dem Rücken zu mir stand, gerade.
Weder seine Stimme noch seine Statur kamen mir bekannt vor. Er musste neu sein.
Zwar hatte Lotte mir gesagt, dass sie für die Küche fähige Fachkräfte suchte, allerdings hatte sie mir nicht erzählt, dass sie in der Zwischenzeit offensichtlich fündig geworden war.
»Und wenn wir diesen Termin etwas später ansetzen?«, fragte Frau Treffkorn gerade, während ich Lottes gerunzelte Stirn bemerkte.
»Das ist ein Firmenjubiläum. Die haben darauf bestanden, dass es um vierzehn Uhr Kaffee und Kuchen gibt«, erklärte Lotte geschäftig.
Noch vor wenigen Monaten war sie nicht sicher gewesen, ob sie in der Lage wäre, ein Hotel zu führen. Doch wenn ich mir meine beste Freundin so ansah, dann hatte sie nicht nur das Zeug dazu, sondern strahlte auch die Souveränität aus, die eine solche Position erforderte. Sie machte sich wirklich gut und war weit über sich hinausgewachsen.
Es erfüllte mich mit Stolz, sie so unabhängig und glücklich zu erleben. Offenbar war die Leitung der Villa Sehnsucht genau das, was sie in ihrem Leben gebraucht hatte. Und Felix. Den besonders.
»Kann ich irgendwie helfen?«, fragte ich, als ich bei ihnen stand.
Lotte warf mir ein dankbares Lächeln zu.
»Wer sind Sie?«, fragte hingegen der Koch, den ich nicht kannte, den ich allerdings für den Chef de Partie hielt, da der Posten unbesetzt war und Lotte mir davon erzählt hatte, dass sie einen Nachfolger gefunden hatte.
Vorwurfsvoll blitzte er mich mit seinen dunklen Augen an, als stünde es mir nicht zu, mich in dieses Gespräch einzumischen.
Die Ernsthaftigkeit in seinem Gesicht war sowohl leidenschaftlich als auch endgültig. Ich wagte es nicht, noch ein Wort an die Truppe zu richten, so genervt blickte er mich an.
»Das ist Yara Buchmeister, meine beste Freundin«, erklärte Lotte. »Sie ist gestern aus Hamburg angekommen und wird einige Zeit Gast hier in unserer Villa Sehnsucht sein. Außerdem ist sie eine begnadete Köchin«, schwärmte Lotte.
»Haben Sie eine Ausbildung in dem Bereich? Oder wie wollen Sie uns helfen?«
Kaum dass Lotte geendet hatte, ergriff der Mann abermals das Wort, ohne sich mir zuerst vorzustellen.
Besonders nett fand ich den Typ nicht. Auch wenn sein dunkler Bart und die wachsamen dunklen Augen in gewisser Hinsicht anziehend auf mich wirkten. Vielleicht versuchte ich, mich aber auch nur von Kai und meiner bevorstehenden Hochzeit abzulenken, und gab mich deshalb diesem merkwürdigen Gedanken hin.
»Nein, ich habe den Beruf nie erlernt, koche aber sehr gerne und würde die Küche der Villa Sehnsucht unterstützen wollen, wenn Sie …«
»Dann tut es mir leid, Ihnen eine Absage erteilen zu müssen. Mit Hobbyköchinnen, denen wir erst mal alles erklären müssen, können wir uns in der kommenden arbeitsintensiven Zeit nicht auch noch herumschlagen.« Dann wandte er sich von mir ab und richtete das Wort an Lotte. »Dafür werden Sie sicher Verständnis haben, Frau Steltner.«
»Ich finde Yaras Vorschlag gut, Herr Fenneke. Wie Sie selbst unlängst festgestellt haben, drängt die Zeit. Wir müssen zusehen, dass wir eine Hochzeit, ein Firmenjubiläum und eine unerwartete Trauerfeier unter einen Hut bekommen. Das ist wahrlich viel. Und da ich der Küchencrew auf die Schnelle keine andere Entlastung bieten kann, schließlich sind es bis zum Samstag nur noch drei Tage, bin ich mehr als dankbar, dass Yara sich angeboten hat, uns zu helfen.«
Ohne seine Antwort abzuwarten, blickte sie lächelnd in meine Richtung und blinzelte mir sodann verschwörerisch zu.
»Sehr gerne«, erwiderte ich.
»Damit wäre das geklärt. Ich muss jetzt leider zu einem wichtigen Termin«, sagte Lotte, schlug ihr schwarzes Buch zu und verabschiedete sich schon im nächsten Moment von uns.
Neben der Leitung des Hotels hatte sie noch eine Kooperation für zwei Hamburger Schwestern, für die sie Trockenblumensträuße fertigte. Das war ihr ganz persönlicher Ausgleich zum stressigen Hotelalltag. Und ich war froh gewesen, dass sie ihn hatte. Ob die beiden Bereiche allerdings dauerhaft miteinander vereinbar waren, musste die Zeit zeigen.
Als das Telefon klingelte, nahm Frau Treffkorn den Anruf entgegen.
Herr Fenneke blickte mich nach wie vor abschätzig an, und seine Lippen waren fest aufeinandergepresst, seine ganze Haltung zeigte seine Missbilligung und den Argwohn mir gegenüber.
Ein Schaudern lief mir über den Rücken, während ich seinem Blick standhielt und mich ganz auf mich und meine Fähigkeiten konzentrierte. Es gab keinen Grund, mich von diesem Mann einschüchtern zu lassen. Schon gar nicht, wenn es darum ging, meiner Freundin und ihrer Villa Sehnsucht zu helfen. Dieser eingebildete Fatzke musste wohl oder übel damit leben, dass ihm und der übrigen Küchencrew eine Hobbyköchin zur Hand ging.
»Sie sollten sich das noch mal gut überlegen. In der Küche herrscht ein rauer Ton. Ich bin mir nicht sicher, ob Sie der Herausforderung gewachsen sind. Außerdem sind die drei Events am Samstag so aufwendig, dass jeder genau wissen muss, was er zu tun hat. Wir haben keine Zeit für lange Erklärungen, Frau Buchmeister.«
Ich spürte, dass er mich mit seinen Worten einschüchtern wollte. Seine natürliche Autorität war so dominant, als zöge er eine Schutzmauer um sich hoch, die ich nicht durchdringen konnte, durchdringen sollte.
Doch von seinem Gehabe ließ ich mich nicht einschüchtern.
Den Abend mit Kai im Restaurant fest vor Augen, ballte ich meine Hände zu Fäusten, suchte mir einen festen Stand und bot meinem Gegenüber die Stirn.
»Dann sollten wir wohl besser keine Zeit mehr verlieren und in die Küche gehen. Finden Sie nicht auch, Herr Fenneke?«
Und noch ehe ich sehen konnte, wie er auf meine Worte reagierte, eilte ich an ihm vorbei in Richtung Küche.
Ein Schmunzeln lag mir auf den Lippen, als ich vor ihm die Küche betrat und seinen leicht verdatterten Blick bemerkte, als er schließlich neben mir stand. Offenbar hatte er nicht damit gerechnet, dass ich an meinem Plan festhalten würde.
»Wo soll ich anfangen?«, fragte ich, nachdem ich mir wie selbstverständlich eine Schürze aus dem Schrank geholt hatte.
Schließlich hatte ich im vergangenen Herbst erst der Küchencrew über die Schulter blicken dürfen. Aber da Herr Fenneke zu dem Zeitpunkt noch kein Teil des Teams war und ich keine Notwendigkeit sah, ihn diesbezüglich aufzuklären, weidete ich mich weiter an seinem irritierten Gesichtsausdruck.
»Na schön, Frau Buchmeister. Sie können Zwiebeln schälen. Fünf Kilo sollten für den Anfang genügen. Ach, und herzlich willkommen im Küchenteam der Villa Sehnsucht.«
Damit wandte er sich mit einem süffisanten Grinsen auf den Lippen von mir ab und ging an seinen Arbeitsplatz.
Wenn er glaubte, mich auf diese Weise zu verunsichern oder mir gar die Freude am Kochen zu nehmen, dann hatte er sich geschnitten. Ich würde so viel Leidenschaft und Liebe in meine Arbeit stecken, dass sogar ein Herr Fenneke das anerkennen musste.
Das Spiel konnte beginnen. Oder sollte ich eher von Zwiebeln reden, die geschält werden mussten?
Laut Tschen Tschiju soll man sich einen Augenblick der Ruhe gönnen und begreift dann, wie närrisch man herumgehastet ist.
Vermutlich musste Tschen Tschiju nie unter Herrn Fenneke in einer erstklassigen Hotelküche arbeiten. Dann wäre ihm nämlich aufgegangen, dass es dort keinen Augenblick der Ruhe gab und man herumhetzte, um zu überleben.
Nach den fünf Kilo Zwiebeln, die dazu führten, dass ich fast ununterbrochen weinen musste, wurde ich dazu verdonnert, unzählige Kartoffeln zu schälen und zu vierteln.
Irgendwann meldete sich mein Magen zu Wort. Denn gleich nach meinem Spaziergang am Strand war ich in die Küche gegangen, um dort das Essen für andere Menschen zuzubereiten. Es blieb keine Zeit für ein schnelles Frühstück. Und auch wenn die Versuchung groß war, mir selbst etwas zu zaubern, wollte ich diesem Fenneke-Miesepeter, wie ich ihn in Gedanken getauft hatte, keine Genugtuung geben.
»Frau Buchmeister, wenn Sie uns unterstützen wollen, dann müssen Sie einen Zahn zulegen. Bei diesem Tempo steht zu befürchten, dass unsere Mittagsgäste verhungern. Sollten Sie sich der Aufgabe nicht gewachsen sehen, macht Ihnen niemand einen Vorwurf, wenn Sie die Schürze ablegen und die Küche verlassen.«
Das würde diesem aufgeblasenen Fenneke-Miesepeter so passen.
Bei jedem seiner Worte kochte ich innerlich derart vor Wut, die mich meinen Hunger vergessen und die Kartoffeln noch eine Spur schneller schälen ließ.
»Kein Problem, überlegen Sie sich besser die nächste Aufgabe für mich. Ich bin nämlich gleich fertig.«
Skeptisch hob Herr Fenneke eine seiner Brauen, während er die beiden Eimer betrachtete, die noch immer randvoll mit ungeschälten Kartoffeln waren.
»Frau Buchmeister, Selbstüberschätzung bringt uns in der Küche nicht weiter. Wir sind ein Team. Jeder von uns ist nur so stark wie das schwächste Glied.«
Wen aus seiner Crew er dafür hielt, brauchte er mir nicht zu erklären. Das hatte er mir schon mehr als deutlich gemacht.
Dennoch ließ ich mich nicht einschüchtern. Herr Fenneke war vielleicht nicht mein größter Fan. Vermutlich würde er es auch nie werden. Aber ich war nicht hier, um mein Ego aufzupolieren. Ich wollte etwas Sinnvolles tun, um nicht ständig über gewisse Dinge nachzudenken.
Und das half mir gerade ungemein, auch wenn Herr Fenneke sicherlich nichts ahnte.
Der raue Ton in der Küche war zwar bisher nur mir zuteilgeworden. Aber wenn er glaubte, mich auf diese Weise loszuwerden, dann hatte er sich geschnitten. Ich würde nicht einfach aufgeben und wieder verschwinden. Da musste er sich schon einen besseren Plan ausdenken.
»Machen Sie sich keine Sorgen! Ich verrat es niemandem, dass Sie heute nicht ganz auf der Höhe sind. Aber jetzt lassen Sie mich bitte weiterarbeiten. Sonst gibt es später hungrige Gäste. Und das wollen Sie doch sicher nicht verantworten.«
»Wie bitte?«, fragte er mit weit aufgerissenen Augen, während er die Backen wie ein Fisch aufblies und nach Worten rang.
Nur mühsam unterdrückte ich ein Schmunzeln.
Es war amüsant, Herrn Fenneke so straucheln zu sehen. Wie einfach es mir doch gelungen war, ihn aus der Fassung zu bringen. Ein Umstand, der mich enorm erheiterte.
»Herr Fenneke, können Sie mal kommen?«, fragte Frau Menckwitz, seine Vorgesetzte und Souschefin, seit Herr Wiedemann vor einem halben Jahr der Liebe wegen die Villa Sehnsucht verlassen hatte.
Herr Fenneke bedachte mich mit einem durchdringenden Blick aus zusammengekniffenen Augen. Seine Lippen waren dabei so fest aufeinandergepresst, dass nur ein schmaler Strich zu sehen war.
»Herr Fenneke?«, rief Frau Menckwitz abermals.
»Ich komme«, erwiderte er schließlich, während er seinen Blick fest auf mich gerichtet hielt.
Sein Einschüchterungsversuch funktionierte bei mir nicht. Ich hielt seinem Blick stand und machte keine Anstalten einzuknicken. Er würde mich aus dieser Küche nicht herausekeln. Nicht mit den Maßnahmen, die er bisher ergriffen hatte. Dagegen war ich resistent. Er müsste schon schwerere Geschütze auffahren.
Das Scheppern von Töpfen und Pfannen nahm zu. Eine gewisse Hektik machte sich in der Küche breit, von der ich mich jedoch nicht anstecken ließ.
Mit einem vielsagenden »Hm« wandte sich Herr Fenneke schließlich von mir ab.
Was für ein Idiot!, schoss es mir augenblicklich durch den Kopf.
Doch anstatt weiter über den Koch nachzudenken, steckte ich all meine Energie in das Schälen der Kartoffeln. Mein Kopf war dabei so leer wie schon lange nicht mehr. Am Ende musste ich Herrn Fenneke dafür auch noch dankbar sein.
Nach knapp vierzig Minuten war die Arbeit erledigt. Ein wenig stolz blickte ich auf die geschälten Kartoffeln. Als Yogalehrerin sah ich nur selten, welche Wirkung meine Übungen und Sinnsprüche auf meine vorwiegend weiblichen Kursteilnehmer hatten. Nun ein fertiges Produkt vor mir liegen zu sehen erfüllte mich mit einem gewissen Stolz.
Ich hatte Kartoffeln geschält. Und Zwiebeln.
Das hätte ich vor meiner spontanen Reise nach Rügen auch nicht gedacht, dass ich in der Küche der Villa Sehnsucht stehen und mich über solch ein Ergebnis freuen würde. Aber es waren bekanntlich die kleinen Dinge im Leben, die Freude brachten. Und dabei waren die Kartoffeln sogar recht groß.
»Was machen Sie da, Frau Buchmeister? Anstatt verträumt auf Ihr Werk zu blicken, sollten Sie die Kartoffeln waschen und vierteln. Wenn Sie sich dieser Aufgabe nicht gewachsen sehen, dann macht Ihnen keiner einen Vorwurf, wenn Sie …«
Genervt rollte ich mit den Augen. »Das ist kein Problem für mich. Gehen Sie mir bitte aus dem Weg, Herr Fenneke. Sie behindern mich bei der Arbeit.« Eiskalt fiel ich ihm ins Wort. Wenn dieser arrogante Kerl Krieg wollte, dann konnte er ihn haben, auch wenn ich sonst überzeugte Pazifistin war. In der Küche herrschten jedoch besondere Regeln. Was nicht automatisch hieß, dass ich diese guthieß.
Aber ich wollte auch nicht weggeschickt werden. Wenn ich mich nicht allzu dumm anstellte, konnte ich hier vielleicht sogar noch etwas lernen.
Wenn auch Herr Fenneke, menschlich gesehen, nach meiner Überzeugung eine Katastrophe war, konnte ich doch nicht leugnen, dass er wusste, was er tat. Abgesehen von seinen ständigen Schikanen natürlich.
Soweit ich das beurteilen konnte, verhielt er sich den anderen in der Küche gegenüber sehr verständnisvoll und loyal. Zwar war ich noch nicht lange Teil des Teams, dennoch hatte ich bereits mitbekommen, wie er bei Nachfragen sachkundig und freundlich reagierte. Er konnte also auch anders.
Als der Azubi, Jakob, beispielsweise Rote Bete garen sollte, riet er ihm, diese in Johannisbeersaft zu kochen. Die fruchtige Note wäre ein wunderbarer Kontrast zu der Erdigkeit der Roten Bete. Und danach könnte der Saft aufgefangen werden, um darin Perlzwiebeln oder Schalotten mit einem Schuss Himbeeressig gar zu ziehen. Dadurch ergäbe sich eine tolle rote Farbe, die hervorragend zu einem Schweinebraten oder Rind passen würde.
Keine Ahnung, warum er sich mir gegenüber so feindselig verhielt. Lag es wirklich nur daran, dass ich keine ausgebildete Kraft war, oder hatte der Typ einfach etwas gegen mich? Vielleicht mochte er es nicht, dass ich mit Lotte befreundet war. Oder er hatte generell etwas gegen Frauen in der Küche. Wobei er dafür Frau Menckwitz gegenüber viel zu respektvoll auftrat. Das konnte es also auch nicht sein.
»Haben Sie jetzt genug Köchin gespielt? Wollen Sie nicht zurück an den Strand und sich die Beine vertreten? Das hier ist auf Dauer nichts für Sie, das wissen Sie selbst.«
Daher wehte der Wind. Der Typ glaubte, die Zeit in der Küche wäre für mich nur eine nette Abwechslung in meinem Urlaubsalltag.
»Ich spiele sehr gern in der Küche, Herr Fenneke. Sie können mit Vergnügen den Souschef des Leibhaftig in Hamburg befragen. Dort habe ich vor knapp einem Jahr ein Praktikum absolviert. Und ein Jobangebot als Köchin erhalten.«
Ein weiterer Grund, warum mir Kais Totalausfall so peinlich gewesen war. Schließlich kannte ich nicht nur die exklusiven und ausgesprochen köstlichen Gerichte. Nein, ich hatte hinter die Kulissen geschaut und dort – neben meiner Tätigkeit als Yogalehrerin – sechs Wochen gearbeitet.
Der Souschef, Herr Michalski, hatte mir nach meiner Zeit dort das Du und einen Job angeboten. Während ich Ersteres mit Dank angenommen hatte, war ich beim Jobangebot eher unsicher gewesen.
Zwar hatte ich es schon als Kind geliebt, zu kochen und meinen Kreationen mit meiner Kreativität eine ganz besondere Note zu verleihen. Allerdings war ich mir im Klaren darüber, dass das Angebot von Herrn Michalski eigentlich nur schmeicheln sollte. Schließlich hatte ich keine Ausbildung, die mich für den Beruf befähigt hätte. Wenn es jedoch um die Liebe zum Essen ging, dann wäre ich in der Küche vermutlich besser aufgehoben als irgendwo sonst.
Wunschträume, wie meine Mutter sie nannte. Früher hatte ich mir ganze Schlösser aus meinen Träumen gebaut und mich hinter den massiven Burgmauern verschanzt.
In der Zwischenzeit war ich erwachsen geworden. Ich hatte Verantwortung für mein Leben übernommen und musste Rechnungen bezahlen. Da waren Träume eher hinderlich. Also war ich bei meinem erträglichen Yogastudio geblieben und hatte meinen Traum begraben. Zumindest fürs Erste. Vielleicht war ich einfach noch nicht bereit dafür.
»Sie kennen Herrn Michalski?«, fragte mein Gegenüber ungläubig, während ich die Kartoffeln stoisch viertelte.
Äußerlich ließ ich es mir zwar nicht anmerken, dass ich bemerkt hatte, wie beeindruckt Herr Fenneke von meinen Worten war. Innerlich aber feierte ich mich für den Einfall. Er war gerade zur rechten Zeit gekommen.
»Wir duzen uns sogar.«
Eigentlich hatte ich nicht vorgehabt, damit anzugeben. Aber wenn es half, dass Herr Fenneke mir nicht mehr ganz so feindselig begegnete …
»Michalski ist ein Angeber. Er denkt, er könne mit seiner Molekularküche die Welt revolutionieren, vergisst aber dabei, worum es in diesem Job wirklich geht. Das sieht man ja schon daran, dass er ungelernten Kräften Zugang zu seiner Küche gewährt.«
Bei Fennekes Worten fiel mir das Messer aus der Hand. Dieser Mann beherrschte es wahrhaftig aus dem Effeff, mich aus der Fassung zu bringen. Da konnte ich mir noch so viele Yogaweisheiten ins Gedächtnis rufen. Herr Fenneke triggerte mich ungemein, und meine Wut auf ihn wuchs mit jedem weiteren Wort ins Unermessliche.
»Wenn Sie es so gut wissen, Herr Fenneke: Worum geht es in Ihren Augen denn in dem Beruf? Ich bin sehr gespannt, an welcher Offenbarung Sie mich gleich teilhaben lassen«, fragte ich spöttisch und sah ihm in die Augen.
Mein Blutdruck war inzwischen wie die Kugel bei Hau den Lukas in die Höhe geschossen und knallte oben gegen den Anschlag. Volle Punktzahl!
Möglicherweise stand gerade einer der besten Köche dieses Landes vor mir. Aber auch wenn er Paul Bocuse höchstpersönlich gekannt hätte, so gehörte es sich nicht, abfällig über einen Kollegen zu reden. Das war unmöglich. Und unfair obendrein. Schließlich war besagter Kollege nicht anwesend, um sich gegen seine Behauptungen zur Wehr zu setzen.
»Liebe«, erwiderte er, ohne mit der Wimper zu zucken.
»Wie bitte?«, fragte ich irritiert.
Hatte der Mann, der bis vor wenigen Sekunden kein gutes Haar an mir und dem Souschef des Leibhaftig gelassen hatte, soeben von Liebe gesprochen? Ich musste mich verhört haben. Ganz eindeutig.
»Sie haben mich schon ganz richtig verstanden, Frau Buchmeister. Die meisten Köche vergessen im Laufe ihrer Karriere, worum es beim Zubereiten von Speisen wirklich geht. Sie wenden immer ausgefeiltere Methoden an, machen bahnbrechende Entdeckungen und proklamieren neue Herangehensweisen. Dabei verlieren die meisten vollkommen aus dem Blick, was wirklich wichtig ist: Kochen ist Liebe. Ein Gericht, das ich meinem Gast serviere, kann nur gut sein, wenn ich es mit Herzblut zubereitet habe. Das bin ich sowohl dem Produkt als auch dem Bekochten schuldig. Und an dieses Gefühl wird keine noch so pingelige Molekularküche je herankommen. Die ist vielleicht schön und neu und einzigartig. Aber sie trifft die Menschen nicht dort, wo wir Köche sie berühren wollen. Nämlich hier im Herzen.«
Mit offenem Mund folgte ich den Worten des Mannes, dem ich einen solchen Gefühlsausbruch – im positiven Sinne – nie zugetraut hätte. Hatte er mir soeben wirklich von der Liebe zu seinem Beruf berichtet, oder hatte ich mir das am Ende alles nur eingebildet?
»Frau Buchmeister? Sie starren mich an«, sagte er nach einigen Sekunden, in denen mein Gehirn noch immer daran knabberte, das zu verstehen, was es soeben gehört hatte.
»I-ich, also … D-das ist a-auch meine M-meinung«, stotterte ich unbeholfen, während Herr Fenneke mich durchdringend mit leicht gerunzelter Stirn musterte.
Wie alt der Mann wohl war? Sicher in meinem Alter, also Anfang dreißig. Wobei seine Haare an den Schläfen von gut sichtbaren grauen Fäden durchzogen waren. Ebenso der Bart. Entweder er hatte schon einige nervenaufreibende Erfahrungen in seinem Leben gemacht, oder aber es war genetisch bedingt. Wenn ich darüber nachdachte, wie Herr Fenneke mir seit unserer ersten Minute begegnete, überwog eindeutig Ersteres.
»Prima. Dann sind wir ja einer Meinung. Ach, und da ich unsere Gäste nicht mit rohen Kartoffeln vergiften möchte, sollten sie exakt jetzt ins kochende Wasser. Kriegen Sie das hin, Frau Buchmeister?«
Am liebsten wäre es ihm sicher gewesen, wenn ich bei seinen Worten eingeknickt wäre und endlich das Feld geräumt hätte. Aber so leicht würde ich es ihm nicht machen.
»Das werden die besten Kartoffeln, die Sie je in einem Kochtopf haben schwimmen sehen. Das garantiere ich Ihnen.«
Wenn Herr Fenneke glaubte, nur er wäre dazu in der Lage, emotionale Reden zu schwingen, dann hatte er sich geschnitten. Was der konnte, konnte ich schon lange.
»Und wie wollen Sie das bewerkstelligen?«, fragte er irritiert.
Ich liebte diesen verwunderten Gesichtsausdruck und die skeptisch nach oben gezogenen Augenbrauen. Zeugten sie doch davon, dass mein Gegenüber verunsichert war. Und Verunsicherung war genau das, was ich in dem Mann, der nicht müde wurde, mich aus der Küche zu komplimentieren, hervorrufen wollte. Vielleicht auch Anerkennung. Aber alles zu seiner Zeit.
»Na, mit Ihrer Geheimzutat natürlich«, gab ich mich nebulös und setzte meine Arbeit fort.
»Geheimzutat? Welche Geheimzutat denn?«
Ein Schmunzeln zauberte sich bei der Ungeduld in seiner Stimme auf meine Lippen.
»Sie sprachen doch selbst erst davon. Die Liebe, natürlich.«
Noch ehe ich seine Reaktion auf meine Worte sehen konnte, brachte ich die geviertelten Kartoffeln zu dem Kochtopf, den ich bereits mit Wasser gefüllt hatte, das mittlerweile kochte. Dabei entging mir Fennekes verdatterter Gesichtsausdruck und der leicht geöffnete Mund nicht.
»Tja, Till, da hast du offenbar deine Meisterin gefunden. Denn Frau Buchmeister scheint zwar nicht deinen Vorstellungen zu entsprechen, aber sie wird es dir nicht leicht machen, sie in die Schublade der unfähigen Köchin zu stecken. Ich bin sehr gespannt darauf, wie der weitere Schlagabtausch zwischen euch beiden aussehen wird«, erklärte Frau Menckwitz lachend, als sie just in diesem Augenblick an uns vorbeiging.
Und damit war sie nicht allein.
»Wie ist es dir heute in der Küche ergangen?«