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Fabian Risk gegen seinen Erzfeind - ein Kampf auf Leben und Tod Er hat erpresst. Er hat misshandelt. Er ist über Leichen gegangen, um ganz nach oben zu kommen. Er heißt Kim Sleizner und ist der Polizeichef von Kopenhagen. Kommissar Fabian Risk würde alles tun, um seinen Erzfeind endlich hinter Gitter zu bringen. Seine frühere Kollegin Dunja Hougard ist untergetaucht und ermittelt verdeckt gegen ihren ehemaligen Chef Sleizner. Fabian Risk unterstützt sie bei der Suche nach Beweisen. Da wird ein Auto mit zwei Leichen am Meeresgrund gefunden, einer der Toten ist ein hochrangiger Beamter. Fabian Risk begreift, dass Sleizner dahinterstecken muss. Nun könnte die Falle endlich zuschnappen. Die Frage ist nur, für wen.
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Seitenzahl: 669
Meeressarg
STEFAN AHNHEM ist einer der erfolgreichsten Krimiautoren Schwedens. Seine Bücher sind allesamt Bestseller und preisgekrönt. Bevor Ahnhem begann, selbst Krimis zu schreiben, verfasste er Drehbücher, unter anderem für die Filme der Wallander-Reihe. Er lebtmit seiner Familie in Kopenhagen.
RISK GEGEN SLEIZNER – DER COUNTDOWN LÄUFT. Er hat erpresst. Er hat misshandelt. Er ist über Leichen gegangen, um ganz nach oben zu kommen. Er heißt Kim Sleizner und ist der Polizeichef von Kopenhagen. Der unbestechliche Kommissar Fabian Risk setzt alles auf eine Karte, um ihn endlich aus dem Spiel zu nehmen. Gemeinsam mit seiner früheren Kollegin Dunja Hougard, die untergetaucht ist und verdeckt gegen Sleizner ermittelt, sucht er nach Beweisen. Da wird ein Auto mit zwei Toten auf dem Meeresgrund gefunden, einer der Männer ist ein hochrangiger Beamter. Fabian Risk verdächtigt Sleizner. Nun könnte die Falle endlich zuschnappen. Die Frage ist nur, wer sitzt drin?
Stefan Ahnhem
Kriminalroman
Aus dem Schwedischen von Katrin Frey
Ullstein
Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein.de
ISBN 978-3-8437-2629-0
© Stefan Ahnhem 2021
Published by agreement with Salomonsson Agency
© der deutschsprachigen Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2021
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Titelei
Der Autor / Das Buch
Titelseite
Impressum
Prolog
Teil I 3. – 5. August 2012
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TEIL II 6. – 8. August 2012
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Epilog
Anhang
Danke
Social Media
Vorablesen.de
Cover
Titelseite
Inhalt
Prolog
3. August 2012
Erica Andersson hatte nie viel für Wasser übriggehabt. Duschen war kein Problem. Und es machte ihr auch nichts aus, mit einem guten Buch in der Badewanne zu liegen. Im Gegenteil. Aber was sie nicht mochte, war Baden. Also Planschen, Schwimmen oder was immer man im Wasser so machte, wenn man weder schmutzig war noch schwitzte.
Nicht, dass sie überhaupt nicht hätte schwimmen können, aber eine sichere Schwimmerin war sie nicht. Dafür hätte man in der Lage sein müssen, zweihundert Meter zurückzulegen, ohne allzu viel Wasser zu schlucken, und das hätte sie niemals geschafft. Schon gar nicht auf dem offenen Meer mit all den Wellen, Quallen und ekligen Fischen.
Trotzdem hatte sie sich überreden lassen, ihre Kilos in ein kleines Kajak zu zwängen, so schmal und wacklig, dass es nur durch ein Wunder noch nicht umgekippt war. Sie saß buchstäblich im Wasser. Diesem kalten dunklen Wasser, das mit seinen ungestümen Wellen von allen Seiten nach ihr griff.
Laut Mikkel wurde man beim Kajakpaddeln fast nie nass. Er hatte ihr treuherzig in die Augen geblickt und allen Ernstes behauptet, allerhöchstens ihre Unterarme würden ein paar Spritzer abbekommen.
Natürlich war diese Aussage in keiner Weise zutreffend, was allerdings Mikkels Charakter recht treffend beschrieb, vor allem, wenn er sich eine Idee in den Kopf gesetzt hatte, die er selbst für glänzend hielt. Seit einem Monat hat er nichts anderes getan, als davon zu schwärmen, den Sonnenaufgang von den Kopenhagener Kanälen aus zu begrüßen und eins mit dem Wasser zu werden.
Eins mit dem Wasser. Jesus …
Doch was tat man nicht alles für die Liebe. Es war ja nicht so, dass sie von interessierten Männern belagert wurde, und um ehrlich zu sein, war Mikkels Marktwert viel höher als ihrer. Er sah nicht nur gut aus, sondern hatte auch als Programmierer eine richtige Karriere gemacht und bekam ein Gehalt, von dem die meisten nur träumen konnten.
Der einzige Haken war, dass er Däne war und sie seinetwegen Helsingborg hatte verlassen müssen. Wobei das eigentlich einfacher gewesen war, als dieses Kajak im Gleichgewicht zu halten.
Beim kleinsten bisschen Seegang kippte es, und ihr taten bereits die Pomuskeln weh. An Arme und Schultern mochte sie gar nicht denken. Wenn sie diesen Höllenritt überstanden hatte, würde sie zu nichts mehr zu gebrauchen sein.
»Siehst du denn nicht, wie schön es hier ist?«, rief er von vorn.
Sie nickte. Natürlich war es schön hier. Kopenhagen zeigte sich tatsächlich von einer ganz anderen Seite. Aber genießen konnte sie den Anblick nicht. Vor allem, seit sie den beschaulichen und pittoresken Wilderskanal hinter sich gelassen und das Hafengebiet erreicht hatten, wo viel mehr Verkehr herrschte und das Wasser noch unruhiger war.
Sie konnte nicht verstehen, warum er sie gezwungen hatte, aufs offene Wasser hinauszufahren. Wahrscheinlich wollte er ihr jetzt, wo sie ihn endlich einmal begleitete, alles zeigen. Oder hatte er etwas anderes im Sinn?
Diesem Gedanken wollte sie lieber nicht nachgehen, aber offensichtlich hatte sie das nicht selbst zu entscheiden. Er führte ein Eigenleben, und es verzweigte sich bereits in alle möglichen Richtungen.
Mikkel war in letzter Zeit ungewöhnlich reizbar gewesen, und miteinander geschlafen hatten sie schon fast seit einem Monat nicht mehr. Anfangs hatte sie geglaubt, diese kleine Krise würde von selbst verfliegen. Doch es war eher schlimmer geworden. Und jetzt hatten sie Urlaub, und die Luft war dicker denn je.
Hatte er genug von ihr? War das der Grund? Hatte er sie deswegen zu diesem Höllentrip überredet? Damit sie von sich aus Schluss machte? Weil er nicht die Eier hatte? Gott, wie feige.
Andererseits war das Ganze auch zu schön gewesen, um wahr zu sein. Wie merkwürdig, dass er sich ausgerechnet für sie entschieden hatte.
Sie war manchmal anstrengend. Das war ihr durchaus bewusst. Vor allem, wenn sie ihre fixen Ideen hatte. Die ließen sie einfach nicht los. Bis es zu spät war. Wie dieses eine Mal, als sie sich sicher gewesen war, er hätte eine andere, und bei der erstbesten Gelegenheit seinen Computer und sein Smartphone durchforstet hatte. Ohne etwas Verdächtiges zu finden.
Hätte sie in dem Moment lockergelassen, wäre alles okay gewesen. Aber sie musste ihm ja unbedingt zwei Abende später wie in einem grobkörnigen Spionagefilm heimlich hinterherschleichen, um zu kontrollieren, ob er wirklich mit diesem Kumpel einen trinken ging. Und natürlich hatte er sie bemerkt und war stinksauer geworden. Nein, rasend. Wie damals, als sie einmal zu oft nach dieser Ex-Freundin gefragt hatte, die bei einem Autounfall ums Leben gekommen war.
»Und dort siehst du das neue Opernhaus!« Er zeigte mit dem Paddel auf das grandiose Gebäude.
»Toll!«, rief sie. »Können wir jetzt bitte umkehren?«
»Nein! Merkst du denn nicht, dass das Wasser ganz ruhig ist?«
»Doch, aber ich glaube, es reicht mir für heute. Ich habe langsam keine Kraft mehr in den Armen.«
»Na, dann trainierst du sie jetzt eben ein bisschen.«
»Aber Mikkel, ich fühle mich nicht sicher. Kannst du das denn nicht verstehen? Ich habe Angst und will jetzt nicht mehr. Ich will nur noch an Land.«
»Es gibt hier nichts, wovor du Angst haben müsstest, Erica. Das schwöre ich dir.«
Und dann setzte er dieses Lächeln auf, von dem ihr die Knie weich wurden und gegen das sie vollkommen wehrlos war. Wenn er sie so ansah, war sie bereit, alles für ihn zu tun. Seufzend paddelte sie an der Oper vorbei und weiter hinaus in den Hafen.
Genauso hatte er sie angesehen, als er damals auf sie zugekommen war und sie gefragt hatte, ob er ihr einen Drink spendieren dürfe. Sie war mit ein paar Freundinnen in Kopenhagen unterwegs gewesen und auf Anhieb so verliebt, dass sie zwei Wochen später ihren Job gekündigt hatte und in die dänische Hauptstadt gezogen war.
Den Einwand ihrer Mutter, dass das Ganze vielleicht ein bisschen zu schnell gehen und sie diesen Mann doch kaum kennen würde, hatte sie überhört. Zumindest am Anfang.
»Wir paddeln nur bis zum Reffenmarkt, und dann drehen wir um!«, rief er ein paar Hundert Meter weiter. »Okay?«
»Ich will aber nicht mehr, glaube ich«, sagte sie. »Echt jetzt, Mikkel. Das Kajak kippt fast um, und …«
»Es kippt nicht um. Entspann dich einfach und paddle ganz ruhig weiter.«
Warum machte er nicht einfach Schluss und setzte sie vor die Tür, wenn er das unbedingt wollte? Klar würde sie traurig und bestimmt auch wütend werden. Sie würde rumschreien und ihm Vorwürfe machen. Vielleicht würde sie sogar Sachen an die Wand werfen.
Aber irgendwann würde sie sich damit abfinden und zurück nach Helsingborg ziehen, auch wenn sie ihn mit Sicherheit noch ein paarmal anrufen würde, bevor sie endgültig aufgab. Schlimmer würde es nicht werden. Wenn er sie einfach nur loswerden wollte, konnte er das haben.
Er traute sich bloß nicht. Das war die einzige Erklärung. Und natürlich war sie ein wenig cholerisch, das stritt sie gar nicht ab. Aber verglichen mit ihm war sie ein Lamm.
Mitunter hatte sie richtig Angst vor ihm bekommen. Vor allem dieses eine Mal, als sie ihm gedroht hatte, ihn wegen Vergewaltigung anzuzeigen, wenn er sie nicht schlafen ließe. Da hatte er mit der Faust direkt über ihrem Kopf so fest an die Wand geschlagen, dass dort ein Abdruck zurückgeblieben war.
Doch diese Zeiten waren vorbei. Mittlerweile wollte er gar nicht mehr mit ihr schlafen.
Als sie ein paar Minuten später in der Ferne den Kreuzfahrtdampfer in den Hafen einfahren sah, wusste sie plötzlich ganz genau, was er vorhatte.
Und sie wurde panisch.
»Schau mal da!«, rief er, während sie verzweifelt nach einem Ausweg aus diesem Albtraum suchte. Er zeigte auf einige weiße Skulpturen, die auf dem Kai aufgereiht waren.
Selbstverständlich hatte er sie durchschaut und versuchte jetzt mit aller Macht, sie abzulenken. Die Skulpturen, die dort in all ihrer Pracht Wind und Wetter trotzten, waren bestimmt schön, aber sie konnte nur einen kurzen Blick darauf werfen, während sie sich voll und ganz auf das Kreuzfahrtschiff konzentrierte.
Es würde wahrscheinlich nicht noch weiter in den Hafen hineinfahren, sondern am Langeliniekai anlegen, aber die Wellen, die der Dampfer aufwarf, setzten sich bis ins Innere des Hafens fort, und auch wenn sie sie noch nicht sehen konnte, fühlte sie sie bereits auf sich zukommen.
Sie würde kentern, das wusste sie, und wenn sie erst einmal gekentert war, hatte sie keine Chance mehr. Und er wusste es natürlich auch. Mit was für einem Psychopathen war sie eigentlich zusammen? Machte er es immer so, wenn er die Nase voll von seinen Partnerinnen hatte? Beseitigte er sie mithilfe eines obskuren Unfalls?
Natürlich hatte er sie deswegen aufs mehr oder weniger offene Meer hinausgelockt, wo es weit und breit keine Zeugen gab. Es würde wie ein ganz normaler Tod durch Ertrinken aussehen. Wieder einer mehr in der Statistik der ungeübten Schwimmer, die das Risiko nicht bedacht hatten.
»Hilfe!«, schrie sie und paddelte in Richtung Ufer. »Hilfe!«
»Was machst du da, Erica?«
Ohne mit dem Paddeln innezuhalten, warf sie einen Blick über ihre Schulter und sah die erste Welle. Oder vielmehr die Wellen. Drei im Abstand von je zehn Metern konnte sie erkennen. Aus dieser Entfernung wirkten sie nicht so bedrohlich, aber die Geschwindigkeit, mit der sie übers Wasser rollten, war beängstigend.
»Erica!«
Sie paddelte, was das Zeug hielt, aber das Kajak ließ sich davon nicht beeindrucken. Anstatt sich vorwärts zu bewegen, drehte es sich nach rechts und links. Verdammt, verdammt, verdammt! Warum hatte sie nicht auf ihre Mutter gehört? Wieso hatte sie die Alarmsignale ignoriert? Wie hatte sie nur so naiv sein können!
Und dann war sie da.
Genauso hatte sie es sich vorgestellt.
Sie spürte sie jetzt und merkte, wie groß sie in Wirklichkeit war, als sie mit dem hinteren Teil des Kajaks absank und ein paar Sekunden später wieder hochgehoben wurde. Ach du Scheiße, war ihr letzter Gedanke, bevor sich alles drehte.
Sie kniff die Augen zusammen. Als ob nichts passieren konnte, solange sie es nicht sah. Doch sie konnte die Augen so fest schließen, wie sie wollte, es änderte nichts an der Tatsache, dass sie sich unter Wasser befand, und zwar kopfüber. Ihr Unterleib hing im Kajak fest. Sie hatte gehört, dass man sich mit einer Eskimorolle wieder aufrichten konnte, aber sie brauchte nur einen einzigen Versuch zu unternehmen, um zu wissen, dass das blanke Theorie war. Es war unmöglich. Und außerdem hatte sie sich die Knie eingeklemmt.
So sollte es also enden. Kopfüber unter Wasser hängend. Überraschenderweise war sie ziemlich ruhig. Die Panik, die sie bis eben verspürt hatte, schien verflogen zu sein. Vielleicht weil sie alle Hoffnung fahren lassen und ihr Schicksal akzeptiert hatte.
Sie wusste nicht, wie lange sie sich schon unter Wasser befand, aber es konnte sich höchstens um Sekunden handeln, denn Atemnot verspürte sie nicht. Vielleicht war das normal, kurz vor dem Ende. Dass die Sekunden langsamer verstrichen und die Zeit sich ausdehnte.
Zum ersten Mal im Leben machte sie unter Wasser die Augen auf. Das hatte sie sich noch nie getraut, aber nun hatte sie nichts mehr zu verlieren. In wenigen Minuten würde sie sterben, und das konnte sie genauso gut mit offenen Augen tun.
Es tat längst nicht so weh, wie sie vermutet hatte. Sie spürte es kaum. Übermäßig dunkel war es auch nicht. Eher ziemlich hell. Hellgrün. Und unscharf.
Dann kam die Atemnot. In dem Moment, als sie den Kopf in den Nacken legte, um nach unten zu schauen, bemerkte sie einige Meter unter sich ein Auto, und die Panik kehrte zurück.
Das Heck des Wagens stand auf einem großen Betonklotz, während der vordere Teil einen halben Meter über dem Grund schwebte. Die Fenster waren offen, und auf der Rückbank schwebte eine nackte Frau, deren langes schwarzes Haar sich im Wasser sanft hin und her bewegte. Das Ganze hätte wie ein Werbespot ausgesehen, wären da nicht der geöffnete Mund und die weit aufgerissenen Augen gewesen.
Als die Sonne hinter einer Wolke hervorlugte, verbesserte sich schlagartig die Sicht und sie sah auch den Mann im Smoking, der vornübergebeugt hinter dem Lenkrad saß.
Viel mehr hatte sie nicht sehen können, bevor sie an die Oberfläche gerissen wurde. Abgesehen vom Hinterkopf des Mannes, der aus einem einzigen blutig-schwarz vermanschten Krater zu bestehen schien.
Viele von uns hoffen darauf, dass das Gute am Ende siegt. Und wünschen sich nichts sehnlicher als einen Beweis dafür, dass wir gemeinsam am stärksten sind. Dass wir trotz unterschiedlicher Hautfarben, Kulturen und Religionen zusammengehören und mit vereinten Kräften die großen Ungerechtigkeiten bekämpfen, das Klima retten und letztendlich sogar Frieden auf Erden schaffen können.
Leider ist das eine Utopie. Die Welt, so wie wir sie kennen, basiert nicht auf der Idee vom Happy End. Die Hand auszustrecken und den Schwachen zu helfen, ist ein schöner Gedanke. In der Theorie.
In der Realität sind ganz andere Kräfte am Werk. Sobald wir etwas Wertvolles besitzen, kommt jemand, der es uns wegnehmen will. Sobald etwas gesund ist, will etwas anderes es krank machen. Dieses Prinzip findet sich überall wieder, angefangen bei den menschlichen Körperzellen bis hin zu Sternen, die kollabieren und als schwarze Löcher enden.
Laut einer chinesischen Forschungsgruppe ist das destruktive Verhalten des Menschen in der Größe seines Gehirns begründet. Grob gesagt, ist es zwar groß genug, um eine Atombombe zu erfinden, aber zu klein, um die Folgen zu überblicken.
Eine andere Theorie besagt, dass das Gute mitnichten die Existenz sichert. Es ist nicht das Gute, das die natürliche Auslese begünstigt, die permanente Weiterentwicklung und die Veredelung, die sowohl das Überleben des Löwen in der Savanne sichert als auch dafür sorgt, dass sich ein Baum noch ein wenig höher hinauf zur Sonne reckt.
Wir haben es, mit anderen Worten, nicht unserer Güte zu verdanken, dass wir uns vom Plankton zu Fischen und schließlich zum Menschen weiterentwickelt haben.
Sondern dem Bösen.
Ihm haben wir all das zu verdanken.
Dem Bösen in absoluter Reinform.
Das baufällige Backsteinhaus am westlichen Ufer des Sankt-Jørgens-Sees mitten in Kopenhagen steckte voller Widersprüche. Auf der einen Seite war es so unansehnlich, dass es nur den wenigsten Spaziergängern in dieser Gegend überhaupt auffiel. Auf der anderen Seite war es trotz seiner bescheidenen Größe auf ganz eigene Weise großartig und rang geradezu um Aufmerksamkeit.
Unter anderem brüstete es sich nach Süden hin mit einem schwarz gestrichenen Giebel, auf dem eine große weiße Schachfigur prangte. Und mit einem Blechdach, das ebenfalls an allen vier Ecken mit einem Bauern geschmückt war, wobei die vier Schachfiguren auf dem Dach schwarz waren. Was genau das zu bedeuten hatte, wusste niemand. Einen Schachklub hatte es in diesem Haus nie gegeben. Es hatte sich auch keiner der Vorbesitzer des Hauses für Schach interessiert. Vielleicht sollten die Bauern symbolisieren, dass auch die Schwächsten allen Widrigkeiten zum Trotz stark genug werden können, um eines Tages ein König oder eine Dame zu sein.
Auch im Inneren des Hauses verbargen sich jede Menge Widersprüche. Abgesehen von einigen versteckten Winkeln, einem Badezimmer und einer kleinen Küche bestand es aus einem einzigen Raum. Einem Raum, der mit seinem weiß lackierten Holzfußboden, seiner Luftigkeit, der beeindruckenden Deckenhöhe und den großen Atelierfenstern in seinen besten Momenten sehr viel größer wirkte als das Gebäude selbst.
Doch seit ungefähr einem Monat veränderte sich die Atmosphäre ins Klaustrophobische, weil der ganze Raum mit technischer Ausrüstung vollgestopft war und eher an ein notdürftig in einem Cockpit untergebrachtes Tonstudio erinnerte als an ein helles Künstlerrefugium.
An der vorderen Wand standen unter dem Atelierfenster in der Dachschräge mehrere Schreibtische aufgereiht, auf denen diverse Computer, Monitore, Rackmodule voller blinkender Leuchtdioden und nackter Platinen standen, die ihrerseits mithilfe von verschiedenfarbigen dünnen Kabeln mit anderen Einheiten verbunden waren.
Die seitlichen Wände waren mit großen Whiteboards bedeckt. Auf einer davon stand in großen Lettern Kim Sleizner. Darunter war eine Sammlung von Fotos befestigt, alle aus der Entfernung aufgenommen und stark vergrößert, im Fokus immer derselbe Mann, auf dem Weg zur oder von der Polizeistation, auf der Straße stehend und mit dem Handy telefonierend oder an der roten Ampel im Auto sitzend.
Auf einem anderen Whiteboard waren verschiedene Diagramme, darunter sowohl Kurven- als auch Balkendiagramme, und unendlich viele Telefonnummern zu sehen, hinter denen jeweils ein Buchstabe und mehrere Zeitangaben notiert waren. Auf dem großen Stadtplan von Kopenhagen, der direkt daneben hing, waren zahlreiche Fähnchen befestigt, die ebenfalls alle mit Buchstaben markiert waren.
Auf Uneingeweihte mochte das Ganze einen chaotischen Eindruck machen. Doch es hatte System, eine sorgfältig entwickelte Struktur. Alle Notizen mit ihren Pfeilen, Abkürzungen und Symbolen hatten eine ganz bestimmte Funktion, und jede der unzähligen elektronischen Einheiten befand sich in dem komplizierten Geflecht genau an der richtigen Stelle, um größtmöglichen Überblick und Kontrolle zu erlauben.
Wie immer herrschte auch an diesem frühen Morgen eine ganz bestimmte Art von kontrollierter Ruhe. In seiner Gesamtheit erschien das Konstrukt wie ein schlafender Körper mit einem Ruhepuls, der so niedrig war, dass man ihn kaum messen konnte. Es blinkten zwar mehrere der weit über hundert Leuchtdioden, aber nicht in übermäßig hektischer Weise. Vielmehr ließen sie sich Zeit, allmählich heller zu werden und auch wieder schwächer, so als betrieben sie eine Art von elektronischer Meditation, in der sie gemeinsam mit den Bildschirmschonern ihre Träume auslebten, einer psychedelischer als der andere.
Das Ganze lief auf Sparflamme, war aber auf alles gefasst, was kommen mochte.
Was auch immer, wann auch immer.
Im selben Raum, ein paar Meter über einem Haufen von umgekippten Stühlen hing an einem über die Deckenbalken gelegten Stahlrohr Dunja Hougaard und zog sich langsam mit einem Arm hoch. Sich zu beeilen, um den einarmigen Klimmzug möglichst schnell hinter sich zu bringen, wäre sinnlos gewesen. Es ging schließlich um Ausdauer. Ohne die wäre sie schon vor Monaten verloren gewesen und hätte das Projekt längst aufgegeben. Sie hätte sich eingeredet, dass es ohnehin keinen Angriffspunkt gegeben hätte, mit dessen Hilfe sie Kim Sleizner, den Chef der Kopenhagener Polizei, endlich überführen und zur Strecke bringen konnte.
Aber aufgeben kam nicht infrage. Nicht nur, weil er das Gegenteil von allem verkörperte, was ein hochrangiger Polizist im besten Fall sein sollte. Oder weil er hartnäckig all ihre Versuche untergraben hatte, während ihrer Jahre beim Morddezernat ordentlich zu arbeiten, und zudem darauf geschissen hatte, dass seine Sabotage mehrere Menschen das Leben gekostet hatte. Dass ihr Zorn noch immer mit so heller Flamme brannte, lag nicht daran, dass er ihr seine dreckigen Wurstfinger hineingesteckt und sie nach einer versuchten Vergewaltigung in die Kälte hinausgejagt hatte, sondern an allem, was sie bislang nicht gefunden hatte. Alles, was mit Sicherheit vorhanden war und nur darauf wartete, ans Licht geholt zu werden.
Nachdem sie mit dem Kinn über das Stahlrohr gereicht hatte, ließ sie sich selbst so langsam, wie die einschießende Milchsäure es erlaubte, wieder hinunter. Es tat weh, aber genau da wollte sie hin. Zum Schmerzpunkt, an dem achtundneunzig Prozent von ihr loslassen wollten und sich die restlichen zwei Prozent an dem Wissen festhielten, dass ein Sturz auf die drei Meter unter ihr daliegenden Stühle noch weit mehr schmerzte.
Sie umfasste das Rohr mit der anderen Hand und zog sich so langsam wie möglich wieder hoch. Vier quälend in die Länge gezogene Klimmzüge musste sie noch schaffen, dann war diese zweistündige Trainingseinheit beendet.
Sie war noch nie so stark gewesen, aber dafür hatte sie auch seit dem Frühjahr täglich zwei ausgiebige Krafteinheiten und eine Stunde Yoga absolviert. Innerhalb von ein paar Monaten hatte sich ihr Körper so stark verändert, wie sie es nie für möglich gehalten hätte. Sie hatte mehrere Kilo zugenommen und war gleichzeitig schlanker geworden. Doch vor allem hatte sich ihre Ausdauer verbessert. Sie kannte die Grenzen ihres Körpers ganz genau und verschob sie jeden Tag ein kleines Stück.
Anfangs war das Training ein notwendiges Übel gewesen. Wenn sie es mit Sleizner aufnehmen wollte, musste sie sowohl stärker als auch schneller sein als ein Mann. Den Fotos nach zu urteilen, die sie von ihm gemacht hatte, war sie es längst. Ganz offensichtlich hatte er während seiner Jagd auf sie seine eigene Kondition vernachlässigt.
Inzwischen schien er morgens wieder Yoga zu machen, aber auch sonst war Sleizner nicht zu unterschätzen, und daher nahm sie gern in Kauf, dass sie mittlerweile süchtig war nach dem Krafttraining. Ohne ging sie die Wände hoch.
Bei der Überwachung sah es anders aus. Auf dem Gebiet hatten sie bisher keinen Erfolg erzielt. Sie hatten nichts Interessantes entdeckt. Jedenfalls nichts, womit sie ihm ein für alle Mal das Handwerk hätten legen können.
Und dabei überwachten sie ihn seit einigen Wochen rund um die Uhr. Jedes seiner Telefonate hatten sie abgehört. Jede SMS und jede Mail, die er verschickt oder bekommen hatte, hatten sie gelesen und analysiert. Sie hatten seine finanziellen Verhältnisse durchleuchtet und mithilfe eines GPS-Senders auf seinem Smartphone alle seine Wege verfolgt, sodass sie bis auf wenige Ausnahmen nicht nur genau wussten, was er machte, sondern auch wann und wo er es machte. Meistens konnten sie sogar alle drei Aspekte mit hoher Treffsicherheit vorhersagen.
Mit anderen Worten: Der Dreckskerl war ein offenes Buch für sie. Sie war überrascht gewesen, wie gleichförmig und langweilig sein Leben verlief. Das Abwechslungsreichste daran waren die häufigen Besuche bei Jenny Nielsen alias Jenny Wet-Pussy Nielsen im Nøjsomhedsvej 4.
Mit genau dieser Prostituierten war er vor drei Jahren auf der Rückbank seines Autos in der Lille Istedgade zusammen gewesen. Als die Medien Wind davon bekamen, gab es einen kleinen Skandal. Vor allem, als sich herausstellte, dass er wegen dieser Begegnung einen wichtigen Anruf von der schwedischen Polizei in Helsingborg verpasst hatte.
Fareed Cherukuri hatte damals aus eigenem Antrieb und ganz ohne ihr Zutun das Ekstra Bladet mit diesen Informationen versorgt, und daraufhin gab es eine Kampagne gegen Sleizner, und er wurde zur Hauptsendezeit und noch wochenlang auf jeder Titelseite des Landes öffentlich gedemütigt. Infolgedessen hatte ihn seine Frau verlassen und er wurde vom Reichspolizeichef Henrik Hammersten persönlich beurlaubt.
Man musste kein Einstein sein, um sich auszurechnen, dass das für einen mediengeilen Gockel wie Sleizner einer Vernichtung gleichkam. Aus irgendeinem Grund hatte er ausschließlich ihr die Schuld dafür gegeben und tat seitdem alles, was in seiner Macht stand, um sie zu zerstören.
Und diese Macht hatte sich noch vergrößert, seit ihm auf ebenso geheimnisvolle wie rätselhafte Weise ein Comeback in die Elite des Landes gelungen war, wo er eine Menge loyaler Freunde zu haben schien.
Dass er in seiner Freizeit regelmäßig eine in die Jahre gekommene Prostituierte aufsuchte, war in diesem Land leider weder ein Skandal noch ungewöhnlich oder gar verboten. Es galt vielleicht als armselig, aber es reichte bei Weitem nicht aus, um ihn abzusägen. Ganz im Gegenteil hätte es ihn in den Augen vieler noch menschlicher erscheinen lassen.
Wenn sie ehrlich war, hatte sie Geheimnisse eines ganz anderen Kalibers erwartet, extravagantere und dekadentere Dinge, eine Art Doppelleben, das sich nur zur Hälfte bei der Polizei abspielte und ansonsten, tja … Genau hier lag das Problem. Sie hatte keine Ahnung, wo die andere Hälfte stattfand. Alles, woran sie sich orientieren konnte, war ihr sicheres Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Und dass sie trotz all der bereits investierten Zeit und Energie, von der teuren Technik ganz zu schweigen, noch kaum an der Oberfläche gekratzt hatten.
Allerdings bezweifelte sie nicht einen Moment, dass Kim Sleizner ein durch und durch böser Mensch war. Da konnte er noch so sehr den ehrbaren Polizisten spielen. Sie durchschaute seine polierte Fassade.
Daher blieb ihnen nichts anderes übrig, als weiter nach einer Fährte zu suchen. Sie mussten ihn weiterhin abhören, verfolgen und jede einzelne seiner Handlungen analysieren. Denn irgendwo verbarg sich ein ganzer Schrank voller Sachen, die ihm den Boden unter den Füßen wegreißen würden, sobald sie ans Licht kamen.
Doch die Zeit drängte. Sleizner lag nicht auf der faulen Haut. Er nutzte jede freie Minute, um seine Verteidigung zu optimieren und so starke Allianzen aufzubauen, dass kein Skandal der Welt ihm etwas anhaben konnte. Wenn sie nicht alles täuschte, kam er gut voran.
Während sie sich erneut hochhievte und dem rasenden Schmerz in ihren Muskeln trotzte, ahnte sie nicht, was sich einige Meter unter ihr tat. Das Ganze hatte vor wenigen Minuten mit einer einzigen Leuchtdiode angefangen. Mit einem kleinen Blinken, das sich plötzlich veränderte. Es unterschied sich noch immer nicht stark, aber doch merklich von allen anderen Lichtern. Das Blinken wirkte nervös und aggressiv. So als wäre es gerade erst aus einem sanften Schlummer erwacht, nur um festzustellen, dass es verschlafen hatte.
Und nun hatte sich das unregelmäßige Blinken wie ein ansteckendes Virus auf weitere fünfzig Dioden ausgebreitet, und kurz darauf erwachten mehrere Monitore zum Leben und wechselten vom träumerischen Bildschirmschoner-Modus zu Ansichten von Soundkurven, Reglern und Zeitleisten, die einsetzende Aufnahmen anzeigten.
Auf einem der vielen Bildschirme war ein gigantischer Kronleuchter über einem ungemachten Doppelbett zu sehen. Auf der Bettkante saß ein nackter Kim Sleizner, der am Hinterkopf bereits kahl zu werden begann, und streckte sich genüsslich.
Aus einem Lautsprecher neben dem Monitor hörte man ihn ächzen und ausgiebig seine Halswirbel knacken lassen. Anschließend stand er auf und verschwand aus dem Bild.
Als Dunja auf das Geräusch aufmerksam wurde, schwang sie sich von der Stange herunter und landete auf allen vieren neben dem Berg aus Stühlen. Auf dem Weg zu den Monitoren warf sie einen Blick auf ihre Armbanduhr. Es war erst zehn nach fünf Uhr morgens.
So früh war Sleizner noch kein einziges Mal aufgestanden, seit sie ihn überwachten. Anscheinend war endlich etwas passiert.
Aus der Entfernung sah der weiße Mercedes, der über dem Kai schwebte und soeben auf diesen hinabgesenkt wurde, fast wie neu aus. Als wäre er gerade erst aus der Fabrik gekommen und jetzt bereit, die Straße zu erobern. Doch das Wasser, das aus den offenen Fenstern floss, die Algen auf der Motorhaube und die Umrisse der beiden Leichen verrieten, dass dies mitnichten der Fall war.
Jan Hesk, der auf dem Sandweg neben dem Kai der Refshaleö angefahren kam und in sicherem Abstand zu dem mobilen Kran parkte, bekam von diesem Anblick gute Laune, trotz der unchristlichen Uhrzeit und dem Umstand, dass er seinen Urlaub genau in dem Moment hatte abbrechen müssen, als er mit seiner Familie ins Auto steigen wollte, um nach Jütland und, zur großen Freude seiner Kinder, ins Legoland zu fahren. Natürlich konnte er ihre Enttäuschung nachvollziehen. Ein größeres Problem hatte er mit Lone, die mitten in der Einfahrt alle Register gezogen und ihn angeschrien hatte.
Er selbst hatte es geschafft, einigermaßen ruhig zu bleiben, ebenfalls Enttäuschung zu mimen und sich nicht anmerken zu lassen, dass er insgeheim nur auf eine Gelegenheit gewartet hatte, den Urlaub zu beenden.
Schon in der ersten Ferienwoche, in der er den Haushalt geschmissen hatte, während Lone in ihrem Laden für nachhaltige Babysachen Inventur machte, hatte er Hummeln im Hintern gehabt. Doch das hatte er für sich behalten und brav ein Baumhaus gebaut, Pfannkuchen gebacken und Fahrradausflüge zum Amager Strandpark gemacht, sobald Benjamin es zu Hause nicht mehr aushielt.
Jetzt war er endlich zurück und noch dazu auf einem völlig neuen Posten. Einem Posten, von dem er seit seinen ersten Tagen im Morddezernat geträumt hatte. Der Grund dafür war der Terroranschlag auf den Vergnügungspark Tivoli vor einem Monat. Nach dem Attentat hatte sich so gut wie alles verändert. Von außen betrachtet, war das Ganze eine Tragödie enormen Ausmaßes, und die Angehörigen der Opfer machten natürlich Qualen durch, die er sich nicht mal annähernd hatte vorstellen können.
Doch für ihn persönlich hatten die Ereignisse einen Wendepunkt gebracht. Noch nie hatte er ein so markantes Vorher und Nachher erlebt. Während er bis dahin von seinem Vorgesetzten Kim Sleizner wie ein Hund behandelt worden war, den man nach Lust und Laune herumkommandieren konnte, hatte er sich nun plötzlich Respekt verschafft.
Sleizner war von seiner Tatkraft und seinem Krisenmanagement so beeindruckt gewesen, dass er ihm nicht nur eine höhere Gehaltsstufe und ein eigenes Büro genehmigt, sondern ihm vor allem mehr Verantwortung übertragen hatte. Endlich durfte er sein eigenes Team zusammenstellen und leiten.
Der Kriminaltechniker Torben Hemmer war schon da und packte seine vielen Werkzeugkoffer aus, obwohl der Kranführer die Spanngurte noch gar nicht von dem tropfenden Auto gelöst hatte.
Noch kannten er und Hemmer sich nur vom Telefon, aber er war sich jetzt schon sicher, dass der neue Techniker eine Bereicherung war. Die Konzentration, die der Mann bei seinen Vorbereitungen ausstrahlte, war genau das, was sie brauchten. Er war gekommen, um zu arbeiten. Und nicht, um gemütlich Kaffee zu trinken und sich das Maul zu zerreißen.
Von Julie Bernstorff hingegen war er nicht ganz so überzeugt. Er konnte nicht genau benennen, warum. Vielleicht sah sie einfach ein bisschen zu hübsch aus, als sie mit ihren geradezu unnatürlich ebenmäßigen Zügen und ihrer makellosen dunklen Lockenpracht auf ihn zukam.
Sie sah aus, als würde sie irgendwas mit Mode machen oder in einer anderen hippen Branche arbeiten und nicht hier, wo einen schon der kleinste Fehltritt mit den hohen Absätzen zu Fall bringen konnte. Dass sie zudem von Sleizner eingestellt und für das Team vorgeschlagen worden war, machte die Sache nicht besser.
»Hallo, ich bin Julie Bernstorff.« Während sie ihm die Hand gab, strich sie sich mit der anderen das Haar hinters Ohr. »Ich soll hier …«
Er nickte. »Wir sind uns schon begegnet.«
»Ach ja, jetzt weiß ich wieder«, sagte sie mit einem fragenden Blick, der die offensichtliche Lüge nicht verschleiern konnte.
»Bei Ihrem Vorstellungsgespräch mit Kim Sleizner im Frühjahr«, sagte er, um ihr auf die Sprünge zu helfen. »Wir haben uns auf dem Gang gesehen, aber da hatten Sie sicherlich andere Dinge im Kopf.« Er wollte ihr zumindest eine Chance geben, bevor er ein Machtwort sprach und sich nach einem Ersatz umsah.
»Stimmt!« Sie strahlte übers ganze Gesicht.
»Wie dem auch sei, willkommen im Team.« Er gab ihr einen kurzen, kräftigen Händedruck und ging weiter zu dem Mercedes. Sie konnte so gut aussehen, wie sie wollte, in seinem Team würde ihr das keine Vorteile verschaffen.
»Entschuldigen Sie, ich würde gerne noch eine Sache mit Ihnen …«
»Kann das nicht warten, bis wir hier das Dringendste erledigt haben?«, fiel er ihr ins Wort, ohne stehen zu bleiben.
»Ich weiß nicht, es ist nämlich so, dass …«
Nun blieb er stehen und drehte sich zu ihr um. »Hören Sie mir mal zu, Julie. Ich bin kein besonders komplizierter Mensch. Ich erwarte lediglich, dass alle ihre Arbeit machen, und wenn jemand, so wie Sie, noch keine Erfahrung mitbringt, dann hält er sich am besten erst mal zurück, hört gut zu und drängt sich nicht in den Vordergrund.« Er schenkte ihr ein eisiges Lächeln und ging weiter.
Er wollte auf keinen Fall wie Sleizner werden, der Chef des Grauens, bei dem sich alle einschleimten, obwohl sie ihn insgeheim von Herzen hassten, aber jetzt gerade war keine Zeit für ein Mitarbeitergespräch über Urlaubsansprüche oder all den anderen Kram, für den er ebenfalls zuständig war. Jetzt gerade mussten sie sich mit zwei Leichen befassen, die soeben aus einem Hafenbecken gefischt worden waren.
Wobei es, nach allem, was er bisher gehört hatte, nicht nach einem übermäßig komplexen Fall aussah. Was er höchst vorteilhaft fand. Es würde ihnen zugutekommen, wenn sie diesen Fall so schnell und effektiv wie möglich lösten und damit sich selbst, aber vor allem Sleizner bewiesen, dass sie in der Lage waren, auch schwerere Fälle zu übernehmen.
»Hallo, Torben.« Er hielt Hemmer, der gerade den Reißverschluss seines Schutzoveralls hochzog, die Hand hin. »Wie ich sehe, haben Sie bereits angefangen. Ich wollte nur schnell die Gelegenheit nutzen, Sie im Team willkommen zu heißen.«
»Danke und nein, danke.« Mit einer Kopfbewegung deutete Hemmer auf Hesks ausgestreckte Hand. »Ich weiß ja nicht, wo Sie die schon hatten, und eine Kontamination mitten in einer Tatortuntersuchung ist das Letzte, was ich gerade gebrauchen kann.«
»Natürlich.« Hesk hielt beide Hände hoch. »Aber seien Sie unbesorgt. Ich habe sie mit so viel Desinfektionsmittel eingerieben, dass man mich pusten lassen würde, wenn ich in eine Fahrzeugkontrolle geraten würde.« Er lachte auf.
»Sicher, aber vielleicht können wir uns nachher unterhalten, wenn wir hier nicht mehr zwei Leichen liegen haben, die schon anfangen zu verwesen. Und die Herrschaften dort drüben können es auch kaum erwarten, die beiden zu untersuchen.« Hemmer sah zum Rettungswagen hinüber, der auf sie zufuhr.
»Gar keine Frage!« Hesk wich einen Schritt zurück und spürte, wie eine Welle aus Selbsthass seinen Körper durchflutete. »Tun Sie, was Sie zu tun haben. Darum sind wir hier. Ich selbst werde die Zeugen befragen.« Er sah sich um. »Aber wo sind die eigentlich?« Er drehte sich zu Bernstorff um. »Sollten es nicht zwei sein? Ein Mann und eine Frau?«
»Stimmt.« Bernstorff nickte. »Das wollte ich vorhin ansprechen. Ich habe sie bereits befragt.«
»Aha, dann haben Sie also eigenmächtig eine Befragung durchgeführt, ohne vorher Rücksprache mit mir zu halten?«
Bernstorff nickte. »Ich war als Erste vor Ort, und die beiden waren unterkühlt und standen unter Schock. Vor allem die Frau, die kurz davorstand zusammenzubrechen und, meiner Ansicht nach, dringend medizinische Hilfe brauchte.«
»Okay.« Er atmete auf und fühlte nach seinem peinlichen Auftritt gegenüber Hemmer endlich wieder festen Boden unter den Füßen. »Aber nächstes Mal würde ich doch darum bitten, dass Sie zuerst Kontakt mit mir aufnehmen.«
»Das habe ich. Ich habe versucht, Sie anzurufen.«
»Ach ja?«
»Ja, aber Sie sind nicht rangegangen.«
Sie musste angerufen haben, während er sich in der Einfahrt mit Lone stritt. Scheiße. »Na gut, genug davon. Ist etwas Interessantes bei der Befragung herausgekommen?«
»Eigentlich nur, dass der Mann seine Freundin in aller Herrgottsfrühe zu einer Kajaktour überredet hatte, bei der sie direkt hier vorm Kai von den Bugwellen eines Kreuzfahrtschiffs zum Kentern gebracht wurde.«
Hesk nickte. Höchstwahrscheinlich hatte sie recht. »Aha. Da haben Sie ja nicht viel erfahren. Haben Sie denn wenigstens die Kontaktdaten aufgenommen?«
»Selbstverständlich. Ich habe Ihnen alle Angaben und das Vernehmungsprotokoll per Mail geschickt.«
Dafür hatte sie also auch schon Zeit gehabt. Er war durchaus beeindruckt. »Prima«, sagte er in dem Versuch, noch mal von vorn anzufangen, als hinter ihnen eine Autotür zuschlug. Er drehte sich um und sah Morten Heinesen mit seinem typisch steifen und etwas unsicheren Gang auf sich zukommen.
Mit Heinesen hatte er in all den Jahren bei der Polizei zweifellos am häufigsten zusammengearbeitet. Außerdem war er einer der wenigen, bei denen er das Gefühl hatte, sich voll und ganz auf ihn verlassen zu können. Heinesen tratschte nicht hinter dem Rücken anderer oder trieb insgeheim seine Karriere voran. Er war nur darauf bedacht, alle Vorschriften genau einzuhalten und seine Arbeit so gut wie möglich zu machen.
Trotzdem hatte er etwas Nervöses an sich. Als wäre er sein Leben lang schikaniert worden und könnte nun gar nicht mehr anders, als jeden Moment mit einem Anschiss zu rechnen. Völlig unverdient hatte er sich auf diese Weise den Ruf erworben, nicht die hellste Kerze auf der Torte zu sein, dabei war er in Wirklichkeit nur konfliktscheu und behielt seine Meinung lieber für sich.
»Guten Morgen, Morten.« Hesk strahlte erleichtert, weil er selbst doch nicht als Letzter eingetroffen war. »Da hat wohl jemand seinen Schönheitsschlaf gebraucht …«
»Er war kurz nach mir hier«, sagte Bernstorff.
»Ach? Und wie kommt es dann …?«
»Ich habe gerade die Zeugen ins Krankenhaus gebracht …«, sagte Heinesen.
»Ach so.« Hesk wäre am liebsten im Boden versunken. Schlimmer konnte es nicht werden. Er, dem in seinem Leben noch kein Scherz gelungen war, hatte nun schon zwei Mal vergeblich versucht, witzig zu sein. Es war ein Desaster. Was tat er bloß? »Entschuldige, ich dachte, du wärst genauso spät dran wie ich.«
»Kein Problem.« Heinesen lächelte. »Wie läuft es denn? Habt ihr schon etwas herausgefunden?«
»Weiß nicht.« Er zog sich die Handschuhe über. »Ich wollte Torben erst mal mit seiner Arbeit anfangen lassen. Lasst uns zu ihm rübergehen.«
Heinesen nickte. Gemeinsam mit Bernstorff gingen sie zu dem Auto hinüber. Hemmer hatte sich unter die aufgeklappte Kofferraumhaube gebeugt und fotografierte.
Hesk öffnete die hintere Tür auf der rechten Seite und betrachtete die Frau, die nackt auf dem zurückgeklappten Rücksitz lag. Endlich wurde er innerlich wieder ruhig. Das hier war doch seine Aufgabe. Die Konzentration auf den Fall. Hier lagen seine Stärken, auf diesem Terrain fühlte er sich sicher. In die Führungsposition würde er schon noch reinwachsen.
Die Frau war jünger, als er gedacht hatte. Wie jung, war schwer zu sagen. Sie war keine ethnische Dänin, und ihre glänzende glatte Haut mit dem goldenen Schimmer hätte genauso gut fünfzehn wie fünfundzwanzig Jahre alt sein können. Vielleicht sogar über dreißig. Dass sie erwürgt worden war, stand hingegen fest. Die dunkelblauen Flecken am Hals sprachen eine eindeutige Sprache.
Er war lange genug dabei, um zu wissen, dass es bei polizeilichen Ermittlungen größtenteils darauf ankam, mit dem Naheliegenden anzufangen. In neun Komma neun von zehn Fällen gab es keinen Grund, die Dinge unnötig zu verkomplizieren. Die Realität stellte sich nämlich anders dar als ein Film, dessen Drehbuchautoren sich einen abgebrochen hatten, um eine unglaubliche Wendung nach der anderen aus dem Hut zu zaubern.
Natürlich gab es Ausnahmen, die die Regel bestätigten. Wie zum Beispiel diesen Fall, an dem dieser Fabian Risk und seine Kollegen auf der anderen Seite des Sunds jahrelang gearbeitet hatten. Im Großen und Ganzen kamen solche außergewöhnlichen Dinge jedoch höchst selten vor.
Im echten Leben konnte man am Schauplatz eines Verbrechens alles ablesen, was man zur Aufklärung der Tat benötigte. Morde folgten selten einem durchdachten Plan, falls sie überhaupt geplant waren, und wenn das Unglück geschehen war, nahm sich der Täter selten die Zeit, seine Spuren zu verwischen. Und in den seltenen Fällen, in denen er es doch tat, hinterließ er dabei oft neue, die noch leichter zu deuten waren.
Er drehte sich zu Hemmer um, der mit der einen Hand die Beine der Frau spreizte und eine weitere Serie von Fotos knipste. Persönlich kam er sich immer ein bisschen schmutzig vor, wenn er eine tote Frau mit entblößtem Geschlecht sah. Hemmer hingegen schien keine Skrupel zu haben, sondern beugte sich noch weiter hinunter und füllte die Speicherkarte der Kamera mit Großaufnahmen.
»Guten Morgen, guten Morgen, allerseits.«
Hesk hob den Kopf und sah über das Autodach hinweg eine Frau mit kurzem rotem Haar und Arztkittel in Begleitung von zwei Rettungssanitätern auf sich zukommen.
»Trin Bladh ist mein Name, ich bin aus der Rechtsmedizin«, fuhr sie fort, hob die Hand und winkte in die Runde.
»Sie vertreten also Oscar Pedersen«, sagte Heinesen.
»Nein, ich bin seine neue Kollegin. Wenn er gewusst hätte, dass Sie hier sind, hätte ich Ihnen sicher Grüße von ihm ausrichten sollen. Aber wie sieht’s aus? Dürfen wir die Leichen mitnehmen?«
»Geben Sie uns noch ein paar Minuten«, sagte Hesk.
»Na gut. Ein paar Minuten sind okay, aber mehr nicht. Sie wissen ja, wenn Leichen im Wasser gelegen haben, muss es schnell gehen.«
Er hätte sie jetzt beleidigt darauf hinweisen können, dass er die Ermittlungen leitete, aber so tief würde er nicht sinken. Das hatte er nun wirklich nicht nötig. Er ließ ihre Belehrungen in der morgendlichen Brise an sich vorüberrauschen, während er die Beifahrertür öffnete und sich den Mann in Smoking und weißem Hemd mit Fliege ansah, dessen Kopf am Lenkrad lehnte, von dem der Airbag wie ein trauriger Luftballon herunterhing.
Der schwarze Krater im Hinterkopf des Mannes war so groß, dass Hesk für einen Moment vergaß, einen Menschen vor sich zu haben, aber genau das war dieser Mann, und wie die dunklen Flecken am Hals der Frau zustande gekommen waren, konnte man sich auch an fünf Fingern ausrechnen. Er hatte genug gesehen, um sich den Tathergang klar und deutlich vorzustellen.
»Na, das ist ja nicht allzu kompliziert, oder was meinst du?« Er drehte sich zu Heinesen um und legte ihm seine Theorie dar. Heinesen nickte achselzuckend.
»Ja, es deutet einiges darauf hin, dass er es ein wenig zu weit getrieben, sie dabei versehentlich erwürgt und sich anschließend das Leben genommen hat.«
»Genau das denke ich auch.«
»Fragt sich nur, ob der Akt im Auto stattfand.«
Hesk zuckte mit den Schultern. »Ihre Sachen sind, soweit ich das sehe, nicht hier. Sie könnten also bei ihm oder bei ihr oder auch in einem Automatenhotel gewesen sein.«
»Mit anderen Worten: überall«, sagte Bernstorff.
Hesk drehte sich zu ihr um und wollte sie gerade ermahnen, sich zurückzuhalten, solange sie niemand nach ihrer Meinung gefragt hatte, er konnte es sich aber gerade noch verkneifen und grinste sie stattdessen kurz an. »So habe ich das nicht gemeint. Er muss die Möglichkeit gehabt haben, sie unbemerkt hinaus und ins Auto zu verfrachten, schließlich steckt sie weder in einem schwarzen Müllsack, noch ist sie in einen Teppich eingerollt. Apropos, haben sie die Tatwaffe schon gefunden?« Er drehte sich zu Hemmer um, der jetzt Haare einsammelte und Proben von dem Blut und der Hirnsubstanz an den Innenwänden der Karosserie nahm.
»Lag unten bei den Pedalen.«
»Und wo liegt sie jetzt?«
»Hinter dir auf dem Tisch.«
Hesk wandte sich zu einem Campingtisch um, auf dem diverse Klarsichtbeutel mit Beweismitteln lagen, darunter eine Pistole. Er nahm diesen Beutel in die Hand und sah, dass es sich um ein halbautomatisches Modell mit der Nummer C/75 handelte. Es wurde in Tschechien hergestellt, kam häufig vor und war auf der ganzen Welt verbreitet. »Julie, überprüfen Sie bitte mal DK556919B.«
Bernstorff nickte und ging mit ihrem Smartphone ein Stück zur Seite.
Abgesehen von seinen Ungeschicklichkeiten zu Beginn, lief es jetzt wie geschmiert. Genauso hatte er sich das erhofft. Wenn es so weiterging, würden sie den Fall vielleicht schon in wenigen Tagen abgeschlossen haben, und er könnte seine Familie doch noch mit dem Legoland überraschen.
Störend war nur der Sportfischer, der etwa dreißig Meter hinter der Absperrung stand und hin und wieder seine Angel auswarf. Er hätte nicht genau sagen können, was ihn an dem Angler irritierte, aber irgendetwas veranlasste ihn dazu, sich Hemmers Kamera auszuleihen, den muskulösen Mann heranzuzoomen, der eine Weste mit vielen Taschen und einen Anglerhut trug, und ein Dutzend Bilder von ihm zu machen.
»Torben«, hörte er Heinesen hinter sich rufen. »Weißt du schon, wie lange das Auto da unten gelegen hat?«
»Höchstens ein paar Tage«, sagte Hemmer. »Wenn ich die Elektronik untersucht habe, kann ich es dir genau sagen.«
Dass am Kai ein Angler stand, war an sich nichts Ungewöhnliches. Vor allem nicht in den frühen Morgenstunden. Durch das Kameraobjektiv konnte er jedoch erkennen, dass dieser Mann keine Ahnung zu haben schien, wie man eine Wurfangel hielt. Geschweige denn, wie man sie schwingen musste. Das musste natürlich nichts bedeuten. Irgendwann war immer das erste Mal.
Er gab Hemmer die Kamera zurück und wandte sich an Trin Bladh. »Okay, die Leichen gehören Ihnen. Tun Sie Ihre Pflicht.« Im besten Fall würde die Rechtsmedizinerin Beweise für das finden, was sie sowieso schon wussten. Dann mussten sie die Personen nur noch identifizieren, was vermutlich kein großes Problem sein würde.
»Entschuldigung, aber ich möchte noch etwas ansprechen.« Heinesen hielt wie üblich seinen Zeigefinger nach oben. »Es ist bestimmt nicht so wichtig, aber um auf der sicheren Seite zu sein …«
»Kein Problem«, sagte Hesk. »Aber mach schnell, damit die Rechtsmedizin loslegen kann.«
»Wie gesagt, wahrscheinlich hat es nichts zu bedeuten, aber mir geht diese Theorie durch den Kopf, über die wir sprachen.«
»Was ist damit?«
Heinesen schluckte. »Ich bin mir nicht sicher, ob sie haltbar ist. Vor allem die Vermutung, er habe sich das Leben genommen. Oder vielmehr, wie er sich angeblich das Leben genommen hat.«
»Er hat sich die Pistole in den Mund gesteckt und abgedrückt.« Hesk zuckte mit den Schultern. »Was ist daran seltsam?«
»Nichts. Das Seltsame ist, dass er es getan haben muss, während er über die Kaikante gefahren ist, und das ist bestimmt nicht so einfach. Außerdem erscheint es mir, wie soll ich sagen, etwas doppelt gemoppelt.«
Hesk wollte etwas darauf erwidern, vor allem, um mit der Arbeit weitermachen zu können, aber an den Bedenken, die Heinesen geäußert hatte, war etwas dran. Das Ganze wirkte tatsächlich etwas seltsam. »Könnte es eine Kombination aus zwei Dingen gewesen sein?«, schlug er schließlich vor. »Vielleicht wollte er zum einen so schnell und schmerzfrei wie möglich sterben und zum anderen einfach verschwinden und im Idealfall nie gefunden werden.«
»Stimmt.« Heinesen nickte nachdenklich. »Du hast sicher recht. So muss es gewesen sein.«
Er hatte seine Theorie spontan zusammengestoppelt. Deswegen musste sie nicht unbedingt schlecht oder falsch sein. Doch nun stand Heinesen vor ihm und nickte, obwohl man ihm zehn Kilometer gegen den Wind anmerkte, dass er anderer Meinung war. Genauso hatten sie es alle gemacht, als Sleizner noch die Ermittlungen leitete.
»Aber du siehst es anders, oder was?«
»Ja, schon, aber es könnte natürlich auch so gewesen sein, wie du sagst. Auf jeden Fall.«
»Morten«, Hesk ging um das Auto herum, »mich interessiert im Moment nur, was du denkst. Scheiß auf das, was ich deiner Ansicht nach gerne hören möchte.«
»Hier stimmt was nicht.«
Genau das hatte er nicht hören wollen.
So hatte er sich diesen Fall nicht vorgestellt. Ermittlungen, die ins Stocken und womöglich in eine Sackgasse gerieten, bevor sie überhaupt Fahrt aufgenommen hatten. Und dabei hatte er doch schneller ans Ziel kommen wollen, als Sleizner erwartete. Hatte allen zeigen wollen, dass der einzige Haken an seiner Beförderung war, dass sie nicht schon viel früher stattgefunden hatte.
Trotzdem hatte Heinesen recht. Irgendetwas stimmte nicht. Und das Allerletzte, was er wollte, war, Fehler zu machen. Dieses kleine Detail zu übersehen, das sich im Nachhinein als Schlüssel zur Lösung des gesamten Falls herausstellen würde.
Er drehte sich zu Hemmer um. »Was meinst du, Torben. Auf einer Skala von eins bis zehn. Wie seltsam findest du es, dass er sich erschossen hat, während er über die Kaikante gefahren ist?«
»Ich würde sagen, es ist durchaus möglich. Vielleicht hat er ja abgewartet, bis er im Wasser war, und dann erst abgedrückt. Es dauert schließlich ein bisschen, bis sich ein Auto mit Wasser füllt und untergeht.«
»Nur waren aber alle Fenster offen«, sagte Heinesen.
»Tja, aber zwanzig Sekunden dauert es mindestens, und er brauchte nur eine.«
»Aber?« Hesk sah ihn erwartungsvoll an.
Hemmer erwiderte seinen Blick. »Durchaus möglich ist nicht das Gleiche wie wahrscheinlich.«
»Du glaubst also nicht, dass es so gewesen ist.«
»Was ich glaube, ist doch nicht so wichtig. Es kommt nur auf das an, was ich sehe, und es deutet nicht viel auf einen Suizid im Auto hin.«
»Und wie viel deutet auf das Gegenteil hin?«
»So einiges. Ganz offensichtlich befindet sich im Auto weder eine Kugel, noch hat sie Abdrücke hinterlassen.«
»Die Fenster waren doch auch offen. Könnte das Geschoss nicht rausgeflogen und auf dem Meeresgrund gelandet sein?«
»Fraglich. Möglicherweise durch eins der hinteren Fenster, aber dann müsste es auch die Kopfstütze durchstoßen haben, und an der sieht man nichts.«
»Und wieso nicht durch eins der vorderen Fenster?«
»Das würde vom Einschusswinkel nicht passen und wäre sehr unbequem gewesen. Ich meine, wieso sollte man sich kurz vorm Abdrücken um neunzig Grad drehen?«
»Nicht dass ich denken würde, du hast unrecht«, sagte Heinesen. »Das Auto hat sich mit Sicherheit kräftig auf die Seite gelegt, während es volllief.«
»Das stimmt.« Hemmer zupfte sich nachdenklich am Ohrläppchen. »Da ist ein guter Punkt.«
»So oder so sollten wir Taucher einsetzen, die hier den Grund absuchen«, sagte Hesk.
»Dann wäre da aber noch die Sache mit den Blutspritzern. Abgesehen von einigen kleinen Ansammlungen, die im gesamten Innenraum des Wagens verteilt sind, gibt es im Prinzip keine. Nicht mal über ihm, und da müssten definitiv welche sein, sofern er nicht auf dem Rücken lag, als er sich erschoss.« Hemmer beugte sich nach vorn und zeigte an die Decke. »Seht ihr? Blitzsauber.«
»Warte mal.« Hesk merkte, dass die Kopfschmerzen, die er seit dem Streit heute Morgen nicht mehr gespürt hatte, zurückkamen. »Das Auto war doch voller Wasser. Da ist es doch kein Wunder, wenn die Hirnsubstanz oder was immer da klebte, ein bisschen herumgeschwappt und an einigen Stellen ganz verschwunden ist.«
»Bis zu einem gewissen Grad stimme ich dir zu. Aber nicht, was die Decke anbelangt. Dort hat nämlich eine große Luftblase das Wasser verdrängt. Sieh mal.« Hemmer zeigte mit seiner rechten Hand auf den gewellten Wasserrand auf der Stoffbespannung.
Hesk nickte und schaffte es nicht, ein schweres Seufzen zu unterdrücken. »Okay, aber wie man es auch dreht und wendet, sind hier eindeutig Blutspuren zu erkennen, und das ist in meinen Augen ein außerordentlich stichhaltiger Beweis dafür, dass er sich im Auto erschossen hat. Anderenfalls wäre er an einem anderen Ort zu Tode gekommen und daraufhin von einer dritten Person hinter dem Lenkrad platziert worden. Die betreffende Person müsste außerdem Blut und Hirnsubstanz vom ursprünglichen Tatort mitgenommen haben, fragt mich bitte nicht, wie, um beides hier im Wagen zu verteilen. Anschließend hat diese Person den Wagen dann irgendwie über die Kante bugsiert, ohne sich selbst darin zu befinden.« Er breitete die Arme aus. »Ihr hört doch selbst, wie das klingt.«
»Also Letzteres ist nicht so wahnsinnig kompliziert.« Wieder streckte Heinesen seinen Zeigefinger in die Luft. »Man muss nur direkt neben der Fahrertür stehen, einen Stock oder Regenschirm durch das Fenster stecken und damit das Gaspedal durchdrücken.«
»Mag sein, aber wenn du mich fragst, käme man damit nicht mal in einer schlechten Folge von Mord im Mittsommer durch.«
»Da gebe ich dir sogar recht.« Hemmer musste lachen. »Ich bin aber auch noch lange nicht fertig. Wer weiß? Vielleicht finde ich völlig neue Anhaltspunkte.«
Vage Vermutungen und offene Fragen. Spuren und Hinweise, die sich gegenseitig widersprachen, anstatt alle in die gleiche Richtung zu zeigen. Wenn das so weiterging, würde die Migräne bald wieder zuschlagen.
»Ja, ich bin noch hier«, sagte Bernstorff, die auf sie zukam, ins Handy.
Hesk drehte sich zu ihr um. Er hatte ganz vergessen, dass sie da war.
»Ja, genau. DK556919B«, fuhr sie fort. »Okay, vielen Dank.« Sie beendete das Telefonat und wandte sich den anderen zu. »Wir haben den Namen der Person, die die Waffe angemeldet hat.«
»Gut. Dann stünde das schon mal fest. Lassen Sie hören.« Noch bevor sie den Mund aufgemacht hatte, sah er ihr an, dass sie mehr als einen Namen präsentieren würde, und als er »Mogens Klinge« hörte, verließ ihn das letzte bisschen Selbstvertrauen. »Sie meinen doch nicht etwa den Mogens Klinge?«, sagte er lahm, obwohl ihm und seiner Migräne längst klar war, dass von genau dem die Rede war.
»Keine Ahnung. Wie viele gibt es denn davon?«
»Moment mal.« Heinesen zeigte auf den Toten hinter dem Lenkrad. »Ist das hier der operative Chef vom PET?«
Bernstorff nickte. »In der Tat. Er ist nicht nur Chef des Polizeilichen Nachrichtendienstes PET, er hat auch Lizenzen für mehrere Waffen.«
»Aber nur weil es seine Waffe ist, muss er es ja nicht sein.«
»Nein, aber ich habe auch das Auto überprüft. Das ist auch auf seinen Namen registriert.«
»Okay.« Hesk nickte bedächtig, um Zeit zu gewinnen. »Das ändert natürlich einiges. Morten, du sorgst dafür, dass die Absperrung auf ein größeres Gebiet ausgedehnt wird, bevor die Medien Lunte gerochen haben.« Er ging auf die Fahrerseite des Wagens hinüber. »Je länger das geheim bleibt, desto besser.«
Während Heinesen davoneilte, öffnete er die vordere Tür des Wagens und betrachtete die Leiche, die vornübergebeugt dasaß und mit dem Gesicht am Lenkrad lehnte. Um hundertprozentig sicher zu sein, würde die Gerichtsmedizin den Toten natürlich erst identifizieren müssen, aber das konnte dauern, und daher musste er sich vorerst damit begnügen, die Leiche nach hinten zu drücken und an den Sitz zu lehnen.
Das Gesicht war nahezu unversehrt. Nur der offen stehende Mund und der erstaunte Gesichtsausdruck verrieten, dass etwas nicht in Ordnung war. Als wäre ihm überhaupt nicht klar gewesen, was die Kugel mit seinem Hinterkopf anstellen würde. Ganz eindeutig handelte es sich hingegen um eins der höchsten Tiere im polizeilichen Nachrichtendienst.
Hesk richtete sich auf und kehrte dem Wagen und den Kollegen den Rücken zu. Er ging über die Absperrung und bis an den Rand des Kais, von wo aus er auf das in der Sonne glitzernde Wasser und die Frühaufsteher unter den Touristen blickte, die auf der anderen Seite die kleine Meerjungfrau besichtigten.
Er musste daran denken, wie enttäuscht er war, als er selbst sie zum ersten Mal mit eigenen Augen sah, weil ihre Größe ganz und gar nicht seinen Erwartungen entsprach. Bei diesem Fall war es genauso. Nichts an diesem Morgen war so gewesen, wie er es sich vorgestellt hatte, rein gar nichts, und nun konnten sie sich so sehr zurückhalten, wie sie wollten, die Nachricht über Mogens Klinge würde sich doch wie ein Lauffeuer verbreiten, und in Kürze würde die Hölle los sein.
Auf dem einen der drei Arbeitsplätze hinter den vielen Bildschirmen saß Fareed Cherukuri und gab Befehle in einen der Computer ein. Als er noch beim Mobilfunkanbieter TDC angestellt gewesen war, hatte er in jeder freien Minute Firewalls ausgetrickst und die Telefonate diverser Prominenter abgehört, um nicht vor Langeweile einzugehen.
Neben ihm saß sein Freund Qiang Who, auch er ein ehemaliger Supportmitarbeiter mit brachliegendem Programmierungstalent, und behielt den Kronleuchter in Sleizners Schlafzimmer im Auge.
Beide waren von Dunja angeheuert worden und durften sich jetzt als Gegenleistung für einen bescheidenen Lohn mit etwas anderem beschäftigen, als die Frage zu beantworten, warum es so teuer war, den Kindern auf einer Auslandsreise das Smartphone zu überlassen.
»Ich verstehe das nicht«, sagte Qiang, ohne den Blick vom Monitor abzuwenden. »Wann ist er aufgewacht?«
»Der Schlaf-App auf seinem Handy zufolge um 05:08 Uhr. Also schon vor siebzehn Minuten.«
Aus einem der Lautsprecher war das Rauschen einer Klospülung zu hören.
»Vielleicht muss er ja vor Tau und Tag einen Flieger kriegen!«, rief Dunja von hinten, während Qiang das Video ein Stück zurückspulte.
»In seinem Kalender steht davon nichts.« Fareed klickte sich durch die Menüs auf dem Monitor, die an die Benutzeroberfläche eines Smartphones erinnerten, und gelangte schließlich zu einer langen Liste von Benachrichtigungen. »Außer der normalen Weckzeit um halb sieben war keine Benachrichtigung eingestellt.«
»Und eine SMS hat er auch nicht bekommen?« Qiang streckte sich gähnend. »Oder hat vielleicht jemand bei ihm angerufen?«
»Sein Handy war lautlos gestellt, und er selbst war im Tiefschlaf. Mal gucken.« Fareed öffnete die Telefon-App. »Nein. Da ist auch nichts.«
Auf Qiangs Monitor sah man Kim Sleizner jetzt mit geschlossenen Augen und offenem Mund daliegen.
»Er scheint unruhig geschlafen zu haben.« Qiang zeigte auf das zerwühlte Bettzeug.
»Das hat er in den vergangenen Nächten immer getan«, sagte Dunja in dem Moment, als Sleizner mit einem Ruck aufwachte und sich umsah, als ob er nicht wüsste, wo er sich befand.
»Könnte aber sein, dass es diesmal noch schlimmer war. Vielleicht holt ihn allmählich doch die Panik ein.«
»Glaubst du ernsthaft, er hätte ein schlechtes Gewissen?«, fragte sie mit erhobener Augenbraue.
»Wieso nicht?« Qiang zuckte mit den Schultern. »Auch böse Elefanten können …«
»Bitte …«, unterbrach ihn Fareed. »Es ist noch zu früh für deine Elefantenvergleiche.«
»Für die ist es nie zu früh«, sagte Dunja.
»Soll ich euch mal sagen, wofür es zu früh ist?«, fragte Qiang. »Ja? Soll ich das?«
»Nein, verschone uns«, sagte Fareed.
»Finde lieber heraus, was passiert ist.« Dunja deutete auf den Bildschirm, auf dem sich Sleizner auf die andere Seite und somit aus dem Bild wälzte.
Qiang schüttelte den Kopf. »Man könnte beinahe auf die Idee kommen, er wüsste, dass wir sein Handy gehackt haben, und spielt mit uns.«
Dunja legte sich den Zeigefinger an die Lippen und drehte einen Lautsprecher auf. Nach einer Weile hörten sie Sleizner ausgiebig stöhnen. »Fuck, Fuck, Fuck …«
»So klingt man nicht, wenn man Spielchen treibt.« Sie sah Fareed an. »Oder was meinst du?«
»Nein, da stimme ich dir zu. Das ist alles nicht typisch für ihn.«
Auf dem Monitor sah man, wie Sleizner sich zurück ins Bild rollte und auf die Bettkante setzte, wo er seinen Nacken dehnte und die Wirbel seiner Halswirbelsäule knacken ließ. Dann stand er auf und verschwand wieder.
»Schalt mal zurück auf Echtzeit«, sagte Dunja, und Qiang klickte auf einen der Regler.
Auf dem Bildschirm war immer noch der Kronleuchter zu sehen, aber aus dem Lautsprecher hörte man jetzt, wie Sleizner zurück ins Schlafzimmer kam.
»So und jetzt sei ein braver Junge und nimm dein Handy mit«, sagte Qiang.
Außer einem Schatten, der sich an der Bettkante entlangbewegte und genauso schnell wieder aus dem Bild verschwand, war nichts zu sehen.
»Habe ich doch gesagt. Das Arschloch spielt mit uns.«
»Ich schicke ihm jetzt per SMS neue Vertragsbedingungen von TDC.« Fareed machte sich an die Arbeit.
»Ist das Handy nicht lautlos gestellt?«, fragte Dunja.
»Jetzt nicht mehr.« Fareed drehte die Lautstärke von Sleizners Mobiltelefon voll auf und schickte ihm eine Anbieternachricht, die das Gerät in ein schrilles Piepen versetzte, das an einen Rauchmelder erinnerte.
Kurz darauf erschien Sleizner wieder im Bild, nahm das Smartphone in die Hand, woraufhin sein verschlafenes Gesicht in Großaufnahme auf dem Monitor zu sehen war, und las die Nachricht. Als er damit fertig war, legte er das Smartphone wieder auf den Nachttisch und ging aus dem Bild.
Fareed drehte sich seufzend zu Qiang um. »Wollen wir nicht mal die TC5 ausprobieren, um sicherzugehen, dass ihn nicht nur sein Morgenyoga lockt?«
»Warum nicht.« Qiang zuckte mit den Schultern. »Schlimmer kann es ja nicht werden, sagte der Elefant und steckte seinen Rüssel in den …«
»Qiang, bitte!« Dunja warf ihm einen eindringlichen Blick zu, woraufhin er ächzend einen weiteren Computer einschaltete und einen Controller mit zwei Joysticks anschloss.