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Ruth Wonnepfuhl hat riesige Brüste. Das findet zwar ihr (Noch)-Ehemännchen schön, aber nicht Ruth, sie leidet unter dem immensen Gewicht ihres Vorbaus. Und nun »droht« dieser ihr auch noch die ersehnte Festanstellung zu verpatzen. Abhilfe ist dringend vonnöten. Zu blöd, dass der Krankenkassenfuzzi Rubens seine Ablehnquote für chirurgische Eingriffe unbedingt einhalten will. Das kann frau so gar nicht auf sich beruhen lassen – finden auch Ruths Leidesgenossinnen Katja und Mandy. Die drei schließen sich zusammen, um Rubens von der Dringlichkeit ihrer Operationen zu überzeugen. Dabei greifen die Frauen auf unkonventionelle Methoden zurück und schlittern von einem Fauxpas in den nächsten. Zu allem Überfluss hat sich auch noch Ruths Schwiegermutter bei ihr eingenistet, die ihre Zukunftspläne und eine sich anbahnende Romanze zu vereiteln sucht.
Rasant, witzig und mit tiefen Einblicken in den Alltag busengeplagter Frauen.
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Das Buch Ruth Wonnepfuhl hat riesige Brüste. Das findet zwar ihr (Noch)-Ehemann Helmut schön. Aber nicht Ruth, denn sie leidet unter dem immensen Gewicht ihres Vorbaus. Nun »droht« der Mega-Busen auch noch ihr die ersehnte Festanstellung zu verpatzen. Abhilfe ist dringend von Nöten, denn der neue Job sollte auch Ruths Abnabelung von Helmut beschleunigen.
Ruth entschließt sich für eine operative Brustverkleinerung, die schon aus gesundheitlichen Gründen erstrebenswert ist. Doch die Krankenkasse lehnt eine Kostenübernahme ab. Auch will der zuständige Mitarbeiter Christian Rubens seine Ablehnquote für chirurgische Eingriffe unbedingt einhalten. Das kann frau so gar nicht auf sich sitzen lassen – finden auch Ruths Leidensgenossinnen Katja und Mandy. Die drei schließen sich zusammen, um Rubens von der Dringlichkeit ihrer Operationen zu überzeugen. Dabei greifen sie auf unkonventionelle Methoden zurück und schlittern von einem Fauxpas in den nächsten. Zu allem Überfluss hat sich auch noch Ruths Schwiegermutter Christel Ziethen bei ihr eingenistet, die Ruths Zukunftspläne und eine sich anbahnende Romanze aus sehr eigennützigen Gründen zu vereiteln sucht.
Rasant, witzig und mit tiefen Einblicken in den Alltag busengeplagter Frauen.
* * *
Alle dargestellten Institutionen, Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sowie mit tatsächlich stattgefundenen Ereignissen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Die Autorin MARIE-LUISA SANDT lebt und arbeitet in Berlin. In ihrem »freche Frauen«-Roman greift sie auf die Erlebnisse und Erfahrungen von Frauen mit übergroßem Busen und disproportionierten Brüsten zurück. Die damit verbundenen Beeinträchtigungen stellt die Autorin humorvoll überzogen dar, fern der Absicht die Beschwerden damit zu bagatellisieren.
(Siehe auch Recherchematerial: »Nicht der Schönheit wegen. Die operative Brustverkleinerung« von Daniela M. Fiebig, ISBN 9783942042024).
BRUCHDELER ANZEIGER VOM 25.07.2016
Zwischenfall im Wellnessbereich überschattet das Hafenfest der Marina
Während am Samstagabend zahlreiche begeisterte Gäste auf dem alljährlichen Hafenfest des Hotels Marina Bruchdele ausgelassen feierten, wurden gemäß Bruchdeler Polizeibericht im Wellnessbereich der Anlage drei Personen wegen des Verdachts der Nötigung und des Gruppenstalkings vorübergehend festgenommen.
„Die Frauen waren splitterfasernackt und tobten hysterisch“, berichtete eine Mitarbeiterin.
Wie sich herausstellte, handelt es sich bei den beschuldigten Personen um die 43-jährige Ruth W., Katja L. (38) und Mandy S. (25), alle aus Berlin. Die Frauen hatten ihren Aufenthalt in der Marina offensichtlich bewusst für den verschwörerischen Übergriff auf den Krankenkassenmitarbeiter Christian R. (38), ebenfalls aus Berlin und Gast des Hotels, geplant. Ein Anschlag auf das Hotel konnte daher ausgeschlossen werden, die Motivation für die Tat ist bis dato allerdings noch unbekannt. Der Attackierte erlitt einen Schock, befindet sich aber bereits auf dem Weg der Besserung.
„Die Marina ist über diesen infamen Angriff bestürzt“, kommentierte Hotelmanager Wolfgang Feuerstein den Vorfall. „Herrn R. und seinem Begleiter haben wir natürlich sofort einen Gutschein für eine Übernachtung in unserem wunderschönen Hotel überreicht!“ Für die Beschuldigten sprach Feuerstein ein Hausverbot aus.
Die Frauen wurden nach Aufnahme der Personalien aus dem Gewahrsein der Polizei entlassen, ihnen droht eine Anzeige des Geschädigten, die Behörden behalten sich vor, ihnen gegebenenfalls den Tatbestand öffentlichen Ärgernisses anzulasten.
I.
1 Zwei Monate zuvor.
Sie hasste die gesellschaftlichen Verpflichtungen ihres Mannes. Besonders die kurzfristig vereinbarten. Und Stehpartys sowieso. Wieder würde Ruth einen unsäglich langen Abend in einem Grüppchen semifremder Menschen umherstehen, deren Bekanntschaft für sie nicht einmal unter dem Aspekt eines möglichen Unterhaltungswertes von Interesse war.
»Meine Frau Ruth«, sagte Helmut, »Herr und Frau Scheuermann.« Seine Hand, die zuvor noch locker auf ihrem unteren Rücken geruht hatte, drängte sie vor.
Ruth stolperte den Scheuermanns zwei Schritte entgegen, zwang sich ein unverbindliches Lächeln ins Gesicht und ergriff das knochige Händchen der Gastgeberin. »Frau Scheuermann, vielen Dank für die reizende Einladung.« Sie machte eine Räume umfassende Geste. »Wirklich, Sie haben ein wundervolles Heim«, Ruth verstärkte ihr Lächeln, »und so geschmackvoll eingerichtet!«
Sie fand das Haus protzig und das Inventar kunterbunt. Bereits im Flur war ihr die vollständige Abwesenheit von Wohn-Harmonie aufgefallen. Ihr Blick ertastete jetzt das Wohnzimmer, auch hier setzten sich die gestalterischen Querschläger fort: eine puffig-rote Sitzlandschaft dominierte den im strengen Schwarz-Weiß möblierten Raum, die helle Wand zierten Jagdtrophäen und ein orientalischer Seidenteppich.
Frau Scheuermann strahlte. »Oh, danke. Antje, bitte. Herzlich willkommen.« Sie zog ihren Gast näher, deutete eine Umarmung an und hauchte ihm links und rechts ein Küsschen zu. Eine Parfümwolke aus schweren Blütendüften umnebelte Ruth und drückte auf ihre Stirnlappen, woraufhin sich dort ein erstes Puckern bemerkbar machte. Sie hatte Mühe, ihr Lächeln aufrecht zu halten. Ruth wandte sich Frau Antjes betagtem Gatten Bernhard zu, der ihr mit großen Augen aufs üppige Dekolleté starrte. Dabei zog er so heftig an seiner Zigarre, dass er rot anlief. Frau Antje folgte dem Blick ihres Mannes und wurde käsebleich. Helmuts Gesicht hingegen zierte ein selbstgefälliger Ausdruck, in dem Ruth Berechnung und Besitzerstolz zu erkennen glaubte. Sie sandte ihrem Mann einen missbilligen Blick, dem er auswich. Er hatte darauf bestanden, dass sie das fliederfarbene Kleid mit dem gewagten Ausschnitt anziehen sollte, sie selbst hätte das weiße und weniger auffällige gewählt. »Flieder gibt es doch schließlich auch in weiß«, hatte Ruth zuhause gescherzt, aber nur ein dunkles Brummen geerntet, also hatte sie nachgegeben. Nun musste sie ertragen, dass ihre überdimensionierte Oberweite, für deren Größenbestimmung eine neue Buchstabenkombination eingeführt werden müsste, durch die modellierte Blende am Ausschnitt ihres Kleides nur noch mehr betont wurde.
Das Scheuermännchen besann sich derweil seiner Gastgeberaufgaben: »Äh, ja, darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten? Champagner?« Er schickte sich an, den Trunk selbst zu kredenzen, obwohl zahlreiche Bedienstete umherwuselten.
»Nicht doch, ich mach das schon«, sagte Helmut und trollte sich. Er grinste dabei für Ruths Geschmack einen Tick zu verschlagen.
Ruth blieb in der verbalen Umklammerung der Scheuermanns zurück. Brav nickte sie im Rhythmus des auf- und abkippenden Wortschwalls der Gastgeberin. Diese sinnierte unter den wegdämmernden Augen ihres Gatten über die Geheimnisse der Kosmetikindustrie. Ruth war sich sicher, dass die Dame sich nicht nur auf Cremes und Tropfen-Kuren verließ. Sie versuchte, Frau Antjes Alter zu erraten, deren faltige Haut am Hals ein höheres verriet als ihr puppenhaft starres Gesicht.
Immerhin servierte eine dürre Angestellte vom Catering-Service jetzt Prosecco (von wegen Champagner!), doch der hatte das Sprudeln längst aufgegeben und Zimmertemperatur angenommen. Helmut, der ausgezogen war, diese Aufgabe zu bewältigen, stand bei Häppchen und Bier an der offenen Terrassentür, kehrte den Frauenkenner heraus und redete unbedarften Männern ein, dass sie zum Anlocken der holden Weiblichkeit ein adäquates Gefährt benötigten, welche er nicht nur gebraucht verkaufte, sondern auch tageweise vermietete. Dann steckte er ihnen augenzwinkernd seine Visitenkarte zu. Er vermittelte nicht den Eindruck, dass er es überhaupt in Erwägung zog, seine Frau aus den Fängen der mitteilungsbedürftigen Gastgeberin zu erlösen.
Ruth rieb sich unauffällig über den Nacken, wo sie ein schmerzhaftes Ziehen verspürte. Das Herumstehen war für sie eine Tortur. In den eleganten, schwarzen Pumps brannten ihr die Füße und die transparenten Plastikträger ihres BHs schnitten ihr ob der schweren Last ins Fleisch. Dabei hatte sie sich extra ihre Bruststütze umgeschnallt. Diese wurde ähnlich wie das Schulterhalfter eines FBI-Agenten angelegt und sollte laut Werbung das Frontgewicht stabilisieren sowie für Erleichterung von Rücken und Schultern sorgen. Aber weit gefehlt. Ruths Vorbau zog weiter an allen verfügbaren Sehnen. Sie stöhnte leise.
Inzwischen hielt sie sich schon eine halbe Stunde an einem Glas Prosecco fest und gab sporadisch vor, daran zu nippen. Langsam machte sich ein leichtes Hungergefühl bemerkbar, sie wollte ihren Magen deshalb lieber nicht mit Alkohol reizen. Ruth zählte drei Servier-Damen, die Häppchen-Tabletts herumreichten. Doch kaum, dass sie Anstalten machte, sich von den Gastgebern zu lösen, griff Frau Antje vertraulich nach ihrem Arm. Ruth schickte Hilfe suchende Blicke zu Helmut, die jedoch auf halber Strecke von Oliver Krumbiegel abgefangen wurden. Dieser grinste und strich sich durch seine gegelten Haare. Ruth sah in ihm einen verschlagenen Blender, der bis in die öligen Haarspitzen dem Klischee eines Gebrauchtwagenhändlers entsprach – Helmut war dementsprechend von seinem Mitarbeiter begeistert. Und dieser schickte sich jetzt an, die in Bedrängnis geratene Maid zu retten, auf deren üppigen Balkon sein Auge schon länger weilte.
»Frau Wonnepfuhl«, säuselte Krumbiegel ihr ins Ohr, »wir hatten ja noch gar keine Gelegenheit, auf meine Partnerschaft anzustoßen.« Er drängte sich wie ein vernachlässigter Hund in die Runde, Ruth wich zurück und den Scheuermanns näher. Krumbiegel reichte sein Glas zum Stößchen.
»Hat Helmut schon Pläne, was er mit dem Überfluss an Freizeit anfangen will?«
Ruth schnellte herum, »Wovon re…«, und touchierte mit ihrem Vorbau Herrn Scheuermanns Ellenbogen. Der riss verschreckt seinen Arm in die Höhe und unter den achtsamen Blicken aller Umherstehenden flog die Glut seiner Zigarre durch die Luft, absolvierte eine vollendete Drehung und steuerte zielsicher den Ausschnitt seiner Gattin an. An dieser Stelle stoppte Ruths Gehirn den Slow-Motion-Effekt und ließ das weitere Geschehen im Zeitraffer ablaufen:
Frau Antje schrie spitz auf; Ruth schüttete Prosecco in ihr Dekolleté; Frau Antje schrie noch spitzer auf; Ruth griff sich ein Tuch vom nächsten Tisch (leider standen noch Gläser drauf); Frau Antje schrie und schrie und schrie …
»Mit dir kann man nirgendwo hingehen. Du hast mich vor meinen Geschäftsfreunden total blamiert!«
Helmut lief auf Strümpfen auf und ab und zerrte sich Schlips, Hemd und Hose vom Leib, die er achtlos fallen ließ. Ruth folgte ihm stumm und pickte seine Kleidung auf. Sie war bereits in einen lockeren Hausanzug geschlüpft, der Bewegungsfreiheit versprach, dennoch wirkte sie verkrampft. Sie schlang einen Arm zum Stabilisieren um den Busen und reckte sich nach Helmuts Krawatte.
»Wäre alles nicht passiert, wenn ich statt des Deko-Teils einen Minimizer hätte tragen können«, murmelte sie, »aber ich sollte ja unbedingt das Fliederfarbene anziehen …«
»Ach, jetzt bin ich also daran schuld, dass du Frau Scheuermann den Sekt aufs Kleid gekippt hast, was?«
»Ich wollte den Brand doch nur löschen!«
»Du hättest ihn gar nicht erst verursachen sollen! Und was heißt hier überhaupt ›mit dem Busen den Arm gestreift‹? Kannst du nicht aufpassen?«
»Aufpassen?« Ruths Stimme hetzte die Tonleiter rauf und verharrte bei der schrillsten Oktave.
Sie wusste nicht, was sie mehr verletzte. Dass Helmut grundsätzlich nicht anerkannte, dass ein übermäßig großer Busen körperliches und seelisches Leiden verursachte, …
»Du hast ja keine Ahnung was es heißt, tagtäglich mit diesen Gewichten belastet zu sein«, schleuderte sie ihm mit Tränen in den Augen entgegen. Sie packte ihre Brüste, unter denen ihre Hände vollständig verschwanden. »Die behindern mich bei den einfachsten Tätigkeiten. Und es schmerzt!«
… oder, dass er die Unverfrorenheit hatte, sich angesichts der Offenlegung ihrer Qualen einer platten Attitüde zu bedienen:
»Wer schön sein will, muss leiden«, sagte er und zuckte mit den Schultern. »Und mir zu Liebe könntest du ja einmal eine Ausnahme machen.« Helmut schaute abschätzig und wedelte mit den Händen ihre Silhouette ab. »Du trägst doch sonst schon immer so’n unerotisches Zeugs und das hässliche Umschnallding! Was ich ertragen muss, davon spricht wieder keiner, und da wunderst du dich, dass ich …« Helmut brach ab und verfiel in Schnappatmung bis sein schweißfeuchtes Gesicht wieder eine natürliche Farbe angenommen hatte.
Ruth stutzte, das Gespräch steuerte eine unvorhergesehene Wendung an. Sie setzte sich auf das Bett und verzurrte Helmuts Wäsche gedankenverloren zu einem Knäuel. »Dass du was?«, fragte sie ruhig.
»Nichts.«
»Aha.« Sie schnaufte, ahnte bereits, was sich Helmut nicht auszusprechen traute. »Weißt du«, sagte sie sanfter, »du hast recht, meine Beschwerden sind wirklich unbedeutend gegen die wichtige Aufgabe, die eine Frau an deiner Seite zu erfüllen hat.« Vor ihrem inneren Augen lief ihre Ehe wie ein Kinofilm im Zeitraffer ab, der nur eines aussagte: Helmut war ein busenfixierter Mistkerl! Ruth nahm ihren ganzen Mut zusammen: »Ist es die Sonntag?«
Helmuts Blick hetzte überrascht zu seiner Frau, um sich dann ausgiebig den Streifen auf der Tapete zu widmen. Er hüstelte etwas, das wie Gewehr, Wer oder Woher, klang, bevor er nur noch schnaufte.
Ruth fühlte eine ungewohnte Erleichterung in sich aufsteigen. Jetzt lagen die Fakten sozusagen auf dem Tisch, und die Situation war beinahe zu ertragen. Aber dass Helmut nun nicht einmal mehr leugnete, sich mit einer jüngeren, kurvengepimpten Alternative zu amüsieren, verlangte natürlich Konsequenzen.
2 Dass ihre Kollegin irgendwie sauer auf sie war, hatte Ruth bereits geahnt, jetzt war sie sich sicher: Sonjas in Falten gelegte Stirn, die zu schmalen Strichen gezogenen Lippen und der scharfe Ton in ihrer Stimme sprachen Bände. Ein bisschen konnte Ruth sie ja verstehen, aber sie war nun wirklich nicht schuld an Sonjas Misere!
Seit Sonja Bergstätter ihrer Lieblingsarbeit enthoben war, hackte sie auf allen Kollegen herum – und Ruth hatte es ihr besonders angetan. Vielleicht waren es aber auch nur die Hormone, denn seit Sonja schwanger war, spielten diese verrückt. Und zu viel falsches Essen, konstatierte Ruth im Stillen, nachdem sie mit ihrer Arbeit, dem Redigieren des Artikels »Reizendes Essen«, fertig war. Die Benzoesäure in den sauren Gurken, die Sonja gläserweise verdrückte, sollte demnach hektisch machen. Aber auch sonst frönte Sonja gerne Leckereien, die der Gesundheit nicht gerade zuträglich waren. Ruth beobachtete, wie ihre Kollegin sich eine Reihe Gummibärchen zurechtlegte. Sie tippte mit dem Zeigefinger mahnend auf den Artikel und reckte das Kinn Richtung Naschwerk:
»Wussten Sie, dass da der Lebensmittelfarbstoff Tartracin drin ist?« Sonja reagierte mit einem kurzen Augenaufschlag, bevor sie sich genüsslich ein rotes Bärchen einverleibte, dem flugs ein grünes folgte. »Der bringt den Gehirnstoffwechsel aus dem Gleichgewicht. Vom vielen Zucker mal ganz zu schweigen.«
»Na und?!«
Sonja futterte weiter und legte eine neue Bärchenreihe aus. Sie konnte der teuflischen Farbspirale einfach nicht entkommen und musste nach Rot, Grün, Gelb, Orange und Weiß wieder Rot, Grün, Gelb … futtern. Wer hätte gedacht, wie gefährlich Gummibärchen sind!
»Aber dafür süße ich meine Getränke schließlich künstlich, und ich trinke viel Tee!« Sonja grinste als hätte sie ein Match gewonnen.
Ruth wiegte mitleidig den Kopf. »Ja, schwarzen! Darauf sollten Sie in Ihrem Zustand lieber verzichten, der enthält nämlich Oxalsäure und die ist ein Stressauslöser. Und by the way: der Süßstoff Aspartam setzt gemäß Öko-Test eine negative Hormon-Flutwelle frei.«
»Sonst noch was?« Sonja warf ihren Stift auf den Schreibtisch und verzog sich zu den Toiletten.
Vorsicht Sonja, dachte Ruth, Dauerstress lässt Nervenzellen absterben! Sie lächelte ihrer brummigen Kollegin freundlich hinterher und machte sich daran, ihren Artikel auf Fehler zu kontrollieren.
Der wenig kollegialen Auseinandersetzung war vorausgegangen, dass Barnim Nause, Chef des Gourmettempel-Magazins, bei dem Ruth nun schon seit ein paar Wochen per Personalleasing arbeitete, die schwangere Sonja – aus reiner Sorgfaltspflicht der werdenden Mutter gegenüber – vom unbequemen Außendienst in die kuschelige Buchhaltung versetzt hatte. Doch Sonja kiekste ärgerlich, dass in das muffige Zahlenbüro zu wechseln, einer Strafversetzung gleichkam. Unwichtig, dass das Chefchen sie mit einem Bonus versöhnen wollte. ›Das ist Erpressung‹ hatte sie gewettert, sich dann aber doch den Anweisungen des Chefs gebeugt. Danach war die Chef-Nase durchs Büro geschlichen und hatte ungeniert die Mitarbeiterinnen begutachtet, womit er nur knapp den Tatbestand einer sexuellen Belästigung verfehlte. In seinem graugrünbraunen Karoanzug, in dem Herr Nause stark an einen zu kurz geratenen Nick Knatterton erinnerte (ohne die obligatorische Mütze, dafür aber mit einer wild wuchernden Fellleiste unter der Nase), baute er sich schließlich vor Ruths Schreibtisch auf.
»Verheiratet?«
»Ähm, wie? Äh, ja. Warum … ?«
Ruth zeigte zur Bestätigung ihren rechten Ringfinger, an dem noch immer der schlichte, goldene Reif steckte, dessen Bedeutung sich seit ihrer vorübergehenden Separierung, wie es ihre Schwiegermutter Christel so schön und harmlos bezeichnete, schon längst in Wohlgefallen aufgelöst hatte.
Mit einer unwirschen Handbewegung, die knapp Ruths Nase verfehlte, beendete Herr Nause ihren gedanklichen Kurzausflug. »Stehen Sie mal auf. Nun machen Sie schon, stehen Sie auf«, befehligte er. Nause wedelte mit beiden Händen, weil Ruth ihn nicht zu verstehen schien. Dann kam sie seiner Aufforderung nach. Zögerlich. Nause beugte sich über den Schreibtisch, blickte ihr auf die Füße und nickte zufrieden. »Zeitarbeit?« Er fuhr ohne auf Antwort zu warten fort: »Wollen Sie einen festen Anstellungsvertrag?«
Ja, ja, ja, wollte Ruth vor Freude laut hinausschreien, brachte aber nur ein heftiges Wackel-Dackel-Nicken zustande, das von einem breiten Lächeln begleitet wurde.
Die Chef-Nase kontrollierte die Uhr. »Dann begleiten Sie mich heute Abend ins Chez Pauli! Also: Achtzehnuhrdreißig hier im Büro! Seien Sie pünktlich und ziehen Sie sich was … was Vernünftiges an, und …«, er blickte noch einmal zu ihren Füßen, »und keine Absatzschuhe!«
Seitdem war Sonja noch mehr vergnatzt. Zu Recht. Jedenfalls was Chef Nause betraf. Bisher war nämlich sie Nauses rechte Hand, Alibi-Partnerin sowie Assi-to-go gewesen, wenn der Gourmettempel-Chef und Restaurant-Tester seinen außerhäusigen Terminen nachging. Aber das war jetzt aus und vorbei, denn Barnim Nause hatte weiß Gott schon zu viele seltsame Restaurant-Erlebnisse mit Nachwuchs tragenden Frauen gehabt, als dass er in seinem Alter – immerhin hatte er die Sechzig bereits überschritten – mit einer Schwangeren zu einem pseudoromantischen Essen gehen wollte. Mit Grauen in der Stimme pflegte er von den frühen Jahren seiner Tätigkeit zu erzählen, in denen er sich von seinen Sekretärinnen hatte begleiten lassen. Woraus drei Eheschließungen und diverse Schwangerschaften hervorgingen, später dann auch die entsprechenden Scheidungen. Seine schwangeren Frauen hatten infolge der Hormonschwankungen so wirre Geschmacksnerven entwickelt, dass sie Kardamom nicht von Koriander unterscheiden konnten. Und ihre Morgenübelkeit hatten die Damen auch schon mal erst am Abend ausgespuckt. Einmal direkt auf Nauses Sterne-Menü! Mahlzeit. Seine Abneigung, sich von einer Schwangeren zum Testessen begleiten zu lassen, war also nachvollziehbar.
Ruths Gemütszustand schwankte derweil zwischen Furcht und Freude. Freude, weil ihr Bankberater Herr Senff sie erst in der letzten Woche süffisant darauf hingewiesen hatte, dass ihr Konto gar nicht hübsch anzusehen war und Ähnlichkeit mit einem jüngst verstorbenen Amazonasbewohner aufwies, dessen Denkkapsel geschrumpft worden war. Er meinte damit, dass ihr schlecht bezahlter Aushilfsjob, und der magere Unterhalt ihres Noch-Ehemanns, kaum ihre Kosten deckten. Ruths zaghafte Anfrage nach einer weiteren Belastung ihrer Eigentumswohnung oder einem Darlehen hatte Herr Senff unkommentiert gelassen. Mit steifer Miene. Das Zucken seiner Mundwinkel wies allerdings daraufhin, dass er sich unter Aufbietung aller Gesichtsmuskeln das Lachen verkniff. Schließlich schwand die Anspannung und seine Belustigung wich dem einem Banker angeborenen Geschäftssinn.
»Da können wir gerne wieder drüber sprechen, Frau Wonnepfuhl, wenn Sie einer Vollzeitbeschäftigung mit einem entsprechenden Gehalt nachgehen. Aber unter diesen Voraussetzungen …« Er tippte mit dem Zeigefinger Morsezeichen auf Ruths Kundenakte. Und dann setzte ein Vortrag über Einkünfte, Ausgaben und dem Wirtschaftlichkeitsdenken des auf das Wohl aller Kunden ausgerichteten, elitären Bankhauses ein. »Tja, wenn Ihre Familienverhältnisse noch wie zuvor wären …«
Waren sie aber nicht. Und wenn es nach Ruth ginge, sollte die alte Ordnung auch auf keinen Fall wieder hergestellt werden. Im Gegenteil, der Ehebrecher Helmut Wonnepfuhl sollte schleunigst ganz aus ihrem Blickfeld verschwinden – und zwar so weit weg wie möglich. Und das war auch der Grund für ihre Geldsorgen: Helmut war inzwischen nämlich selbst daran interessiert, das Weite zu suchen. Zwar nicht aus den Gründen, die Ruth antrieben, sondern weil er sich mit seiner silikonbusigen Geliebten Wanda Sonntag, die inzwischen zu seiner Dauergespielin aufgestiegen war, das ferne Ibiza als neuen Lebensmittelpunkt ausgesucht hatte. In Ruths Augen das untrügliche Zeichen für eine hyperventilierende Midlife-Crisis. Aber ihr könnte es ja egal sein, wofür er seinen gutgehenden Gebrauchtwagenhandel aufgab. Nur musste Helmuts Auswanderer-Fantasie auch finanziert werden ... Dummerweise hatte sich Ruth im Falle einer Trennung verpflichtet, Helmuts Investition in ihr Wohneigentum zurückzuzahlen – zumindest teilweise. Und würde sich Herr Senff betreffend des dafür nötigen Bankdarlehens nicht so anstellen … Und schon biss sich die Katze sprichwörtlich in den Schwanz. Aber all das schien durch Barnim Nauses Mitarbeiter-Neueinteilung bald obsolet, denn nun winkte ja die Beförderung zur Festangestellten. Wenn Ruth beim abendlichen Restaurant-Testessen für Chef Nause eine perfekte Begleiterin und lebende Blackbox abgab, wäre ihr der Job sicher, glaubte sie jedenfalls. Den Arbeitsvertrag würde sie dann Herrn Senff von der Bank unter die senffarbene Nase halten und das gewünschte Darlehen bekommen. Dann schloss sich der Kreis wieder, ganz ohne Katze und ohne Schwanzbeißen, und Ruth wäre Helmut auch finanziell los. Ciao-ciao alte Abhängigkeit! Ach, das Leben konnte ja so schön sein. Wäre da nicht die Kehrseite der Medaille.
Ihre Mittagspause nutzte Ruth um im Roadrunner-Stil in das nahe gelegene Miedergeschäft von Frau Meier-Hoff zu stürzen. Sie wollte sich für den wichtigen Abend im Chez Pauli nicht nur eine essengehtaugliche Untendrunter-Wäsche zulegen, sondern sich auch umgehend von ihrem Schraubstock-Minimizer verabschieden. Sie hatte die begründete Angst, das altersschwache Material, das ihren Busen außerdem schmerzhaft zusammenpferchte, könnte seinen Dienst ausgerechnet beim abendlichen Essen im Sterne-Restaurant aufgeben.
»Ich – ich – halte das nicht mehr aus!« Ruths Gesicht glühte lachsrot und Strähnen ihrer wuscheligen dunkelblonden Haarpracht baumelten ihr wie bei einem Yorkshire-Terrier vor den Augen.
Sie verschwand ohne Halt in der Umkleidekabine Nummer zwei.
Frau Meier-Hoff wirbelte herum. Vorsichtig schlich sie hinterher und klopfte an den Vorhang der Kabine. »Haaallo?«
Schweres Atmen drang nach außen, welches an das Gestöhne eines Psychopathen beim Telefonterror erinnerte. Dann rappelte es heftig und über die Vorhangstange flogen diverse Kleidungsstücke. Frau Meier-Hoff lupfte den Stoff und steckte den Kopf in die Kabine: Auf dem polsterlosen Holzstuhl hockte ein halbnacktes Häufchen Elend namens Ruth Wonnepfuhl. Sie hielt beide Arme auf Bauchhöhe verschränkt, um den tiefen Fall ihrer blanken Brüste zu vereiteln.
»Mit dem da geht das gar nicht.«
Ruth schniefte und deutete mit dem Kinn auf ihr Busen-Foltergerät. Dabei schaute sie Frau Meier-Hoff mit traurigen Reh-Augen an. Frau Meier-Hoff schaute betreten zurück.
»Ich weiß nicht, ob ich in Ihrer Größe etwas vorrätig habe.«
Die Betonung lag eindeutig auf Ihrer Größe. Für Ruth die Ankündigung einer Naturkatastrophe, denn Frau Meier-Hoffs Miedergeschäft mit dem vertrauenswürdigen Slogan Wir haben auch für Sie das Passende – für jede Gelegenheit, war ihre letzte Hoffnung gewesen.
Frau Meier-Hoff hatte sich einen Stuhl geschnappt und sich zu ihrer busenmächtigen Kundin gesetzt. Sie schenkte Sekt aus und machte auf Amateur-Therapeutin.
»Eine positive Einstellung zu Ihrem Körper ist aber auch wichtig, wissen Sie.« Sie nickte nachdrücklich.
»Ach, kann meine Einstellung denn Materie beeinflussen?!«, fragte Ruth bockig und zuppelte an ihrem ausgeleierten BH. »Damit kann ich doch auf keinen Fall zum Essen gehen!«
»Nicht?!« Frau Meier-Hoff klimperte irritiert mit den Wimpern. Dann blitzte in ihren Augen etwas wie Begreifen auf. »Wissen Sie, wenn Sie etwas Luftiges darüber tragen, fällt der unschöne Schnitt gar nicht auf.«
Ruth rollte die Augen und deutete auf ihre riesigen Brüste. So viel geballte Weiblichkeit erschwerte es, beim Essen eine gute Figur abzugeben, meinte sie. Frau Meier-Hoff blickte noch immer verständnislos.
»Also«, sagte Ruth, »das hier«, sie klopfte auf das kleine Regalbrett in der Kabine, »das ist jetzt mal ein Esstisch, okay?«
»Wenn Sie es sagen.«
Ruth beugte sich minimal vor, und sofort stieß ihr Busen an den improvisierten Tisch, was sie unvermittelt ausbremste.
»Verstehen Sie?«
Frau Meier-Hoff neigte grübelnd den Kopf, Ruth seufzte und deutete eine Löffelbewegung an.
»Na, und jetzt?« Ruth wuschte mit dem Zeigefinger zwischen »Tisch« und Mund hin und her. »Zwanzig Zentimeter! Mindestens! Und wie soll man denn vernünftig essen können, wenn die Tischkante in den Busen drückt?!«
Frau Meier-Hoff holte flugs ein Maßband und überprüfte die Angabe. Tatsächlich, zweiundzwanzig Zentimeter waren aufgrund Ruths riesiger Oberweite vom imaginären Tellerrand bis zum Mund zu überwinden, was sie alles andere als elegant wirken ließ. Frau Meier-Hoff sah ein, dass das Problem Masse weder mit einem herkömmlichen BH, noch mit einem Minimizer in den Griff, beziehungsweise ins Körbchen, zu bekommen war.
Ruth stöhnte und griff sich in den Nacken.
»Geht es Ihnen nicht gut?«
»Verspannung. In allen Muskeln zieht und zwackt es.« Ruth erzählte Frau Meier-Hoff von ihren Schmerzen im Rücken, über die in ihrem vorderen Brustwirbel und im Drüsengewebe.
»Na ja, ein bisschen Gymnastik würde …«
»Ach, kommen Sie mir nicht damit«, echauffierte sie sich, »hab ich doch alles schon ausprobiert. Aber machen Sie mal Sport mit einem Frontgewicht von knapp drei Kilo! Da zerrt jede Bewegung an den Brüsten, von den Einschränkungen durch den Umfang mal ganz zu schweigen.«
Frau Meier-Hoff nickte beschämt und füllte Ruths Glas wieder auf. Sie und ihr A-Körbchen kannten die Probleme von Frauen mit großen Brüsten lediglich aus der beruflichen Perspektive. Daher meinte sie doch wirklich, dass ihrer Kundin mit einem korrekt sitzenden Mieder zu helfen wäre!
Auf Frau Meier-Hoffs Anraten zwängte Ruth ihren Busen in einen fleischfarbenen Mieder, der sie an eine Zwangsjacke erinnerte. Die harten Nähte des Stoffes verliefen direkt über ihren Brustwarzen und rieben daran. Es würde nicht lange dauern und ihre Nippel hätten sich entzündet und würden wie Rentier Rudolphs Nase hellrot leuchten. Ruth riss sich das Teil enttäuscht herunter.
»So geht das nicht, das halte ich keinen Abend lang aus.« Sie bugsierte ihre Masse wieder in die Körbe aus ausgeleiertem Baumwoll-Polyester-Mix. »Was soll ich denn jetzt nur machen?« Ruth schluchzte und erzählte Frau Meier-Hoff von dem Albtraum, der sie seit der Party bei den Scheuermanns heimsuchte. Sie hatte Angst, dass das Essen mit dem Chef diesen Höchststand auf ihrer persönlichen Peinlichkeitsskala noch toppen würde.
Nach Ruths spontaner Abhandlung über Oberweiten-Diskriminierung und ergebnislosen Durchprobierens sämtlichen Wäschebestands der Frau Meier-Hoff, sowie der abschließenden Überlegung, für ihre Brüste einen Behindertenausweis zu beantragen, schaute Frau Meier-Hoff ihre Kundin mitleidig an und zuckte resigniert mit den Schultern.
»Also dann weiß ich auch nicht weiter. Ich kann Ihren Busen nun mal nicht kleiner machen, dann müssen Sie halt unters Messer!«
Wie jetzt? Ruth schaute wortlos und ein bisschen begriffsstutzig.
Frau Meier-Hoff stürzte den letzten Schluck Sekt hinunter. »Ja warum denn nicht? Aufschneiden, Fett raus, zumachen. Geht heute doch schon ganz einfach. Und bei Ihren Beschwerden bezahlt das sicher auch die Krankenkasse.«
»Sie meinen eine Brustverkleinerung? Vom Arzt?« Ruths Verstand stolperte noch immer hinterher.
»Jaha!«
»Aber das ist doch eine Schönheitsoperation!« Sie rümpfte die Nase. So etwas machte eine bodenständige Frau wie sie doch nicht. Niemals.
»Na und? Wenn‘s aber hilft?!«
Den restlichen Tag konnte sich Ruth nicht mehr auf ihre Arbeit konzentrieren. Und nicht nur, weil der Korsagen-BH, den ihr Frau Meier-Hoff letztendlich doch noch, und für nur hundertdreißig Euro, aufgeschwatzt hatte, überall ziepte und zwackte.
›Aber dafür macht er unten drunter richtig was her!‹ O-Ton Frau Meier-Hoff. Sie hatte auf den Spitzenbesatz gezeigt und dann mit einem vielsagenden Lächeln auf die doppelten Nähte. ›Die halten einiges aus!‹
So sollte Ruth, jedenfalls gemäß der Miederfachfrau Meier-Hoff, den Abend bequem und zumindest optisch busenreduziert, bestens überstehen. Bestens! Naja, das würde sich erst noch herausstellen müssen.
Ruths Gedanken wanderten trotz der positiven Gesamt-Aussicht für ihre Zukunft ständig zurück zum Gespräch mit Frau Meier-Hoff. Sie fühlte heute mehr denn je, dass sie die Grenze ihrer Belastbarkeit erreicht hatte. Ihre große Oberweite bescherte ihr ein Martyrium, das kontinuierlich auf das Maximum des Erträglichen zusteuerte. Bisher hatte sie nur privat damit zu kämpfen gehabt. Bei Alltäglichkeiten, die Bewegungsfreiheit erforderten, sogar das Schlafen war eine Tortur. Aber seit die Beförderung im Raume stand, hatte ihr Körper neue Parameter erstellt, die auch ihr seelisches Wohlbefinden aus dem Gleichgewicht brachten. Ruth war sich sicher, dass sie durch die neue Tätigkeit an den Rand der Verzweiflung gelangen würde. Aber gleich eine Operation?! Ginge das nicht ein bisschen weit? War ihre finanzielle Abnabelung wirklich so wichtig, die Schmerzen nicht vielleicht doch auszuhalten? Beweglichkeit wurde ja gemeinhin überschätzt, und wer brauchte schon einen sportgesunden Körper – oder einen Job, der eine Perspektive bot?!
Auf dem Heimweg starrte sie jeder Frau auf die Oberweite – war das alles Natur oder hatte die eine oder andere nacharbeiten lassen? Sie hatte bisher nicht offen über ihre Beschwerden geklagt, die früher auch noch nicht so schlimm gewesen waren, aber mit den Jahren verschliss der Körper und die Zipperlein nahmen zu. Wer hatte es mit über vierzig denn nicht an der Wirbelsäule? Und Ruths Nacken, Schultern und der Rücken mussten ein besonders hohes Gewicht tragen. Wie bei einem Tragjoch. Zu früheren Zeiten hingen an einer solchen Schultertrage Körbe, mit deren Hilfe schwere Lasten transportiert wurden. Nur, dass Ruths Tragjoch kein Holzbalken, sondern ein Zelt-BH war und in ihren Körben »nur« die drei Kilogramm ihres Frontbereichs lagen. Einen kaputten Rücken machte das aber auch!
Sie überlegte, wie wohl ihr Ex und dessen Mutter auf eine Brustreduktion reagieren würden. Deren dumme Gesichter allein wären den Eingriff schon wert, dachte sie und grinste. Vielleicht würde ihr die Schwiegermutter gar unterstellen, dass sie die Verkleinerung vorgenommen hätte, nur um Helmut zu strafen. In den Augen ihrer Schwiegermutter wäre eine Operation sicher doppelt verwerflich. Einerseits passte eine künstliche Verschönerung nicht in deren Weltbild, und andererseits war Christel sicher der Meinung, dass Ruth ihrem Manne doch nicht einfach den Ehe-Spaß trüben dürfte. Ruth schüttelte sich. Irgendwie war es befremdlich, wenn nicht sogar eklig, dass eine Mutter über die sexuellen Vorlieben ihres Sohnes Bescheid wusste.
In der Ferne erblickte Ruth ihren Bus, der sich rasant durch den Verkehr schob. Eilig zurrte sie ihre Sachen zusammen. Um den rechten Arm hängte sie ihre Handtasche sowie die Papiertüte vom Miedergeschäft Meier-Hoff. Zwischen den Fingern klemmte vorzeigebereit die Fahrkarte. Den anderen Arm schlang sie um ihre Brüste, damit sie beim Spurt zur Haltestelle nicht auf und ab hüpften. Das wäre nicht nur lästig, sondern zog auch schmerzhaft am Gewebe. Ruth seufzte, ihr Alltag, der nur mit Umständen und Qualen zu bewältigen war, plädierte laut und deutlich für eine Operation!