SCHNEE VON GESTERN. Eine Liebe zwischen Misstrauen und Verzweiflung - Marie-Luisa Sandt - E-Book

SCHNEE VON GESTERN. Eine Liebe zwischen Misstrauen und Verzweiflung E-Book

Marie-Luisa Sandt

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Beschreibung

Kann man die Vergangenheit wirklich hinter sich lassen?

Jamila versucht es, aber dann verliebt sie sich ausgerechnet in einen Mann, dem ein exzessiver Lebenswandel mit Alkohol und Drogen nachgesagt wird. Schmerzvolle Erinnerungen werden wach und konfrontieren Jamila mit Ängsten, die sie in einen Strudel aus Argwohn und Vorurteile ziehen.

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Marie-Luisa Sandt

SCHNEE VON GESTERN. Eine Liebe zwischen Misstrauen und Verzweiflung

Für Dich.BookRix GmbH & Co. KG81371 München

Eine Versuchung wird man nur dadurch los, dass man ihr nachgibt. Oscar Wilde

Über das Buch

 

Ob kleine Sünden oder große Fehler, eine befleckte Weste ist nicht mehr reinzuwaschen, auch wenn man sich noch so sehr bemüht. Dies erfährt der prominente Robert König nur allzu schmerzlich, dessen Abkehr von schlechten Gewohnheiten nicht nur von der Öffentlichkeit und Freunden, sondern auch von seiner neuen Liebe angezweifelt wird.

 

SCHNEE VON GESTERN bedient sich unterschiedlicher Perspektiven um aufzuzeigen wie schwer es ist, diesen Zweifeln zu widerstehen, wie leicht es ist, Misstrauen zu schüren und wie bitter es sein kann, vorschnell verdächtigt zu werden.

 

 

 

 

 

Neuschnee

I.

 

 

 

Die Stille klingt. Es ist ein helles Surren, kaum wahrnehmbar. Wie das Flüstern des Herzens, das erst bemerkt wird, wenn sein Pochen endlich bis in den Kopf vorgedrungen ist. Spürst du mich? Das ist das Leben!

Schnee legt sich über die Stadt. Weiß und makellos tanzt er im Schein der Lichter und verleiht ihr die Illusion von Ruhe und Frieden. Doch als die Lichtkegel des herannahenden Autos umherwandern, geben sie den Blick frei auf den Unrat der Wegwerfgesellschaft, der sich unter dem Weiß zu verbergen sucht; und im harten Schein der Erkenntnis schwindet alle Zuversicht.

Das Surren verliert sich im Motorengeräusch des Wagens, der ungeachtet der rutschigen Fahrbahn durch die Nacht rast. Die Luft ist winderfüllt und kalt, der Schneefall nimmt zu, Wege werden zu Eisbahnen, kaum dass die Flocken den kalten Boden berühren.

Der Fahrer des Audis fährt trotz der schlechten Sicht gewagt, aber sicher. Den Scheibenwischer hat er auf langen Intervall geschaltet, die Windschutzscheibe schneit fast zu, bevor die Wischer erneut darüber gehen. Auf dem Beifahrersitz sitzt ein Teddybär – groß, braun und flauschig – und aus dem Radio klingt leise der Song Man Like Me: „She says, your're throwing life away, to move with a man like me …This is a habit I'm breaking now forever …“

Er nimmt das Tempo nicht zurück; wer auch sollte zu dieser verschlafenen Zeit unterwegs sein, nur Verrückte wie er wagen sich bei diesem Wetter auf die Straße – und er ist ein guter Fahrer, der Wagen winterfest ausgerüstet.

Der Audi nimmt die nächste Kurve. Viel zu spät kommt das Hindernis in das Blickfeld des Fahrers, als hätte es im Verborgenen auf ihn gelauert und wäre eben hervorgesprungen, um ihn ins Verderben zu reißen.

Er fährt direkt darauf zu.

Reflexartig reißt er das Steuer herum, verliert die Kontrolle über den Wagen und wird über den vereisten, buckligen Weg wie von einer Schanze in die Luft katapultiert.

Das Auto vollführt einen halben Looping und kracht in den Container, der die Straße blockiert.

Für einen Moment scheint die Zeit angehalten, keine Bewegung, kein Geräusch ist auszumachen. Dann haucht der Wagen mit einem schwerfälligen Knarzen sein Leben aus.

Der Fahrer des Audi klemmt regungslos hinter dem Lenkrad, ein Rinnsal Blut läuft ihm über die Stirn und das bleiche Gesicht. Die Musik spielt weiter: „... I´ll never set foot in that rat hole again, but I´ll drive to your place ...”

 

In der Ferne heulen die Sirenen der Polizei, die Feuerwehr und ein Notarztwagen sind bereits am Unfallort. Es herrscht überlegte Betriebsamkeit: die Straße wird abgesperrt und geräumt, eine Trage mit dem Fahrer des Audis wird von einem Sanitäter zum Rettungswagen geschoben. Der Mann darauf ist nicht bei Bewusstsein, seine roten Sportschuhe, unpraktische Fashion-Victims, leuchten im hellen Schein der blinkenden Signallampe.

Der Notarzt beugt sich zu dem Verunglückten. »Hallo? Verstehen Sie mich?« Sein Atem wirbelt Luft auf und bildet kleine weiße Wölkchen.

Keine Reaktion.

Schnell und professionell hebeln die Männer die Trage in den Rettungswagen, dann versorgt der Arzt die Wunden des Mannes, verabreicht Sauerstoff, misst Blutdruck.

Ein junger Feuerwehrmann steht abwartend daneben. »Kommt er durch?«

»Er ist erst einmal stabil.«

Das Gesicht des Feuerwehrmannes entspannt sich, er beugt sich nach einer Sporttasche. »Lag im Fußraum des Audis.« Er hält die Tasche dem Arzt entgegen.

»Ah, gut«, sagt der Arzt. »Und?«

»Und was?«

Der Arzt deutet mit dem Kopf auf die Tasche. »Na was wohl? Haben Sie schon seine Personalien festgestellt?«

Der Feuerwehrmann wühlt in der Sporttasche, findet eine Brieftasche. Beim Öffnen fällt ihm ein Foto entgegen: Eine hübsche junge Frau, rotblonde Haare. Er zeigt das Foto dem Notarzt. »Nicht schlecht, was?«

Der Arzt schickt ihm einen missbilligenden Blick. »Weiter!«

Während der Feuerwehrmann die Brieftasche nach Dokumenten durchsieht, überprüft der Arzt die Verriegelung der Trage, nimmt die offene Tasche des Unfallopfers und stopft sie notdürftig in die Ablagefläche. Beim Abwenden verhakt sich die Kordel seiner Jacke in dem Verschluss der Tasche. Sie fällt herunter und der Inhalt verstreut sich über den Boden. »Mist!«, brummt er. Der Arzt geht in die Knie, um den Inhalt der Tasche aufzusammeln. Unvermittelt bricht er ab. Dann hält er mit den Spitzen zweier Finger eine kleine, transparente Tüte hoch, in der sich ein weißes Pulver befindet. Für einen winzigen Augenblick starrt der Arzt das Tütchen an als wollte er es mit den Augen lasern, dann schwenkt er es im Schein der Innenbeleuchtung.

Der junge Feuerwehrmann wird aufmerksam und reißt die Augen auf. »Ach. Sieh mal an, was wir da haben.«

»Robert König!«

»Häh?« Der Feuerwehrmann blickt auf den Führerschein, den er nur eine Sekunde zuvor aus der Brieftasche des Unfallopfers gezogen hat und überprüft den Namen, er nickt. »Woher wissen Sie ...?«

Der Arzt zuckt mit den Schultern. »Der kam mir gleich bekannt vor.« Er greift zum Funkgerät. »Wagen 65 an Zentrale. Wir sind in fünf Minuten in der Notaufnahme Behringstraße«, spricht er hinein. »Das Unfallopfer ist männlich, 37, Kopfverletzung, nicht bei Bewusstsein.« Er macht eine Pause. Dann fügt er an: »Verdacht auf Drogenmissbrauch.«

Die Tür des Notarztwagens wird zugeschlagen, die Sirene heult auf und der Wagen fährt ab.

 

Es schneit tonlos weiter. Die Flocken legen sich über das Schwarz der Nacht und bilden ein Vakuum aus Schnee, in dem die zurückgewonnene Stille zu ersticken droht. Das strahlende Weiß des Neuschnees: nur eine Täuschung! Weiß ist weder vollkommen, noch ist es eigenständig, es ist die Summe aller Farben, eine individuelle visuelle Wahrnehmung, hervorgerufen durch Licht.

In Afrika steht Weiß für Tod, in China für Alter, Herbst und Trauer – und Hinterlist, dann ist der Farbton gebrochen, die Reinheit der Unschuld verloren.

 

 

* * *

Ein gebranntes Kind scheut das Feuer

1

 

Acht Wochen zuvor.

 

Der kleine Ort lag nur knapp zwei Stunden vor den Toren Berlins, aber von der Nähe der Großstadt war trotz Bahnanbindung nichts zu spüren. Das Gemeindehaus in der Ortsmitte, der idyllische Gasthof am Ende der Straße und gepflegte Grundstücke säumten die Dorfstraße und verströmten gediegene Langeweile.

Ein roter Flitzer parkte mehr schlecht als recht vor dem Haus mit der Nummer drei ein. Die Fahrertür öffnete sich und schmale Frauenbeine in teuren Highheels schwangen heraus. Die Frau sah sich kurz um und schüttelte kaum merklich den Kopf. Sie öffnete das Gartentor, das schief und unverriegelt in seiner Verankerung hing, und stakste auf einem unbefestigten Weg um das steinerne Einfamilienhaus herum in den hinteren Garten. Auf halber Strecke traf sie auf eine junge Frau, die im Dreck kniete und einen Berg Steinplatten durchsah. Sie wählte eine der steinernen Gehwegplatten aus und schob sie in die dafür vorbereitete Mulde. Die junge Frau war ganz in ihrer Arbeit vertieft und zuckte zusammen, als sie von der Besucherin an die Schulter gefasst wurde.

Jamila Jonas‘ Blick wanderte über die Aufmachung ihrer Freundin, für dessen reizvolles Business-Kostüm sie nur einen abschätzigen Augenaufschlag übrig hatte. Sie wischte sich eilig mit den Händen über das schmutzverschmierte Gesicht und bemühte sich vergebens, Sand aus ihren rotblonden Haaren zu schütteln. Sie lächelte verschämt.

»Nina. Hallo. – Waren wir verabredet?«

Nina grinste. »Solltest du nicht arbeiten?«, fragte sie statt einer Antwort.

Jamila ließ sich in den Sand plumpsen. »Und wonach sieht das hier aus?« Sie sprach verhalten und mit einer angenehmen dunklen Stimme. Trotz des für Ende September noch wohltuend warmen Wetters und ihrer anstrengenden Tätigkeit trug sie ein langärmeliges Shirt, das jetzt dreckig und verschwitzt an ihrem Körper klebte und ihre schlanke Figur betonte.

»Nach Ausrede«, sagte Nina und stemmte herausfordernd ihre Hände in die Hüften.

 

Nina warf einen prüfenden Blick auf die Terrassenmöbel und wählte einen der bequem anmutenden Korbsessel. Aber kaum, dass ihre Hände auf den Armlehnen ruhten, kräuselte sie die Nase: »Iihh, Hund.« Nina rieb ihre Handflächen am Tischtuch ab, roch an ihnen und setzte sich in die altersschwache Hollywoodschaukel um, die quietschend vor und zurück schwang. Nina schloss die Augen, wippte und sog die herzhafte Landluft ein. »Ist ja recht schön hier«, rief sie Jamila entgegen, die gerade mit dem Kaffeegeschirr aus dem Haus trat, »aber ein bisschen … einsam?!«

»Meine Eltern sind doch da und kümmern sich um mich.«

Nina hob eine Augenbraue. »Hm, genau das hatte ich befürchtet.« Mit einem Ruck stoppte sie die Hollywoodschaukel und sah sich um. Auf einem der Korbsessel lag eine Schreibmappe. »Und«, rief sie, »kommst du voran?« Diesmal blieb eine Antwort aus, Jamila war zu sehr auf das Balancieren des Tabletts konzentriert. Nina starrte für einen Moment auf die Schreibmappe, dann grinste sie spitzbübig und reckte sich so vorsichtig danach, als wüsste sie genau wie verboten der Blick hinein war.

»Ähem.« Jamila räusperte sich und stellte das Tablett mit dem Kaffeegeschirr so hart auf den Tisch, dass es schepperte, Nina fuhr zurück. »Du hast Glück, es ist noch was da«, sagte Jamila und platzierte eine Dessertschale vor Nina. »Ich habe das Rezept noch einmal verfeinert, probier‘ mal.«

Nina setzte ein künstliches Lächeln auf. Sie hatte ein schönes Antlitz, eben und wie gemeißelt, aber ein wenig überdimensioniert – so als hätte sich der Bildhauer mit den Proportionen vertan. Lächeln stand ihr gar nicht gut, aber davon ließ sie sich nicht abhalten. »Wunderbar. Tiramisu. Sicher wieder ohne Alkohol, nicht wahr? Lecker!«

Jamila streckte Nina die Zunge heraus. »Und auch noch kalorienreduziert!«

»Na dann.«

Die beiden Frauen lachten. Jamila etwas zurückhaltender als der quirlige Eyecatcher Nina, die mit ihrer hellen, aber festen Stimme gerne plapperte, was sie mit ausladenden Bewegungen zu untermalen pflegte.

Nina pochte auf die Schreibmappe. »Ist das dein neues Werk? Darf ich?«

»Finger weg!« Jamila füllte die Tassen mit Kaffee und drückte Nina einen Löffel in die Hand. »Nun probier‘ schon.«

Nina naschte vom Dessert und ließ es auf der Zunge zergehen. »Hhm, nee, ist wirklich lecker. Du hast wohl zu viel Zeit.«

Jamila seufzte. Sie setzte sich zu Nina auf die Hollywoodschaukel und lehnte ihren Kopf an deren Schulter. Wortlos schaukelten sie.

»Nun? Sag schon«, unterbrach Nina die Stille. »Ich bin doch nicht nur deine Freundin, sondern auch deine Lektorin. Vielleicht kann ich dir helfen.«

»Schon okay, nur ein vorübergehendes Tief. Nicht weiter ungewöhnlich.«

»Klar. Worum geht es in der Geschichte denn genau? Du hast dich bisher so bedeckt gehalten und ich brenne darauf, den ersten Entwurf zu lesen.«

Jamila lehnte sich vor und naschte von Ninas Dessert. »Ach, nur das Übliche«, sagte sie nuschelig. »Um Liebe, das Streben nach Ruhm, den Sumpf des Verderbens …«

»Was!? Schreibst du etwa schon wieder so‘n düsteren Kram?«, platzte es aus Nina heraus. »Was ist denn aus der netten Komödie geworden, mit der du mich gelockt hast? Wie soll ich das denn dem Verlag beibringen?!«

Jamila zuckte mit den Schultern. »Wenn die das nicht wollen, gehe ich damit halt woanders hin.«

»Nee, jetzt mal ehrlich, Jamie, und da wunderst du dich, dass du nicht weiter kommst.« Nina sah ihrer Freundin fest in die Augen. »Jamie, Süße, das wühlt doch alles wieder auf. Ist das wirklich nötig?«

»Anscheinend. Das Schreiben an meinem letzten Roman hatte so eine befreiende Wirkung … aber die ganzen Änderungen … Die Geschichte ist so kommerziell geworden, sie fühlt sich – unecht an. Jedenfalls hier.« Jamila legte die Hand auf ihr Herz. »Dr. Wolfram sagt auch, ich soll meinen Gefühlen nachgeben. Wenn sie raus wollen, wollen sie raus, und das würde mich dann auch einen guten Schritt weiter bringen. Und sie wollen jetzt raus.« Der letzte Satz bahnte sich beinahe bockig seinen Weg ins Freie.

Es hatte lange gedauert, bis Jamila es über sich gebracht hatte, aus ihrer ganz persönlichen Geschichte einen Roman zu machen, aber das Schreiben hatte sich als wertvolle Therapieergänzung erwiesen und insofern war gegen eine Fortsetzung auch nichts einzuwenden. Nur, dass Nina gehofft hatte, dass sich Jamila inzwischen alles Übel von der Seele geschrieben hatte. Nina legte den Arm um ihre Freundin. »Schon okay«, sagte sie leise. »Aber du solltest dich dafür nicht bei deinen Eltern verkriechen. Das ist doch kontraproduktiv.« Nina sah sich mit gerümpfter Nase um: drei Enten watschelten zum nahen Zierteich, an dem sich eine Kompanie Gartenzwerge dem Angeln widmete. »Es wird wirklich Zeit, dass du mal wieder unter Leute kommst. Hier, ich habe da genau das Richtige für dich.« Sie kramte ein Papier aus ihrer Handtasche und wedelte damit vor Jamilas Gesicht. »Die offizielle Anfrage von Steiner. Und halt dich fest: Tom Steiner will dich persönlich kennenlernen!«

Jamila reagierte nicht.

»Du wirst das Steiner-Angebot doch annehmen, oder?« In Ninas Stimme klang ein Anflug von Sorge mit. »Jetzt komm schon«, sagte sie betont munter, »sieh es doch als einen weiteren Schritt, dich von der Vergangenheit zu befreien. – Oder hattest du in letzter Zeit etwa doch wieder eine dieser Attacken?«

Jamila ging nicht auf Ninas Worte ein. Sie schüttelte nur den Kopf und blickte abwesend zu den quakenden Enten. Sie wollte weder über ihre belastenden Erinnerungen reden, noch über ihren seelischen Zustand. Ihre Therapeutin würde das sicher als Rückschritt und Vermeidungsverhalten bezeichnen. Sie hatte ihr geraten, sich auf das Wesentliche zu beschränken, ansonsten könnten sich ihre Angstgefühle wieder verstärken. Den ersten Schritt in Richtung Vergangenheitsbewältigung hatte Jamila bereits getan, ihr Roman Zwischentöne war erfolgreich veröffentlicht und nun stand dieser Filmvertrag im Raum.

 

Obwohl es bereits spät in der Nacht war, saß Jamila noch immer am Schreibtisch, den aufgeklappten Laptop vor sich. Sie war müde, fand aber keinen Schlaf, doch arbeiten konnte sie auch nicht, sie fühlte sich ausgelaugt. Über den blauen Monitor glitt der Text einer Marquee-Laufleiste: The sooner you fall behind, the more time you’ll have to catch up. Sie starrte auf den Lauf des Bildschirmschoners, ihre Gedanken glitten zurück zum nachmittäglichen Besuch von Nina.

»Komm für ein paar Wochen in die Stadt«, hatte Nina gesagt, »du wohnst bei mir. Ich besorge dir ein paar Lesungen, und du kannst dich mit Tom Steiner treffen. Und wir beide gehen endlich mal wieder aus – so wie früher, okay? Na ja, fast wie früher.«

Nina war überfürsorglich. Dabei hatten sich die beiden Frauen früher gar nicht so nahe gestanden. Partyfreunde waren sie gewesen, mit denen man unterhaltsame Nächte ohne Tiefgang verbrachte. Doch dann hatte sich ihr Verhältnis zueinander gewandelt, es war in etwa zu der Zeit gewesen, als Jamila den ersten Entwurf für Zwischentöne bei Nina im Verlag eingereicht hatte. Sie waren Freundinnen geworden.

Jamila hatte sich einen Ruck gegeben. »Vielleicht hast du Recht. Es ist ja nur eine Geschichte, nicht wahr? Und ich könnte dann auch mal wieder Tante Edith besuchen.«

Nina hatte Jamilas Hand getätschelt. »Siehst du: noch ein Grund.«

»Ich vermisse unsere Mitternachtspizzen.«

»Bedaure. Marios hat dicht gemacht. Es hat sich viel verändert seit ... in letzter Zeit.«

Ja, das hatte es. Jamila klappte den Monitor mit Schwung zu. »Verdammt noch mal«, sagte sie zu sich selbst. Sie schaute sich unschlüssig in ihrem alten Jugendzimmer um, dann öffnete sie den Kleiderschrank. Auf der Stange hingen ordentlich aufgereiht Blusen und gebügelte Shirts, nach Farbton und -nuance sortiert, von Grün, Braun, Schwarz, Blau über helle Töne wie Weiß und Creme, bis hin zu Rot. In den Fächern darüber hingegen staute sich ein Wirrwarr aus Stoffen und Materialien, das man bei gutem Willen als Kleidung identifizieren konnte. Jamila griff sich beherzt einen dieser wirren Haufen und schwang sich mit ihm auf das Bett. Sie begann, die einzelnen Kleidungsstücke aus dem Knäuel zu befreien und ordnungsgemäß zusammenzulegen: den linken Ärmel einschlagen, jetzt den rechten, mittig falten und auf den Stapel mit dunkler Wäsche legen … Sie hielt plötzlich inne, starrte auf den Pullover, den sie in Händen hielt und dessen Muster – unbeugsame Streifen, symmetrisch angeordnet – sich unter ihrem Blick von der gradlinigen Struktur zu lösen schien und sich zu schwappenden Wellen stilisierte.

Sie raffte die Kleidungsstücke zusammen, verzichtete darauf, die gefalteten von den krumpeligen zu trennen, und stopfte alles wieder in den Schrank; dorthin, wo sie schon zuvor ihr jämmerliches Anziehdasein gefristet hatten, ungeliebt und die Ordnung missachtend. Alles war wie zuvor, nichts hatte sich geändert, jedenfalls im Kleiderschrank. Jamilas Unterfangen, Ordnung in ihre Sachen zu bringen, hatte oberflächlich betrachtet den Anschein vermittelt, dass sie sich nur von ihrer Unfähigkeit, Worte aneinanderzureihen, ablenken wollte. Worte, aus denen sich Sätze entwickeln sollten, die zumindest in den Augen ihrer geschätzten Leserschaft als literarisch angesehen wurden. Tatsächlich war diese stumpfsinnige Handlung ein Hilfsmechanismus, den Kopf freizubekommen, in dem dann frische Ideen entstehen konnten. Die Türen des Schranks standen weit geöffnet, gaben den Blick frei, auf etwas das Pedanten als Chaos bezeichnen würden, aber Jamila war mit ihren Gedanken bereits weit weg vom Profanen. Sie wühlte ihren Müllkorb nach zerknüllten Zetteln und Papieren durch bis sie einen knittrigen Brief in Händen hielt. Der Absender war die Steiner-Filmproduktion, der Betreff lautete irgendetwas mit „Anfrage“ und „Romanadaption“.

Jamila strich den Brief vorsichtig glatt.

 

 

 

 

2

 

Tom Steiner nutzte The Kings Men gerne für ungezwungene geschäftliche Treffen. Die Lokalität, mit der sofaähnlichen Sitzgelegenheit draußen vor dem großen Fenster, war irgendwo zwischen Café und Bar einzuordnen und lag nicht weit von den Büroräumen der Steiner-Filmproduktion entfernt auf der bekanntesten Flaniermeile Berlins, dem Kurfürstendamm.

Der Kurfürstendamm, von den Einheimischen liebevoll „Ku’damm“ genannt, hatte im Laufe der Jahrzehnte viel von seinem Charme eingebüßt. Der einstige Berliner Prachtboulevard, der ursprünglich dem Champs Elysée hatte nacheifern sollen, war schon keine hundert Jahre später, in etwa seit dem Fall der Mauer, zu einem innerstädtischen „no go“ verkommen. Dann hatte ein Umdenken stattgefunden, nur ein rein berechnendes, aber wenigstens das. Für die restliche Welt war der Kurfürstendamm noch immer die bekannteste Straße Berlins, wenngleich dessen Besuch nicht mehr erwähnenswert war, aber diesen Bekanntheitsgrad hatte man nicht ungenutzt vergeuden wollen. Es wurde restauriert und renoviert, und plötzlich reihte sich ein Designergeschäft an das andere; man musste – und konnte – neben Marken wie Chanel, Armani und Bulgari bestehen. Es war nicht nur wieder schick, auf dem Ku’damm einzukaufen, sondern zu einem Zeichen von Geld und Macht geworden. Die Besucher waren international – und äußerst wohlhabend. Auf seiner Geschäftskarte die Anschrift Kurfürstendamm gedruckt zu haben, war wieder etwas Besonderes.

Tom Steiner hatte diese Entwicklung früh erkannt und auf dem Ku’damm langfristig und zu einem erschwinglichen Satz Büroräume für seine Filmproduktionsfirma angemietet. Toms Freund Robert König hatte sich unweit davon in eine renovierungsbedürftige Geschäftsimmobilie verliebt – es war zu einer glücklicheren Zeit seiner beruflichen Laufbahn gewesen, und mit der Bürgschaft eines Tom Steiner im Rückhalt hatte er zuschlagen können. In dem Jugendstil-Haus mit der seither königsblauen Fassade hatte er das The Kings Men aufgezogen, das, seit die Einkaufsstraße wieder florierte, gut frequentiert wurde. Wenigstens das hatte er nicht versaut.

Aufgrund der langjährigen, hart erprobten Freundschaft zwischen Tom und Robert, stand für Tom im Kings Men immer ein als „Privat“ gekennzeichneter Tisch in einer ruhigen Nische zur Verfügung. Von dort aus konnte man das Geschehen im Laden und auf der Straße unauffällig beobachten, ohne selbst unter Beobachtung zu stehen. In der Stadt galt das Café als angesagt und in Städteführern wurde es als Geheimtipp genannt, denn hier tummelte sich auch mal der eine oder andere Prominente aus der Filmbranche zu einem späten Kater-Frühstück, Barfood oder um die beachtenswerte Spirituosenkarte durchzuarbeiten.

Das Kings Men war ansprechend eingerichtet und bestach durch klare Linien und unaufdringliche warme Farben, ein Ort zum Plaudern und ungezwungenem Verweilen. Hinter dem Tresen aus dunklem Holz waltete Barmann Andi souverän seines Amtes. Er war ein Bär von einem Mann, handzahm, nicht mehr ganz jung und auf raue Art gut aussehend. Zu dieser frühen Stunde, es war kurz nach elf Uhr an einem Montag, hatten sich schon einige Gäste in das Kings Men verirrt. Andi hatte etwas früher geöffnet, es galt den Laden auf Vordermann zu bringen, denn das Wochenende war wieder einmal hart gewesen, wenngleich auch erfolgreich, und dann hatte sich auch noch Tom Steiner für eine geschäftliche Verabredung angekündigt.

Tom war unpünktlich, das war nichts Neues. Andi wischte zum wiederholten Male den Tresen, während er sich mit einem Gast unterhielt, der auf einem der Barstühle lümmelte. Als Tom das Kings Men betrat, hob Andi den Kopf und winkte ihm zu. Der Gast wandte ebenfalls den Kopf, sah Tom Steiner und verzog das Gesicht zu einer Grimasse, dann stürzte er seinen Kaffee herunter und raffte seine Sachen zusammen.

»Ich meld' mich. Tschüss«, sagte er knapp und drückte sich, mit einem kurzen »Tach« an Steiner gerichtet, an diesem vorbei.

Tom Steiner sah dem Mann mit zusammengezogenen Augenbrauen nach und schwang sich zu Andi an die Bar. »Was wollte der Schreiberling denn hier?«, fragte er und strich über einen dunkelblonden Wirbel an seinem Stirnhaar, der einfach nicht zu bändigen war. Tom schien ein wenig grummelig, was wahrscheinlich an der für ihn frühen Stunde lag, denn sonst war er ein sympathischer, stets gut gelaunter Sonnyboy Ende Dreißig.

»Neumann?«, fragte Andi. »Der kommt in letzter Zeit öfter.« Andi räumte dessen Kaffeetasse ab und wischte erneut über den Tresen, der schon so sehr glänzte, dass er sich darin spiegeln konnte. »Der Chef und er haben wohl irgendwas am Laufen.« Andi zuckte mit den Schultern.

In Toms Gesicht breitete sich Sorge aus. »Du sollst doch ein Auge auf Robert haben. Ist er da?«

»Nö, er ist bei 'ner Weinprobe.«

Tom riss die Augen auf und blickte Andi fuchsig an. Doch dieser grinste breit und strafte seine Worte Lügen.

»Sehr witzig. Du weißt doch, er darf sich nichts mehr erlauben. Ist meine Verabredung schon hier?«

Andi deutete mit dem Kinn in Richtung „Privat“-Tisch. »War pünktlich um elf da.«

 

Jamila trug ihre Haare offen und luftig, sodass ihr schon bei leichten Bewegungen einzelne Strähnen über das Gesicht strichen. Es war ihre bevorzugte Frisur, insbesondere wenn sie Blickkontakt vermeiden wollte, und die letzte halbe Stunde im Gespräch mit Tom Steiner war ihr das auch gelungen.

Tom setzte sein charmantestes Lächeln auf. »Sie werden sehen«, sagte er jetzt, »wir werden Ihren Roman mit allem nötigen Respekt adaptieren. Einige Änderungen werden natürlich erfolgen müssen, schon aus dramaturgischen Gründen, und das Ende, das wirkt irgendwie – unvollständig. Da werden wir was machen müssen, aber das bekommen unsere Hausautoren schon hin.«

Jamila folgte mit den Augen den Kreisen in der Crema ihres Cappuccinos, in den sie eine Unmenge Zucker hineinrührte. »Ein anderes Ende, ja«, murmelte sie.

Tom sah sie prüfend an, erhaschte einen Blick in ihre Augen, die feucht schimmerten. Er legte seine Hand auf die ihre. »Es tut mir leid. Ich vergaß.« Jamila zog ihre Hand weg, Tom griff verlegen seinen Kaffeelöffel und ließ ihn spielerisch durch die Finger gleiten. »Sie haben eine Menge durchgemacht mit ...« Er räusperte sich. »Ich kann das gut nachvollziehen«, sagte er, »ich habe einen Freund mit ähnlichen Problemen.«

In Jamilas Ohren klang seine Aussage bemüht, ein schwacher und vor allem unangebrachter Versuch, ihre „Probleme“, wie er sich ausgedrückt hatte, herunterzuspielen. Sie nahm es hin, denn sie war weit davon entfernt, ihn aufklären zu wollen.

Aus Toms Jacke drang das Klingeln seines Handys und rettete ihn davor, das ins Stocken geratene Gespräch mit dummen Sprüchen in Gang zu halten. Er entschuldigte sich mit einem holdseligen Grinsen, kontrollierte die Displayanzeige und nahm das Gespräch mit zu Schlitzen gekniffenen Augen an. »Ich kann jetzt nicht, Maria. Ich rufe dich zurück«, sprach er gedämpft ins Telefon und legte, ohne die Antwort abzuwarten, auf. »Wo waren wir?«, wandte er sich wieder Jamila zu.

 

 

*

 

 

Sie hatte das Gespräch mit Tom Steiner überstürzt beendet und war zwei Stunden lang in der Stadt herumgelaufen, um sich abzulenken. Zuerst hatte sie mit dem Gedanken gespielt, Dr. Wolfram anzurufen, aber dann hatte sie sich zusammengerissen und die Schaufenster der Geschäfte studiert als sei es eine therapeutische Maßnahme. Dabei summte sie sich ihr Mantra vor, diese magische Formel, die sie bei einem Workshop für Autogenes Training gelernt hatte, um die kleinen Krisen des Lebens besser meistern zu können – und in der Regel funktionierten diese Sätze auch sehr gut.

»Ich bin ruhig und ausgeglichen«, sprach Jamila leise zu sich selbst und atmete tief ein und aus. »Alles, was geschieht, nehme ich vollkommen gelassen an. Ich kann alles bewältigen, denn ich bin mutig und kraftvoll.«

Sie hatte die Sätze vielfach wiederholt, bis sich deren Wirkung endlich in ihrem Inneren festgesetzt und Jamila sich besser gefühlt hatte, gestärkt und ohne diese lästigen Sehstörungen und das Ohrensausen. Sie wusste, dass sie auf andere Gedanken kommen musste, und mit ihrem aktuellen Gefühlschaos, das man ihr an der Nasenspitze würde ansehen können, weder zu ihrer Tante Edith, noch zu Nina fahren konnte. Erst musste sie das Gefühl anhaltender Bedrohung in den Griff bekommen. Doch so lange sie nicht benennen konnte, was sie in ihrer Umwelt ängstigte, würden andere ihr Verhalten als übertrieben ansehen. Jedenfalls glaubte Jamila das und hatte sich dafür entschieden, jegliche Gespräche über ihr Befinden abzublocken. Nach einer arbeitsreichen Nacht, wonach sie hoffentlich in einen tiefen, traumlosen Schlaf fallen würde, wären die Symptome erfahrungsgemäß fürs Erste verschwunden. Arbeit heilte eben doch die Seele – oder betäubte sie. Egal, nur das Ergebnis zählte, und dass sie am nächsten Tag wieder einen aufgeräumten Eindruck machte.

Jamila war den Kurfürstendamm ziellos in Richtung Westen gelaufen und nun schon fast am Adenauerplatz angekommen. Unschlüssig blickte sie sich um. Rechts von ihr lag die Clausewitzstraße, links …, sie stutzte und blickte noch einmal aufmerksamer in die kleine Straße. Ihre Augen begannen zu leuchten. Mit schnellen Schritten ging sie auf die Hausnummer zwei zu, in dessen Parterre sich ein kleines Geschäft befand. Biggis Grooming-Studio stand in bunten Lettern auf den Scheiben.

Eine Türklingel schellte, als Jamila den Laden betrat. Sie sah sich interessiert um, strich liebevoll über die Auslagen.

Vom Personal erschien niemand, aber aus dem hinteren Zimmer, das lediglich durch zwei Vorhänge vom Verkaufsraum abgetrennt war, drang ein schmerzerfüllter Aufschrei nach vorne, und dann reckte sich ein blonder Wuschelkopf zwischen den Stoffen hervor. »Komme sofort«, sagte Biggi, begleitet von unfreundlichen Bellgeräuschen aus dem Hintergrund. Aber dann hatte sie die vermeintliche Kundin auch schon erkannt und stürmte auf Jamila zu.

»Mensch Jamie!« Biggi drückte Jamila fest an sich und dieser dabei fast die Luftzufuhr ab. »Was machst du denn hier? Wie geht es dir denn? Wir haben uns ja ewig nicht mehr gesehen.«

»Hi Biggi. Schön dich zu sehen. Ich kam ganz zufällig vorbei und habe deinen Laden entdeckt, ich wusste ja gar nicht, dass du hier, in so exponierter Lage …«

Biggi wedelte mit den Händen und schnitt der Freundin das Wort ab. »Du, seit ich 2013 bei der Groom Expo den zweiten Platz gemacht habe, kann ich mir das leisten. Der Laden läuft. Die ganze Hautewolaute kommt mit ihren kleinen Lieblingen her.« Biggi grinste. »Genug von mir. Ich habe gehört, du bist jetzt Schriftstellerin? Echt? Was schreibst du denn, Bücher über Hundepflege?« Sie kicherte. Jamila wollte zu einer Antwort ansetzen, doch Biggi plapperte bereits weiter. »Bleibst du lange? Wo wohnst du denn? Kannst bei mir wohnen, wenn du magst.«

»Nicht nötig«, konnte Jamila einwerfen, denn auch Biggi musste mal Luft holen, »ich wohne bei Nina.«

Biggi stutzte. »Ach, bei Nina?!« Für einen kurzen Augenblick schien sie sprachlos, doch fix hatte sie ihren alten Schwung zurück. »Du, ich hab noch viel zu tun, der Tibor wird bald abgeholt und den Henry muss ich auch noch aufhübschen. Komm doch einfach mit nach hinten und leiste mir Gesellschaft.« Sie griff Jamila beim Arm und zog sie mit sich in die angrenzenden Räume.

Sie wurden mit Bellen und Kläffen empfangen. Das Kläffen stammte von einem knuffigen Dackel, der auf einem Frisiertisch für Hunde stand und mit den Vorderpfoten an einem Kissen scharrte. Das Bellen war kurz und vorwurfsvoll. Es kam aus der mit einer Decke mit Tatzenmuster ausgeschlagenen Ecke, auf der ein Afghanischer Windhund saß. Er stellte eine Eleganz, Stolz und Würde zur Schau, wie es dieser Rasse gebührte. Nachdem die Frauen in den Raum getreten waren, wandte er seinen Blick demonstrativ ab. »Das ist Henry.« Biggi deutete auf den Afghanen und grinste. »Ganz das Frauchen.«

Jamila strahlte die Vierbeiner an, dieses Mal musste sie keine Fröhlichkeit markieren, sie kam von selbst und direkt aus ihrem Herzen. »Kann ich dir behilflich sein?«

Biggi hatte sich bereits ihre Modellierschere geschnappt, um Tibors Fell per Hand – und nicht wie in anderen Salons mit der Schermaschine – den letzten Schliff zu verleihen. Sie blickte auf. »Na, verlernt wirst du deinen alten Job ja wohl noch nicht haben. Kannst, wenn du magst, den Henry noch einmal bürsten und ihn dann mit den Schleifchen, die sind da hinten in der blauen Schachtel, schick machen.« Biggi deutete mit der Schere Richtung Regal. »Wenn er dich denn lässt, der ist nämlich ganz schön hochnäsig. Du weißt ja: wie das Frauchen so das Wauwauchen.«

Jamila nahm die Herausforderung an. Sie zog einen kleinen Holzschemel unter dem Tisch hervor und platzierte sich damit auf Augenhöhe vor Henry. Sie begann, mit sanfter Stimme leise mit ihm zu sprechen.

Biggi schickte während ihrer Tätigkeit prüfende Blicke zu den beiden und musste erstaunt zur Kenntnis nehmen, dass der Hund erst die Ohren spitzte, dann den Kopf zur Seite neigte und letztendlich eine Pfote auf Jamilas Knie legte.

»Schon gut, du hast gewonnen, du Hundeflüsterin!«

Jamila grinste Biggi an und tätschelte die Brust des Hundes, der sich das zufrieden gefallen ließ.

Henry wurde von Jamila gestreichelt, gebürstet, und noch mal gestreichelt, und dann ausgehfertig gemacht. Es war nicht zu unterscheiden, wer von beiden die Prozedur mehr genoss.

»Kannst gerne wieder bei mir anfangen«, sagte Biggi, »die Hunde lieben dich, oder hast du dir vorher ein Wurstbrötchen in die Hand geschmiert? – Och, jetzt halt doch endlich mal die Pfote still, Tibor!« Die Türklingel schellte. »Oh je, das wird wohl schon Frau Sommer, Henrys Frauchen, sein, kannst du?« Sie deutete auf Tibor, der sich noch immer gegen das Schönmachen wehrte.

Jamila nickte und schnappte sich Henrys strassbesetzte Langlaufleine. Es bedurfte nur eines Fingerzeigs und der Hund folgte ihr bei Fuß in den Verkaufsraum.

Anne Sommer begutachtete ihren Hund genauestens, es schien als suchte sie nach Patzern in der Fellpflege. »Das Fell sieht noch ziemlich dick aus, das ist doch ganz schön warm für das Tier.« Der Vorwurf in ihrer Stimme war nicht zu überhören.

Jamila reichte ihr die Leine und lächelte. »Die Unterwolle sollte nie vollständig ausgekämmt werden, da die Hunde sonst ihren natürlichen Schutz vor Nässe und Sonneneinstrahlung verlieren. Nur bei ausreichend Unterfell kann eine gesunde Luftzirkulation stattfinden.«

Anne Sommers Augen blitzten kurz auf, dann erhellte ein süffisantes Lächeln ihr Gesicht. »Nun gut«, sagte sie und wandte sich zum Gehen. Sie musste Henry, der seine große Nase vertrauensvoll in Jamilas Hand stecken hatte, mit einem scharfen Ton zu sich rufen. Er löste sich nur zögerlich.

Jamila geleitete Anne Sommer zum Ausgang und hielt ihr die Tür auf. Ihre Freundlichkeit war echt, sie liebte diese Arbeit, vielleicht sollte sie es in Erwägung ziehen, wieder bei Biggi im Hundesalon anzufangen. Vielleicht war sie nur eine schriftstellerische Eintagsfliege und ihr nächster Roman würde nie fertig werden. Vielleicht.

 

 

 

 

3

 

Es war Mittagszeit, und weil das Wetter für Anfang Oktober noch sommerlich schön war, war die Terrasse des Restaurants Bernst gut besucht. Jamila saß an einem ruhigen Tisch, die Augen geschlossen reckte sie ihr Gesicht der Sonne entgegen. Mit der einen Hand hielt sie ihre Haare am Hinterkopf zusammen, mit der anderen massierte sie sich den Nacken. Auf dem Tisch vor ihr stand ein Glas Mineralwasser und ein halbleerer Krokant-Eisbecher.

»Hallo Jamie, da bin ich«, sagte Nina ein wenig außer Atem und weckte die Freundin aus ihrem Tagtraum. Sie schmiss Hand- und Aktentasche auf einen der beiden freien Cocktailsessel und ließ sich in den anderen fallen. »Wow, was für ein Kalorienrausch!«, sagte sie nach einem kurzen Blick über den Tisch. »Was ist passiert?«

Jamila ließ die Haare los und beschattete mit der Hand ihre Augen. »Muss denn immer gleich was passiert sein? Wenn ich denn sonst schon keine Laster habe ...«

»Okay«, sagte Nina gedehnt. »Höre ich da etwa unterschwellig so was wie Aggression? Also, was ist los? Dein Roman? Schreibblockade?«

Jamila zögerte mit der Antwort. Ein Kellner kam und reichte Nina, und erneut auch Jamila, die Speisenkarte. Die Frauen nahmen sie entgegen, schlugen sie aber nicht auf.

»Einen trockenen Weißwein, bitte«, bestellte Nina, Jamila deutete verneinend auf ihr Mineralwasser. Der Kellner nickte und verschwand. Nina schnappte sich Jamilas Dessertlöffel und naschte von ihrem Eis.

»Wein?« Jamila zog die Stirn kraus. »Es ist gerade mal Mittag!«

Nina holte zweimal tief Luft, dann sagte sie ruhig: »Nur ein Glas, Jamie, zum Essen.«

»Aber du bist mit dem Auto unterwegs!«

»Du kannst ja fahren«, platzte Nina heraus.

»Nein!«, schoss Jamilas Kommentar ebenso schnell hinterher. »Du weißt doch, ich fahre nicht.«

»Schon gut.« Nina tätschelte Jamila die Hand. »Wie lief das Gespräch mit Steiner? Sorry, dass ich nicht dabei sein konnte, aber es ging ja nur um ein erstes Kennenlernen.«

Der Kellner kam zurück an den Tisch und servierte Nina den Wein. »Haben die Damen inzwischen gewählt?«

»Bringen Sie mir bitte einen kleinen gemischten Salat. Aber ohne Bohnen und ohne Mais, und auf keinen Fall Eisbergsalat, nur Blattsalate!«

Der Kellner lüpfte eine Augenbraue und lächelte. »Aber gerne.« Er wandte sich zu Jamila. »Darf ich Ihnen noch etwas bringen?«

Jamila reichte dem Kellner die unbesehene Karte zurück. »Ja, doch. Einen Café au lait, bitte«, orderte sie.

»Sehr wohl, meine Damen«, sagte der Keller und verschwand an den Nachbartisch.

Nina nahm das Gespräch wieder auf. »Also?«

»Oh, das Treffen mit Tom Steiner lief gut – toller Typ.« Es klang ein wenig zu enthusiastisch.

»Habt ihr auch über den Plot gesprochen?« Nina sah Jamila aufmerksam an, die nicht antwortete, ihr Gesicht war zu einer unbeweglichen Maske erstarrt. »Alles klar, Themenwechsel, wie du willst«, sagte Nina und griff ihre Aktentasche, aus der sie einen Umschlag hervorzog. Sie klimperte spielerisch mit den Wimpern. »Aber darüber doch sicherlich, oder?« Sie wedelte mit dem Umschlag. »Die Einladung zur Steiner-Party?«

Jamila winkte ab. »Ausgerechnet zu diesen dekadenten, genusssüchtigen Filmfuzzis?! Kein Interesse.«

»Ach, komm. Die Steiner-Partys sollen großartig sein.«

»Weiß nicht, muss das sein? Du gehst doch sicher, das reicht doch.«

»Ich muss nach Leipzig, leider. Aber du solltest unbedingt hingehen. Ein bisschen unter Leuten sein tut dir ganz gut, und Steiner muss ein wenig umgarnt werden, sonst können wir den Vertrag vergessen.«

Jamila zog ein Wenns-denn-sein-muss-Gesicht und blinzelte in die Sonne.

Die leisen Straßengeräusche aus dem Hintergrund schienen für einen Augenblick verstummt, dann quietschten Reifen, ein scheppernder Knall folgte. Die Gäste auf der Terrasse sahen erschreckt auf. Der Kellner, der am Nebentisch die Bestellung aufnahm, nahm es gelassen. »Das ist schon das dritte Mal in dieser Saison. Man sollte hier endlich eine Ampel bauen«, sagte er.

Ein Gast nickte zustimmend. »Wahrscheinlich wieder ein Besoffener, die sind ja jetzt schon zu jeder Tageszeit unterwegs!«

Jamila griff zitternd ihr Mineralwasser und starrte, ohne davon zu trinken, ins Leere.