Megaere - Stefanie Grötzner - E-Book

Megaere E-Book

Stefanie Grötzner

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Beschreibung

Megaere, die Rachegöttin ist eine junge Frau, die im Miracle Tower einzieht. Jenem Tower, der nicht nur für Prestige und High Society steht, sondern auch einst das Zuhause jener jungen Frau war, die nun als Erwachsene zurückkehrt, um sich an jenen zu rächen, die ihr Leben zerstört haben. Ein langer und beschwerlicher Weg, der vor ihr liegt wird noch erschwert durch die Gefühle, die sie für den jungen Portier hegt, mit dem sie schon als kleines Kind gespielt hat.

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Inhalt

Buch 1

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Buch 2

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Buch 3

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Buch 4

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Buch 5

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Buch 6

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Buch 7

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Buch 8

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Buch 9

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Epilog

Buch 1

Die Millers

Kapitel 1

„Ich weiß, es ist nicht besonders groß, sagt der Makler, aber es ist so wie sie es wollten.“

Sie schreitet mit großen Schritten durch das Wohnzimmer mit den Fenstern zum Hof. Das Licht fällt in einem Strahl hinein. Der Staub tanzt darin. Die Möbel sind mit weißen Tüchern abgedeckt. Die Wände sind weiß und kahl.

„Die Möbel können übernommen werden, wenn Sie es wünschen,“ erklärt der Makler weiter und zieht ein Tuch von einem der Sofas. Sie wendet den Blick nicht vom Fenster ab, sondern nickt nur. „Bei dem Preis können wir sicher noch etwas machen, wenn Ihnen die Wohnung zu teuer ist. Die Vorbesitzer möchten sehr gerne verkaufen,“ versucht er weiter, sie von der Wohnung zu überzeugen.

Sie dreht sich so abrupt um, dass der Makler vor Schreck zusammenzuckt. „Ich nehme sie. Geld spielt keine Rolle.“

Das Lächeln, welches sich nun auf seinem Gesicht ausbreitet verrät viel über ihn. Seine Habgier und seine Verschlagenheit spiegeln sich unverkennbar darin. Sicher wäre am Preis noch etwas zu machen und es würde den Vorbesitzern nicht schaden, wenn sie weniger für ihre Wohnung bekämen, aber erstens müsste sie sich dann weiter mit diesem schmierigen Typen abgeben, der nichts unversucht lässt, um sie anzufassen und zweitens sollen die Vorbesitzer ruhig sehen, dass für sie Geld keine Rolle spielt.

„Und die Möbel?“ fragt er und sie hört seine Hoffnung auf noch mehr Geld mitschwingen. Seine Provision richtet sich nach dem Gesamtverkaufspreis und inklusive Möbel wäre dieser höher.

„Darüber möchte ich noch einmal nachdenken,“ gibt sie zurück. Sie genießt das leichte Zucken in seinem Augenwinkel, das ihr verrät, dass es ihm nicht recht ist. Er muss aber so tun, als wäre es so, denn sie ist die zahlende Kundin und er möchte sie sicher nicht verprellen.

„Die Nachbarn sind wirklich sehr nett,“ fährt er fort und bietet ihr an: „Ich kann Sie gerne vorstellen.“ Der zweideutige Unterton in seiner Stimme jagt ihr einen Schauer über den Rücken.

„Das wird nicht nötig sein,“ gibt sie in neutralem Ton zurück. „Ich werde eine Einweihungsfeier geben, bei der ich mich selbst vorstellen werde.“ Er nickt und schaut sie erwartungsvoll an. Sie wendet sich wieder ab und schaut aus dem Fenster. Auf keinen Fall wird sie ihn zu ihrer Feier einladen. Er ist nicht nur einer der unsympathischsten Männer, die ihr je begegnet sind, sie hat auf der Feier auch wichtigere Dinge zu erledigen, als sich um einen notgeilen Mann zu kümmern.

„Wann kann ich einziehen,“ fragt sie, ihm noch immer den Rücken zugewandt.

„Sofort,“ sagt er und kann das Lächeln, das sich auf ihrem Gesicht zeigt, nicht sehen.

Kapitel 2

Wie zu erwarten, sind alle Nachbarn der Einladung zu ihrer Einweihungsfeier gefolgt. Es war zu erwarten gewesen. Immerhin waren sie alle neugierig und es gehörte zum guten Ton, dass man eine derartige Einladung nicht ausschlug. Sie hatte die Liste der Bewohner des Miracle-Tower in ihrem Kopf gespeichert und mit jedem ankommenden Gast einen gedanklichen Haken gesetzt.

Die Gäste unterhalten sich gut, was sicher nicht nur an den teuren und erlesenen Speisen liegt, die der Catering-Service aufgetischt hat, denn die Gläser, die die Kellnerinnen durch die Räume tragen, müssen stetig mit neuen Getränken bestückt werden. Wenn es etwas umsonst gibt, wird ungeniert zugelangt, denkt sie bei sich. Ihr soll es egal sein. Was sie möchte, kann man mit keinem Geld der Welt kaufen, aber es erleichtert es ihr ungemein.

Sie schüttelt Hände und führt Smalltalk, wie es sich für eine gute Gastgeberin gehört. Immer wieder wird ihr versichert, wie froh man sei, so eine nette junge Frau als Nachbarin bekommen zu haben. Jedes Mal lächelt sie höflich und dankt. Im Stillen dankt sie Pater Francis dafür, dass er ihr beigebracht hat, wie man seine Emotionen hinter eine Maske aus Höflichkeit verstecken kann, so dass niemand seine wahren Gefühle erkennt.

„Kindchen,“ hört sie eine ältere weibliche Stimme hinter sich. Sie dreht sich herum und schaut in das Gesicht der Patronin des Towers. Felizitas von Berg steht kerzengerade vor ihr. Dennoch ist sie einen ganzen Kopf kleiner als sie. Ihre mittlerweile weißen Haare trägt sie zu einem strengen Dutt. Ihr ganzes Outfit zeugt von einer Strenge und Autorität, die nur wenige Menschen durch ihre bloße Anwesenheit ausstrahlen können. Das Lächeln, welches ihren Mund umspielt, ist so falsch wie die Brüste ihrer Tochter, die direkt neben ihr steht. Frau von Berg führt den Miracle-Tower wie ein kleines Königreich. Oder ist der Vergleich mit dem Paten von Francis Ford Coppola und Mario Puzzo angemessener?

„Kindchen,“ wiederholt Frau von Berg ihre Anrede, „erzählen Sie doch mal, woher stammen Sie?“

„Ich bin aus einem kleinen Dorf aus Frankreich hergezogen,“ antwortet sie vage. Doch die Patronin scheint zufrieden, denn sie nickt nur.

„Und was machen Sie beruflich?“ fragt sie und fährt, ohne eine Antwort abzuwarten, fort: „Wir sind hier nämlich eine ruhige Nachbarschaft, wissen Sie. Ich kann es nicht leiden, wenn hier mitten in der Nacht die Menschen kommen und gehen oder womöglich noch laut Musik einschalten.“

„Da brauchen Sie sich bei mir keine Sorgen zu machen,“ antwortet sie und die Patronin scheint zufrieden mit ihrer Antwort. Andere Gäste fordern ihre Aufmerksamkeit und so wird dieser Smalltalk ohne weitere Fragen beendet.

Kapitel 3

Erst gegen zwei Uhr in der Früh verlassen die letzten Gäste ihre Wohnung. Sie hilft dem Catering-Service noch aufzuräumen. Je schneller es erledigt ist, um so schneller hat sie ihre Wohnung wieder für sich. Unauffällig stellt sie eines der Sektgläser in ihren Küchenschrank. Keiner der Kellner bemerkt es. Sie sind alle zu beschäftigt oder zu müde. So bemerkt auch keiner beim Verladen der Kisten, dass eines der Gläser fehlt. Vielleicht ist aber auch immer mit Schwund zu rechnen.

Sie schließt die Tür hinter dem letzten Angestellten und lehnt ihre Stirn einen Moment gegen die kühle Tür. Einen kleinen Moment der Ruhe gönnt sie sich, bevor sie in ihr Schlafzimmer geht. Es scheint, als wäre niemand drin gewesen. Sie öffnet die oberste Schublade ihres Nachttisches und drückt einen Knopf an der inneren Oberseite des Nachttisches. In ihrem begehbaren Kleiderschrank ertönt ein leises Klicken. Sie geht hinein und die Wand mit den Schuhen gibt eine kleine Tür frei, durch die sie hindurchgeht. Hinter dem Schuhregal befindet sich ein kleines Zimmer, dass vor ihrem Einzug Teil des begehbaren Kleiderschrankes war. Keinem wird auffallen, dass er nun kleiner ist. Immerhin wirkt er mit all ihren Kleidern noch immer groß und ausreichend.

Das Zimmer hat kein Fenster und verfügt nur über eine nackte Glühbirne, doch das stört sie nicht. An der gegenüberliegenden Wand, welche die größte Wand ist, hängen Fotos von allen aktuellen und ehemaligen Bewohnern des Miracle-Towers der letzten 30 Jahre. Die Beziehungen zueinander wurden farblich markiert. Rote Linien zeigen familiäre Bindungen, blaue Linien zeigen Affären, gelbe Linien zeigen Freundschaften und grüne Linien zeigen verborgene Geheimnisse. Die ganze Wand ist mit bunten Linien überzogen. Alle Bewohner sind miteinander verbunden. Einige mit nur einer Linie, andere mit mehreren Linien.

An der Wand links befinden sich weitere Fotos. Es handelt sich um die Angestellten des Miracle-Towers. Sie nimmt ein Foto ab. Es zeigt einen Mann, der in ihrem Alter ist. Er trägt die Uniform des Portiers. Seine braunen Augen strahlen mit seinem Lächeln um die Wette. Seine braunen Haare sind etwas länger, als es sich für einen Portier gehört, aber es gefällt ihr. Zärtlich streicht sie mit einem Finger über das Foto, bevor sie es zurück an die Wand hängt. Neben jedem Foto stehen der jeweilige Name und persönliche Daten der Person.

Im Miracle-Tower gibt es zwei Portiers, zwei Liftboys und einen Hausmeister. Ein Portier und ein Liftboy starben in den letzten 30 Jahren und wurden durch jüngere ersetzt. Alle anderen sind noch immer im Dienst des Towers und damit eigentlich der Wohnungseigentümer, doch in Wirklichkeit sind sie alle nur Angestellte von Frau von Berg.

Kapitel 4

„Und?“ fragt der junge Portier sie, als sie gerade von einem Einkaufsbummel zurückkehrt. „Fühlen Sie sich hier schon wie zuhause?“ Sie überlegt einen Moment, was sie auf diese Frage antworten soll. Seine Mütze sitzt locker auf seinen lockigen Haaren. Sein Lächeln scheint das einzig echte Lächeln zu sein, dass sie an diesem Tag zu sehen bekommt.

„Es ist mein Zuhause,“ sagt sie schließlich.

„Es freut mich, dass Sie sich hier so wohl fühlen,“ sagt er, doch unverkennbar schwingt etwas Besorgtes in seiner Stimme mit. Sein Lächeln verrutscht etwas und in seinen Augen steht die Besorgnis deutlich geschrieben. Sie hat nicht gesagt, dass sie sich wohl fühlt, nicht jeder fühlt sich in seinem Zuhause wohl. Aber sie möchte es ihm nicht sagen, zu viel müsste sie ihm erklären.

„Fühlen Sie sich denn hier zuhause?“ fragt sie daher, um abzulenken, „Nun,“ sagt er und das Lächeln kehrt zurück, „ich wohne nicht hier.“

„Nicht?“ fragt sie überrascht. Sie erinnert sich an die kleine Wohnung, in der der Portier früher gewohnt hat. Obwohl ihr Wohnzimmer fast größer ist als die ganze Wohnung, war es die gemütlichste Wohnung, in der sie je war. Die Wohnung war immer von so viel Liebe erfüllt, sodass es einer der liebsten Orte war, an dem sie sich je aufgehalten hat.

„Nein,“ sagt er und schüttelt belustigt den Kopf, „es gibt nur eine Wohnung hier im Haus für einen Portier. Darin wohnt mein Vater, der andere Portier. Als Kind habe ich dort mit ihm und meiner Mutter zusammengelebt, aber für zwei erwachsene Männer ist die Wohnung zu klein.“

„Ich verstehe,“ gibt sie zurück. Vor ihrem inneren Auge sieht sie den kleinen Jungen mit langen Locken, wie er sich hinter dem Sofa versteckt, um seinen Vater nach einem langen Tag voller angeberischer Menschen zu erschrecken. Obwohl sein Vater immer sehr müde Augen hatte und viel gearbeitet hat, hat er die Späße mitgemacht und seinen Sohn nie ausgeschimpft, wenn es nicht wirklich notwendig war. „Und Ihre Mutter?“ fragt sie. Seine Mutter war ebenso liebevoll. Sie war etwas rundlich, aber dennoch fit und voller Schwung. Sie scherzte und kochte mit den Kindern. Auch rohen Teig durfte sie probieren.

„Sie starb vor ein paar Jahren,“ sagt er und reißt sie damit aus ihren Erinnerungen. Die Trauer in seinen Augen und in seiner Stimme ist auch ihre Trauer. Sie hatte sie geliebt wie eine eigene Mutter.

„Das tut mir sehr leid,“ sagt sie wahrheitsgemäß. Am Meisten tut ihr jedoch leid, dass sie es versäumt hatte, über die Mitarbeiter selbst zu recherchieren, dann wäre ihr dieses Gespräch erspart geblieben.

„Danke,“ sagt er, „aber das ist ja nicht Ihre Geschichte. Haben Sie Familie?“

„Leider nicht,“ sagt sie und wendet sich zum Gehen. „Wir sehen uns,“ sagt sie und beendet so das Gespräch.

Kapitel 5

Er schaut ihr nach, während sie mit den Taschen Richtung Fahrstuhl geht. Sie ist so ganz anders als alle anderen Frauen, die hier sonst ein- und ausgehen. Es liegt nicht nur daran, dass ihre Körperteile alle echt zu sein scheinen oder daran, dass sie mit ihm wirklich spricht und sich für seine Antworten zu interessieren scheint. Irgendetwas an ihrer ganzen Art ist anders.

Er zuckt mit den Schultern und versucht, alle Gedanken an sie zu verdrängen. Es ist nicht gut, sich zu viele Gedanken über die Bewohner zu machen. Schon als er ein kleiner Junge war, hatte er gelernt, dass man weder etwas hinterfragte, was die Bewohner tun, noch sich zu sehr mit ihnen anfreundete.

Die neue Bewohnerin gefällt ihm, doch er weiß, dass es nie passieren wird. Sie werden nie ein Paar werden. Sein Vater hat seine Träumereien immer belächelt und gesagt, er wisse nicht, wo sein Platz in der Gesellschaft wäre.

Sie winkt ihm zum Abschied, als die Aufzugtüren sich öffnen und sie hineingeht. Ihr Lächeln wirkt so echt und umwerfend. Es erinnert ihn an jemanden, aber er kann sich nicht erinnern an wen. Er hebt die Hand und winkt zurück.

„Was ist das für ein Lächeln?“ reißt ihn die Stimme seines Vaters aus seinen Gedanken.

„Was denn für ein Lächeln?“ fragt er schnell zurück. Der Blick seines Vaters folgt seinem, doch sie ist schon im Fahrstuhl verschwunden. „Ich helfe dir,“ sagt er, um weitere Fragen zu unterbinden. Sein Vater trägt schwere Taschen mit Einkäufen. Warum er sich die Lebensmittel nicht wie andere liefern lässt, wird er nie verstehen. Er versteht, dass sein Vater die kleinen Läden unterstützen möchte, aber er ist selbst nun einmal nicht mehr der Jüngste und sollte sich nicht körperlich anstrengen. „Warum lässt du mich nicht für dich einkaufen?“ fragt er seinen Vater.

„Du willst mir wohl auch noch den Rest meiner Selbständigkeit wegnehmen, oder?“ Sein Vater lächelt schief, wie er es gerne tut, wenn er einen Witz macht, doch hinter jedem Scherz steckt auch ein kleines bisschen Wahrheit. Je älter sein Vater wird, desto weniger Arbeiten kann er selbst vornehmen und muss sie für seinen Sohn liegen lassen. Er weiß, dass es seinem Vater zusetzt, dass er nicht mehr alles selber erledigen kann. Aber zu zweit schaffen sie es und so lange er da ist, kann sein Vater seinen Job behalten.

Kapitel 6

Sie atmet erleichtert auf, als sich die Fahrstuhltüren schließen. Sie schießt die Augen und atmet noch einmal dreimal tief durch. Er darf sie nicht von ihren Plänen abhalten.

Die Tür öffnet sich und Lukas steht vor ihr. Der Sohn der Millers aus dem sechsten Stock. Seine blauen Augen haben denselben Blauton wie sein Hemd. Der obere Knopf steht offen und sein Jackett trägt er in der Hand. Wenn seine Eltern ihn so sehen würden, würde es sicher Ärger geben. Sie schmunzelt bei dem Gedanken, worüber sich andere Menschen Gedanken machen.

„Hallo,“ grüßt er sie freundlich.

„Hallo,“ sagt sie und setzt ein zuckersüßes Lächeln auf. „Ich fahre erst nach oben,“ sagt sie entschuldigend.

„Darf ich trotzdem mitfahren?“ fragt er. Sie tritt einen Schritt beiseite, so dass er eintreten kann. „Shoppingtour?“ fragt er und deutet auf ihre Einkaufstüten. Er schaut sie an. Das Zucken um seinen Mundwinkel zeigt ihr, dass er die Lächerlichkeit seiner Frage selbst erkannt hat. Beide brechen in schallendes Gelächter aus. „Okay,“ sagt er schließlich, als sie sich eine Träne aus dem Augenwinkel wischt, „der Spruch war wirklich schlecht, aber ich weiß gar nichts von dir.“

„Muss man denn viel über jemanden wissen, um mit ihm zu reden?“ kontert sie.

Er legt den Kopf schräg und sieht so aus, als würde er ernsthaft über ihre Frage nachdenken. Schließlich breitet sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus: „Wenn das so wäre, würde man nie jemand Neuen kennenlernen.“ Sie nickt. „Aber normalerweise lerne ich Frauen in einer Bar kennen,“ fährt er fort, „und da hatte ich schon das eine oder andere Bier.“ Er lächelt dabei so charmant, dass sie nicht weiter darüber nachdenkt, was diese Aussage über ihn aussagt.

Der Fahrstuhl kommt mit einem leisen Pling zum Stehen. Die Türen öffnen sich und sie tritt hinaus in ihren Flur.

„Vielleicht,“ sagt er und sieht sehr unsicher aus, „könnten wir das ja ändern?“ Sie sieht ihn fragend an, so dass er hinzufügt: „Dass ich nichts über dich weiß. Morgen? 19 Uhr?“ Die Aufzugtüren schließen sich, doch er hält die Hand zwischen die Türen, sodass sie sich wieder öffnen. Er lehnt sich an eine der Türen, so dass sie sich nicht schließen können und sieht sie abwartend an. Sie nickt schließlich. „Okay,“ sagt er, „ich hole dich ab.“ Er tritt zurück und die Türen schließen sich. Sie schüttelt amüsiert den Kopf, während sie sich auf den Weg zu ihrer Wohnung macht.

Kapitel 7

Sorgfältig schließt sie die Tür des Raumes, als es an der Tür klopft. Er ist pünktlich auf die Minute genau. Damit hat sie bei seinem Ruf nicht gerechnet. Immerhin gilt er als unzuverlässiger Macho.

Während er erneut klopft, zieht sie ihre Schuhe an. Sie wird sich auch von ihm nicht hetzen lassen. Männer muss man warten lassen. Dennoch flötet sie betont fröhlich: „Bin gleich da.“

Das Klopfen lässt nach. Sie nimmt ihre Handtasche vom Küchentresen, atmet tief durch und öffnet die Tür. Er lehnt lässig mit einem Fuß gegen die Wand gestützt an der gegenüberliegenden Wand. Er trägt ein blaues Hemd und nur die Farbe der Knöpfe zeigen, dass es ein anderes Hemd ist als jenes, dass er gestern im Fahrstuhl getragen hat.

Die Jeans, die er trägt, ist auf den ersten Blick als Designerstück zu erkennen. Derart akkurat wären die Abnutzung und die Löcher in einer abgetragenen Jeans nie. Sie erinnert sich an ihre Lieblingsjeans. Sie ist mit ihr durch die Apfelbäume des Klosters geturnt. Ständig ist sie irgendwo hängenblieben und hat sie zerrissen. Sie lernte, sie zu flicken, bis es eines Tages unmöglich war. Tagelang hatte sie geweint, denn es war das letzte Kleidungsstück, das sie noch von ihrem Vater hatte. Aus den Resten nähte sie eine Puppe, die sie von nun an immer bei sich trug.

„Brauchst du noch eine Minute?“ fragt er lächelnd und reißt sie damit aus ihren Gedanken.

Automatisch schaut sie an sich hinunter. Sie kann jedoch nichts entdecken, was fehlen würde. „Wieso?“ fragt sie daher.

Er stößt sich von der Wand ab und sagt: „Nur, weil ich keine Frau kenne, die zu der Zeit, zu der ich sie abholen möchte, auch wirklich fertig ist. Du siehst fantastisch aus.“ Er beugt sich vor und drückt ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange. Sein Aftershave zieht in ihre Nase. Es kribbelt. Die Moschusnote ist derart stark, dass man sie sogar mit Grippe und verstopfter Nase wahrnehmen würde.

„Wohin gehen wir?“ fragt sie, als sie sich bei ihm unterhakt und sie sich gemeinsam auf den Weg zum Fahrstuhl machen.

„Das ist eine Überraschung,“ sagt er, während sich die Türen des Fahrstuhls schließen.

Kapitel 8

Lukas steckt voller Überraschungen. Er führt sie in eines der schicksten und teuersten Lokale der Stadt aus. Sie hatte eher mit einer dunklen Bar gerechnet, in der sie niemandem begegnen würden, der sie kennen könnte. Hier ist Lukas mit Händeschütteln und dem Grüßen beschäftigt. Jeder, der sich in diesem Raum befindet, scheint ihn zu kennen und seine Aufmerksamkeit erhalten zu wollen.

„Willst du mich beeindrucken?“ fragt sie, während der Kellner sie zu einem Tisch am Fenster bringt. Man hat einen beeindruckenden Ausblick über die Skyline, da das Restaurant im zehnten Stock liegt. Über ihnen auf dem Dach ist der Pool des Wellness-Clubs, zu dem das ganze Gebäude gehört.

Ohne ihre Bestellung abzuwarten, schenkt der Kellner Lukas Wein ein. Lukas nippt an seinem Glas und der Kellner wartet auf sein Nicken, bevor er Wein in beide Gläser einschenkt. Er prostet ihr zu, bevor er zurückfragt: „Schaffe ich es denn?“ Ohne ihre Frage zu beantworten. Als seine Eltern das Lokal betreten und er sie an ihren Tisch winkt, ist ihr klar, dass es nicht darum geht, sie zu beeindrucken, sondern seine Eltern.

„Ihr erinnert euch an Megaere?“ fragt er, während er seinen Eltern Plätze an ihrem Tisch anbietet. Bereitwillig nehmen seine Eltern an ihrem Tisch Platz. Keiner fragt nach ihrer Meinung. Nun gut, so wird der Abend anders als geplant, aber so wird Lukas sie auch nicht über zu intime Details aus ihrem Leben befragten, auf die sie keine Antworten hat. Zumindest keine Antworten für ihn.

„Es ist eine Freude, Sie zu sehen,“ sagt seine Mutter und reicht ihr die Hand. Die pinken unechten Fingernägel lenken kaum von den faltigen Händen ab, an denen man ihr wahres Alter noch erkennen kann. Durch die vielen Schönheitsoperationen ist ihr ein Lächeln nur noch im Ansatz möglich. Das Gesicht gleicht eher einer Maske, als einer schönen, jungen Frau, die sie gerne noch wäre.

„Haben Sie sich schon eingelebt?“ fragt sein Vater, während er ihre Hand kräftig schüttelt. Seine Wangen sind leicht gerötet und der Geruch von Alkohol dringt leicht in ihre Nase. Der Geruch, verbunden mit seinem aufdringlichen Aftershave, dreht ihr den Magen um. Die Erinnerungen, die der Geruch in ihr heraufbeschwören möchte, verdrängt sie mit einem großen Schluck Wein.

Kapitel 9

Erschöpft streift sie die High Heels von ihren Füßen. Was war das nur für ein Abend. Sie massiert sich die schmerzenden Füße, während sie den Abend Revue passieren lässt. Wie zu erwarten hat Herr Miller zu viel getrunken und langatmig Geschichten aus seinem Leben zum Besten gegeben, die aufgrund ihrer Geschmacklosigkeit eher etwas für einen Herrenclub zur späteren Stunde gewesen wären. Dennoch schien Herr Miller das ganze Lokal unterhalten zu wollen, während seine Frau unentwegt über Reisen sprach, die sie erlebt haben und an welchen Orten der Welt sie schon gewesen sind. Einer versuchte, den anderen zu übertönen und keiner wollte nach Hause.

Sie hatte immer wieder höflich genickt und zustimmend gemurmelt. Lukas hatte es ihr gleich getan und ihr hin und wieder ein entschuldigendes Lächeln zugeworfen. Sie hat daraufhin nur mit den Schultern gezuckt. Immerhin war er es, der seine Eltern eingeladen hatte, mit an ihrem Tisch zu essen. Selbst auf dem Weg zurück zum Miracle-Tower haben sich die Millers versucht, in ihrer Lautstärke zu überbieten und Lukas und sie hatten nur einen kurzen Moment an ihrer Haustür allein. Da seine Eltern die Fahrstuhltüren jedoch für Lukas aufhielten, gab er ihr nur einen kurzen flüchtigen Kuss auf die Wange und ließ sie zurück.

Sie schüttelt die Gedanken ab und zieht ihre Laufsachen an. Sie braucht einen klaren Kopf, um ihre weiteren Schritte zu planen. Die kühle Nachtluft wird dabei helfen. Vorsichtig öffnet sie die Tür, um zu sehen, ob einer der Nachbarn im Flur ist. Als sie niemanden sieht, nimmt sie die Treppen, um in das Erdgeschoss zu gelangen. Sie hat keine Lust, sich noch weiter mit einem der Nachbarn zu unterhalten.

Ein Blick um die Ecke der Wand zum Foyer zeigt ihr, dass der Nachtportier gerade mit dem Rücken zu ihr steht. Sie zieht ihre Schuhe aus und läuft barfuß auf Zehenspitzen hinaus. Sie setzt sich auf die Eingangstreppe, um ihre Schuhe anzuziehen.

„Wohin des Weges um diese Uhrzeit?“ hört sie die tiefe Stimme von Tom. Sie blickt auf und schaut in sein freundliches Gesicht. Er trägt eine Packung des Takeaway um die Ecke unter dem Arm. Er setzt sich zu ihr auf die Stufen.

„Ich wollte noch eine Runde laufen gehen.“

„Um die Uhrzeit?“ fragt er und klingt dabei skeptisch.

„Ja, die Nachtluft ist herrlich und es sind nur wenige Menschen auf den Wegen unterwegs, auf die ich achtgeben muss. Und du?“ fragt sie und deutet auf die Packung unter seinem Arm.

Er deutet mit dem Kopf zur Tür: „Mein Paps isst sonst wieder den ganzen Abend nichts und so mache ich noch einen netten Abendspaziergang. Ich kann es also verstehen, dass du um die Uhrzeit laufen gehen willst. Die Stadt ist um die Uhrzeit einfach anders.“

„Ja,“ stimmt sie zu, „so friedlich.“ Sie klopft sich auf die Oberschenkel und steht auf. „Bis morgen,“ sagt sie und beginnt loszulaufen.

Kapitel 10

Erst nach der Dusche sieht sie die Einladung zum Frühstück, die ihr Lukas auf ihr Mobiltelefon geschickt hat. Während sie sich die Haare trocken rubbelt, geht sie mit dem Handy zum Küchentresen hinüber. Sie kaut auf ihrer Unterlippe, während sie überlegt. Sie muss in die Wohnung, um ihren Plan umzusetzen, aber noch ist sie nicht so weit. Wenn sie jetzt zusagt, wird er sie dann noch einmal einladen? Würde sie eine zweite Chance bekommen? Sie schreibt ihm daher, dass sie morgen leider schon verabredet ist, aber gerne Freitag zum Frühstück vorbeischauen wird.

Sie legt das Handy auf den Tresen und macht sich auf den Weg in ihren Kleiderschrank. Das Handtuch wirft sie unterwegs in den Wäschekorb. Im Kleiderschrank nimmt sie die obere Reihe ihrer Schuhe hinunter und stellt sie ordentlich auf den Teppich. Sie drückt auf die hintere Ecke des Regalbodens. Es hebt sich ein Stück und darunter kommt ein Fach zum Vorschein. Sie nimmt eine der beiden Ledermappen heraus und schließt das Fach wieder. Die Schuhe sortiert sie wieder ein, bevor sie sich mit der Ledermappe an den Küchentresen setzt. Sie öffnet die Mappe und lässt den Inhalt auf den Küchentresen rutschen. Zum Vorschein kommen Fotos, Papiere und zwei USB-Sticks.

Bevor sie sich hinsetzt, holt sie ihren Laptop aus einer Schublade des Tresens und stellt ihn neben den Inhalt der Mappe. Während er hochfährt, sammelt sie die Fotos ein und dreht den Stapel mit den Bildern nach unten. Sie ist nicht bereit, sich die Fotos anzusehen. Sie gibt ihr Passwort ein und nimmt ihren Ring ab. Er ist in der Form einer Rose gestaltet. Sie wirft einen langen Blick darauf, dreht ihn zwischen den Fingern hin und her, bevor sie seufzend eines der Rosenblätter herauszieht. Am Ende des Blattes kommt ein USB-Anschluss zum Vorschein.

Sie schiebt ihn in einen der USB-Anschlüsse ihres Laptops. Auf dem Bildschirm, wo eben noch das Foto eines Strandes mit Palmen und blauen Wasser zu sehen war, tanzen nun Zahlen hin und her, die in ihrer Reihenfolge und dem Ort, an dem sie erscheinen, völlig willkürlich erscheinen. Während die Zahlen tanzen, nimmt sie ein paar Gummihandschuhe aus der Schublade neben sich. Sie streift die Handschuhe über, bevor sie die bedruckten Seiten in die Hand nimmt. Sie sieht sie durch und nimmt fünf Seiten heraus. Sie steckt sie in einen großen braunen Briefumschlag, den sie aus der Schublade nimmt, aus der sie die Handschuhe genommen hat. Sie zieht den Schutzstreifen ab und verklebt den Briefumschlag. Mit der linken Hand schreibt sie die Adresse der Polizei auf den Umschlag. Dann legt sie alle übrigen Sachen wieder in die Mappe und legt den Briefumschlag in eine Plastiktüte.

Gerade, als sie fertig ist, hören die Buchstaben auf ihrem Bildschirm auf zu tanzen. Dort steht nun in goldenen Lettern „ALEA IACTA EST“.

Kapitel 11

Ihr schlägt das Herz bis zum Hals, als sie den Briefumschlag in den Postkasten wirft. Sie ist extra einige Straßenblocks weiter gegangen, dennoch schaut sie sich noch einmal um, bevor sie wertvollen Umschlag in den Postkasten wirft. Die Plastiktüte, in der sie ihn transportiert und mit deren Hilfe sie ihn in den Postkasten geworfen hat, wirft sie zwei weitere Straßenblocks entfernt in den Mülleimer. Wenn sie sich nicht verrechnet hat und die Leerungszeiten stimmen, müsste der Brief morgen spätestens übermorgen bei der Polizei eingehen. Sie rechnet mit weiteren drei Tagen, bis ein Beamter sich die Papiere ansehen wird. Das ist schon am Freitag. Eigentlich ist es zu früh, um in die Wohnung der Millers zu gehen, aber Lukas hat ihr schon wieder geschrieben, ob sie nicht früher für ihn Zeit hätte. Er darf sein Interesse nicht verlieren.

Kurzerhand nimmt sie ihr Mobiltelefon aus der Tasche und schreibt ihm, dass ihr Termin für morgen zum Abendessen abgesagt hat und fragt, ob er sie begleiten möchte. So schlägt sie zwei Fliegen mit einer Klappe: Er verliert das Interesse nicht und sie kann das Restaurant bestimmen. Sie steckt das Telefon in ihre Tasche und macht sich auf den Rückweg zu ihrer Wohnung.

Auf den Stufen sitzt Tom und beißt in ein Sandwich. Als er sie sieht, will er aufspringen, doch sie hält ihn davon ab. „Iss in Ruhe, ich schaffe es gerade noch alleine durch die Tür,“ lacht sie. Obwohl er kaut, lächelt er zurück. Statt durch die Tür zu gehen, setzt sie sich zu ihm. Es ist ein ganz spontaner Entschluss. Die Gegenwart von Tom beruhigt sie irgendwie. „Ist das denn erlaubt?“ fragt sie, um mit ihm ins Gespräch zu kommen.

Er hebt fragend die Augenbraue. Sie deutet auf sein Sandwich. „Essen während der Arbeitszeit,“ konkretisiert sie die Frage.

„Es ist zwar nicht gern gesehen, aber ich kann hier ja nicht 12 Stunden arbeiten, ohne zu essen. Da falle ich ja vom Stuhl.“

Sie nickt. Natürlich muss er essen. Darüber hat sie sich aber nie Gedanken gemacht. Als Kind hatte sie immer angenommen, dass jeder Vater mittags mit seiner Familie essen würde. Es dauerte, bis sie erkannte, dass das kaum üblich war. Tom bietet ihr etwas an, doch sie lehnt dankend ab. Ihr Herzschlag hat sich zwar beruhigt, aber ein flaues Gefühl im Magen ist zurückgeblieben. Tom isst genüsslich weiter, während sie schweigend dasitzen. Sie schauen den vorrübergehenden Menschen zu. Einige Menschen haben es eilig, andere Menschen scheinen zu schlendern und alle Zeit der Welt zu haben. Wie in der Geschwindigkeit sind die Menschen auch alle in der Wahl ihrer Kleider unterschiedlich. Keiner gleich dem Anderen. Sie könnte ewig so hier sitzen. Einfach nur die Menschen beobachten und die Gesellschaft von Tom genießen, doch leider ist dieser mit dem Essen fertig. Er wischt sich die letzten Krümel von den Händen, bevor er sich erhebt. Er reicht ihr die Hand, um ihr aufzuhelfen. Ein kleiner Blitz scheint sie zu durchzucken, als sich ihre Hände berühren. Sie schaut ihm in die Augen und glaubt, in ihnen Ähnliches zu sehen.

Kapitel 12

Die Bewegung, die sich in seinem rechten Auge spiegelt, lässt ihn zusammenzucken und er zieht seine Hand so schnell zurück, dass sie beinahe fällt. Tom springt die Stufen hinauf und reißt die Tür förmlich auf. Langsam dreht sie sich um und sieht SIE, die Patronen des Miracle Towers. Hoch erhobenen Hauptes spaziert sie durch die Lobby. Tom deutet eine Verbeugung an, als die Patronin die Tür passiert. Es soll imposant und furchteinflößend wirken, wie sie sich bewegt und ihren Gehstock benutzt, den sie gar nicht benötigt, doch Megaere findet es einfach nur lächerlich. Hinter dem ganzen Gehabe verbirgt sich eine alte, verbitterte Frau, der Macht und Ansehen alles bedeutet.

Megaere setzt ein Lächeln auf, als die Patronin an ihr vorbei geht. Das Lächeln fällt ihr umso leichter, da sie weiß, dass die Tage der Patronin als Herrscherin über den Miracle Tower und seiner Bewohner genauso gezählt sind, wie das gute Ansehen, dass sie in den höchsten Kreisen der Gesellschaft genießt.

Die Patronin nickt leicht in ihre Richtung, bevor sie zu ihrem Wagen geht, wo bereits ein junger Mann in einem schwarzen Anzug die hintere Beifahrertür geöffnet hat und darauf wartet, die Patronin irgendwo hinzufahren. Kopfschüttelnd betritt Megaere die Lobby, in der Lukas gerade aus dem Fahrstuhl tritt.

„Ich freue mich schon auf morgen,“ ruft er ihr entgegen. „Wohin gehen wir denn essen?“ Sie hatte zwar das Vibrieren ihres Mobiltelefons gemerkt als sie mit Tom auf der Treppe saß, aber nicht nachgesehen, wer ihr geschrieben hat. Zu sehr hatte sie den Augenblick genossen. Ein Blick zu Tom verrät ihr, dass er gehört hat, was Lukas gesagt hat. Sein Gesichtsausdruck zeigt deutlich seine Abneigung, aber gleichzeitig auch eine Art Resignation. Lukas ist bei ihr angekommen und schaut sie fragend an. Er erwartet noch immer eine Antwort.

„Wir, also meine ursprüngliche Verabredung und ich,“ erklärt sie und hofft, dass Tom ihr Gespräch belauscht und versteht, dass Lukas nur ein Lückenbüßer ist, „haben eine Reservierung im „Lucky“ um acht. Treffen wir uns dort?“

„Ich kann dich auch abholen,“ bietet er ihr an.

„Das ist lieb,“ sagt sie, „aber ich bin vorher mit einer Freundin verabredet und werde es nicht mehr hierher zurückschaffen.“ Er sieht traurig aus, doch sie lächelt ihn aufmunternd an, bis auch er lächelt.

„Okay, dann sehen wir uns da,“ sagt er und wendet sich an Tom. „Hast du ein Paket für mich?“ Sie wendet sich ab und geht zügig zum Fahrstuhl, um eine gemeinsame Fahrt mit Lukas zu verhindern. Er schenkt ihr keine Beachtung mehr. Tom wirft ihr jedoch noch einen Blick zu, den sie nicht deuten kann.

Kapitel 13

„Okay, okay,“ ruft er, während er seine Hände, die in Boxhandschuhen stecken, schützend an seinen Kopf hält, obwohl dieser mit einem Helm geschützt ist. Sie springt ein paar Schritte zurück, hält die Hände aber weiterhin oben. „Lissy, mir reicht es für heute.“ Ihr richtiger Name wirft sie aus der Bahn. Wie vom Donner gerührt bleibt sie stehen. Er ist der Einzige in dieser Stadt, der ihren richtigen Namen kennt, doch selten benutzt er ihn, um sie nicht doch irgendwie zu verraten. Er schnappt nach Luft und so dauert es einen Moment, bis er sieht, wie sie versteinert dasteht. Ihr Blick ist in die Ferne gerichtet. Er weiß, dass sie an ihre Kindheit zurückdenkt. An jene Zeit vor dem Kloster, als sie mit ihrem Vater noch ein unbesorgtes Leben führte.

„Lissy?“ sagt er leise mit beruhigender Stimme, um sie in das Hier und Jetzt zurückzuholen. Wenn er sie jetzt erschreckt, wird sie ihm sämtliche Knochen im Leib brechen, dessen ist er sich sicher. Sie schüttelt sich, als würde sie einen bösen Traum abschütteln.

„War es so schlimm heute?“ fragt sie und legt den Kopf schief.

„Na, sagen wir mal so: Ich bin froh, dass du meine Freundin bist und ich werde mich bemühen, dich nie so sauer zu machen, dass du es auf mich abgesehen hast.“ Sie zieht ihre Handschuhe aus und streicht ihm zärtlich über die Wange. Ohne ihn wäre die Zeit im Kloster die Hölle gewesen. Sie waren die einzigen Kinder dort und er tröstete sie jede Nacht, wenn sie sich in den Schlaf weinte. Sie wurden wie Geschwister und unzertrennlich. Die Priester ließen sie gewähren, bis sie in die Pubertät kamen. Eine gemeinsame Nacht änderte alles. Ob die Priester etwas ahnten oder es Zufall war wussten sie beide nicht, doch die nächsten Tage handelten die Predigten und der Unterricht nur von der fleischlichen Sünde. Gabriel entschied sich kurz darauf, das Amt eines Priesters zu übernehmen. Er war wie sie ohne Familie, doch auch ohne Geld und ohne Zukunft. Sie hatte viel Geld geerbt nach dem Tod ihrer Großeltern mütterlicherseits und es verging kein Tag, an dem sie keine Rachepläne gegen jene schmiedeten, die ihr Leben ruiniert hatten.

Auch wenn es schwer fiel akzeptierte jeder den Lebensplan des anderen und unterstützte ihn, wo er nur konnte. Die Priester erlaubten ihnen, Kampfkünste zu trainieren. Sie hielten es für eine gute Möglichkeit, ihre sexuellen Triebe in bessere Bahnen zu lenken. Je mehr sie über Rache hörte, desto versessener wurde sie. Mit 18 Jahren musste sie das Kloster verlassen und so zog es sie für zwei Jahre nach Europa, sie wollte etwas von der Welt sehen, bevor sie ihren Plan in die Tat umsetzte, denn sie wusste nicht, ob es ihr danach noch möglich sein würde.

„Alles okay bei dir?“ fragt Gabriel sie. Sein ernster Tonfall zeigt ihr, wie sehr er sich um sie sorgt.

„Ja,“ sagt sie, während sie die Stufen aus dem Keller der Kirche nach oben gehen. „Es hat begonnen,“ sagt sie zum Abschied. Das letzte, was sie sieht, bevor die schwere Kirchentür hinter ihr in das Schloss fällt, ist sein besorgter Blick.

Kapitel 14