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Bruno S. Frey

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Beschreibung

Eine Vision für neuen Zusammenhalt in Europa 

Die repräsentativen Demokratien in Europa funktionieren nicht mehr. Warum? Weil sie keine echte Teilhabe gewähren, sondern moderne Aristokratien geworden sind, die die meisten Leute von der politischen Macht ausschließen. In einer Demokratie aber, die auf weitestgehende Teilhabe setzt, sollten das ökonomische und kulturelle Kapital der Bürger:innen keine Rolle spielen. Dies fordern der renommierte politische Ökonom Bruno S. Frey und der Historiker Oliver Zimmer und präsentieren in ihrem innovativen Buch ein Konzept für echte Beteiligung wirklich aller am politischen Prozess. Sie schlagen den Bogen von Erkenntnissen aus der Geschichte zu Ideen für die Zukunft und zeigen: Es gibt die Lösungen für viele Probleme unserer Zeit bereits – wir müssen nur bereit sein, sie auch umzusetzen.

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Über das Buch

Wahlbeteiligungen sinken, Populist:innen schwingen sich auf, die EU kann Nationalstaatsgrenzen kaum noch überwinden: Diese Probleme unserer repräsentativen Demokratien in Europa liegen in der Geschichte begründet. Denn schon in ihren historischen Grundzügen handelt es sich dabei nicht um eine demokratische Regierungsform, da sie demokratische Mindeststandards nicht erfüllt. Um echte Teilhabe zu gewähren, darf eine Demokratie nicht die Mehrzahl der Menschen von der Macht ausschließen und von sogenannten Expert:innen geführt werden.

Der Ökonom Bruno S. Frey und der Historiker Oliver Zimmer zeigen, wie die Irrungen der ersten Demokrat:innen heute noch nachwirken – und liefern konkrete, visionäre Lösungsansätze. So könnten zum Beispiel neue Gebietsaufteilungen über Nationalstaatsgrenzen hinweg flexible und unabhängige Teilhabe gewähren. Und ein revolutioniertes Abstimmungsmodell würde die Meinungen aller Wählenden und nicht nur die der Mehrheit berücksichtigen.

In diesem Buch fügen sich die fundierten Erkenntnisse eines Historikers aus der Geschichte und die konkreten Ideen eines Ökonomen für eine Zukunft, die wir neu und besser gestalten können, zu einem großen Ganzen, das zum Nachdenken darüber anregt, wie wir in Zukunft leben wollen.

Über die Autoren

Bruno S. Frey ist Politischer Ökonom und Research Director von CREMA – Center for Research in Economics, Management and the Arts, Switzerland. Er war Professor an den Universitäten Konstanz, Zürich, Chicago, Warwick und ist jetzt ständiger Gastprofessor an der Universität Basel. Er wurde mit fünf Ehrendoktoraten ausgezeichnet.

Oliver Zimmer hat an der Universität Zürich und an der London School of Economics and Political Science studiert (PhD 1999). Von 2005 bis 2021 war er Professor für Moderne Europäische Geschichte an der University of Oxford. Seit 2022 ist er Forschungsdirektor bei CREMA in Zürich.

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Oliver Zimmer, Bruno S. Frey

Mehr Demokratie wagen

Für eine Teilhabe aller

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

Zitat

>Vorwort: — Mehr Demokratie wagen

I. Grundwidersprüche der Demokratie

> Erstes Kapitel:: Ein französischer Abbé erfindet die moderne Demokratie

> Zweites Kapitel:: Demokratie oder Epistokratie?

> Drittes Kapitel:: Wer gehört zum Demos – und wer bleibt außen vor?

> Viertes Kapitel:: Demokratie als Spielverderber des Zentralismus

II. Die Demokratie der Zukunft

> Fünftes Kapitel:: Ein neuer Föderalismus: Problemorientierte politische Einheiten

> Sechstes Kapitel:: Flexibles demokratisches Abstimmungssystem

> Siebtes Kapitel:: Qualifizierter Zufall als Entscheidungsverfahren in der Demokratie

> Achtes Kapitel:: Bedrohung der Demokratie von außen: Beispiel Terrorismus

Schlusswort & Ausblick:

Danksagung

Endnoten

Impressum

Das repräsentative System ist zu einer Form der Oligarchie verkommen, wodurch gewöhnliche Menschen vom öffentlichen Leben ausgeschlossen bleiben. Dies ist jedoch keineswegs unvermeidbar. Repräsentation erlaubt durchaus eine echte Demokratie, und zwar dort, wo sie auf partizipatorischer demokratischer Politik im lokalen Bereich basiert.

Hanna Fenichel Pitkin (2004)

Die Literatur zur Ignoranz von Wählern basiert auf der Annahme, gewisse dekontextualisierte Fakten oder bestimmte Expertenüberzeugungen taugten als Maßstab für das Wissen, das man braucht, um politische Entscheide zu treffen. Dabei ist es keineswegs erwiesen, dass Menschen Kenntnisse der Sozialwissenschaften, der europäischen Verträge oder über Handelsbilanzdefizite benötigen, um beurteilen zu können, ob sie selber, ihre Familien oder ihr Land von der Globalisierung oder der Konstruktion der Europäischen Union profitieren, und ob sie Kandidaten, die sich für solche Projekte engagieren, unterstützen sollen. Jedenfalls handelt es sich bei der Vorstellung, es gäbe einen Zusammenhang zwischen ›Informiertheit‹ im Sinne politologischer Umfragen und ›korrektem‹ Wahlverhalten in Bezug auf Fragen des Gemeinwohls nicht um eine Tatsache, sondern lediglich um eine Vermutung, deren Bestätigung noch immer aussteht.

Hélène Landemore (2022)

> Vorwort:

Mehr Demokratie wagen

Am 28. Oktober 1969 forderte Willy Brandt als frisch gekürter Regierungschef die Mitglieder des Bundestags auf, in Deutschland künftig mehr Demokratie zuzulassen. »Wir wollen mehr Demokratie wagen.« So lautete der kurze Satz, der eine naturgemäß eher technische Regierungserklärung zur vielleicht berühmtesten politischen Rede der deutschen Nachkriegszeit machte. Die Warnung, dem demokratischen Geist der Deutschen sei (noch) nicht zu trauen, wies der sozialdemokratische Bundeskanzler zurück: »Meine Damen und Herren, in den letzten Jahren haben manche in diesem Land befürchtet, die zweite deutsche Demokratie werde den Weg der ersten gehen. Ich habe dies nie geglaubt. Ich glaube dies heute weniger denn je. Wir stehen nicht am Ende unserer Demokratie, wir fangen erst richtig an.«

Die Grundaussage dieses Buches lautet, dass Willy Brandts Ruf nach mehr Demokratie heute wieder besonders aktuell ist, und zwar nicht nur in Deutschland.

Brandt argumentierte, dass die deutsche Demokratie nur durch erhöhte bürgerliche Partizipation zu sichern sei. Zu dieser Einschätzung passt die doppelte Selbstkritik am Schluss seiner Rede – eine Selbstkritik, die sich auf die Politiker wie auf die Bürger der jungen Republik bezog: »Die Regierung kann in der Demokratie nur erfolgreich wirken, wenn sie getragen wird vom demokratischen Engagement der Bürger. Wir haben so wenig Bedarf an blinder Zustimmung, wie unser Volk Bedarf hat an gespreizter Würde und hoheitsvoller Distanz. Wir suchen keine Bewunderer; wir brauchen Menschen, die kritisch mitdenken, mitentscheiden und mitverantworten.«

Der Sozialdemokrat forderte eine deutsche Gesellschaft, die sich durch mehr »Mitbestimmung« und »Mitverantwortung« auszeichnen und dadurch den Bürgerinnen und Bürgern »mehr Freiheit« gewähren sollte. Er verlangte die verstärkte Einbeziehung der »begründeten Wünsche der gesellschaftlichen Kräfte«. Dabei redete er einer erweiterten demokratischen Selbstbestimmung das Wort: Innenpolitisch durch Anhörung der Opposition, die sich in den 1960er Jahren außerhalb des Parlaments manifestiert hatte; außenpolitisch durch Einforderung des Selbstbestimmungsrechts der Deutschen bei gleichzeitigem Bekenntnis zur »europäischen Friedensordnung«. Gut zwanzig Jahre nach dem Zusammenbruch der nationalsozialistischen Diktatur verstand Willy Brandt unter »mehr Demokratie wagen«, dass die demokratische Selbstverantwortung höher gewichtet werde als die Kontrolle der Gesellschaft durch den Staat. Den Vorschlag, das aktive Wahlalter von 21 auf 18 und das passive von 25 auf 21 Jahre zu senken, rechtfertigte er mit der Aussicht auf Freiheitsgewinn: »Wir wollen eine Gesellschaft, die mehr Freiheit bietet und mehr Mitverantwortung fordert.«

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Was genau eine Regierungserklärung zur historischen Rede werden lässt, ist schwer zu sagen. Dazu gehört aber, dass sie mehr von ihren Anspielungen, Widersprüchen und Überraschungen lebt als von den Intentionen ihrer Schöpfer. So verknüpfte Brandt seine Aufforderung nach vermehrter demokratischer Teilnahme mit der Aussicht auf Modernisierung durch Planung. Wie diese beiden Dinge – kontrollierter Wandel und demokratische Partizipation – zusammengehen sollten, ließ seine Rede weitgehend offen.

Doch diese Ungereimtheit trat angesichts der Forderung nach mehr Demokratie in den Hintergrund. Wer spricht heute noch von den raumgreifenden technokratischen Passagen in Brandts Regierungserklärung? Es ist der Ruf nach mehr Demokratie, der (auch außerhalb Deutschlands) im Gedächtnis der Menschen hängengeblieben ist. Dieser Ruf verlieh seiner Rede ein Eigenleben; etwas, was sie nur schwer domestizierbar macht. Vielleicht erklärt dies auch, weshalb sie von vielen deutschen Politikern und Intellektuellen bis heute vornehmlich im Geiste der vorsichtigen Beschwichtigung ausgelegt wird: weniger als Aufruf zu genuiner Reform denn als gediegenes Bekenntnis des großen Nachkriegskanzlers zur repräsentativen Demokratie.1

Das ist Brandts Rede natürlich auch. Und gleichzeitig geht sie deutlich über ein solches Bekenntnis hinaus. Inhaltlich gehört sie zu jener Tradition der Herrschaftskritik, die seit dem 19. Jahrhundert – besonders von Seiten jenes linksdemokratischen Lagers, dem Brandt entstammte – immer wieder vorgetragen wurde. Die Kritik bezieht sich seit dem sogenannten »Völkerfrühling« von 1848 insbesondere auf das, was man im deutschen Sprachraum repräsentative Demokratie, im englischen dagegen meistens – und von der Sache her ungleich präziser – als repräsentatives Regieren (representative government) bezeichnet.2

Eine solche Kritik stellt das repräsentative System nicht grundsätzlich in Frage. Was sie fordert, ist die Erweiterung des liberalen Verfassungsstaates durch vermehrte demokratische Teilhabe. Und gleichzeitig ist sie Ausdruck eines Misstrauens gegenüber dem politischen Status Quo. Denn das repräsentative System steht hier unter dem, wie wir meinen, berechtigten Verdacht, den Interessen und Präferenzen einer wohlhabenden, mit Bildungszertifikaten ausgestatteten Schicht besser zu entsprechen als jenen der Mehrheit, die diese Privilegien nicht genießt. Es wäre geradezu fahrlässig, einen solchen Befund als Verschwörungstheorie zu verunglimpfen. Denn was hier in der Kritik steht, ist ein epistokratisches, mitunter elitäres Politikverständnis. Wie das Wort Demokratie stammt auch der Begriff der Epistokratie aus dem Griechischen. Ein Epistokrat ist jemand, der eine Herrschaft der Wissenden (episteme: »Wissen«; kratía: »Herrschaft«) unterstützt. Aus epistokratischer Warte gefährdet die partizipatorische Demokratie (demos: »Volk«; kratía: »Herrschaft«) die Interessen des Staates.3

Die beschriebene Kritik des Repräsentativsystems ruft uns etwas in Erinnerung, das heute nur noch selten öffentlich diskutiert wird. Sie erinnert uns daran, dass die herkömmliche Gleichsetzung von Repräsentation und Demokratie – konzeptuell wie historisch – unhaltbar ist. Darauf haben am wortgewaltigsten die politischen Philosophinnen Hannah Arendt und Hanna Fenichel Pitkin hingewiesen.4 Die partizipatorische Demokratie geht auf die Stadtstaaten der griechischen Antike zurück; ihr berühmtestes Beispiel ist die Polis des klassischen Athen, wo gewisse Ämter durch ein qualifiziertes Losverfahren vergeben wurden. Dagegen entwickelte sich die Repräsentation erst mit dem Römischen Imperium und dann vor allem ab dem frühen Mittelalter zu einer wichtigen Institution. Das leitende Motiv war hier nicht die politische Beteiligung der Vielen, sondern die Vorherrschaft der Wenigen. Fürsten und Könige entsandten eigene Vertreter in entlegene Regionen, um mehr Einkünfte zu generieren. Ambitionierte Grundherrscher trachteten danach, ihr Territorium administrativ zu durchdringen und territorial abzurunden. Was wir hier zunehmend am Werk sehen, sind Vorformen der modernen Staatsbildung. Erst in den atlantischen Revolutionen des späten 18. Jahrhunderts entstand mit der von großen Konflikten begleiteten Fusion von Demokratie und Repräsentation eine neue politische Realität.

Wie verhielten sich die wichtigsten politischen Bewegungen seither zum representative government, also zu jenem System, das aus dieser Fusion resultierte? Laut Hanna Fenichel Pitkin lassen sich zwei grundsätzliche Haltungen unterscheiden. Demokraten – grob gesagt, handelt es sich um Bewegungen links der politischen Mitte – betrachteten »die Repräsentation durch Abgeordnete – mit erweitertem Wahlrecht – als eine Voraussetzung großräumiger Demokratie«. Ganz anders blickten konservative, restaurativ eingestellte Kräfte auf das repräsentative System. Sie betrachteten es laut Pitkin als »ein Instrument […], um sich die Demokratie vom Leib zu halten«.5

Nun sind direkte Formen der Demokratie in bevölkerungsreichen und großflächigen Gemeinwesen freilich schwierig durchführbar. Staaten von der Größe Deutschlands, Frankreichs, Spaniens oder Italiens lassen sich von ihren Bedürfnissen und ihrer politischen Dynamik her nicht mit Rousseaus Genf, der antiken Polis Athens oder einer Innerschweizer Landsgemeinde vergleichen. Die Repräsentation des Wählerwillens durch Abgeordnete scheint hier also ein beinahe kongeniales Instrument zu liefern, mit dem sich das von Arendt und Pitkin beschriebene Ideal der demokratischen Selbstbestimmung (self-government) in der Moderne verwirklichen lässt.

Dass dieser Eindruck einer gelungenen Fusion von Demokratie und repräsentativem System täuscht, ist eine der Grundthesen unseres Buches. So zeigen wir in den Kapiteln des ersten Teils, dass sowohl fortschrittliche wie konservative Kräfte sich des fundamentalen Unterschieds zwischen Demokratie und Repräsentation durchaus bewusst waren; oder dass die moderne Demokratie, bei der es sich in Tat und Wahrheit mehrheitlich um ein repräsentatives Regieren handelt, bis heute – trotz fortschreitender Ausdehnung des Wahlrechts – deutliche epistokratische Züge trägt. In den Parlamenten dominieren Akademikerinnen und Akademiker, während die mittleren und unteren sozialen Schichten kaum vertreten sind. Ein Beispiel: Von den 2019 gewählten Abgeordneten des deutschen Bundestags besitzen 82 Prozent einen Hochschulabschluss – in der Gesamtbevölkerung sind es lediglich 18 Prozent.6 In den großen Kammern von Österreich (48 Prozent akademisch Gebildete gegenüber 14 in der Gesamtbevölkerung)7 und der Schweiz (61 Prozent8 gegenüber 27 Prozent9) ist die Übervertretung von Akademikern etwas geringer.

Doch wir bleiben nicht bei der Kritik stehen. Im zweiten Teil des Buches unterbreiten wir verschiedene Vorschläge, wie sich das repräsentative System demokratisieren ließe – beispielsweise durch eine zusätzliche, durch ein qualifiziertes Zufallsprinzip gewählte Kammer. Dadurch könnten die mittleren und unteren Schichten der Gesellschaft verstärkt aktiv an der Demokratie partizipieren. Weitere Vorschläge zur Stärkung der demokratischen Partizipation sind Initiativen und Referenden. Und ganz generell sprechen wir uns für die Verlagerung demokratischer Bestimmungsmacht auf eine Ebene aus, in der die politisch zu lösenden Probleme tatsächlich auftreten – und nicht auf einer höheren Ebene, die nichts mit den eigentlichen Problemen zu tun hat. Bei all unseren Reformvorschlägen geht es letztlich darum, den Bürgerinnen und Bürgern einen Teil jener Macht zurückzugeben, die der Zentralstaat und die Berufsparlamente heute monopolisieren. Unser Ausgangspunkt ist Pitkins kritischer Befund aus dem Jahr 2004, den wir für unverändert gültig halten:

»Trotz wiederholten Versuchen, das repräsentative System zu demokratisieren, hat die Repräsentation die Demokratie meistens eher ersetzt, als ihr zu dienen. Dabei sind unsere Regierenden zu einer sich selbst erhaltenden Elite geworden, die passive oder privatisierte Massen regiert, oder besser: sie verwaltet. Die Repräsentanten handeln nicht als Agenten des Volkes, sondern an ihrer Stelle.«10

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Der zweite Kerngedanke von Willy Brandts Rede bezieht sich auf die Bedeutung kollektiver Zugehörigkeit für das Funktionieren der Demokratie. Dass Brandt hier vor allem auf die Bedeutung der nationalen Ebene Bezug nahm, hatte historische Gründe. Gut zwei Jahrzehnte nach dem Zusammenbruch der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft fragte man sich besonders im demokratischen Ausland, wie es mit der Demokratiefähigkeit der Deutschen und ihrer damals noch keineswegs souveränen Republik bestellt sei. Für Brandt konnte es auf diese Frage nur eine Antwort geben, wie er den Besatzungsmächten unmissverständlich klarmachte: »Niemand kann uns jedoch ausreden, dass die Deutschen ein Recht auf Selbstbestimmung haben, wie alle andern Völker auch.« Damit signalisierte er seinen Landsleuten, dass demokratische Selbstbestimmung das Bekenntnis zur eigenen Nation voraussetze.

Dieses Recht der Deutschen auf Selbstbestimmung basierte nach Brandt auf dem Leistungsausweis der bundesrepublikanischen Demokratie. Die sich über alle Turbulenzen hinweg bewährte Polit- und Parteimaschinerie habe der deutschen Demokratie weitherum Respekt verschafft: »Unsere parlamentarische Demokratie hat 20 Jahre nach ihrer Gründung ihre Fähigkeit zum Wandel bewiesen und damit ihre Probe bestanden. Dies ist auch außerhalb unserer Grenzen vermerkt worden und hat unserem Staat zu neuem Vertrauen in der Welt verholfen.« Doch diese Demokratie würde nur dann langfristig Bestand haben, wenn sie die Bürgerinnen und Bürger stärker in die Entscheidungspflicht nehmen würde.

Ohne Bekenntnis zu einem kollektiven Selbst keine partizipatorische Demokratie: Auch dieser Gedanke spielt in unserem Buch eine zentrale Rolle. Demokratisches Engagement gedeiht dort, wo sich Menschen bewusst und ausdrücklich zu einem Gemeinwesen bekennen. Nicht als Hurrapatrioten, sondern als kritische, mit Rechten und Pflichten ausgestattete Bürger, die – weil sie ein ihnen vertrautes Gemeinwesen schätzen – mitreden wollen. Die Grundlage für dieses demokratische Engagement bildet freilich die verfassungsrechtliche Gleichstellung der Bürger. Doch eine lebendige Demokratie ist mehr als eine Registrationsstelle für individuelle, im stillen Kämmerlein kultivierte Präferenzen. Sie lebt vom Beitrag der Bürger, von der dezidierten öffentlichen Auseinandersetzung um die Gestaltung von Gegenwart und Zukunft. Dazu gehört im Idealfall mehr als eine Opposition, die zur Politik der gegenwärtigen Regierung eine Alternative darstellt. Dazu gehört die Möglichkeit, auch zwischen den großen Wahlen demokratisch zu intervenieren.

Diese Bereitschaft zum regelgebundenen Streit zwischen verschiedenen Gleichberechtigten ist jedoch keineswegs selbstverständlich. Sie bedarf einer produktiven Energie, die aus dem Gefühl der Zugehörigkeit zu einem Gemeinwesen entsteht. Wo dieses Gefühl inexistent oder schwach ausgebildet ist, sind Menschen kaum bereit, Verantwortung für den Zustand ihres Dorfes, ihrer Stadt, ihrer Region oder ihres Landes zu übernehmen. Das mag mit ein Grund sein, warum kleine, föderalistisch aufgebaute Länder in der Regel mehr Demokratie wagen als zentralistisch organisierte Staaten; und warum die demokratische Praxis dort enger mit der Zivilgesellschaft – beispielsweise durch Initiativen, Referenden oder politische Freiwilligenarbeit vorort – verzahnt ist.11 Als Bezugsrahmen für dieses Zugehörigkeitsgefühl kommt also keineswegs bloß der Nationalstaat in Frage. Kommunen, Kantone oder Bundesländer, und hier eben auch neue, problemorientierte Körperschaften, eignen sich dafür aufgrund ihrer geringeren Größe und kulturellen Dichte oft sogar besser.

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Insgesamt konfrontiert Brandts Intervention uns also bis heute mit einer Anzahl provokanter Gedanken. Etwa, dass es in der Demokratie nicht bloß um periodisch abzuhaltende Wahlen geht, sondern um aktives Mitgestalten, zu dem auch eine offene, zuweilen kontrovers geführte Diskussion gehört; oder dass sich Demokratie nicht auf eine Staatsform reduzieren lässt; dass es sich dabei weniger um ein System als um eine ständigem Wandel unterworfene Lebensform handelt. Am provokantesten bleibt wohl Brandts Überzeugung, dass Demokratie in Freiheit nicht ohne Risiko zu haben ist. Der im deutschen Fall schon länger besonders wortreich geführte Streit um die Gestaltung der demokratischen Praxis – hier der Ruf nach mehr Demokratie und Vertrauen in die bürgerliche Urteilskraft des »gemeinen Volkes«, dort die Diffamierung von Volksabstimmungen als Populismus der »Unaufgeklärten« – ist allerdings kein deutsches, sondern ein gesamteuropäisches Phänomen.