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Paul ist kein Held. Er ist nicht besonders mutig oder klug. Er erlebt auch keine außergewöhnlichen Abenteuer. Paul ist zwölf, ziemlich verpeilt und damit ist sein Leben abenteuerlich genug! Was Paul so besonders macht, ist sein Tagebuch. In ihm hält er seine Erlebnisse fest, ehrlich und mit Witz: Karl, der Neue in der Klasse, kann irgendwie alles, Leon hat Angst vor "Wursttieren", Marco ist das geborene Opfer. Beim Zelten auf dem Spielplatz geraten sie in einen krassen Sturm, beim Übernachten in der Schule taucht ein Schlafsackmonster auf und der Skiausflug mit der Klasse endet extrem peinlich. Und dann ist da auch noch Sarah, in die Paul ein bisschen verliebt ist. Ein ganzes Jahr voller Herausforderungen! Ungewöhnlich ist die Entstehung dieses Buches, denn Daniela Böhles zwölfjähriger Sohn hat sich alle Abenteuer von Paul ausgedacht. So entstand ein Buch für Jungs, in dem sich Jungs auch wirklich wiederfinden.
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Seitenzahl: 290
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Daniela Böhle
Wer vorher nachdenkt, verpasst ’ne Menge
DANIELA BÖHLE ist in Köln aufgewachsen und hat dort Kunstgeschichte und Medizin studiert. Heute lebt sie verheiratet und mit zwei Kindern in Berlin und lektoriert Sachbücher. Vor allem aber schreibt sie Geschichten, die sie mehrere Jahre lang auf Berliner Bühnen vorgelesen hat, u. a. als Mitglied der Lesebühne »Reformbühne Heim & Welt«. 2005 erschien ihr Buch »Amokanrufbeantworter« (auch im Satyr Verlag). Ihre Hörspiele für Erwachsene hat der Radiosender SWR produziert, »Mein bisher bestes Jahr« ist ihr erstes Jugendbuch.
Ihr Sohn JULIUS BÖHLE, der an diesem Buch mitgearbeitet und die Story vorgegeben hat, geht inzwischen auf die Oberschule.
KATHARINA GREVE hat dieses Buch illustriert. Sie wurde in Hamburg geboren, studierte Architektur und lebt als Comic-Autorin und Cartoon-Zeichnerin in Berlin. Sie zeichnet u. a. für die Zeitschriften »Das Magazin« und »Titanic«. 2013 erhielt sie den »Sondermann-Förderpreis für Komische Kunst« und 2010 den »Deutschen Cartoonpreis für neue Talente«. Bisher erschienen ein Cartoon-Band und drei Graphic Novels für Erwachsene von ihr, zuletzt »Hotel Hades«, eine absurde Reise ins Jenseits (Egmont Verlag).
E-Book-Ausgabe Dezember 2016
© Satyr Verlag Volker Surmann, Berlin 2016www.satyr-verlag.de
Cover & Illustration: Katharina GreveKorrektorat: Jan Freunscht
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über: http://dnb.d-nb.de
Die Marke »Satyr Verlag« ist eingetragen auf den Verlagsgründer Peter Maassen.
E-Book-ISBN: 978-3-944035-94-9
für Julius
Mein bisher bestes Jahr
Am letzten Ferientag muss man eigentlich alles machen, was man in den Ferien zu selten geschafft hat. Lang ausschlafen, also so richtig lang!, und dann Fußball spielen und schwimmen und jede Menge essen, auf jeden Fall viel Eis und Würstchen.
Strandbadtag!
Alle waren da – Leon natürlich, mit dem war ich verabredet, aber auch Karim, Janusz, Steven, Pepe, Joe, Felix und Julian und auch ein paar Mädchen, Nurit, Tina, Kiki und Sarah. Sarah! Die sah so toll aus in ihrem Bikini, dass ich fast Stielaugen gekriegt hätte wie im Zeichentrickfilm.
Wir aßen einen Haufen Eis und Würstchen und dann hatte Pepe diese Idee: Wir sollten alle ein Wetttauchen machen, so schräg rüber bis zu ’nem Baumstamm, der quer im Wasser liegt. Pepe hatte das in den letzten Wochen geübt wie ein Irrer. Er hatte ständig im flachen Wasser vorn am Strand rumgelegen. Wenn man ins Wasser reingerannt ist, musste man immer aufpassen, dass man nicht auf Pepe trat, weil der Idiot unbedingt ganz vorn üben musste. »Macht mir ein besseres Gefühl«, hatte er immer behauptet, wenn ihn jemand angepflaumt hat, »das machen die Profis auch so!« Leon ist voll drauf reingefallen und hat mich den ganzen Nachmittag gefragt, wie viel Geld so Profitaucher wohl verdienen und ob er sich nicht auch ins flache Wasser legen und die Luft anhalten üben sollte.
»Quatsch«, hab ich ihn aufgeklärt. »Klar gibt’s Profitaucher, aber die tauchen mit Flaschen!«
Mit was für Flaschen, wollte Leon wissen, aber ich hab das auch nur mal kurz in so ’nem Dokumentarfilm gesehen und dann umgeschaltet.
»Da ist Luft drin«, konnte ich nur sagen und Leon hat genickt, als hätte er jetzt voll den Plan. Pepe hatte also die ganzen Sommerferien über wie ’ne Wasserleiche unter Wasser rumgelegen und wollte es uns allen jetzt zeigen.
Wenn er schlau gewesen wäre, hätte er vorgeschlagen, um die Wette im Flachen unter Wasser rumzuliegen, aber Pepe ist nicht schlau. Das hätte er garantiert gewonnen! Aber ich zum Beispiel hatte Schnellschwimmen geübt und es war klar: Wenn einer zwar nicht unter Wasser rumliegen kann, dafür aber schnell schwimmen kann, wird der am Ende den Rumlieger locker abhängen.
Ich war also beim Wetttauchen dabei.
Kiki wollte auch mitmachen und Leon meinte, er würde den Schiedsrichter machen. Leon kann so Um-die-Wette-Zeug nur leiden, wenn er garantiert gewinnt, und die komischen Übungen von Pepe, vor denen hatte Leon einen Heidenrespekt. Wir stapften also nebeneinander ins Wasser, Steven und Pepe und Karim und Janusz und Julian und Kiki. Und ich.
Leon stand auf dem Baumstamm schräg gegenüber vom Stand, hielt die Arme zur Seite ausgestreckt wie bei den Bundesjugendspielen und brüllte: »Auf die Plätze! Fertig!« Bei »Los!« schlug er die Hände über dem Kopf zusammen und wir pflügten ins Wasser, bis wir vernünftig untertauchen konnten. Pepe, der Idiot, der pflügte gar nicht, der ging gleich da, wo wir uns aufgestellt hatten, unter Wasser.
Ich schwamm superschnell los, aber irgendwie geht das echt schwer, wenn man mit dem ganzen Körper unter Wasser ist. Ich war trotzdem ganz schön schnell, zumindest dachte ich das, aber dann ging mir die Luft aus und ich musste auftauchen und da war ich gerade mal ungefähr fünf Meter weit gekommen. Gleichzeitig mit mir tauchte Steven auf, was mich mächtig wurmte, weil er bestimmt einen ganzen Meter weiter gekommen war als ich. Karim schaffte es kaum länger und danach tauchte Kiki auf.
Janusz schaffte es länger und weiter als Julian, aber das erfuhren wir erst hinterher von Nurit, die das vom Strand aus gesehen hatte. Wir anderen kriegten erst mal nichts mehr mit, nachdem Julian aufgetaucht war und ihm monstermäßig das Blut übers Gesicht lief. Er war total vom Weg abgekommen beim Tauchen und kam irgendwo weit neben mir hoch anstatt vor mir. Dort war er übelst gegen einen Stein geschwommen und hatte sich eine Platzwunde am Kopf geholt. Er sah echt krass aus, wie in so einem Horrorfilm! Wenn ich später mal einen Horrorfilm drehe, kommt auf jeden Fall Julian drin vor. Also nicht das Wettschwimmen und Julian, sondern Julian, der Unterwasserzombie!
Julian musste dann ruckzuck zur DLRG-Station, da hat er dann voll den coolen Verband gekriegt, als hätte ihm irgendwas den halben Kopf weggefetzt und er hätte nur haarscharf überlebt. Die DLRG-Leute hatten bestimmt lange niemanden mehr verarztet und waren dann so in Schwung gekommen, dass die einfach ihr komplettes Verbandszeug um Julians Kopf rumgewickelt haben. Der war danach ungefähr doppelt so groß wie vorher, es sah echt gut aus! Sein Vater, der Julian kurz darauf abgeholt hat, hat sich allerdings ziemlich aufgeregt. Dass er ihn nicht auf den Arm genommen und nach Hause getragen hat wie ein Baby, das war echt alles.
Wann genau Pepe aufgetaucht ist, weiß ich nicht. Oder was er zu seiner Niederlage gesagt hat. Das Blut und das ganze Geschrei jedenfalls hat er völlig verpasst. Gewonnen hat er trotzdem nicht, weil Nurit sagt, dass er zwar echt lang unter Wasser war, aber nicht mal ansatzweise so weit gekommen ist wie Janusz. Und weil wir alle mit Julian und dem Blut beschäftigt waren und nur Nurit gesehen hat, wo die beiden hochgekommen sind, gilt das, was sie gesagt hat. Janusz hat gewonnen, aber Julian ist der, der am letzten Ferientag das Strandbad gerockt hat.
Erster Schultag nach den Ferien. Wir haben einen neuen Jungen in der Klasse, Karl. Er ist cool und sieht gut aus und ich hasse ihn. Sarah hat ihn angelächelt, ich hab’s genau gesehen. Wenn sie sich in Karl verliebt, muss ich entweder ihn oder mich umbringen. Er sieht stark aus, ich denke also, ich werd dran glauben müssen.
Marco hat heute in die Hose gemacht. Im Unterricht, kein Witz.
Die Zeitbombe hat Leon angeschrien, damit ging es los.
Die Zeitbombe heißt eigentlich Frau Schniedermann. Sie ist unsere Mathelehrerin und heißt so, weil man nie weiß, wann sie explodiert. Sie ist so schlimm, dass ich echt nicht weiß, warum man so was auf Kinder loslassen darf. Oder auf Jugendliche.
Die Zeitbombe hat jedenfalls Leon angeschrien. Er hatte sich diese verkackte Dreiecksdefinition nicht gemerkt, irgendwas über gleiche Winkelgrößen, was weiß ich, er wusste die Definition nicht und hat einfach nicht daran gedacht, sich ihr zu Füßen zu werfen und mit seinen Haaren ihre Stiefel zu wienern. Da hat sie ihn angeschrien, dass man in Deckung gehen musste. Sie hat zuerst ihn und dann uns alle angeschrien, sie hat uns ziemlich beleidigt, würde ich sagen, aber niemand würde sich trauen, sie bei der Direktorin zu verpetzen.
Sie schrie, dass wir Zettel rausholen sollten, sie würde uns einen Test schreiben lassen, dann hätten unsere Eltern es schwarz auf weiß, was für Vollidioten wir sind.
Und während des Tests, der echt unmenschlich schwer war (ich glaub nicht, dass irgendjemand etwas Besseres als eine Fünf kriegen wird), hat sich dann unter Marco eine Pfütze gebildet.
Krass.
Vielleicht muss ich Sarah an Karl abgeben, ich sag’s nicht laut, aber er hätte sie verdient. Er hat heut Marco rausgehauen.
Steven hatte ihn im Visier, er hat die Pfütze gestern auch gesehen. Und er hat’s rumposaunt wie sonst was, er hat ständig gejohlt, wenn er Marco angeguckt hat, und in der Fünf-Minuten-Pause gerufen: »Achtung, er pisst wieder!«
Irgendwann ist Karl dann zu Steven hin, hat ihn so am Kragen hochgezogen und hat gesagt: »Ich weiß nicht, was ihr hier in der Klasse für Umgangsformen habt, aber die gefallen mir nicht.«
Alter Schwede! Was für ’ne coole Sau! Wie aus so einem Film, wo vorher jemand wochenlang über einen echt coolen Satz für den Helden gegrübelt hat, einen, nach dem der Schurke mit eingezogenem Schwanz die Stadt für immer verlassen muss, weil er keinen Fuß mehr auf den Boden kriegt. Steven hat jedenfalls danach den Mund gehalten.
Nach der Stunde sind alle in die Pause gegangen und ich konnte mich irgendwie gar nicht beruhigen, ich bin sitzen geblieben und hab dann irgendwann, als niemand mehr in der Klasse war, angefangen zu lachen. Wie so ein Geistesgestörter. Ausgerechnet Karl hat das draußen gehört und noch mal den Kopf reingesteckt: »Was ist los, Mann?«, hat er gefragt und ich hab gejapst und irgendwie rausgepresst: »Wie cool war das denn?«
Und Karl, der hat genau gewusst, was ich gemeint hab, auch wenn die ganze Schulstunde dazwischenlag, und er hat nicht so was gesagt von wegen »Was bist du denn für ein Schnellmerker, dass du erst nach ’ner geschlagenen Stunde losgeierst?«, nee, der hat einfach gegrinst und gefragt: »Wie heißt du noch mal?«
»Paul«, hab ich geantwortet und mich ziemlich gut gefühlt. – Gut, aber auch schon ein bisschen geistesgestört, egal.
Leon und ich wollten heute zu zweit schwimmen gehen, aber er rief heute Morgen an und meinte, sein Vater wollte sich mit ihm treffen. Verdammt, Leon hat einen Vater! Klar, man kann jetzt sagen, ich bin ein Vollidiot, dass ich denke, es reicht, dass Leon eine Mutter hat. Leon ist ja nicht Jesus! Leon wohnt also mit seiner Mutter zusammen und ich habe mich noch nie gefragt, wo eigentlich sein Vater ist. Jetzt weiß ich es, sein Vater wohnt in Tempelhof. Und weil Leon sich nicht allein mit seinem Vater treffen wollte, sollte ich mitkommen. Beziehungsweise sein Vater sollte ins Strandbad mitkommen.
»Das ist er«, sagte Leon, als er mit einem Mann auf mich zukam. Er nannte ihn nicht seinen Vater, er sagte nur: »Das ist er.« Aber ich ging davon aus, dass er nicht meinte: Das ist der Bademeister.
Ich starrte ihn an, den Mann, und ja, mir stand auch der Mund offen. Leons Vater sah nämlich echt krass aus: Er war ganz schlimm dünn, was noch schlimmer aussah, weil er so groß war, und er hatte längere Haare als alle Frauen, die ich kenne. Fast bis zum Hintern. Und die Hose, die er anhatte, das war bestimmt keine Badehose, sondern eine Unterhose! Eine orange Unterhose. Orange auf bleich. Mann!
Ich konnte ihn ziemlich lang nur anstarren, auch noch, als Leons Vater die Hand hob, »Hey« rief und grinste.
»Na dann«, meinte Leon mit so einer komisch strengen Stimme, dann drehte er sich um und ging vor uns her zu seinem Badetuch.
Leons Vater hatte kein Badetuch mitgebracht. Vielleicht hatte er Leon falsch verstanden und sich gar nicht auf Strandbad eingestellt, deshalb auch die Unterhose.
»Ich geh schwimmen«, kündigte Leon an und war weg. Leons Vater und ich standen blöd rum, aber ich hatte wenigstens die Gafferei eingestellt.
»Ich heiß übrigens Micky«, stellte sich Leons Vater vor und ich musste lachen.
Ich dachte schon, jetzt wird er sauer, weil Leon abgehauen ist und ich ihn jetzt auch noch auslachte, aber er musste auch lachen. Wir konnten eine ganze Weile nicht aufhören.
»Witzig«, sagte ich unnötigerweise, als wir endlich fertig waren mit Lachen. Die richtigen Dinge zu sagen, das ist irgendwie nicht so meine Stärke.
»Eigentlich heiß ich Markus«, fügte Micky hinzu (haha, der Name sieht sogar blöd aus, wenn ich ihn nur schreibe und nicht ausspreche! »Markus Micklei«, vielleicht wird der Nachname anders geschrieben, ich weiß es nicht), »aber seit ich in die Schule gekommen bin, nennen mich alle nur Micky.«
Ich finde es ein bisschen albern, wenn Erwachsene noch Spitznamen haben, aber das ist ja nicht meine Sache, sondern die Sache von Leon und seinem Vater. Oder eher nur von seinem Vater.
Micky und ich setzten uns auf Leons Badetuch, weil Micky offenbar nicht Leon hinterher wollte und ich höflich bin, auch wenn meine Mutter das bezweifelt. Weil ich so gut im Falsche-Dinge-Rausposaunen bin, habe ich ihn gefragt: »Und, warum besuchen Sie Leon nie?«
Es ist komisch, einen Mann, der in Unterhose neben einem sitzt und Micky heißt, zu siezen, aber er war ja trotz allem immer noch erwachsen.
»Du kannst ruhig ›Du‹ sagen«, bot mir Micky an und dann war er eine Weile still. »Keine Ahnung«, sagte er dann und ich dachte: Na, für diese Antwort hätte er echt nicht so lang nachdenken müssen.
Wir saßen da eine ganze Weile stumm herum, bis schließlich Leon wiederkam. Er sah total sauer aus. »Ihr sitzt auf meinem Handtuch«, schnauzte er uns an und wir standen sofort auf. Leon riss das Handtuch vom Boden hoch und wickelte sich hinein, obwohl es gar nicht kalt war.
»Was willst du eigentlich hier?«, schnauzte er seinen Vater an und ich wusste nicht, ob ich mich besser mal verdrücken sollte. Aber ich stand da wie festgetackert, weil ich höllisch neugierig war, was Micky sagen würde.
Er sagte gar nichts. Er zuckte nur die Schultern. Leon machte so ’ne Kinnbewegung zu mir und forderte: »Komm, wir gehen!« Ich guckte kurz zu Micky und folgte dann Leon.
»He«, rief Micky hinter uns her. »Leon!«
Leon hielt nicht an, aber ich fasste ihn an der Schulter, um ihn aufzuhalten. Er drehte sich zu mir und einen Moment dachte ich, er würde mir eine runterhauen. Dann drehte er sich zu Micky und wartete, bis der uns eingeholt hatte.
»Mir tut das alles leid«, sagte Micky zu Leon und dann standen wir alle rum und schwiegen. Ich dachte die ganze Zeit, jetzt sag doch was, jetzt sag doch was, und als Micky dann immer noch nicht die Zähne auseinanderkriegte, da sprach ich es aus: »Jetzt sagen Sie doch was!«
Micky guckte mich an wie ein Auto, dann sagte er tatsächlich was: »Ich will immer anrufen oder schreiben und dann vergeht so viel Zeit. Und dann denk ich, jetzt ist so viel Zeit vergangen, wie soll ich ihm das erklären? Und dann vergeht noch mehr Zeit. Und dann ist es noch viel schlechter zu erklären …«
»Du bist so ein Arschloch«, fuhr ihn Leon an und sah aus, als wäre er darüber genauso erschrocken wie ich. Aber Micky grinste nur irgendwie schuldbewusst. »Korrekt«, meinte er. »Ich bin ein Arschloch. Mir tut das alles leid. Du hast einen besseren Vater verdient.«
Leon nickte ruckartig und ging dann weiter. Diesmal blieb Micky stehen und rief uns auch nichts hinterher.
Leon rannte fast nach Hause und ich immer hinterher. Als er schließlich auf seinem Bett lag und an die Decke starrte und ich mit dem Rücken gegen seine Tür saß, fragte er: »Warum konnte er nicht wenigstens eine Badehose anziehen?«
Ich dachte, gleich heult er, aber vor Wut und aus keinem anderen Grund. »Vielleicht hat er keine«, vermutete ich.
»Warum kann er sich für mich keine kaufen?«
Ich wusste nicht, warum die Badehose so wichtig war, aber Leon wollte es auch nicht sagen.
»Ich finde ihn ganz nett«, meinte ich. »Ich finde, es gibt echt schlimmere Väter.«
Leon drehte den Kopf ruckartig zu mir hin und sah so zornig aus, wie ich ihn noch nie gesehen hatte. »Halt doch einfach mal die Schnauze«, platzte er heraus, und so was hatte er noch nie zu mir gesagt. Und dann bekam Leon so einen komischen Gesichtsausdruck, als würde er anfangen zu heulen, und deshalb blieb ich und wartete ab. Nach einer Weile stellte er fest: »Ich will einen Vater, der ordentlich angezogen ist. Der nicht so Scheißhaare hat wie ein Penner. Der nicht sagen muss, dass ich einen besseren Vater verdient hab. Klar hab ich das!«
Danach haben wir lang gar nichts gesagt, ich staune selbst, dass sogar ich manchmal meinen Mund halten kann. Ich hab echt, echt lang nachgedacht und dann hab ich festgestellt: »Es gibt Väter, die verprügeln ihre Frauen und ihre Kinder oder überfallen Banken oder töten Leute. Denk doch mal an die Kinder von denen. Die sind doch echt schlimmer dran. Scheiß auf die Unterhose.«
Aus irgendeinem Grund musste Leon darüber lachen und ich dann auch. Wir lachten und lachten und danach stand Leon auf und erklärte: »Du kannst mir ein Eis ausgeben.«
Meine Mutter hatte mir Geld fürs Strandbad mitgegeben, Geld für Eis und für Würstchen und für Pommes, und das hauten wir alles für Eis auf den Kopf, für echt eine richtige Riesenmenge Eis.
Heute hat Nurit so eine Pfefferminzbonbondose gehabt, bei der man auf eine Ecke drücken muss, damit unten ein Bonbon rauskommt. Vor der ersten Stunde hat sie sich eins rausgedrückt und Tina hat gefordert: »Gib mir auch eins, ist gut gegen Mundgeruch.«
War es ein Zufall, dass sie das gerade in dem Moment gesagt hat, als ich vorbeigegangen bin? Wollte sie mir damit was mitteilen?
Ich hab sofort in meine Hand gehaucht und gerochen. Meine Fresse, wozu ist Zahnpasta eigentlich gut, wenn ich in der Schule ankomme und schon dort einen Geschmack im Mund habe, als würde da drin irgendwas Schlimmes verwesen?
Nach der Schule hab ich mir von meiner Mutter einen Taschengeldvorschuss geben lassen und die Pfefferminzbonbonvorräte im Kiosk aufgekauft. Morgen soll das Vieh in dem Mund von jemand anderem vor sich hin verwesen.
WOZU IST ZAHNPASTA EIGENTLICH GUT, WENN ICH IN DER SCHULE ANKOMME UND SCHON DORT EINEN GESCHMACK IM MUND HABE, ALS WÜRDE DA DRIN IRGENDWAS SCHLIMMES VERWESEN?
Die Pfefferminzbonbons funktionieren nur, wenn man ununterbrochen eins im Mund hat. An einem einzigen Schultag hab ich das Taschengeld von zwei Wochen aufgefressen. Und wie schafft man es, nach so einem Pfefferminzbonbontag noch Freunde zu haben? Man kann schließlich keinem was abgeben, weil man nicht weiß, ob einem dann zu früh die Rettungsbonbons ausgehen!
Möchte ich lieber meine Freunde verlieren, weil ich Mundgeruch habe, oder lieber, weil ich ein Geizhals bin? Ich kann mich nicht entscheiden!
PS: Meine Mutter hat gemeint, wenn man alle Bonbons auf einmal isst, kriegt man Durchfall. Echt nett, dass sie damit erst rausgerückt ist, als ich heute Abend nicht mehr vom Klo runtergekommen bin! Ich brauche eine andere Lösung.
Manchmal ist es gut, wenn man eine Mutter hat, mit der was nicht stimmt. Meine Mutter zum Beispiel findet alles interessant, was eklig ist: Wunden, am liebsten mit Eiter und allem Pipapo, Knochenbrüche, bei denen was aus der Haut raussteht, und Blut, je mehr, desto besser. Wegen Julians Kopfplatzwunde war sie richtig neidisch auf mich, weil sie die auch gern gesehen hätte.
Heute fand ich das zum ersten Mal praktisch, weil ich mit ihr ohne viel Anlauf über Mundgeruch reden konnte.
»Mundgeruch!«, sie klang so, wie normale Mütter klingen, wenn sie über frischen Kuchen sprechen. »Darüber sind massenhaft falsche Informationen im Umlauf.«
Sie hat mir dann eine Menge darüber erzählt, was ich so genau gar nicht wissen wollte, aber danach ist sie los und hat mir eine Zungenbürste besorgt. »Todsicher«, hat sie behauptet. Weil der Mundgeruch eigentlich Zungengeruch ist. Igitt!
Die Zungenbürste ist gar keine Zungenbürste, sondern so ein Kratzding. Als ich mir zum ersten Mal meine Zunge abgekratzt hab, ist so viel Schmodder runtergegangen, dass ich mich fast ins Waschbecken übergeben hab. Wah! In meinem Mund ist wirklich was verwest!
Zungenbürsten funktionieren auch nicht, verdammt!
Heute Morgen hab ich mich fast ins Waschbecken übergeben und nach der ersten Stunde hat schon wieder was Verwestes auf meiner Zunge gepappt. Ich bin in jeder Pause aufs Klo gerannt und habe mir Moder von der Zunge gekratzt. Nach dem zweiten Mal hat mich Leon gefragt, ob ich Durchfall hab. So kann das nicht weitergehen!
Meine Mutter hat weiter recherchiert. Es stinkt von den Zähnen, von der Zunge und aus dem Magen. Oh Mann!
Jetzt hab ich einen ausgefuchsten Plan ausgearbeitet: Morgens putz ich mir die Zähne, dann kratz ich mir die Zunge ab, dann futter ich Pfefferminzbonbons, die mir meine Mutter jetzt von ihrem Geld kauft, weil sie Mitleid mit mir hat, in der Pause esse und trinke ich was, um meinen Magen mit was anderem als mit Stinken zu beschäftigen, dann wieder Pfefferminzbonbons und nach der Schule schnell nach Hause, um dort in Ruhe allein vor mich hin stinken zu können. Und auf dem Klo rumzusitzen.
Was ist das denn für ein Leben?
»Und, was machst du so, gehst du zur Schule?« – »Nee, dafür hab ich keine Zeit, ich bin mit Keinen-Mundgeruch-Haben vollzeitbeschäftigt!«
Mein Mundgeruchplan funktioniert. Ich kombiniere das damit, dass ich denen, mit denen ich rede, nicht mehr ins Gesicht krieche. Ich rede immer so ein bisschen an denen vorbei. Geht ganz gut. Heute habe ich mich endlich mal wieder normal gefühlt. Nicht wie so ein Zombie, der einen Verwesungsteppich hinter sich herschleppt.
Der Vater von Karim ist Lastwagenfahrer und seine Mutter hat irgend so ’ne Krankheit und traut sich nicht aus dem Haus. Glaube ich. Karim redet nie darüber. Deswegen ist Karim jedenfalls so eine Art Ersatzeltern für seine kleine Schwester.
Bevor Karims große Schwester ’ne Ausbildung im Hotel angefangen hat, hat die sich um die kleine Schwester gekümmert, deswegen find ich es total irre, dass Karim das alles kann – also zum Beispiel an alles denken, wenn er seine Schwester aus dem Kindergarten abholt, oder nicht die Krise kriegen, wenn sie zwischendurch in die Hose macht, oder sie ins Bett bringen. Oder kochen. Oh Mann! Das kann Karim alles! Ich glaube, sie pinkelt inzwischen nur noch ganz selten in die Hose, aber ich hätt’ sie wahrscheinlich schon nach dem ersten Mal im Kinderheim abgegeben!
Seine kleine Schwester heißt Rana und für ein kleines Kind ist sie eigentlich okay. Deswegen haben Leon und ich auch versprochen, dass wir uns um sie kümmern können. Karim hat nämlich heute mitten in Deutsch Fieber gekriegt. Die Kerner hat das sofort gesehen und ihn nach Hause geschickt. Und Karim war richtig panisch, weil er ja seine Schwester abholen muss und weil er Angst hatte, dass sein Vater den Job verliert, wenn er sie abholen kommen muss, oder dass alle Ärger kriegen, weil seine Mutter sich nicht aus der Wohnung traut. Aber die Kerner hat nur gefragt, ob das sonst noch wer machen kann, und Karim hat Leon und mich angesehen und wir haben sofort gekräht: »Kein Problem, das machen wir doch mit links!«
Danach war Pause. Leon und ich fanden die Sache mit Rana halb so wild, aber die Mädchen, die waren total aus dem Häuschen. Die fanden uns süß! Wer will denn so was? Die Hälfte der Mädchen ist um uns rumgehüpft und hat komisches Zeug gelabert, also nicht lustiges, sondern sonderbares.
Die Einzige, die echt hilfreich war oder wenigstens sein wollte, war Kiki. Die hat einen kleinen Bruder und hat uns die Sache mit dem Einpinkeln erklärt und dass wir am besten immer Essen und was zu trinken dabei haben, weil kleine Kinder echt mordsanstrengend werden können, wenn sie Hunger oder Durst kriegen und man hat nichts da. Dabei hat sie so komisch die Augen aufgerissen, dass ich dachte, so genau will ich gar nicht wissen, was sie damit meint. Wir denken einfach auf jeden Fall an Essen und Trinken.
Klar, woran Leon und ich natürlich nicht dachten: an Pipi, Essen und Trinken. Aber immerhin hatte die Kerner im Kindergarten angerufen und Bescheid gesagt, dass wir Rana abholen. Wir kennen ja Rana, weil Karim sie manchmal irgendwohin mitbringt, und dann ist sie eigentlich immer nett.
Wir kamen wie die letzten Idioten reingehampelt. Alles cool, Leute!, so sahen wir aus, und wir hatten natürlich einfach gar nichts dabei. Dass wir Rana mitnahmen und sie nicht auch noch vergaßen, so wie ihren Rucksack und ihre Jacke und wer weiß was noch, das war echt ein Wunder.
Wir trottelten also mit Rana aus dem Kindergarten raus und fragten sie, was sie gern machen würde. Rana wollte auf den Spielplatz. Wir also auf den Spielplatz.
»Ich hab Durst«, plärrte Rana nach einer Weile und Leon und ich guckten uns an. »Hast du was zu trinken dabei?«, fragten wir fast gleichzeitig und schüttelten auch fast gleichzeitig den Kopf. Rana fing an zu heulen. Als wir versuchten, sie zu beruhigen, heulte sie nur noch lauter. Weil sie bei Karim nie heulte, wussten wir nicht, was wir machen sollten. Trösten und über den Kopf streicheln? Schütteln? Den Mund zuhalten?
Zum Glück hatte eine Mutter vom Spielplatz so Trinkdingse dabei mit Apfelsaft und gab eine Runde aus. Wir bedankten uns und wischten uns den Angstschweiß von der Stirn. Bald darauf bedankten wir uns noch mal, als sie Kekse und Salzstangen verteilte, als Rana losplärrte, weil sie was essen wollte.
Ich dachte an Kiki und dann dachte ich an Einpinkeln. »Musst du mal Pipi?«, fragte ich Rana und klar, sie musste nicht. Sie hatte schon. Sie fing wieder an zu plärren und diesmal konnte die Mutter uns nicht helfen.
Wieder dachte ich an Kiki. »Komm«, rief ich Leon zu. Der konnte mich wahrscheinlich nur verstehen, weil er Lippen lesen kann, weil Rana wirklich wie am Spieß schrie.
Ich schleifte sie irgendwie mit, Leon lief hinterher und ich war fix und fertig, als wir vor Kikis Haus standen, obwohl der Weg ganz kurz gewesen war. »Wir sind’s, Leon und Paul«, brüllte ich in die Gegensprechanlage, weil Rana so abartig laut war.
Kiki grinste breit, als wir die Treppe hochgekeucht kamen. »Essen?«, überschrie sie Rana.
Ich schüttelte den Kopf: »Pipi!« Kiki verzog das Gesicht und winkte uns rein. Dann nahm sie Rana an die Hand und zog sie ins Badezimmer. Ich war noch nie vorher bei Kiki gewesen, aber als die Heulerei aufhörte, dachte ich, Kikis Wohnung ist der schönste Ort der Welt. Wir hörten, wie Kiki im Badezimmer auf Rana einredete. Dann kam Kiki raus, verschwand in einem anderen Zimmer, kam wieder raus und verschwand wieder im Bad.
Als Rana wieder rauskam, hatte sie kein Blümchenzeugs mehr an, sondern eine Hose, auf der Fußbälle auf die Knie genäht waren.
»Du hast was gut bei uns«, stellte Leon fest und ich nickte mir fast eine Gehirnerschütterung.
»Woher habt ihr die Hose?«, fragte Karim, als wir am Abend vor der Tür standen.
»Ist eine längere Geschichte«, meinte Leon. Wir drückten Karim die Tüte mit den eingepinkelten Sachen in die Hand.
»Geht’s dir besser?«, fragte Leon.
»Geht so«, sagte Karim. »Könnt ihr Rana vielleicht morgen in den Kindergarten bringen? Mein Vater hat Frühschicht; er kann sie abholen, aber nicht hinbringen.«
Wir starrten Karim an.
»Klar«, versprach ich dann und dachte, ich seh jetzt bestimmt aus wie der Joker aus Batman, der so grinst wie ein Freak und ja auch einer ist. Leon lachte so stoßweise, so »hi – hi – hi!«
Dass wir weder Ranas Rucksack noch ihre Jacke mitgebracht hatten, brachte Karim gut auf den Punkt: »Hab ich ja Glück, dass ihr wenigstens Rana mitgebracht habt.« Vermutlich war das nur zur Hälfte so etwas wie ein Lob, aber immerhin.
Karim ist ein ziemlich toller Hecht, finde ich. Und wenn ich morgen früh krank bin, schafft Leon es vielleicht auch allein, Rana in den Kindergarten zu bringen.
Karim hat so früh angerufen, dass er uns damit alle aus dem Bett geworfen hat. Er hatte offenbar solche Angst vor dem, was wir auf dem Weg zum Kindergarten anstellen könnten, dass er im Handumdrehen wieder gesund geworden ist. Wir mussten Rana nicht in den Kindergarten bringen, er hat das so deutlich betont, als ob ich ein Idiot wäre, und das hat er wahrscheinlich auch gedacht.
Wegen der frühen Anruferei hat meine Mutter jedenfalls das mit Karims Mutter erfahren. Dass sie nicht das Haus verlässt und so.
Was genau »und so« bedeutet, weiß ich auch nicht, das weiß vielleicht nicht mal Karim. Und jetzt hat meine Mutter diese fixe Idee: »Wir könnten Karims Eltern doch mal einladen!« Das hat sie beim Frühstück mindestens fünfmal wiederholt. Und ich hatte heute die Aufgabe, aus Karim rauszukriegen, wie meine Eltern Karims Eltern einladen könnten, ohne irgendwelche Regeln zu verletzen.
Aber was für Regeln eigentlich? Ich hatte das meine Mutter immer wieder gefragt, aber sie hat nur so komisches Zeug gebrabbelt, dass es in Deutschland höflich ist, den Teller leer zu essen, in anderen Ländern aber, unbedingt noch was draufzulassen. Auf dem Teller. Aha.
Und als ich noch mal nachgefragt habe, meinte sie, in anderen Kulturen könne man manchmal ganz kompliziert sein Gesicht verlieren und vielleicht gilt das auch für Fälle, in denen man eingeladen wird und dann nicht kommen kann, weil man das Haus gar nicht verlassen kann.
Was das Haus-nicht-Verlassen mit dem Teller-nicht-leer-Essen zu tun hat, das habe ich nicht verstanden, aber meine Mutter hatte so einen komischen Ton drauf, dass ich auch nicht weiterfragen wollte.
Ich habe Karim also heute in der Pause gefragt. Und ja, es kann sein, dass ich auch einen komischen Ton draufhatte. Karim hat mich total alarmiert angeguckt – so als wollte ich was bizarr Peinliches von ihm: »Könntest du mir die Essensreste aus meinen Zähnen puhlen?« oder »Ich bräuchte grad mal jemanden, der mir den Po abputzt!«
»Klar können deine Eltern meine zum Essen einladen«, meinte er dann, als ich ihn dann gar nichts wirklich Peinliches gefragt hatte. »Gut!«, habe ich geantwortet und dachte, damit wäre alles erledigt.
»Du hättest fragen müssen, wie wir sie am besten einladen!«, hielt mir meine Mutter vor, als ich nach Hause gekommen war. »Und dann hättest du gleich auch noch nach der Sache mit dem Essen fragen sollen. Palästinensisch oder deutsch?«
Sie guckte mich so erwartungsvoll an, als hätte ich das doch gefragt und es bloß vergessen zu erwähnen. Wobei ich nicht weiß, ob man auch »vergessen« bei Sachen sagt, die man gar nicht aufgetragen bekommen hat.
»Morgen also«, forderte sie.
»Was soll ich denn fragen?«, wollte ich wissen. »Ob ihr sie am Telefon einladen sollt oder mit einem Brief oder mit einem Boten oder was? Und sollen die dann auch noch sagen, was sie am liebsten essen wollen? Was ist denn das für eine komische Essenseinladung?«
»Frag einfach«, sagte meine Mutter.
Ich habe ein ganz, ganz schlechtes Gefühl bei dieser Sache!
Hey, ich bin sportlich! Hey, ich kann Fußball spielen, dass mich jeder Bundesligacoach sofort anwerben würde, wenn nur mal einer auf unserem Bolzplatz vorbeischauen würde! Und dann kann man schließlich alles, wenn man ein guter Fußballspieler ist: Man kann rennen und tricksen und springen – und weil man im Training auch mal Torwart ist, kann man auch werfen und fangen und das alles.
Bei den Bundesjugendspielen, da schneide ich trotzdem immer lausig ab, aber da wollen die ja auch echt komische Sachen von einem. Da soll man nicht laufen, um einen Ball irgendwohin zu dribbeln, da soll man einfach nur sinnlos laufen und das war’s. Und man soll einen Ball nicht einem zuwerfen, der dann damit ein Tor schießt, nee, man soll den Ball nur nutzlos in die Gegend schmeißen. Ganz besonders bescheuert ist Langstreckenlauf, da läuft man einfach nur so lang im Kreis, bis einem die Lunge aus dem Hals hängt. Aber was soll’s, wir haben einen Tag schulfrei, das ist eigentlich genug.
Heute waren Bundesjugendspiele und es war irre heiß. Meine Mutter hatte mir einen Haufen Obst mitgegeben, aber Janusz hatte eine ganze Tasche voller Süßigkeiten, weil er seinen Eltern angekündigt hatte, er würde sich auf dem Weg alles kaufen, was er für die Bundesjugendspiele braucht. Das klang wohl so professionell, dass sie ihm einfach Geld in die Hand gedrückt hatten. Wir schaufelten also Kaugummis und Gummizeug in uns rein und der Tag fing gut an.
Blöd war nur, dass Karim und ich in der ersten Laufgruppe waren. Das hatten wir irgendwie übersehen. Sie hatten die Langstreckenlauferei vorgezogen, weil es so warm war und bestimmt noch heißer werden würde, und so standen wir keine zehn Minuten nach der Gummibärchenorgie an unserem Startplatz und ich zumindest machte mir Sorgen.
Karim machte noch vor mir schlapp. Er fing an, so zu fiepen wie eine große Maus in Not, dann steuerte er auf den Seitenstreifen und ließ sich auf den Boden fallen. Ich sah gerade noch, wie die Sanitäter auf ihn zuliefen, dann ließ ich mich auch auf den Seitenstreifen fallen.
Die Gummibärchen schienen riesengroß geworden und in meine Beine gequollen zu sein und erst als wir gemeinsam eine Weile auf dem Boden gelegen hatten, die Gummibärchen und ich, schrumpften sie wieder auf Normalgröße und versuchten nicht mehr, auch aus meinem Mund herauszukriechen.
Ich wimmerte ein bisschen vor mich hin, weil ich mich so elend fühlte. Die Sanitäter ließen uns immerhin in Ruhe, nachdem sie aus Karim rausgekriegt hatten, dass er keinen Herzinfarkt hatte, sondern nur Gummibärchenüberdosis. Sie schleiften uns eher vom Seitenstreifen als dass sie uns trugen und ließen uns liegen.
Janusz und Leon hatten die Kampfrichter überredet, ihren Start nach hinten zu verschieben, und leisteten uns Gesellschaft, bis wir wieder halbwegs fit waren. Die Folge waren null Punkte für Karim und mich beim Langstreckenlauf, aber wir hatten schließlich noch Kurzstrecke, Werfen und Weitsprung vor uns. Na, wenn da mal keine Ehrenurkunde auf uns wartete!
Zu dem Zeitpunkt dachte ich noch: Optimistisch bleiben! Aber das legte sich spätestens beim Weitsprung. Das war meine nächste Station und ich hab das Prinzip eigentlich nie verstanden. Man soll anlaufen und dann abspringen und dann die Beine nach vorn schmeißen – und dann den Hintern irgendwie so geschickt hinterherwerfen, dass man nachher nicht im Sand sitzt, sondern hockt. Wenn ich das jetzt hier aufgeschrieben sehe, wird mir wieder klar, dass das gar nicht funktionieren kann.
Hat es auch nicht. Ich bin abgesprungen, hab die Beine nach vorn geworfen, hab dann irgendwas mit meinem Hintern versucht und schließlich gab es so einen richtig fetten Abdruck im Sand und klar: Das war mein Hintern. Ich glaube, ich kam bei allen drei Sprüngen sogar noch unter die schlechteste Marke der Erstklässler. Und das Scheußlichste war, dass bei meinem letzten Sprung gerade Sarah vorbeispazierte und den bösen Abdruck im Sand sah, und abgesehen von der lausigen Weite, die man bestimmt nicht mal Weite nennen darf, sondern höchstens Nähe, hat sie bestimmt gedacht, der Abdruck kommt einfach von meinem schlimmen Hintern.