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DI Sean Corrigan ist nicht wie andere Cops. Die Schatten seiner eigenen Vergangenheit machen ihn empfänglich für die Dunkelheit anderer - für die Abgründe von verlorenen Seelen, von Vergewaltigern, von Mördern. Das macht ihn zu einem außergewöhnlichen Ermittler.
Als ein junger Mann brutal ermordet aufgefunden wird, geht die Polizei zunächst von einer Beziehungstat aus. Corrigan vermutet jedoch schnell, dass viel mehr hinter der Sache steckt. Die Jagd nach einem überaus cleveren Killer beginnt. Einem Killer, der weder Gnade noch Reue kennt ...
"Mit Mein bist du legt Luke Delaney einen Erstling vor, der es in sich hat. Hart, schnörkellos, perfide, immer spannend, nichts für schwache Nerven." Hitradio RTL
DI Sean Corrigan ermittelt weiter - noch mehr atemlose und beängstigend authentische Spannung von dem ehemaligem Detective Luke Delaney:
Für immer mein
Wenn ihr schlaft
Sie zu strafen und zu richten
eBooks von beTHRILLED - mörderisch gute Unterhaltung.
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Seitenzahl: 631
Cover
Über dieses Buch
Titel
1.
2.
3.
4.
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6.
7.
8.
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10.
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14.
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18.
19.
20.
21.
22.
Epilog
Über den Autor
Weitere Titel des Autors
Impressum
DI Sean Corrigan ist nicht wie andere Cops. Die Schatten seiner eigenen Vergangenheit machen ihn empfänglich für die Dunkelheit anderer – für die Abgründe von verlorenen Seelen, von Vergewaltigern, von Mördern. Das macht ihn zu einem außergewöhnlichen Ermittler.
Als ein junger Mann brutal ermordet aufgefunden wird, geht die Polizei zunächst von einer Beziehungstat aus. Corrigan vermutet jedoch schnell, dass viel mehr hinter der Sache steckt. Die Jagd nach einem überaus cleveren Killer beginnt. Einem Killer, der weder Gnade noch Reue kennt …
eBooks von beTHRILLED – mörderisch gute Unterhaltung.
LUKE DELANEY
MEINBIST DU
Aus dem Englischen vonAxel Merz
Samstag
Ich hatte mich bereit erklärt, mit meiner Frau und den Kindern in den Park zu gehen. Sie sind drüben auf der Wiese hinter dem Hügel neben dem Teich. Sie haben gegessen und die Enten gefüttert. Jetzt füttern sie ihren Glauben, wir wären eine ganz normale glückliche Familie. Soweit es sie betrifft, sind wir das auch.
Jedenfalls, ich lasse mir von ihrem Anblick nicht den Tag verderben. Die Sonne scheint, und ich kriege ein wenig Farbe. Außerdem ist die Erinnerung an meinen letzten, überaus befriedigenden Besuch in diesem Park noch frisch und zaubert ein beständiges Lächeln auf mein Gesicht.
Sieh sich einer all diese Leute an! Glücklich und entspannt. Sie haben keine Ahnung, dass ich sie keine Sekunde aus den Augen lasse. Dass ich beobachte, wie sich kleine Kinder von ihren Müttern entfernen, während sie schwatzen und schwatzen und nicht merken, dass ihr kleiner Liebling auf Wanderschaft geht. Und wenn sie es dann realisieren, geht das schrille Gekeife einer hysterischen Mutterkuh los, gefolgt von einem Klaps auf den Po des kleinen Scheißers, was noch mehr Geschrei hervorruft.
Für den Moment bin ich zufrieden. Der Spaß und die Befriedigung, die ich vergangene Woche mit der kleinen Schwuchtel gehabt hatte, werden noch eine Zeit lang vorhalten, deshalb sind heute alle sicher.
Was habe ich die Zeit genossen, die ich mit der Schwuchtel in diesem Park verbracht habe. Später war es dann ziemlich einfach, seine Leiche zu entsorgen. Schwulis leben gefährlich; das macht sie zu perfekten Opfern. Also jagte ich unter ihnen, suchte nach einem und fand – ihn.
Ich dachte an den Abend im Utopia zurück, einem Nachtclub in Vauxhall, wo ich die Gäste belauerte, auf der Suche nach dem perfekten Opfer. Utopia – was für ein blöder Name. Inferno hätte besser gepasst.
Jedenfalls, meiner Frau hatte ich gesagt, ich sei auf Geschäftsreise außerhalb der Stadt. Ich packte frische Kleidung, meinen Kulturbeutel und all die anderen Dinge für eine Nacht außer Haus und buchte ein Hotelzimmer in Victoria. In den frühen Morgenstunden konnte ich ja schwerlich wieder heimkommen, ohne Misstrauen zu erwecken. Zu Hause musste alles ganz normal erscheinen. Außerdem packte ich einen Einmaloverall aus Papier ein, mehrere Paar Latexhandschuhe, eine Duschhaube sowie Plastiktüten für meine Schuhe. Zu guter Letzt kam eine Spritze. Alles passte fein säuberlich in einen kleinen Rucksack.
Ich wich den Überwachungskameras aus, die diese Gegend verseuchen, und beobachtete aus dem Schatten der Eisenbahnbrücke den Eingang des Utopia, während der Lärm der vorüberdonnernden Züge durch die Bögen der Brücke hallte.
Ich hatte meine Zielperson bereits erspäht, als sie früher am Abend den Club betreten hatte. Es turnte mich so sehr an, dass mir beinahe der Sack geplatzt wäre. Der Typ war meiner besonderen Aufmerksamkeit wahrhaftig würdig. Dann stand ich mitten in der wogenden Menge aus schwitzenden, stinkenden Körpern, die sich an mir vorbeidrängten, wobei sie mich mit ihrer Unvollkommenheit besudelten und gleichzeitig meine bereits geschärften Sinne anstachelten. Am liebsten hätte ich jeden von ihnen an der Kehle gepackt, einen nach dem anderen, und Kehlkopf um Kehlkopf zerquetscht, sodass sich zu meinen Füßen die Leichen türmten. Ich kämpfte so verbissen gegen den immer stärkeren Drang, dass mich Panik überkam. Es war eine Panik wie nie zuvor, gepaart mit der Angst, mein wahres Ich könne sich enthüllen, sodass alle um mich herum sehen könnten, wie ich mich veränderte, vor ihren Augen, wie meine Haut in strahlendem Rot zu leuchten begann und grellweißes Licht aus meinen Augen und Ohren drang, während ich mich erbrach. Dicke Schweißtropfen rannen mir den Rücken hinunter und folgten den Bahnen, die meine verkrampften Rückenmuskeln vorgaben.
Irgendwie gelang es mir, die Beine zu bewegen und mich durch die Menge zankender Freier zu wühlen, bis ich die Theke erreichte und in den überdimensionalen Spiegel dahinter schaute. Erleichterung überkam mich. Mein Pulsschlag beruhigte sich, als ich im Spiegel sah, dass ich mich nicht verändert, mich nicht verraten hatte.
Doch nun war die Zeit des Beobachtens vorbei. Der Augenblick war gekommen, dass ich mir meine Belohnung holte, meine Erlösung, meine Erleichterung. Alles war da. Alles war so, wie es sein musste.
Also beobachtete ich weiter. Dann endlich war es so weit: Die Schwuchtel verließ das Utopia. Er verabschiedete sich lautstark und ging. Er schien allein zu sein. Lässig schlenderte er unter der Eisenbahnbrücke hindurch in Richtung Vauxhall Bridge.
So leise ich konnte, rannte ich durch einen anderen Torbogen auf die gegenüberliegende Seite, wo ich auf ihn wartete. Als er näher kam, trat ich vor. Er sah mich, schien aber nicht erschrocken zu sein. Stattdessen erwiderte er mein Lächeln.
»Entschuldige«, sagte ich.
Er trat in das Licht der Laterne, um mich besser sehen zu können. »Du bist es?«, sagte er, als er mich wiedererkannte. »Hör mal, wir müssen aufhören, uns so zu treffen.«
Ja, er kannte mich, sehr gut sogar. Ich hatte ihn schon einmal getroffen, vor etwas mehr als einer Woche, ebenfalls im Utopia, wie er sich im Club bei jedem prostituiert hatte, der seinen Preis zahlen konnte. Ich hatte mich ihm genähert, ohne ihn anzusprechen, und dafür gesorgt, dass er mein Lächeln bemerkte, damit er mich später wiedererkannte. Dann hatte ich draußen auf ihn gewartet. Ich hatte den Preis bezahlt, den er verlangt hatte, alles im Voraus, und wir waren zu ihm nach Hause gegangen. Der Sex war nicht wichtig gewesen, nicht einmal besonders lustvoll, obwohl ich mich in ihn ergossen hatte, und er sich in mich. Aber das war nicht der Grund, warum ich mit ihm zusammen war. Ich wollte ihn fühlen, ihn spüren, solange er noch lebte, um zu verstehen, dass er nicht bloß ein unbeseeltes Etwas war, sondern ein lebender, atmender, fühlender Mensch.
Natürlich praktizierten wir Safer Sex: Er, damit er sich nicht die Schwulenseuche holte, und ich, um mich vor Entdeckung zu schützen. Ich hatte mein Schamhaar abrasiert und trug eine Gummimaske, die meinen gesamten Kopf bedeckte, sodass keine Haare am Tatort zurückblieben, außerdem Gummihandschuhe, um keine Fingerabdrücke zu hinterlassen.
Die kleine Schwuchtel dachte doch tatsächlich, die Maske und die Handschuhe wären für mich Fetische oder so was, und das alles wäre mein Ding. Doch mein Ding, mein wahres Ding, kam erst noch, und ich hatte mehr als eine Woche Zeit gehabt, um mir alles auszumalen, was ich mit ihm anstellen würde.
Die Tage bis zu unserem zweiten Treffen waren schmerzhaft langsam vergangen, und meine Geduld und Selbstbeherrschung waren bis an die Grenze geprüft worden, doch die Erinnerung an meine Nacht mit ihm und der Gedanke an die bevorstehenden Ereignisse trugen mich durch die Zeit des Wartens.
Und nun stand er vor mir. Seine weißen, regelmäßigen Zähne schimmerten im Licht der Straßenlaterne. Sein ovaler Kopf war zu groß für den dürren Hals auf den schmalen, hängenden Schultern. Sein Haar war blond und schulterlang und zu einer Surferfrisur gestylt, seine Haut war blass, sein Körper kraftlos. Wahrscheinlich hatte er nie etwas Athletischeres getan, als vor einem anderen Kerl auf die Knie zu gehen. Sein T-Shirt war zu eng und zu kurz und gab den Blick frei auf einen flachen Bauch, der in Hipster-Jeans verschwand – dazu gedacht, die sexuellen Begierden potenzieller Kunden zu wecken.
Ich sagte ihm, ich müsse dringend wieder mit ihm zusammen sein. Ich sei im Club gewesen und hätte ihn beim Tanzen beobachtet, wäre aber zu nervös gewesen, ihn dort anzusprechen.
Wir redeten noch ein paar Minuten irgendwelchen Blödsinn, dann sagte er: »Du weißt, dass ich nicht billig bin. Wenn du mich willst, musst du zahlen.«
Er schlug vor, zu mir zu gehen. Ich sagte ihm, das sei nicht möglich; mein Freund sei bei mir zu Hause. Daraufhin verzog er das Gesicht und erwiderte, er nähme normalerweise niemanden mit zu sich, und dass es beim letzten Mal eine Ausnahme gewesen sei und so weiter, bis ich noch mal zwei Fünfziger aus der Geldbörse zog und sie ihm in die Hand schob. Da verstummte die kleine Schwuchtel und lächelte.
Wir gingen zu meinem Wagen mit den falschen Nummernschildern und fuhren zu seinem Drecksloch in Südost-London. Ich achtete darauf, nicht zu nah bei seiner Wohnung zu parken. Ich sagte ihm, ich wolle nicht das Risiko eingehen, von jemandem beobachtet zu werden, wie ich mit ihm in seiner Wohnung verschwand.
»Na gut«, sagte er. »Dann gehe ich vor und lass die Tür auf.«
Ich wartete ein paar Minuten. Dann, als die Straße leer war und ich niemanden an den Fenstern entdecken konnte, stieg ich aus und ging zu seinem Wohnhaus. Der Block war alt und kalt und stank nach Pisse, aber die Schwuchtel war ein braver Junge gewesen und hatte die Tür für mich offen gelassen. Leise trat ich ein und legte das Schloss um. Die Schwuchtel kam am Ende des Flurs um eine Ecke. Ich wusste, dass sich dort das Wohnzimmer befand.
»Hast du die Tür abgesperrt?«, fragte er.
»Ja«, antwortete ich. »Man kann heutzutage nicht vorsichtig genug sein.«
»Wieso? Hast du Angst, jemand könnte reinkommen und uns die Party verderben?«
»So was in der Art.«
Ich zitterte innerlich so sehr, dass ich es kaum noch aushalten konnte. Mein Magen war verkrampft, mein Atem ging schwer und mein Verstand schrie innerlich, doch nach außen trug ich weiter mein nervöses Lächeln zur Schau, als ich nun ins Wohnzimmer ging.
Die Schwuchtel kauerte vor dem CD-Player. Ich sagte ihm, ich würde mich ein wenig frisch machen, und ging ins Bad am anderen Ende des Flurs.
Ich nahm meinen Rucksack mit und streifte rasch, wenn auch ein bisschen unbeholfen, den Einwegoverall über, dann die Duschhaube und die Gummihandschuhe. Zum Schluss zog ich die Plastiktüten über die Schuhe. Dann blickte ich in den Spiegel und atmete tief durch die Nase ein.
Ich war bereit.
Ich kehrte ins Wohnzimmer zurück. Er hatte bereits das T-Shirt ausgezogen und fing an zu kichern, als er sich umdrehte und mich in meiner ganzen verkleideten Pracht sah. In gespielter Verlegenheit schlug er sich die Hand vor den Mund, eine gezierte Geste, die meine Wut hochkochen ließ.
»Auf diese Weise holen wir uns heute Abend also unseren Kick, wie?«, sagte er und sah mich an.
Es waren seine letzten Worte auf Erden, obwohl er ein klein wenig später vielleicht noch »Bitte« gesagt hat. Aber da hatte das viele Blut in seinem Mund die Worte bereits zu einem unkenntlichen Gurgeln verzerrt.
Mit einer geübten, schnellen Handbewegung packte ich eine kleine Metallstatue auf einem Beistelltisch und schlug ihm damit den Schädel ein. Der Schlag war so bemessen, dass der kleine Mistkerl nicht gleich an Ort und Stelle den Löffel abgab, sondern nur halb bewusstlos und gelähmt war. Er hatte gekniet, als mein Schlag ihn getroffen hatte, und das war gut so – eine geringere Höhe bedeutet weniger Lärm, wenn jemand zu Boden geht.
Ich stand über ihm wie der Sieger in einem Boxkampf und beobachtete ihn minutenlang. Ich sah, wie seine Brust sich mit jedem angestrengten, schmerzhaften Atemzug hob und senkte, während das Blut aus seinem Kopf spritzte und schließlich zu einem unablässigen Rinnsal verebbte, als sein Herz zu schwach wurde, um den Blutdruck aufrechtzuerhalten, den der Körper zum Überleben benötigte. Alle paar Sekunden zuckte sein rechtes Bein wie das eines sterbenden Vogels.
Zum Glück – sonst wäre ich nicht auf meine Kosten gekommen – war er wenigstens teilweise bei Bewusstsein, als ich ihn mit dem Eispickel bearbeitete, den ich in seinem Barschrank gefunden hatte. Außerdem brauchte ich ihn lebend für mein Werk. Ich musste sehen, wie er jedes Mal versuchte, mich zum Aufhören zu bewegen, wenn ich den Eispickel in seinen sterbenden Körper drückte. Es war kein wildes, blutrünstiges Stechen, sondern ein behutsames, wohlüberlegtes Platzieren des Pickels auf seiner Haut, bevor ich die Spitze mit einem köstlichen, poppenden Geräusch hineindrückte. Hin und wieder hob er die Hand und versuchte schwach, sich zu wehren, das arme Arschloch. Ich sagte ihm jedes Mal, er solle ein braver Junge sein, bevor ich meine Arbeit fortsetzte. Es war zu schade, dass die Hirnblutungen seine Augen rot verfärbt hatten; zu gerne hätte ich den Kontrast der blauen Iriden vor der blassen blutigen Haut gesehen. Ich nahm mir vor, beim nächsten Mal vorsichtiger zu sein.
Irgendwie stieß die Sache mich zum Schluss ab. Sein zerfleischter Körper widerte mich an. Der Anblick hätte beinahe einen Fluchtreflex in mir ausgelöst, aber ganz so weit war ich noch nicht. Ich konnte noch nicht aufhören. Nicht, bevor alles so nahe wie möglich an meiner Vision war, als ich erkannt hatte, dass ich ihn in seiner Wohnung besuchen musste. Also führte ich meine Arbeit fort, trotz des fauligen Gestanks, der aus den Löchern in seinem Bauch und seinen Eingeweiden drang, trotz des Urins und der Exkremente, die aus seinem perforierten Körper sickerten.
Er hielt noch vierzig Minuten durch. Immer, wenn er die Augen wieder öffnete, machte ich weiter. Und immer, wenn er sie wieder schloss, weil er den Schmerz nicht mehr ertrug oder nicht begriff, was mit ihm geschah, legte ich eine Pause ein. Ich musste ihm regelmäßig ins Gesicht schlagen, um ihn am Schreien zu hindern – nicht, dass er viel mehr als ein Wimmern hervorgebracht hätte. Aber ich wollte auf Nummer sicher gehen.
Als er starb, verriet mir ein leises Zischen der Luft, die über seine Lippen kam und aus den Löchern in seiner Brust entwich, dass mein Spaß zu Ende war. Ich streifte ein sauberes Paar Latexhandschuhe über und zog ihm die dreihundert Pfund Bargeld, die ich ihm zuvor gegeben hatte, wieder aus der Tasche. Ich wollte das Geld wirklich nicht zurücklassen. So leise ich konnte, zerbrach ich ein paar Möbelstücke und arrangierte den Raum ganz allgemein so, als hätte es einen wilden Streit gegeben. Dann benutzte ich die mitgebrachte Spritze, um Blut aus seinem Mund zu saugen und im Zimmer zu verspritzen: auf die Wände, über Möbel und Teppiche. Ich erzeugte diese Spritzmuster, um die Illusion einer verbissenen Auseinandersetzung zu verstärken. Zu guter Letzt trat ich in die eine Ecke des Zimmers, die ich sauber gelassen hatte. Dort zog ich meine Klamotten aus und stopfte sie in einen Plastikbeutel, den ich verknotete und in einen zweiten Plastikbeutel stopfte. Diese Prozedur wiederholte ich noch zweimal. Ich überzeugte mich, dass der letzte Beutel fest zugezogen war, bevor ich ihn in meinen Rucksack steckte. Dann streifte ich neue Plastiktüten über meine Schuhe – ich wollte nicht das Risiko eingehen, auf einen Blutfleck zu treten. Ein solches Indiz ist vor Gericht schwer zu erklären. Schließlich zog ich ein weiteres Paar sauberer Handschuhe an und verließ das Wohnzimmer. Ich würde am nächsten Abend alles in meinem Garten verbrennen – die sicherste Methode, belastende Indizien zu entsorgen. Sie an einem öffentlichen Ort abzufackeln, hätte die Gefahr der Entdeckung heraufbeschworen, und sie im Wald zu vergraben, hätte Tiere auf den Plan gerufen.
Als ich fertig war, ging ich leise zur Vordertür. Ich nahm die Plastiktüten von meinen Schuhen und lugte durch den Türspion nach draußen. Niemand auf dem Flur. Um ganz sicher zu sein, lauschte ich noch ein paar Sekunden, wobei ich darauf achtete, nicht mit dem Ohr an die Tür zu kommen und einen Abdruck zu hinterlassen. Ich habe gehört, dass man ihn zuordnen kann wie einen Fingerabdruck.
Als ich zufrieden war, schlüpfte ich aus der Wohnung. Ich ließ die Tür angelehnt, um nicht mehr Geräusche zu machen als unbedingt nötig. Die kleine Metallstatue und den Eispickel warf ich auf dem Weg nach Norden zu meinem Hotel in die Themse. Der Gedanke, dass die Polizei Stunden mit der Suche nach Waffen verbringen würde, die bei den Ermittlungen nicht weiterhalfen, erheiterte mich.
Ich erreichte mein Hotel und schlüpfte durch den Seiteneingang neben der Bar, der normalerweise als Notausgang diente und nicht durch eine Überwachungskamera gesichert war. Ich hatte früher am Tag eingecheckt und die Codekarte für mein Zimmer bereits erhalten. Ich duschte lang und so heiß, wie ich es ertragen konnte, wobei ich Haut, Nägel und Haare gründlich mit einer Bürste schrubbte, bis mein Körper sich anfühlte, als stünde er in Flammen. Nach dem Duschen spülte ich die Wanne aus, nahm ein langes heißes Bad und schrubbte mich noch einmal ab. Als ich abgetrocknet und zufrieden war, legte ich mich nackt aufs Bett und trank zwei Flaschen Wasser. Bald darauf übermannte mich der Schlaf, und ich träumte den gleichen wundervollen Traum immer wieder.
Dienstagmorgen
Es war drei Uhr früh, als Detective Inspector Sean Corrigan durch die trostlosen Straßen von New Cross in South East London fuhr. Er war im nahen Dulwich geboren und aufgewachsen, und die Straßen dieser Gegend waren ein gefährliches Pflaster, so lange er sich zurückerinnern konnte. Hier wurden Menschen schnell zu Opfern, ohne Ansehen ihres Alters, Geschlechts oder der Hautfarbe. Ein Leben war hier wenig wert.
Aber das waren die Sorgen anderer, nicht die von Corrigan. Die Sorgen von Leuten mit normalen Jobs in Büros oder Läden. Leute, die jeden Morgen mit verschlafenen Augen auf der Arbeit erschienen und jeden Abend nervös nach Hause eilten, um sich erst sicher zu fühlen, wenn sie sich hinter dicken Türen verrammelt hatten.
Corrigan fürchtete die Straße nicht. Er hatte überwunden, was sie ihm an Brutalität und Schrecken entgegensetzen konnte. Nun war er Chef eines Ermittlerteams, das dem Morddezernat South London angehörte. Die Killer jagten ihre Opfer, und Corrigan jagte die Killer.
Eine Stunde zuvor hatte er noch zu Hause im Bett gelegen und geschlafen, als der Anruf von Detective Sergeant Dave Donnelly gekommen war. Es hatte einen Mord gegeben. Das Opfer war übel zugerichtet. Ein junger Mann, in seiner eigenen Wohnung mit Schlägen und Stichen abgeschlachtet.
In der einen Minute hatte Corrigan noch neben seiner Frau gelegen, in der nächsten war er unterwegs zu der Adresse, wo ein junger Mensch aus dem Leben gerissen worden war. Er fuhr mit heruntergelassenen Scheiben und unverschlossenen Türen.
Corrigan fand das Haus ohne Probleme. Die Straßen um den Tatort waren gespenstisch still. Zufrieden stellte er fest, dass die uniformierten Kollegen ihre Arbeit ordentlich gemacht und einen großen Bereich um den Block herum abgesperrt hatten, in dem sich die Wohnung des Opfers befand. Corrigan hatte schon Tatorte gesehen, wo lediglich die Eingangstür abgesperrt worden war. Wie viele Indizien waren an Schuhsohlen haften geblieben und verschwunden? Er wollte lieber nicht darüber nachdenken.
Neben Donnellys zivilem Pkw standen zwei Streifenwagen. Wenn im Fernsehen Tatorte gezeigt wurden mit Dutzenden von Polizeifahrzeugen und flackernden Blaulichtern, während Hundertschaften von Detectives und Forensikern sich gegenseitig auf die Füße traten, wusste Corrigan nie, ob er lachen oder weinen sollte, denn die Wirklichkeit sah anders aus.
Und häufig war nicht einmal die Tat als solche das Schlimmste. Echte Mordschauplätze waren aus einem anderen Grund bestürzend: wegen ihrer Stille. Der gewaltsame Tod eines Menschen erzeugt eine mit Angst und Brutalität aufgeladene Atmosphäre. Corrigan spürte jedes Mal, wie der Horror ihn umschloss, wenn er einen Tatort in Augenschein nahm. Zwar war es sein Job, die Umstände eines gewaltsamen Todes zu untersuchen, und mit der Zeit hatte er sich ein dickes Fell zugelegt, doch immun war er nicht geworden. Er wusste, dass es auch diesmal nicht anders sein würde.
Er parkte vor dem Absperrband und stieg aus der stillen Abgeschiedenheit seines Wagens in die warme Einsamkeit der Nacht. Der Himmel war klar, doch von den Sternen war im hellen Licht der Straßenlaternen nicht viel zu sehen. Corrigan hielt dem herbeieilenden Beamten seinen Ausweis hin und nannte seinen Namen. »Detective Inspector Sean Corrigan, Morddezernat South London. Wo finde ich die Wohnung?«
Der Uniformierte war noch jung und offensichtlich Neuling. Corrigan schien ihn nervös zu machen. »Nummer sechzehn Tabard House, Chef. Im zweiten Stock, die Treppe hoch und rechts. Oder Sie nehmen den Aufzug.«
»Danke.«
Corrigan öffnete den Kofferraum seines Wagens und warf einen Blick auf den Inhalt. Zwei große Plastikkisten enthielten alles, was er für eine erste Untersuchung des Tatorts benötigte. Papieroveralls und Slipper. Verschieden große Asservatenbeutel. Papiertüten für Kleidung. Ein halbes Dutzend Schachteln mit Latexhandschuhen. Rollen mit Klebeetiketten. Ein Vorschlaghammer, eine Brechstange und andere Werkzeuge. Der Kofferraum sah aus wie der jedes anderen Ermittlungsbeamten überall auf der Welt.
Corrigan zog einen Papieroverall an und ging zum Treppenhaus. Der Block sah aus wie viele in dieser Gegend von London. Bedrückendes, braun-graues Mauerwerk, hastig hochgezogen nach dem Zweiten Weltkrieg, um den ausgebombten Bewohnern alter Slumgegenden Unterkunft zu bieten. Damals waren die Blocks eine Offenbarung gewesen – Toiletten in den Wohnungen, fließendes Wasser, Heizung. Heute wohnten nur noch Menschen dort, die in der Armutsfalle festsaßen. Die Gebäude sahen aus wie Gefängnisse, und in gewisser Weise waren sie das auch.
Im Treppenhaus stank es nach Urin. Der Geruch von Menschen, die auf engstem Raum zusammengepfercht lebten, war unverwechselbar. Es war Sommer, und die offenen Fenster trugen nicht dazu bei, den Gestank in den Wohnungen zu halten. Corrigan schluckte. Der Anblick, der Geruch, die ganze Atmosphäre des Blocks erinnerten ihn lebhaft an seine eigene Kindheit in einer Drei-Zimmer-Maisonettewohnung mit seiner Mutter, zwei Brüdern, zwei Schwestern und einem Stiefvater, der ihn beiseitenahm und nach oben in eins der Schlafzimmer führte, wo er Dinge mit ihm anstellte, die man einem Kind nicht antun darf. Seine Mutter war zu verängstigt, um einzugreifen. Möglicherweise dachte sie an die Messer in der Küchenschublade, aber sie tat nichts, weil sie regelmäßig der Mut verließ.
Seiner bedrückenden Kindheit verdankte Corrigan eine seltene und dunkle Gabe – die Fähigkeit, sich in die Monster zu versetzen, die er jagte. Allzu oft werden Missbrauchte später selbst zu Missbrauchern. Böses gebiert Böses, ein schrecklicher Kreislauf der Gewalt, unmöglich zu durchbrechen. Auch bei Corrigan waren die Dämonen aus der Kindheit viel zu tief in seinem Innern verwurzelt, als dass er sich jemals von ihnen befreien könnte. Doch er war anders als andere. Er war fähig, seine Dämonen und seine Wut zu kontrollieren. Seine zerstörte Kindheit ermöglichte ihm Einsichten in die Verbrechen, in denen er ermittelte, von denen andere Cops nur träumen konnten. Corrigan verstand die Mörder, Vergewaltiger und Brandstifter. Er wusste, warum sie tun mussten, was sie taten. Er verstand ihre Motivation. Er konnte sehen, was auch sie gesehen hatten, riechen, was sie gerochen hatten, fühlen, was sie gefühlt hatten … ihre Macht, ihre Lust, ihren Abscheu, ihre Schuld, ihr Bedauern, ihre Angst. Er war imstande, Schlussfolgerungen zu ziehen, die andere kaum begreifen konnten, und dank seiner einzigartigen Vorstellungskraft vermochte er Lücken zu füllen. Vor seinem geistigen Auge wurden Tatorte lebendig, und das Geschehen spielte sich in seinem Kopf ab wie ein Film. Er war kein Hellseher und kein Medium, er war nur ein Cop mit einer kaputten Vergangenheit und einer gefährlichen Zukunft, dessen Geschick, die Bestien zu verstehen, die er jagte, seiner eigenen gequälten Vergangenheit entsprang. Und wo konnte sich ein gefallener Jünger des Bösen besser verkriechen als inmitten von Cops? Wo konnte er seine einzigartigen Fähigkeiten besser einsetzen als bei der Polizei?
Corrigan schluckte die Galle herunter, die ihm in die Kehle gestiegen war, und näherte sich dem Ort des Verbrechens, dem Schauplatz des Mordes. An der Tür blieb er kurz stehen und begrüßte einen weiteren Uniformierten, der dort Posten bezogen hatte. Der Constable hob das Absperrband und schaute Corrigan hinterher, als der sich ins Innere der Wohnung duckte.
Corrigan blickte sich um. Nach der Länge des Flurs zu urteilen, war die Wohnung größer, als es von außen den Anschein gehabt hatte.
Detective Sergeant Dave Donnelly erwartete ihn bereits. Seine große Gestalt füllte den Flur aus, und sein mächtiger Schnurrbart verbarg die Bewegungen seiner Lippen, wenn er redete. Donnelly, seit mehr als zwanzig Jahren bei der Metropolitan Police und ein echter Veteran, war Corrigans rechte Hand, im altmodischen Sinn des Wortes. Er war sein Anker, seine Verbindung zum vorgeschriebenen Ablauf einer Ermittlung und die Teilzeitkrücke, auf die Corrigan sich stützen und auf die er sich verlassen konnte. Sicher, sie hatten ihre Auseinandersetzungen und Meinungsverschiedenheiten gehabt, aber sie verstanden sich und vertrauten einander.
»Morgen, Chef. Halten Sie sich im Flur rechts. Ich hab mich ebenfalls auf der rechten Seite gehalten, als ich rein und raus bin«, sagte Donnelly in seinem eigenartigen Akzent, einer Mischung aus Glasgower und Londoner Dialekt. Sein Schnurrbart zuckte, als er sprach.
»Was haben wir bisher?«, kam Corrigan sofort zur Sache.
»Keine Hinweise auf ein gewaltsames Eindringen. Die Tür ist massiv, also hat das Opfer seinen Mörder wahrscheinlich in die Wohnung gelassen. Sämtliche Verletzungen des Opfers wurden ihm im Wohnzimmer zugefügt … Eine verdammte Sauerei da drin. Das Wohnzimmer ist das letzte Zimmer auf der rechten Seite den Flur runter. Außerdem gibt es zwei weitere Zimmer, Küche, Bad und Toilette. Keine Zeichen von Unordnung in einem der anderen Räume. Nach allem, was ich gesehen habe, hat das Opfer die Wohnung ziemlich sauber und ordentlich gehalten. Geschmackvolles Mobiliar. Teure Unterhaltungselektronik.«
»Persönliche Gegenstände?«
»Eine ganze Reihe von Bildern, die vermutlich das Opfer zeigen.«
»Vermutlich?«
»Die Verletzungen im Gesicht machen die Identifizierung schwierig. Aber es gibt Fotos, die ihn in inniger Umarmung mit anderen Männern zeigen.«
»Er war schwul?«, fragte Corrigan.
»Sieht so aus. Es ist noch zu früh, um das mit Bestimmtheit sagen zu können. Mehrere Bilder zeigen den Knaben in irgendwelchen exotischen Ecken der Welt. Muss einiges gekostet haben. Wir haben es jedenfalls nicht mit einem Loser zu tun, das steht fest. Er hatte einen ordentlichen Job, oder er war ein erfolgreicher Ganove, auch wenn ich nicht das Gefühl habe, in der Wohnung eines Gangsters zu stehen. Außerdem habe ich Briefe gefunden. Sind alle an einen gewissen Daniel Graydon adressiert.«
»Daniel Graydon«, murmelte Corrigan. »Was ist hier passiert, Daniel? Und vor allem, warum?«
»Wollen wir?« Donnelly zeigte mit ausgestreckter Hand den Flur hinunter.
Corrigan nickte.
Sie gingen von einem Zimmer zum nächsten und bewegten sich vorsichtig, darauf bedacht, keinen der unsichtbaren Abdrücke zu zerstören, die vielleicht unabsichtlich auf den Teppichen zurückgelassen worden waren, und keinen der winzigen, aber möglicherweise entscheidenden Beweise zu vernichten, zum Beispiel eine Haarsträhne oder einen Blutstropfen. Hin und wieder schoss Corrigan ein Foto mit seiner Digitalkamera. Die Bilder waren nur zu seinem persönlichen Gebrauch, um sich später Einzelheiten ins Gedächtnis rufen zu können oder sich an den Tatort zurückzuversetzen, wann immer er das Bedürfnis hatte, die Umgebung heraufzubeschwören, den Geruch des Blutes wahrzunehmen, den widerlich süßen Geschmack des Todes auf der Zunge zu haben und die Anwesenheit des Mörders zu spüren.
Corrigan wäre gerne allein in der Wohnung gewesen, ohne Ablenkung, ohne mit jemandem reden und erklären zu müssen, was er sah und fühlte. So war es immer schon gewesen, seit er Cop war. Er hatte von Anfang an die Fähigkeit besessen, sich in die Person des Täters zu versetzen, sei es ein gewöhnlicher Einbrecher oder ein Mörder, doch nur die allerschlimmsten Verbrechen schienen seine Instinkte zu wecken. Bei einem gewöhnlichen Mord oder Totschlag sah er an einem Tatort zwar mehr als die meisten anderen Detectives, empfand aber das Gleiche wie sie. Aber dieser Tatort hier war anders. Corrigan fühlte sich unbehaglich in dieser Wohnung. Wie ein Eindringling. Als müsse er sich ständig für seine Anwesenheit entschuldigen.
Er schüttelte das Gefühl ab und versuchte, die Umgebung in sich aufzunehmen. Standen die Möbel ordentlich in den Zimmern? Waren Gardinen und Teppiche sauber? War das Geschirr abgewaschen und weggestellt worden? Stand irgendetwas, und mochte es noch so unbedeutend sein, nicht da, wohin es gehörte?
Wenn das Opfer seine Kleidung ordentlich gefaltet hatte, genügte schon ein zerknittertes Hemd, um Corrigans Neugier zu wecken. War die Wohnung eines Opfers unaufgeräumt, reichte schon ein sauber gespültes Glas neben einem Spülbecken voll schmutzigen Geschirrs, um seine Aufmerksamkeit zu erregen.
Und tatsächlich hatte er bereits etwas bemerkt. Es fehlte etwas.
Corrigan und Donnelly erreichten das Wohnzimmer. Die Tür war angelehnt, genau so, wie der junge Constable sie vorgefunden hatte.
Donnelly betrat den Raum. Corrigan folgte ihm.
Es roch intensiv nach Blut. Metallisch, wie heißes Kupfer. Wenigstens war das Opfer erst vor kurzer Zeit getötet worden. Es war Sommer. Hätte der Tote hier schon längere Zeit gelegen, wäre der Gestank unerträglich gewesen. Fliegenschwärme hätten das Zimmer bevölkert, und auf der Leiche hätte es von Maden gewimmelt. Corrigan spürte einen Anflug von Schuldgefühl, weil er froh war, dass der Mann erst vor Kurzem getötet worden war.
Beide Männer schwiegen für einen Moment und versuchten, den Kopf freizubekommen, um kühl und logisch denken zu können. Der Anblick einer solch viehischen Brutalität wurde nie einfacher, wurde niemals zu etwas Alltäglichem.
Schließlich kauerte Corrigan sich neben dem Toten nieder, wobei er vorsichtig der Lache aus dickem dunklem Blut auswich, die sich um den Kopf der Leiche gebildet hatte. Er hatte schon viele Mordopfer gesehen. Einige hatten kaum sichtbare Wunden gehabt, andere waren grauenhaft zugerichtet worden, so wie dieser Tote. Corrigan konnte sich nicht erinnern, jemals etwas Abscheulicheres gesehen zu haben.
»Du lieber Himmel, was ist hier passiert?«, flüsterte er.
Donnelly ließ den Blick durch das Zimmer schweifen. Der Tisch war umgestürzt, zwei Stühle zerbrochen. Der Fernseher war von seiner Konsole gestoßen worden. Bilder lagen zerschmettert auf dem Boden, der übersät war von CDs. Der CD-Player war eingeschaltet, grüne Lämpchen blinkten.
»Muss ein mörderischer Kampf gewesen sein«, murmelte Donnelly.
Corrigan erhob sich. Es gelang ihm nicht, den Blick von dem Toten abzuwenden. Ein männlicher Weißer, um die zwanzig, unbekleidet von der Taille aufwärts. Blutgetränkte Hipster-Jeans. Der rechte Fuß steckte noch in einer Socke, der linke war nackt. Die fehlende Socke war nirgends zu sehen. Die Leiche lag auf dem Rücken, das linke Bein unter das rechte geschlagen, die Arme in einer Kruzifix-Haltung ausgestreckt. Nirgends waren Fesseln zu sehen. Die linke Hälfte des Gesichts und des Schädels war zerschmettert. Durch das helle Haar hindurch bemerkte Corrigan zwei schwere Kopfwunden, die auf Schädelfrakturen hindeuteten. Beide Augen waren nahezu vollständig zugeschwollen, die Nase zerschmettert und blutverkrustet. Das rechte Ohr fehlte. Die Lippen waren zerfleischt, der Unterkiefer ausgerenkt. Corrigan fragte sich, wie viele Zähne dem Toten ausgeschlagen worden waren. Er hoffte inständig, dass der Mann bereits am ersten Schlag gegen den Kopf gestorben war, bezweifelte es aber.
Die Lache, die sich um den Kopf herum gebildet hatte, war die einzige Stelle im Zimmer, an der sich das Blut gesammelt hatte, sah man von der Kleidung des Toten ab. Ansonsten fanden sich überall nur Spritzer – an den Wänden, auf den Möbeln, auf den Teppichen. Corrigan stellte sich vor, wie der Kopf des Opfers umhergeschleudert worden war von der Wildheit der Schläge, und wie das Blut aus den Wunden in hohem Bogen durch die Luft spritzte. Eine gründliche Untersuchung der Spritzspuren würde zeigen, wie der Kampf sich entwickelt hatte.
Der Körper des Toten war genauso schlimm zugerichtet wie Kopf und Gesicht. Corrigan sah ungefähr drei Dutzend Stichwunden. Arme und Beine, Brust, Bauch und Unterleib des Opfers waren schrecklich entstellt. Corrigan blickte sich suchend um, konnte aber keine Tatwaffe entdecken. Er konzentrierte sich wieder auf den geschundenen Leichnam, versuchte den Kopf freizubekommen und zu sehen, was dem Mann widerfahren war, der jetzt tot in seiner Wohnung lag.
Für einen flüchtigen Augenblick sah Corrigan eine Gestalt vor dem geistigen Auge, die sich über den Sterbenden kauerte. Sie hielt etwas in der Hand, das eher nach einem Schraubenzieher aussah als nach einem Messer, aber das Bild verschwand so schnell, wie es gekommen war. Endlich gelang es Corrigan, den Blick abzuwenden.
»Wer hat den Toten gefunden?«, fragte er.
»Wir«, antwortete Donnelly.
»Wie kam das?«
»Eine Nachbarin hat uns gerufen.«
»Ist sie verdächtig?«
»Nein, nein«, tat Donnelly diesen Gedanken rasch ab. »Sie ist ein junges Ding, wohnt ein paar Türen weiter. Sie war auf dem Heimweg mit ihrem Kebab und Pommes nach einer durchtanzten und durchzechten Nacht.«
»Hat sie diese Wohnung betreten?«
»Nein. Sie gehört nicht zur mutigen Sorte. Sie hat gesehen, dass die Tür offen stand, und die Polizei alarmiert. Wäre sie nüchtern gewesen, hätte sie sich wahrscheinlich gar nicht darum gekümmert.«
Corrigan nickte. Der Alkohol machte manche Menschen zu pflichtbewussten Bürgern, während er andere in gewalttätige Psychopathen verwandelte.
»Die Kollegen haben daraufhin einen Streifenwagen vorbeigeschickt und das Opfer gefunden«, fügte Donnelly hinzu.
»Sind sie in der Wohnung herumgetrampelt?«
»Nein. Sie haben nichts angerührt.«
»Gut«, sagte Corrigan abwesend. Sein Verstand war bereits einen Schritt weiter und beschäftigte sich mit Erklärungsversuchen. »Wer immer das hier getan hat, war entweder sehr wütend oder sehr krank.«
»Kein Zweifel«, pflichtete Donnelly ihm bei.
»Nach dem ersten Augenschein würde ich sagen, wir haben es hier mit einem häuslichen Mord zu tun.«
»Ein Beziehungsstreit?«
Corrigan nickte. »Wer immer für das hier verantwortlich ist, hat vermutlich selbst etwas abgekriegt. Ein Mann, der um sein Leben kämpft, kann eine Menge austeilen.«
»Ich lasse die Krankenhäuser in der Umgebung überprüfen«, erbot sich Donnelly. »Vielleicht wurde jemand aufgenommen, der aussieht, als wäre er durch die Mangel gedreht worden.«
»In Ordnung. Erkundigen Sie sich auch bei den anderen Polizeibezirken. Und wecken Sie den Rest des Teams. Wir treffen uns um Punkt acht zum Briefing. Vielleicht finden wir einen Pathologen, der den Leichnam untersucht, solange er noch an Ort und Stelle liegt.«
»Das wird nicht einfach, Chef.«
»Ich weiß. Versuchen Sie’s trotzdem. Vielleicht hat Dr. Canning Zeit. Manchmal kommt er raus, wenn es sich lohnt – und er ist der Beste.«
»Ich tue, was ich kann, aber ich verspreche nichts.«
Corrigan begutachtete die Szene. Die meisten Mordfälle ließen sich relativ schnell lösen. Der Hauptverdächtige war in der Regel der Schuldige. Die Natur des Verbrechens, insbesondere die damit verbundene Gewalt, sorgte in den meisten Fällen für forensische Indizien im Überfluss. Genug, um eine Verurteilung zu erreichen. In Fällen wie diesem konnten die Detectives oft nicht mehr tun als warten, dass das Labor die Beweisstücke vom Tatort analysiert und seinen Bericht geschrieben hatte.
Diesmal jedoch machte Corrigan etwas zu schaffen, als er sich umsah.
Donnelly meldete sich erneut. »Meinen Sie, es ist ein unkomplizierter Fall?«
»Ich bin ziemlich sicher, aber …« Er verstummte, ließ die Antwort in der Luft hängen.
»Aber?«
»Mit ziemlicher Sicherheit kannte das Opfer seinen Mörder. Wie wir bereits festgestellt haben, wurde die Tür nicht aufgebrochen, also hat das Opfer den Täter hereingelassen. Einen Freund, nehme ich an. Das alles riecht nach einem häuslichen Streit. Ein paar Drinks zu viel. Eine hitzige Diskussion. Es kommt zu einem Kampf, der immer gewalttätiger wird. Die Gegner schlagen sich gegenseitig zu Brei, und einer stirbt. Ein Verbrechen aus Leidenschaft, impulsiv und ungeplant, sodass der Täter keine Zeit hat, etwas vorzubereiten. Er hat sich für einen Moment vergessen und einen Freund getötet. Einen Liebhaber. Jetzt will er nichts wie weg. Raus aus der Wohnung. Irgendwohin, wo er in Ruhe und Sicherheit über seine nächsten Schritte nachdenken kann. Doch ein paar Dinge fehlen meiner Meinung nach.«
»Zum Beispiel?«
»Sie hatten wahrscheinlich etwas getrunken, aber ich kann nirgendwo Gläser sehen. Können Sie sich an eine häusliche Auseinandersetzung erinnern, bei der kein Alkohol im Spiel war?«
»Vielleicht hat der Täter schnell noch ein bisschen Ordnung geschaffen«, meinte Donnelly. »Die Gläser abgewaschen und weggeräumt.«
»Warum sollte er sich die Mühe machen und ein Glas abwaschen, wenn seine Fingerabdrücke nach einem derart heftigen Kampf überall in der Wohnung zu finden sind?«
»Panik?«, schlug Donnelly vor. »Er hat nicht mehr logisch gedacht. Er hat sein Glas abgewaschen, hat vielleicht sogar angefangen, andere Dinge sauber zu machen, bis ihm klar wurde, dass er seine Zeit verschwendet.«
»Möglich.«
Corrigan dachte angestrengt nach. Das Fehlen von Alkohol war ein scheinbar unbedeutendes Detail. Jeder erfahrene Detective hätte an einem Tatort wie diesem erwartet, Hinweise auf Alkoholmissbrauch zu finden. Eine leere Flasche Cider. Eine halb leere Flasche Scotch. Eine Flasche Champagner. Irgendetwas, das die Wut der beiden befeuern konnte. Doch das Bild, das sich allmählich in Corrigans Kopf herausschälte und das sich in gleichem Maße aus vorhandenen Indizien zusammensetzte wie aus fehlenden, erfüllte ihn mit Zweifeln. Es war das Bild einer Gestalt, die besonnen über ihrem Opfer kauerte. Keine Wut, keine Raserei, kein Hass, nur etwas abgrundtief Böses in menschlicher Gestalt.
»Da wäre noch etwas«, sagte er. »Der Mord wurde offensichtlich im Wohnzimmer verübt. Wir wissen, dass der Täter durch die Wohnungstür gekommen sein muss, weil es keinen anderen Weg gibt und alle Fenster verschlossen sind. Doch der Flur ist sauber. Keinerlei Spuren. Der Teppichboden ist hellbeige, trotzdem gibt es keinen erkennbaren blutigen Abdruck, weder von Schuhen noch von nackten Füßen. Der Türgriff ist ebenfalls sauber, kein Blut, nichts. Der Täter ersticht in einem Anfall von Raserei das Opfer und nimmt sich anschließend die Zeit, sich die Hände zu waschen, bevor er eine Tür öffnet? Nachdem er einen Mann ermordet hat, der möglicherweise sein Geliebter war, soll er plötzlich besonnen genug sein, um sich die Schuhe auszuziehen und auf Zehenspitzen aus der Wohnung zu schleichen? Das macht doch keinen Sinn.«
»Und selbst wenn es so wäre – wo hat er sich sauber gemacht?«, bemerkte Donnelly. »Er hatte zwei Möglichkeiten – das Waschbecken im Bad oder das Spülbecken in der Küche.«
»Wir haben beide Zimmer gesehen«, sagte Corrigan. »Sauber. Keine Spuren von kürzlicher Benutzung. Nicht einmal ein Wasserspritzer.«
»Stimmt«, sagte Donnelly. »Aber das hat wahrscheinlich nichts zu bedeuten. Wir stützen uns zu sehr auf Vermutungen. Vielleicht beweist die Forensik, dass wir uns geirrt haben. Vielleicht finden sie Blutspuren im Flur, die wir nicht sehen können.«
Corrigan war nicht davon überzeugt, doch ehe er antworten konnte, rief der uniformierte Beamte vorn an der Tür nach ihnen. »Entschuldigung, Sir, aber die Spurensicherung ist da.«
»Wir kommen«, rief Corrigan zurück.
Sie verließen die Wohnung auf dem gleichen Weg, auf dem sie hereingekommen waren. Am Rand des abgesperrten Bereichs wartete Sergeant Roddis mit seinem Team speziell ausgebildeter Detectives und Techniker.
Roddis sah Corrigan und Donnelly kommen. Er musterte ihre Papieroveralls. »Ich nehme an, Sie beide sind munter auf meinem Tatort herumgetrampelt?« Er war zu Recht verärgert. Nach den Vorschriften hatte niemand etwas im Haus zu suchen, bevor die Spurensicherung ihre Arbeit abgeschlossen hatte. »Das nächste Mal werde ich Ihre Kleidung als Beweismittel sicherstellen.«
Corrigan lenkte ein, denn er brauchte Roddis auf seiner Seite.
»Tut mir leid, Andy«, sagte er. »Wir haben nichts angefasst. Ehrlich.«
»Sie haben einen Toten in Wohnung Nummer sechzehn?«, fragte Roddis. Er klang immer noch aufgebracht.
»Ich fürchte ja«, antwortete Donnelly.
Roddis blickte Corrigan an. »Brauchen Sie irgendwas Besonderes?«
»Nein. Wir gehen von einem häuslichen Streit aus, also reicht die normale Vorgehensweise. Sie können Ihre teuren Spielsachen im Auto lassen.«
»Wie Sie meinen«, sagte Roddis. »Also Blut, Fasern, Fingerabdrücke, Haare und Sperma?«
Donnelly und Corrigan waren bereits weitergegangen. »Mein Team trifft sich um acht Uhr morgen früh zu einer ersten Besprechung«, rief Corrigan über die Schulter. »Sie könnten versuchen, mir bis dahin einen vorläufigen Bericht zukommen zu lassen.«
»Ich könnte Sie anrufen. Würde Ihnen das reichen?«
»Ja, sicher«, sagte Corrigan. Im Augenblick musste er nehmen, was er kriegen konnte.
*
Es war kurz vor acht Uhr morgens. Corrigan saß allein in seinem trostlosen, funktionalen Büro in der Peckham Police Station, eingerichtet mit dem gleichen billigen Mobiliar, das sämtliche Polizeigebäude von ganz London schmückte. Der Raum war eben groß genug, um zwei ramponierte, anderthalb Meter lange Schreibtische aufzunehmen, zusammen mit unbequemen Stühlen für die häufigen Besucher. Auf jedem Tisch stand ein uralter Computer mit Röhrenmonitor, und das harsche Neonlicht an der Decke tauchte alles in grelle Helligkeit. Wie sehr er die schicken TV-Detektive beneidete mit ihren lederbezogenen Drehsesseln, ihren Batterien ultramoderner, alles sehender, alles hörender Computer und den Jasper-Conran-Leselampen tief über den glänzenden Glastischen. Doch die Wirklichkeit war nüchtern und banal.
Corrigan dachte über das Opfer nach. Was für ein Mensch war der Mann gewesen? War er geliebt worden? Würde man ihn vermissen?
Sie würden es früh genug herausfinden.
Er zuckte zusammen, als das Telefon summte.
»Inspector Corrigan«, meldete er sich. Er verschwendete selten Worte am Telefon. Jahre des Redens in Funkgeräte hatten seine Sprechweise geprägt.
»Hier Roddis. Sie wollten ein Update vor Ihrer Besprechung?« Sergeant Andy Roddis erkannte keinen Dienstgrad über seinem eigenen an. Sein Rang war hoch genug, dass seine Vorgesetzten ihn nicht zurechtwiesen. Er entschied, welche Ressourcen jedem Fall zugewiesen wurden, und er war derjenige, der die richtigen Leute in den richtigen Labors kannte. Jeder respektierte Roddis’ Monopol, ungeachtet seines Dienstgrads.
»Danke für Ihren Anruf, Sergeant. Was haben Sie für mich?«
»Nun, es ist noch früh …«
Corrigan wusste, dass das Laborteam bisher kaum mehr getan haben konnte, als Vorbereitungen zu treffen. »Ich weiß. Trotzdem, ich bin für alles dankbar, was Sie haben.«
»Also schön. Wir haben uns einen ersten flüchtigen Überblick verschafft. Ein- und Ausgang der Wohnung sind erstaunlich sauber, wenn man bedenkt, dass es sich um einen blutigen Mord handelt. Auch auf dem Flur gibt es kaum Spuren. Vielleicht finden wir etwas, wenn wir bessere Beleuchtung und UV-Lampen aufgestellt haben. Ansonsten können wir bis jetzt nichts Genaues sagen. Die Blutspritzer an den Wänden und auf den Möbeln sind allerdings ein bisschen rätselhaft.«
»Rätselhaft?«, fragte Corrigan. »Inwiefern?«
»Nachdem ich die Wunden des Opfers gesehen habe, bin ich ziemlich sicher, dass der Schlag an den Kopf ihn getötet hat, wenn auch vielleicht nicht sofort. Und wir haben ein Muster von Blutspritzern an einer Wand, das in Gestalt und Größe ziemlich genau dem Muster entspricht, wie es bei einem Schlag mit einem schweren Gegenstand gegen den Kopf des Opfers zu erwarten ist. Aber wenn das Opfer auf dem Rücken gelegen hat, als ihm die anderen Verletzungen zugefügt wurden, würde ich lediglich kleine, lokal begrenzte Blutspritzer erwarten. Allerdings gibt es zahlreiche weitere Muster auf dem Teppich, auf dem zerbrochenen Mobiliar und an den Wänden. Nichts davon passt zu den Wunden des Opfers.«
»Dann muss er andere Wunden haben, die wir bis jetzt noch nicht gesehen haben«, meinte Corrigan. »Oder das Blut stammt vom Angreifer.«
»Wäre möglich.« Roddis klang wenig überzeugt. »Keine offensichtliche Mordwaffe bisher«, berichtete er weiter. »Sie wird wahrscheinlich auftauchen, wenn wir gründlich zu suchen anfangen.«
»Hoffen wir’s. Sonst noch was?«, fragte Corrigan mehr aus Hoffnung als aus ernsthafter Erwartung.
»Jede Menge Schriftstücke. Adressbücher, Tagebücher, Kontoauszüge und so weiter. Es dürfte nicht sehr schwierig sein, die Identität des Toten zu verifizieren. Das ist im Moment alles.«
Corrigan mochte Roddis nicht besonders, schätzte aber seine Professionalität. »Gut. Das hilft mir bei der Besprechung weiter. Hält das Team wach. Danke.« Er legte auf, lehnte sich im Sessel zurück und starrte auf die lauwarme Tasse Kaffee auf seinem Schreibtisch. Was konnte es bedeuten, dass die Spritzmuster nicht mit den Wunden am Körper des Opfers übereinstimmten? War der Mörder selbst verwundet worden? Stammten die Blutspritzer von ihm? Corrigan bezweifelte es – insbesondere, wenn Roddis’ Vermutung zutraf, dass das Opfer bereits mit dem ersten Schlag gegen den Kopf getötet oder zumindest ausgeschaltet worden war. Denn wenn das stimmte, was sollten dann die anderen Verletzungen?
Aber die Antworten würden schon noch kommen, beruhigte er sich. Er musste lediglich auf den Bericht der Spurensicherung und das Ergebnis der Obduktion warten.
Die Antworten würden kommen. Sie kamen immer.
Corrigan erhob sich und blickte aus dem Fenster auf den Parkplatz. Er sah, wie Detective Sergeant Sally Jones hastig rauchte, während sie mit zwei jungen Frauen vom Schreibbüro herumalberte. Wie immer hatte sie ihr Haar zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden.
Corrigan beobachtete Sally bewundernd. Sie war ein eins sechzig kleines Energiebündel mit schlanken Beinen, die in merkwürdigem Kontrast zu ihrem kräftigen, ein wenig maskulinen Oberkörper standen. Corrigan war fasziniert von Sally Jones’ Fähigkeit, auf Menschen zuzugehen. Sie konnte mit jedem reden, konnte jedem das Gefühl vermitteln, seine beste Freundin zu sein. Manchmal benutzte Corrigan sie und ließ sie Aufgaben erledigen, mit denen er selbst nicht gut fertig wurde. Mit trauernden Eltern reden, zum Beispiel. Oder einen Ehemann davon in Kenntnis setzen, dass seine Frau im eigenen Heim vergewaltigt und ermordet worden war.
Corrigan hatte erlebt, wie Sally Jones den Leuten die schrecklichsten Dinge erzählte – und eine halbe Stunde später lachte und scherzte sie wieder, rauchte eine Zigarette und hielt ein Schwätzchen mit jedem, der sie ansprach. Sie war hart. Viel härter, als er jemals sein würde.
Nicht zum ersten Mal fragte sich Corrigan, warum sie noch immer solo war. Er konnte sich jedenfalls nicht vorstellen, diesen Job zu machen und nach Feierabend in eine leere Wohnung zurückzukehren. Er hatte oft versucht, Traurigkeit bei ihr zu entdecken, Einsamkeit oder Sorge. Aber das schien sie nicht zu kennen.
Er warf einen Blick auf die Uhr. Wenn Sally Jones weiter plauderte, kam sie zu spät zur Besprechung. Corrigan erwog, durchs Fenster nach ihr zu rufen, entschied sich aber dagegen. Es würde interessanter werden, wenn er den Dingen ihren Lauf ließ.
Er ging das kurze Stück durch den hell erleuchteten Flur mit den Türen zu beiden Seiten, den alten und neuen Fahndungsplakaten und polizeilichen Aufrufen an den Wänden, die von den anderen Benutzern des Flurs wie immer ignoriert wurden, weil sie viel zu sehr auf ihren Auftrag konzentriert waren, als dass sie auf ihre Umgebung und die Hilfsappelle an den Wänden geachtet hätten. Corrigan erreichte den Konferenzraum und trat ein. Die Mitglieder seines Teams unterhielten sich weiter, ohne Notiz von ihm zu nehmen. Zwei von ihnen, einschließlich Donnelly, begrüßten ihn mit Lippenbewegungen. Er nickte ihnen zu.
Das Team war relativ klein. Zwei Detective Sergeants – Jones und Donnelly – sowie zehn Detective Constables. Corrigan saß auf seinem gewohnten Platz am Kopfende des langen Tisches, des billigsten Modells, das es zu kaufen gab. Er warf sein Handy und seinen Notizblock vor sich auf den Tisch und ließ den Blick in die Runde schweifen, um sich zu überzeugen, ob alle da waren. Er nickte Donnelly zu, der den Hinweis sogleich begriff. Sie arbeiteten lange genug zusammen, um sich auch ohne Worte verständigen zu können.
»Okay, Leute, alle herhören!«, meldete Donnelly sich zu Wort. »Der Chef möchte etwas sagen, und wir haben eine Menge zu besprechen, also parken wir unsere Hintern auf den Stühlen und konzentrieren uns auf das, was man uns erzählt.«
Das Gemurmel verstummte, als die Mitglieder des Teams sich nach und nach setzten und Corrigan erwartungsvoll anschauten.
Detective Constable Zukov meldete sich zu Wort. »Soll ich Jones holen? Ich glaube, sie raucht unten im Hof.«
»Nicht nötig«, antwortete Corrigan. »Sie kommt früh genug.«
Gespannte Stille folgte. Corrigan musterte Donnelly mit schiefem Grinsen. Beide drehten sich genau in dem Augenblick zur Tür, als Sally Jones hereinplatzte. Unterdrücktes Gelächter ging durch die Reihen.
»Sorry, Chef, ich bin spät dran, nicht wahr?« Das Gelächter wurde lauter. Sally klatschte einem der Constables im Vorbeigehen die flache Hand auf den Kopf. Er riss protestierend die Arme hoch. »Ich hatte dir doch gesagt, du sollst mich holen, Paulo.« Der Constable antwortete nicht, doch sein Schmunzeln sagte alles.
»Mahlzeit, Sally. Danke, dass Sie Zeit gefunden haben, uns Gesellschaft zu leisten«, begrüßte Corrigan sie.
»Ist mir ein Vergnügen, Chef.«
»Wie inzwischen alle feststellen konnten, haben wir einen weiteren Mord an der Backe.«
Einige im Team stöhnten auf.
»Wir haben erst Sommer und bereits sechzehn Morde allein für unser Team«, schimpfte Sally. »Acht davon müssen noch für die Gerichtsverhandlung vorbereitet werden. Wer soll das machen, wenn wir ständig mit neuer Arbeit zugeworfen werden?«
Zustimmendes Gemurmel ringsum.
»Stöhnen zwecklos«, informierte Corrigan seine Leute. »Die übrigen Teams sind genauso mit Arbeit zugeschüttet wie wir. Wie ihr zweifellos wisst, Leute, haben wir derzeit keine aktuelle Ermittlung. Deshalb haben wir den Fall bekommen.«
Corrigan war auf das Gemurre vorbereitet, das nun einsetzte. Polizeibeamte stöhnten häufig – entweder, weil sie zu viel zu tun hatten, oder weil ihre Überstunden nicht gut genug bezahlt wurden.
»Okay, kommen wir zur Sache«, fuhr Corrigan fort. »Nach unserem bisherigen Kenntnisstand wurde das Opfer erschlagen und erstochen. Wir nehmen an, dass es sich bei dem Toten um einen gewissen Daniel Graydon handelt, den Mieter der Wohnung, in der sich mit ziemlicher Sicherheit das Verbrechen ereignet hat. Die Gesichtsverletzungen des Toten sind beträchtlich, daher muss die visuelle Identifizierung noch bestätigt werden. Dave und ich haben uns bereits umgesehen. Es war kein schöner Anblick. Offenbar hat das Opfer mit einem schweren Gegenstand einen Schlag gegen den Kopf erhalten. Möglicherweise hat dieser Schlag zum Tod geführt, obwohl wir die Autopsie abwarten müssen, um sicher zu sein. Das Opfer hat zahlreiche Stichwunden überall am Körper. Es war ein extrem brutaler Mord.« Er verstummte und blickte in die Runde.
»Wir nehmen an, das Opfer war schwul«, fuhr er dann fort. »Unsere bisherige Vermutung geht dahin, dass es sich um einen häuslichen Streit gehandelt hat. Falls das zutrifft, könnte der Täter ebenfalls verletzt worden sein. Wir lassen bereits die Krankenhäuser überprüfen, falls er sich in ärztliche Behandlung begeben musste.«
Corrigan blickte Sally an.
»Sie, Sally, schnappen sich vier Leute, gehen von Tür zu Tür und befragen die Nachbarn. Irgendjemand muss etwas gesehen oder gehört haben.«
»In Ordnung, Chef.«
Corrigan schaute wieder in die Runde. »Ihr anderen haltet euch bereit. Die Spurensicherung untersucht momentan die persönlichen Gegenstände des Opfers, sodass wir bald eine Liste von Personen haben werden, mit denen wir reden und die wir überprüfen müssen. Ich glaube nicht, dass es allzu lange dauern wird, bis wir ein genaues Bild vom Verdächtigen haben.«
Corrigans Blick richtete sich auf Donnelly. »Dave, Sie übernehmen die Koordination.«
Donnelly nickte. »Verstanden.«
»Alle anderen melden sich dreimal am Tag bei Donnelly und berichten, klar? Wie immer sind die ersten Stunden die wichtigsten, also essen wir die nächsten Tage im Stehen und machen uns erst Gedanken um unseren Schlaf, wenn der Mörder eingebuchtet ist.«
Zustimmendes Nicken von allen Seiten, als das Team sich von den Plätzen erhob, um an die Arbeit zu gehen. Corrigan spürte den Optimismus und das Vertrauen seiner Leute in seine Führung und sein Urteil. Er hatte sie bisher nie enttäuscht.
Er hoffte nur, dass es bei diesem Fall so bleiben würde.
*
Es war fast ein Uhr mittags. Corrigan hatte den größten Teil des Morgens am Telefon verbracht und ein Dutzend Mal die gleiche Geschichte erzählt – dem Superintendent, dem Erkennungsdienst, der Sitte, dem Beamten vom Dienst und anderen Dezernaten. Er war es leid, sich ständig zu wiederholen.
Sally Jones und Donnelly waren zurück und saßen zum Meeting in seinem Büro. Sally hatte Kaffee und Sandwiches mitgebracht. Sie unterhielten sich beim Essen, denn sie konnten es sich nicht leisten, Zeit für eine ordentliche Mahlzeit aufzuwenden. Corrigan aß ohne Appetit. Es war die erste Mahlzeit seit Donnellys Anruf am frühen Morgen, und er war froh, überhaupt etwas in den Magen zu bekommen.
Die ersten Tage einer Mordermittlung liefen stets nach dem gleichen Schema ab: Jede Menge zu erledigen, aber keine Zeit, denn Indizien verblassten ebenso schnell wie die Erinnerung von Zeugen, und Überwachungsbänder wurden überspielt. Momentan war die Zeit Corrigans größter Feind.
»Ist bei der Befragung der Nachbarn etwas herausgekommen?«, wollte er von Sally wissen. »Nur die guten Nachrichten bitte.«
»Nichts«, antwortete sie. »Zwei unserer Leute sind noch damit beschäftigt. Bisher konnten wir lediglich in Erfahrung bringen, dass Graydon keinen Kontakt mit den Nachbarn hatte. Keine lauten Partys, keine Streitereien, keine Probleme, kein gar nichts. Alle sagen, er wäre ein freundlicher, angenehmer Nachbar gewesen. Was vergangene Nacht angeht, hat niemand etwas gehört oder gesehen. Eine ganz normale, ruhige Nacht in South London.«
»Das kann doch gar nicht sein.« Corrigan schüttelte den Kopf. »Ein Mann wird erschlagen, und in den vier benachbarten Wohnungen will niemand etwas gehört haben?«
»So lauten jedenfalls die Aussagen der Betroffenen.«
Corrigan seufzte und schaute Donnelly an. »Wie sieht es bei Ihnen aus, Dave?«
»Wir haben Kopien seines Tagebuchs, seines Adressbuchs und andere Dinge. Einige unserer Leute gehen alles durch. Vermutlich werden wir ziemlich bald wissen, wer seine nächsten Verwandten waren. Bis jetzt gibt es keine Anhaltspunkte auf einen festen Freund. Keinen Namen, der häufiger genannt wird als andere. Wir werden seine Bekannten vernehmen, sobald wir ihre Adressen haben. Ach ja, das Büro vom Coroner hat angerufen. Der Leichnam wurde vom Tatort abgeholt und ins Guy’s Hospital gebracht. Die Obduktion findet heute Nachmittag um sechzehn Uhr statt.«
Corrigans Gedanken schweiften zu früheren Obduktionen, denen er beigewohnt hatte. Er schob die Reste seines Sandwiches beiseite.
»Wer nimmt die Obduktion vor?«
»Ihr Wunsch wurde erhört, Chef. Dr. Canning macht das. Gibt es Neuigkeiten von der Spurensicherung vor Ort?«
»Noch nicht. Roddis schätzt, dass sie erst morgen um diese Zeit fertig werden. Anschließend geht alles wie üblich ins Labor. Wir müssen warten.«
Ein junger Detective aus Corrigans Team erschien an der Tür, einen Zettel in der Hand. »Ich glaube, ich habe die Adresse der Eltern.«
Die drei Ermittler schauten den jungen Beamten an. »Danke«, sagte Sally und streckte die Hand nach dem Zettel aus. Der Detective reichte ihr das Papier und zog sich zurück.
»Ich komme mit, Sally«, sagte Corrigan. »Verdammt, das wird nicht einfach. Dave, wir sehen uns um halb vier hier in meinem Büro. Sie können mich dann zur Obduktion mitnehmen.«
»Ich werde hier sein«, versprach Donnelly.
Corrigan zog seine Jacke an und ging zur Tür. Sally folgte ihm dicht auf den Fersen. An der Tür drehte Corrigan sich noch einmal zu Donnelly um. »Vergessen Sie nicht – wenn jemand fragt, das ist ein ganz normaler häuslicher Mord. Kein Grund zur Aufregung.«
»Haben Sie etwa Zweifel?«, rief Donnelly ihm hinterher.
»Nicht im Geringsten«, entgegnete Corrigan, auch wenn es nicht ganz der Wahrheit entsprach. Für einen Moment war er zurück in der Wohnung, am Ort der Bluttat, und vor seinem geistigen Auge lief ein Film ab, wie der Mörder sich um die am Boden liegende Gestalt herum bewegte. Corrigan konnte keine Panik erkennen, keine Wut, keine Eifersucht und keinen Hass. Nur Kälte und ein Gefühl der Befriedigung.
Donnellys Stimme riss ihn zurück in die Gegenwart. »Alles in Ordnung, Sir?«
»Ja. Finden Sie den Freund des Ermordeten, wer immer er ist. Finden Sie ihn, und wir haben unseren Hauptverdächtigen.«
»Ich tue mein Bestes.«
»Ich weiß«, erwiderte Corrigan.
Donnelly sah ihm hinterher, bis er in seinem Büro verschwunden war.
Später Donnerstagnachmittag
Corrigan und Donnelly eilten durch die Gänge des Guy’s Hospital zur Leichenhalle. Begleitet wurden sie von Detective Constable Sam Muir, der für sämtliche Exponate zuständig war, die der Pathologe während der Obduktion am oder im Leichnam des Opfers fand.
Corrigan fragte sich, ob er seiner Frau Kate über den Weg laufen würde. Sie gehörte zum knapp bemessenen medizinischen Personal der Notaufnahme, betraut mit der ärztlichen Versorgung des nicht abreißenden Stroms von Kranken und Verletzten aus den Stadtteilen Southwark und Bermondsey. In den Sozialwohnungen dort lebten einige der Ärmsten der Armen Londons Tür an Tür mit Gewalt und Kriminalität. Ihre Demütigung und ihr Leiden blieben unbemerkt von den Touristenschwärmen, die durch die Tooley Street zur Tower Bridge schlenderten, ohne zu ahnen, wie nahe sie einer der gefährlichsten Gegenden von ganz London waren.
Corrigans Gedanken kehrten zu den Eltern des Opfers zurück. Er war mit Sally bei ihnen gewesen, in ihrem kleinen Reihenhaus in Putney. Alles in allem eine anständige Wohngegend, wenngleich sehr laut am Wochenende und an den Abenden. Sally hatte den größten Teil des Redens übernommen.
Daniel war das einzige Kind gewesen. Die Mutter warf sich schreiend zu Boden, als sie vom Tod ihres Sohnes erfuhr. Es kümmerte sie nicht, wer dabei war, als ihre Verzweiflung sich in körperlichen Schmerz verwandelte. Als sie sich wieder halbwegs gefasst hatte, brachte sie kein Wort heraus außer dem Namen ihres Sohnes.
Der Vater war wie betäubt. Er schien nicht zu wissen, ob er seiner Frau helfen oder ebenfalls einen Zusammenbruch erleiden sollte. Am Ende tat er keins von beidem. Corrigan führte ihn ins Wohnzimmer, während Sally bei der Mutter blieb.
Beide Eltern wussten, dass Daniel schwul gewesen war. Anfangs hatte es den Vater schockiert, doch er hatte sich damit abgefunden. Was hätte er sonst tun sollen? Seinen Sohn verstoßen? Niemals. Daniel hatte als Manager in einem Nachtclub gearbeitet, berichtete er. Er wusste nicht genau, wo, aber Daniel hatte gutes Geld verdient und keine finanziellen Probleme gehabt wie andere junge Leute in seinem Alter.
Leider kannte er keinen von Daniels Freunden. Daniel hatte keinen Kontakt mehr zu ehemaligen Schulkameraden. Er war ziemlich oft nach Hause gekommen, fast jeden Sonntag zum Mittagessen. Falls er einen Freund gehabt hatte, dann hatten weder sein Vater noch seine Mutter davon gewusst. Daniel hatte ihnen erzählt, er habe kein Interesse an einer festen Bindung. Sie hatten ihn nicht bedrängt.
Der Vater wollte von Corrigan wissen, was sie jetzt tun sollten. Seine Frau sei am Ende. Sie habe für den Jungen gelebt, nicht für ihn; das habe er schon lange gewusst, und es habe ihm nichts ausgemacht. Aber jetzt, wo der Junge nicht mehr da war? Außerdem wollte er wissen, was für ein Mensch das sei, der seinem Jungen so etwas antun könne. Der ihnen so etwas antun könne.
Warum? Warum?
Corrigan wusste keine Antworten.
Als die drei Detectives nun die Leichenhalle betraten, erblickten sie Dr. Simon Canning, der dabei war, die Obduktion vorzubereiten. Ein Leichnam lag auf einem Untersuchungstisch aus kaltem Edelstahl, mit einem grünen Tuch zugedeckt. Ein Rinnsal Wasser lief unter dem Toten hindurch und verschwand in einem Abfluss, während der Pathologe seiner Arbeit nachging. Die Vorrichtung erinnerte an eine große flache Badewanne.
Manche Detectives konnten sich innerlich von der hässlichen Wirklichkeit einer Autopsie distanzieren, konnten sich ganz in den Vorgang als solchen versenken. Corrigan gehörte nicht dazu. Er wusste, in den nächsten Tagen würden ihm Bilder der Autopsie zusammen mit Erinnerungen an seine eigene schlimme Kindheit im Kopf herumspuken.
Doch vorher arrangierte Dr. Canning erst einmal seine Werkzeuge – Folterinstrumente aus rostfreiem Edelstahl, mit denen er die Toten quälte. Als er fertig war, blickte er auf. »Guten Tag, Detectives.«
»Hallo, Doc«, sagte Corrigan. »Schön, Sie wieder mal zu sehen.«
»Das wage ich zu bezweifeln«, entgegnete Canning lächelnd. Er war ein höflicher Mensch, jedoch nüchtern und wortkarg. »Ich hoffe, Sie verzeihen mir, Inspector, dass ich ohne Sie angefangen habe. Ich habe zwischendurch nur ein bisschen sauber gemacht. Sollen wir fortfahren?«
Mit einer raschen Bewegung schlug der Pathologe das Laken zurück. Corrigan hätte beinahe ein »Voilà!« erwartet wie von einem Ober, der den Deckel von einem silbernen Teller hebt, auf dem irgendeine Köstlichkeit serviert wird.
Was die Ermittler serviert bekamen, war alles andere als köstlich. Die Haare des Toten an der Seite und am Hinterkopf waren blutverklebt. Corrigan erkannte deutlich die tiefen Bruchstellen an der Seite des Schädels sowie die Stichwunden überall auf dem nackten Körper.
»Siebenundsiebzig«, informierte ihn Canning.
Corrigan wurde bewusst, dass der Pathologe mit ihm gesprochen hatte. Er blickte Canning fragend an. »Bitte?«
»Siebenundsiebzig Stichwunden insgesamt. Keine im Rücken, alle auf der Vorderseite des Körpers. Verursacht durch eine Art Stilett oder einen Eispickel. Der erste Schlag an den Kopf hat ihn getötet, wenn auch nicht sofort.«
Canning deutete auf die Kopfwunde. Widerwillig beugte Corrigan sich vor.
»Wie Sie sehen, fehlt das Ohr«, sagte der Pathologe. »Es wurde nicht abgeschnitten, sondern weggerissen. Der Schlag gegen den Schädel wurde mit solcher Wucht geführt, dass der Schädel zerschmettert und zugleich das Ohr abgerissen wurde.«
»Nett«, sagte Corrigan.
»Das Opfer kniete, als der Täter zuschlug«, fuhr der Pathologe fort. »Wie Sie dort sehen, ist der Schnitt in der Kopfhaut nach unten gerichtet, nicht nach oben. Der Mörder hat von der Seite zugeschlagen, nicht von oben.«
»Vielleicht von hinten?«, fragte Corrigan.
»Nein«, erwiderte Canning. »Das Opfer fiel rückwärts, nicht vorwärts. Schauen Sie sich die Blutflecken an. Sie verlaufen nach hinten, in den Nacken, nicht nach vorn ins Gesicht.«
Er blickte die Detectives der Reihe nach an, um sicherzugehen, dass sie ihm zuhörten. Er hatte ihre ungeteilte Aufmerksamkeit.
»Aber das eigentlich Interessante«, fuhr er fort, »ist der Winkel der Stichwunden. Die Male ziehen sich vom Hals bis zu den Füßen. Ich kann mit nahezu hundertprozentiger Gewissheit sagen, dass das Opfer bereits rücklings auf dem Boden lag, als ihm die Wunden zugefügt wurden. Das ist für sich genommen nicht ungewöhnlich …« Der Pathologe hielt inne, atmete durch. »Das Interessante ist, dass die meisten Stichwunden einen falschen Eintrittswinkel haben. Verstehen Sie?«
»Ich glaube nicht, Doc«, sagte Corrigan.