Sie zu strafen und zu richten - Luke Delaney - E-Book

Sie zu strafen und zu richten E-Book

Luke Delaney

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Beschreibung

Er wählt die Opfer aus. Ihr bestimmt ihre Strafe.

Ein einsamer Rächer entführt wohlhabende Londoner. Stunden nach ihrem Verschwinden tauchen Videos von ihnen im Internet auf, ihre Verbrechen aus Habgier werden offengelegt. Aus Opfern werden Täter. Und die Zuschauer zu einer Jury, die über Leben und Tod entscheidet. DI Sean Corrigan steht unter großem Druck, er muss den Fall schnell lösen. Denn der Rächer wird immer populärer - und Corrigan erkennt, dass er nicht nur einen gefährlichen, sondern auch einen sehr intelligenten Gegner jagt ...

DI Sean Corrigan ermittelt weiter - noch mehr atemlose und beängstigend authentische Spannung von dem ehemaligem Detective Luke Delaney:

Mein bist du
Für immer mein
Wenn ihr schlaft

eBooks von beTHRILLED - mörderisch gute Unterhaltung.



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Inhalt

Cover

Über dieses Buch

Titel

Widmung

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

Danksagung

Über den Autor

Weitere Titel des Autors

Impressum

Über dieses Buch

Er wählt die Opfer aus. Ihr bestimmt ihre Strafe.

Ein einsamer Rächer entführt wohlhabende Londoner. Stunden nach ihrem Verschwinden tauchen Videos von ihnen im Internet auf, ihre Verbrechen aus Habgier werden offengelegt. Aus Opfern werden Täter. Und die Zuschauer zu einer Jury, die über Leben und Tod entscheidet. DI Sean Corrigan steht unter großem Druck, er muss den Fall schnell lösen. Denn der Rächer wird immer populärer – und Corrigan erkennt, dass er nicht nur einen gefährlichen, sondern auch einen sehr intelligenten Gegner jagt …

eBooks von beTHRILLED – mörderisch gute Unterhaltung.

LUKE DELANEY

SIE ZUSTRAFENUND ZURICHTEN

Aus dem Englischen vonUlrike Moreno

Dieses Buch ist meinen drei Kindern DJ, JJ und NB gewidmet.

DJ, der eine Inspiration für uns alle ist und in einem solch kurzen Leben schon so viele Hindernisse überwunden und uns allen bewiesen hat, was man mit echtem Durchhaltevermögen und Entschlossenheit erreichen kann. Mit seiner Persönlichkeit von der Größe des Empire State Buildings – lustig, manchmal etwas schwierig, unterhaltsam, mit einer geradezu magnetischen Anziehungskraft auf andere Kinder und stets im Mittelpunkt des Geschehens – ist DJ wie eine unaufhaltsame Naturgewalt. Falls es irgendjemandem gelingen sollte, alle seine Träume zu verwirklichen, wird es dieses Kind sein.

JJ ist ein schönes, sanftes Kind – und das genaue Gegenteil seines älteren Geschwisters. Pfiffig und einfallsreich, aber auch nachdenklich und schüchtern. Aufgeweckt und selbstständig, aber niemals überheblich oder prahlerisch, entwickelt sich JJ auch weiterhin zu einem großartigen jungen Menschen, der die Dinge auf seine eigene Weise tut, zum Glück noch unberührt von Konventionen und dem Wunsch, wie jeder andere zu sein – und anscheinend auch ohne sich seiner filmreifen Schönheit und seines hinreißenden Lächelns bewusst zu sein. JJ entwickelt sich zu einem wunderbaren Menschen – und mit jedem Tag, der vergeht, scheint es noch ein bisschen glücklicher zu werden, dieses ganz besondere Kind.

NB – »unser kleines Geschenk«, wie meine Frau und ich unser jüngstes Kind bezeichnen, das hochintelligent und äußerst unabhängig, aber auch sehr anschmiegsam und lustig ist. Eine Wissbegierde wie die seine habe ich noch nie gesehen – und möge sie noch lange anhalten, auch wenn alles auf seine Art getan werden muss und man sich hüten sollte, dieses Kind aufhalten zu wollen. Genauso sinnlos ist es, NB das olympische Motto Dabei sein ist alles erklären zu wollen, weil irgendwo mitzumachen für dieses Kind grundsätzlich »gewinnen« heißt. NB ist der Inbegriff von stählerner Entschlossenheit, und wir wissen jetzt schon, dass dieses Kind einmal alles sein wird, was es sich vorgenommen hat.

In mancherlei Hinsicht sind meine Kinder wie ein Schwarm von Dohlen – klug und geschwätzig, mutig und loyal einander gegenüber –, aber sie sind auch spitzbübisch und einfallsreich, ganz zu schweigen davon, dass sie manchmal auch ganz schön nervig sein können. Aber wir würden es gar nicht anders haben wollen, eure Mum und ich. Ihr seid unser Ein und Alles, und wir sind sehr froh und dankbar, dass ihr so erstaunliche und großartige Menschen seid.

In Liebe

1. Kapitel

Paul Elkins kniff die Augen zusammen vor dem grellen weißen Licht im Raum, als ihm die dicke Kapuze vom Kopf gezogen wurde; aber bei dem Schmerz, der ihn beim Abreißen des Klebebands von seinem Mund durchfuhr, riss er sie gleich wieder so weit auf, als hätte ein Stromschlag ihn getroffen. Als der erste Schreck über den jähen Schmerz nachließ, blinzelte er, um den für ihn etwas verschwommenen Raum klarer sehen zu können, während Panik ihm die Brust verkrampfte und dicke Schweißtropfen über sein Gesicht und seinen Rücken liefen. Seine Arme und Beine waren mit demselben Klebeband an einen schweren alten Holzstuhl gefesselt, der knarrte, sich aber keinen Millimeter von der Stelle rührte, als Paul sich zu befreien versuchte. Er zerrte an seinen Fesseln und trat gegen den Stuhl, so fest er konnte, bis er die Sinnlosigkeit seines Unterfangens einsah und seine Kraft und Entschlossenheit ihn verließen, als seine verzweifelte Lage immer offensichtlicher wurde.

Die Details des Raums, der jetzt sein Gefängnis war, erschlossen sich ihm erst nach und nach. Der Raum war weiß getüncht und mit tragbaren Lampen versehen, die zu viel und zu grelles Licht abgaben. An den Wänden, an denen Elkins Fenster vermutete, hingen schwarze Plastikbahnen, die kein natürliches Licht hereinließen. Vor ihm stand der Mann, der ihn am helllichten Tag auf offener Straße gekidnappt hatte – stark und aufrecht, selbstbewusst und Herr der Lage, das Gesicht unter einer schwarzen Skimaske und einer gewölbten Sonnenbrille verborgen, die Hände in schwarzen Lederhandschuhen und auch sonst von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet. Nur sein Mund war teilweise zu sehen, wo er nicht von einem winzigen Mikrofon an einem Kopfbügel verborgen war, das wiederum mit zwei schwarzen, an seiner Brust befestigten Kästchen verbunden war, von denen eins die Größe eines Hardcover-Buchs und das andere die eines Zigarettenpäckchens hatte. Der Mann ließ jedoch keinen Ton verlauten. Hinter ihm stand ein zusammenlegbarer Tisch mit einer Ansammlung von Laptops, Kameras, Telefonen und anderen Geräten, die Elkins nicht kannte, und alle waren an einen tragbaren Stromgenerator angeschlossen.

Für eine kleine Ewigkeit, wie ihm schien, hielt Paul Elkins seine braunen Augen auf den maskierten Mann gerichtet und wartete darauf, dass er endlich sprach und ihm seine Beweggründe erklärte – ihn endlich wissen ließ, warum er ihn an diesen Angst einflößenden Ort gebracht hatte. Aber der Mann sagte nichts. In seinen ganzen einundfünfzig Lebensjahren war Elkins nie mit etwas anderem als Respekt und oft sogar mit Furcht behandelt worden, was ihm jetzt allerdings überhaupt nichts nützte. Wieder wand er seinen geschmeidigen schlanken Körper auf dem Stuhl hin und her und zerrte an seinen Fesseln, bevor er ein zweites Mal angesichts der Sinnlosigkeit seines Tuns kapitulierte. Er sammelte ein wenig Speichel in seinem trockenen Mund und verteilte ihn mit der Zunge, bevor er sprach.

»Wissen Sie, wer ich bin?«, fragte er, aber seine Stimme zitterte so sehr, dass er sie selbst kaum wiedererkannte. Der maskierte Mann antwortete nicht und rührte sich auch nicht. »Ich kenne viele mächtige Leute. Die, für die ich arbeite, werden Ihnen gerne zahlen, was immer Sie wollen, falls es darum geht.« Der Mann erwiderte jedoch nichts darauf, sondern wandte sich langsam von Elkins ab und begann die verschiedenen Computer und Kameras auf dem Tisch anzuschalten, die alle direkt auf ihn gerichtet waren, wie Elkins sah. »Was machen Sie da? Was soll das? Schicken Sie jetzt eine Lösegeldforderung ab?«

Der Mann wandte sich ihm wieder zu und sprach nun endlich. »Nein«, antwortete er mit einer durch den Stimmenverzerrer, den er um den Hals trug, stark verfälschten Stimme, die elektronisch, wie aus weiter Ferne kommend und nicht … menschlich klang. »Ich schicke keine Lösegeldforderung, sondern rufe Ihre Jury auf.«

»Meine was?«

»Ihre Jury. Die Geschworenen, Mr Elkins.«

Elkins blinzelte verwirrt. »Sie wissen, wer ich bin?«

»Selbstverständlich.«

»Was wollen Sie denn dann von mir?«

»Gerechtigkeit, Mr Elkins. Nur Gerechtigkeit.«

»Ich verstehe nicht …«

»Das kommt noch«, sagte der Mann, bevor er ihm von Neuem den Rücken zuwandte, um einen Blick auf einen Computerbildschirm zu werfen. Ohne Elkins anzusehen, sagte er: »Wir scheinen schon einige Aufmerksamkeit zu erregen. Bisher schauen uns nur ein paar hundert Leute zu, aber das ist erst der Anfang. Sie sind der Erste, werden aber nicht der Letzte sein. In Zukunft werden sich Tausende als Geschworene einloggen. Tausende werden erleben, wie der Gerechtigkeit Genüge getan wird. Gerechtigkeit für die Menschen, wo Geld und Macht das System nicht korrumpieren können. Wo Ihr Einfluss nichts bedeutet. Sind Sie bereit, gerichtet zu werden?«

»Ich habe kein Verbrechen begangen.«

»Glauben Sie das wirklich? Warum lassen wir nicht das Volk entscheiden?«

Der Mann drehte sich auf dem Absatz um und ging zu Elkins, neben dem er stehen blieb und erst einmal tief Luft holte, bevor er mit dieser unirdischen Stimme zu sprechen begann. Er wandte sich an die Hunderte von Menschen, die von zu Hause und aus ihren Büros, von Bushaltestellen und aus Zügen zusahen. Sie alle waren zufällig auf den Livestream von dem an den Stuhl gefesselten Elkins gestoßen, während sie im Internet nach billigen Urlaubsreisen, neuen Updates, lustigen selbstgefilmten Videos und Gott weiß was sonst noch suchten. Der Entführer sprach direkt in die mit dem Computer verbundene Kamera.

»Sie alle sollten wissen, dass dieser Mann, den Sie hier sehen, ein Verbrecher ist«, beschuldigte er Elkins, der sich erschrocken aufbäumte und mit ungläubiger Miene gegen seine Fesseln drückte.

»Ich bin kein Verbrecher. Ich bin in meinem ganzen Leben noch nicht verhaftet worden!«

»Nein. Natürlich nicht, da Sie und Ihresgleichen ja auch nie verhaftet werden, Mr Elkins. Sie werden weder vor Gericht gestellt noch für Ihre Verbrechen zur Rechenschaft gezogen. Sie stehen über dem Gesetz. Aber jetzt nicht mehr. Jetzt ist es an der Zeit, dass die Bevölkerung dieses Landes Sie verurteilt.«

»Ich habe noch nie jemandem etwas getan«, stammelte Elkins entsetzt. »Warum nehmen Sie das alles auf?«

»Ich nehme es nicht nur auf«, erklärte der Mann. »Es wird live übertragen, damit Leute wie ich endlich sehen können, wie der Gerechtigkeit Genüge getan wird.«

»Ich habe mir nichts zuschulden kommen lassen. Und Sie sind nicht die Polizei, und das hier ist kein Gericht.«

»Sie haben sich nichts zuschulden kommen lassen?«, entgegnete der Mann mit seiner elektronischen Stimme ruhig. »Dann lassen Sie mich Ihnen Ihre Verbrechen erläutern – Ihre Verbrechen an anständigen, hart arbeitenden Menschen, die ihre Jobs verloren haben, denen ihre Häuser weggenommen wurden und die ihre Ehefrauen, Ehemänner und Familien verloren, während Sie immer reicher und immer fetter wurden durch ihr Elend. Sie und Ihresgleichen haben sich trotz Ihrer Inkompetenz Millionen an Boni gegönnt und das Volk für Ihre Fehler und Ihre Gier bezahlen lassen.«

»Was?«

»Als Ihre Banken kurz vor dem Zusammenbruch standen, waren Sie es da, die deren Überleben finanzierten? Nein. Das waren wir. Das Volk. Und als die Regierung unsere Bankkonten leerte und uns unsere Arbeit stahl, haben Sie oder irgendeins der anderen gierigen Schweine am Trog etwa aufgehört, sich vollzustopfen? Nein. Die Geldgier hielt an, während wir anderen litten. Einige von uns verloren alles. Viele andere nahmen sich das Leben, um dem Schmerz und Elend zu entkommen, das Sie verursacht haben. Sie haben Ihren Reichtum nicht nur weiterhin geschützt, sondern ihn sogar noch vergrößert, während wir kaum unsere Kinder über die Runden brachten.«

»Ach du meine Güte. Geht es hier etwa darum – um die Bankenkrise? Die ist doch schon Jahre her, Herrgott noch mal!«

»Und wir leiden immer noch, und die Banker werden immer noch fett und fetter und weigern sich, uns unser eigenes Geld zu leihen – um es stattdessen in Häuser in ganz London zu investieren, von denen die meisten von uns nur träumen können, indem sie uns unser Geld genauso sicher stahlen, als ob sie uns auf der Straße ausrauben würden –, und Sie wagen auch noch zu fragen, was Sie verbrochen haben, und unterstehen sich zu behaupten, Sie seien kein Verbrecher.«

Elkins versuchte, sich zu verteidigen, aber der Mann ließ ihn nicht zu Wort kommen und legte eine behandschuhte Hand auf seine Schulter. »Ihr Name ist Paul Elkins, richtig?«

»Ja.«

»Und Sie sind der Generaldirektor der Fairfield’s Bank, nicht wahr?«

»Und?«

»Einer Bank, die Milliardenverluste machte, weil sie es versäumt hatte, ihre eigenen Angestellten zu kontrollieren – Angestellte, die wissentlich Hypotheken an Leute vergaben, die sie sich nicht leisten konnten.«

»Wir haben Fehler gemacht, ja, aber …«

»Weil Ihnen Boni von Zehntausenden Pfund versprochen worden waren, wenn Sie Ihre von Gier bestimmten Ziele erreichten?«

»Niemand wurde gezwungen, bei uns eine Hypothek aufzunehmen.«

»Ach nein?« Elkins antwortete nicht. »Anständige Leute wurden von Ihnen in Armut, Obdachlosigkeit und Bankrott getrieben.«

»Ich habe niemandem eine Hypothek verkauft.«

»Sie waren der CEO!«, fauchte die elektronische Stimme. »Sie trugen die Verantwortung. Sie hätten verhindern müssen, was geschah, haben es aber nicht getan, weil das Geld auch weiter hereinströmte – und direkt in Ihre Taschen floss. Und als es dann schiefging, als die Mauern Ihrer Bank fast über Ihnen einstürzten und Sie von der Regierung gerettet werden mussten, mit Geld, das von Rechts wegen dem Volk gehörte, haben Sie da etwa Ihren Job verloren, wie es bei uns der Fall gewesen wäre? Nein. Sie behielten Ihr Gehalt von zwei Millionen Pfund im Jahr und brachten dem Rest von uns sogar so viel Missachtung entgegen, dass Sie sich selbst einen Drei-Millionen-Pfund-Bonus auszahlten. Einen Bonus von drei Millionen für Ihr Scheitern.«

Der Mann trat näher an die Kamera heran und zeigte mit einer Hand auf Elkins. »Meine Damen und Herren Geschworenen, dieser Mann ist nicht nur ein Krimineller und ein Dieb, sondern auch ein Mörder. Jedes zerstörte Leben, jeder Selbstmord, der wegen der Verbrechen der gierigen Wenigen begangen wurde – dieser Mann und andere wie er tragen die Verantwortung dafür. Aber sind sie für ihre Verbrechen bestraft worden? Nein. Es wird Zeit, das zu ändern. Es wird Zeit für Gerechtigkeit. Liebe Brüder und Schwestern – es ist an der Zeit, das Urteil zu fällen.«

Der siebzehnjährige Mark Hudson saß in seinem Zimmer der Sozialwohnung in Birmingham, in der er mit seiner Familie lebte, und lauschte wie hypnotisiert der Ansprache des maskierten Mannes mit der elektronischen Stimme, den er auf dem Bildschirm seines Laptops sah. Seine Freunde Danny und Zach alberten im Hintergrund herum und waren nicht annähernd so interessiert wie er.

»Haltet euer verdammtes Maul, ihr zwei«, verlangte er. »Ich kann nicht hören, was er sagt.«

»Das ist doch alles nur ein Haufen Bullshit«, widersprach Danny. »Nichts Echtes. Bloß ein paar mediengeile Spinner, weiter nichts.«

»Nein!«, fauchte Hudson. »Hört euch an, was der Mann sagt. Der Kerl auf dem Stuhl ist einer von diesen scheiß Bankern.«

»Und?«, mischte sich nun Zach ein. »Was zum Teufel hat das mit uns zu tun?«

»Haltet einfach mal die Klappe und hört zu«, beharrte Hudson und brachte seine Freunde zum Schweigen, die ihn, weil sie seinen Ruf im Viertel kannten, der ihm den Spitznamen Psycho-Mark eingebracht hatte, nicht noch mehr verärgern wollten.

»Es ist an der Zeit, diesen Mann für seine Verbrechen an den Bürgern dieses Landes vor Gericht zu stellen«, erklärte der Mann auf dem Computerdisplay. »Sie haben lediglich die Aufgabe, Ihr Urteil abzugeben. Sobald seine Schuld bewiesen ist, werde ich sein Strafmaß festlegen, das – wie ich Sie warnen muss – der Tod sein könnte.«

»Heilige Scheiße!«, rief Hudson mit vor Aufregung ganz großen Augen – und seine Lippen verzogen sich zu einem breiten Grinsen. »Er wird ihn umbringen.«

Gabriel Westbrook beugte sich noch weiter zu seinem Computerbildschirm vor, als der maskierte Mann den Tod erwähnte. Er kannte das Opfer nicht, aber sie hatten viel gemeinsam – hochbezahlte Stellungen in der City of London, schöne Häuser, teure Lebensgewohnheiten –, auch wenn Westbrook mit seinen vierunddreißig Jahren noch um einiges jünger als Elkins war. Er dachte kurz daran, seine Frau zu rufen, damit sie es sich mit ihm ansah, beschloss dann aber, dass das vermutlich keine gute Idee wäre.

»Ob das echt ist?«, flüsterte er vor sich hin, während er den Worten des Maskierten lauschte, die durch die verzerrte Stimme noch viel beunruhigender klangen.

»Wenn es einen anderen Weg gäbe, würde ich nicht tun, wozu ich mich gezwungen sehe. Aber es ist die einzige Möglichkeit, diese Leute dazu zu bringen, uns zuzuhören. Nur durch Verbreitung von Angst und Schrecken werden sie uns Beachtung schenken. Mir bleibt also gar keine andere Wahl, als zu tun, was ich tun muss.«

»Oh Gott«, sagte Westbrook in den leeren Raum. »Ist das ein Scherz? Bitte lass es einen Scherz sein …«

»Komm her und schau dir das an, Liebling«, rief Phil Taylor seiner Frau Cathy in ihrem Häuschen in Hull zu. Sie hörte die Erregung in seiner Stimme und ging den kurzen Weg von der Küche zu seinem kleinen Arbeitszimmer. Ihr Mann saß vor dem Computer, auf dessen Bildschirm eine maskierte Gestalt neben einem an einen Stuhl gefesselten Mann zu sehen war.

»Du meine Güte, was schaust du dir da an?«, fragte sie, schockiert darüber, dass er so etwas mit ihr teilen wollte. »Das ist doch keine Pornografie, oder?«

»Sei nicht albern«, sagte er. »Dieser Typ hat einen dieser Banker gekidnappt.«

»Nicht das schon wieder«, stöhnte sie und verdrehte missbilligend die Augen.

»Hey«, sagte er warnend. »Diese Mistkerle haben mich mein Geschäft und unser Haus gekostet. Ohne ihre verdammte Gier und Inkompetenz würden wir heute nicht in dieser beschissenen Bude leben, und ich müsste auch nicht diese dämliche Arbeit machen.«

»Wir hatten uns finanziell übernommen«, erinnerte sie ihn. »Deshalb haben wir das Geschäft und das Haus verloren.«

»Von mir aus kannst du glauben, was du willst«, knurrte er, »aber ich kenne die verdammte Wahrheit. Und jetzt scheint endlich auch noch jemand anderes genug zu haben.«

»Es ist wichtig, dass ich hier und jetzt eine Aussage mache. Es ist wichtig, den Reichen und Habgierigen zu zeigen, dass dies hier ihre neue Realität ist. Dass sie uns nicht mehr bestehlen können, ohne Vergeltung befürchten zu müssen, denn von heute an werden sie für ihre Verbrechen bestraft werden.«

»Was wird er diesem Mann antun?«, fragte Cathy.

»Keine Ahnung«, antwortete Phil. »Aber er hat gesagt, er würde ihn vielleicht umbringen.«

»Um Himmels willen! Stell das ab!«, verlangte sie.

»Nein«, beharrte er, ohne den Blick auch nur eine Sekunde lang vom Bildschirm abzuwenden. »Ich will sehen, was er mit ihm macht. Ich will den Bastard leiden sehen.«

Father Alex Jones saß in seinem kleinen Büro in der katholischen St. Thomas More Church in Dulwich und sah und hörte sich den Monolog des maskierten Mannes an. Sein Instinkt sagte ihm, dass das kein Gag, sondern es dem Mann todernst war. Der ursprüngliche Grund für seine Suche im Internet war längst vergessen, als er die Hände faltete und für das Opfer und den maskierten Mann zu beten begann und um Rettung für beide und Vergebung für den einen bat.

»Und jetzt brauche ich euch, liebe Brüder und Schwestern, damit ihr das Eurige tut. Es ist an der Zeit, ein Urteil zu fällen. Wenn ihr glaubt, dass dieser Mann Verbrechen am Volk begangen hat, dann klickt einfach auf den ›Gefällt mir‹-Button. Sobald die Entscheidung gefallen ist, wird das Urteil vollstreckt werden. Ein Klick, eine Stimme. Verschwendet nicht eure Zeit mit dem Versuch, mehrfach eure Stimme abzugeben. Das Your-View-System lässt nur eine Abstimmung pro Nutzer zu.«

»Möge Gott dir vergeben«, flüsterte der Priester, als er den »Gefällt mir nicht«-Button anklickte und sich zurücklehnte, um abzuwarten, wie andere Zuschauer abstimmten. Die Zahlen für beide Icons stiegen schnell an – nur leider eine schneller als die andere.

Mark Hudson verfolgte die Abstimmung genauso aufmerksam wie der Priester, erhoffte sich aber ein anderes Ergebnis.

»Was ist da los?«, fragte Danny.

»Halt’s Maul«, war Hudsons einzige Antwort.

»Das Volk hat abgestimmt und Sie mit überwiegender Mehrheit für schuldig befunden. Möchten Sie noch irgendetwas sagen?«

»Das ist jetzt weit genug gegangen!«, schrie Elkins, als der Maskierte vorübergehend vom Bildschirm verschwand. »Sie müssen mich jetzt gehen lassen.« Sein Gesicht verzerrte sich vor Angst und Schrecken. »Sie haben Ihren Standpunkt klargemacht.«

Das Geräusch von aufeinanderstoßendem Metall war im Hintergrund zu hören, bevor der Maskierte mit einem Strick zurückkam, an dessen einem Ende sich eine Schlinge befand, während das andere geradewegs zur Decke hinaufzuführen schien. Der maskierte Mann legte dem zappelnden Elkins die Schlinge um den Hals und ignorierte dessen verzweifelte Befreiungsversuche und flehentliche Bitten.

»Bitte tun Sie das nicht. Bitte. Ich habe nichts Unrechtes getan. Ich kann das Geld zurückgeben. Sie können es haben. Ich will nur meine Frau und meine Kinder wiedersehen. Ich bin Familienvater.« Aber sein Entführer beachtete ihn nicht, sondern griff nach einem weiteren Strick, der von der Decke herabhing.

»Das Volk hat Sie schuldig gesprochen, Mr Elkins. Jetzt muss ich das Strafmaß verkünden. Und das ist … der Tod am Strang.« Bevor Elkins noch etwas sagen konnte, zog der Mann an dem Strick in seinen Händen, der sich mit der Schlinge um Elkins’ Hals augenblicklich straffte und vor Anspannung vibrierte, als er sein Opfer samt Stuhl in die Höhe zog. Schreckliche Geräusche kamen hinter Elkins’ zusammengebissenen Zähnen hervor, als er verzweifelt um sein Leben kämpfte.

»Ich fasse es nicht!«, rief Hudson, ohne zu bemerken, dass seine beiden Freunde vom Bildschirm zurückwichen und ihre Gesichter sehr ernst und blass waren, während das seine strahlte und vor Aufregung glühte. »Er hängt das Arschloch auf. Er tut’s tatsächlich. Ha! Das ist verdammt genial.«

Westbrook schaute auch weiter zu, als diese ältere Ausgabe von ihm selbst an dem Strick hing, nach wie vor mit Klebeband an den Stuhl gefesselt … und sah, wie die Augen des Mannes auf groteske Weise immer mehr hervortraten, sein Mund jetzt offen stand und seine Zunge heraushing und sich hin und her wand wie eine sterbende Eidechse. Westbrook empfand Übelkeit und gleichzeitig große Angst. Jemand wollte Rache nehmen – Rache an ihm und seinesgleichen. Wer von ihnen allen würde der Nächste sein? Er spürte, wie ihm ein kalter Schauder den Rücken hinunterlief.

»Ich kann mir das nicht mehr ansehen«, sagte Cathy zu ihrem Mann. »Ich glaube, mir wird gleich schlecht. Stell das ab.« Sie griff zum Stromschalter des Computers, aber ihr Mann stieß ihre Hand weg, und seine Augen waren dabei voller Hass – wenn auch nicht auf sie.

»Lass das«, befahl er.

»Bitte sag mir, dass du das nicht sehen willst!«, flehte sie. »Da wird ein Mann getötet. Ermordet. Warum zum Teufel willst du so etwas sehen?«

»Vielleicht ist er ja selber schuld. Vielleicht hat er es ja verdient. Vielleicht verdienen sie’s ja alle.«

»Um Gottes willen, Phil!«, sagte Cathy entsetzt. »Niemand verdient so etwas.«

»Nein?«, versetzte er scharf. »Und was ist mit mir? Hab ich etwa verdient, was mir widerfahren ist? Hatte ich es verdient, alles zu verlieren?«

»Du hast nur Geld verloren, Phil. Aber hier geht es um ein Menschenleben.« Sie wandte sich zum Gehen. »Ich werde nicht im selben Raum mit dem da bleiben. Ich hoffe nur, dass sie den Mörder kriegen und ihn auch aufhängen.« Als sie zur Tür hinausging, starrte Phil noch immer wie hypnotisiert auf den Bildschirm – und ein schmallippiges Lächeln huschte über sein Gesicht, als er Elkins’ Körper erschlaffen sah.

Der Priester schloss die Augen und bekreuzigte sich im Geiste, bevor er den Mut aufbrachte, wieder einen Blick auf die barbarische Szene zu werfen, die er gerade auf seinem Computer mitangesehen hatte. Priester im heutigen London zu sein war nicht das, was die Öffentlichkeit sich darunter vorstellte. Er hatte immer wieder mit missbrauchten Kindern und misshandelten Frauen zu tun, die aus was für Gründen auch immer zu verängstigt oder nicht gewillt waren, zur Polizei zu gehen, obwohl er sie stets dazu ermutigte, das zu tun. Ganz zu schweigen von seiner missionarischen Tätigkeit in Afrika – wo er Männer und Frauen gelehrt hatte, irgendwie zu überleben, nachdem ihnen bei einem weiteren Bürgerkrieg im Kongo die Arme mit Macheten abgehackt worden waren. Und das waren nicht die einzigen furchtbaren Dinge, die er gesehen hatte und über die er niemals sprach. Aber das hier war nicht weniger abscheulich als all die anderen Barbareien, die er miterlebt hatte. Als er die Augen schließlich wieder öffnete, stand der maskierte Mann vor dem noch immer in der Luft baumelnden Stuhl mit dem Körper.

»Der Gerechtigkeit ist Genüge getan. Der erste der Schuldigen hat seine gerechte Strafe erhalten. Aber ihr könnt euch sicher sein, meine Freunde – liebe Brüder und Schwestern –, dass er nicht der Einzige bleiben wird.« Der Mann ließ den Strick los, worauf Stuhl und Körper krachend auf dem Boden landeten, während er auf die Kamera zuging. Sekunden später war der Bildschirm schwarz.

Father Alex faltete die Hände und begann zu beten, aber er hatte Mühe, sich darauf zu konzentrieren, da sein Geist noch von irdischeren Dingen gefangen genommen war. Das furchtbare Verbrechen, das er gerade mitangesehen hatte, würde auf jeden Fall von der Polizei – oder, genauer gesagt, von der Kriminalpolizei – untersucht werden müssen. Der Gedanke rief ihm Detective Inspector Sean Corrigan, den stets so sorgenvollen Kriminalbeamten, in Erinnerung, der ihn hin und wieder aufsuchte. War er es, der diesen gnadenlosen Mörder würde fassen müssen?

»Vater unser, der du bist im Himmel – beschütze uns vor dem neuen Übel in unserem Leben und verzeihe dem, der das Unverzeihliche getan hat.«

2. Kapitel

Detective Inspector Sean Corrigan saß in seinem Büro im siebten Stock von New Scotland Yard und las die neuesten Memos der Staatsanwaltschaft zu dem in Kürze beginnenden Gerichtsverfahren gegen Douglas Allen – einen Mann, dem die Medien den passenden Namen »Toy Taker« verliehen hatten. Allen war bei einer vorangegangenen Anhörung für psychisch gesund und verhandlungsfähig erklärt worden, und jetzt ging es mit Volldampf auf das Gerichtsverfahren zu. Diese Ermittlung war Seans erste als Leiter der Special Investigations Unit gewesen, und jetzt wartete er auf die nächste, die jedoch hoffentlich erst nach Allens Prozess und der mit Sicherheit zu erwartenden Verurteilung kommen würde. Das Letzte, was Sean wollte, war, andauernd zum Old Bailey hinüberflitzen zu müssen, während er eine neue Ermittlung führte. Als DC Paulo Zukov an seiner Tür erschien und unnötig oft an den Rahmen klopfte, riss er Sean aus seiner Konzentration und veranlasste ihn aufzuschauen.

»Was gibt’s, Paulo?«

Zukov lächelte selbstzufrieden, bevor er antwortete, da er überzeugt war, Sean einen Schritt voraus zu sein. »Ich wollte bloß mal fragen, was Sie von dieser Online-Mord-Geschichte halten, die überall in den Nachrichten kommt?«

»Ich weiß nicht, wovon Sie reden«, antwortete Sean, der kein Interesse an Zukovs Spielchen hatte.

»Na, von dem Online-Mord, Chef. Haben Sie noch nichts davon in den Nachrichten gesehen?«

»Nein, hab ich nicht«, sagte Sean. »Ich war ein bisschen zu beschäftigt, um mir den ganzen Tag lang Nachrichten anzuschauen.«

»Es ist schon gestern Abend passiert, Chef.«

»Paulo, ich habe seit Tagen weder eine Zeitung gelesen noch ferngesehen. Gott bewahre, aber wenn Sie an meiner Stelle wären und dazu noch zwei kleine Kinder und eine berufstätige Frau hätten, würden Sie verstehen, was ich meine.«

»Ich dachte nur, Sie hätten vielleicht schon einen Anruf erhalten.«

»Und von wem?«

»Von Superintendent Featherstone und Mr Addis.«

»Warum sollten die mich anrufen?«

»Wir sind doch die Special Investigations Unit, oder?«

»Paulo«, sagte Sean, der seine ohnehin begrenzte Geduld verlor, »gibt es irgendwas, was ich wissen sollte?«

»Na, das mit dem Online-Mord natürlich, Chef. Ich dachte, dass das genau die Art von Fall ist, den wir übernehmen könnten.«

Zukovs Gesichtsausdruck verriet Sean, dass er mehr darüber in Erfahrung bringen musste. »Dann kommen Sie herein und erzählen Sie mir alles. Aber machen Sie es bitte kurz.«

»Irgendein Typ aus dem Bankenviertel wird am helllichten Tag von der Straße weg entführt«, begann Zukov, »und kurz darauf ist er an einen Stuhl gefesselt auf Your View zu sehen, und irgendein Verrückter schwadroniert darüber, dass das Opfer und all seine Bankerfreunde Kriminelle sind und er ihnen eine Lektion erteilen wird. Dabei trägt er die ganze Zeit über eine Skimaske und benutzt ein elektronisches Gerät, um seine Stimme zu verzerren.«

Sean starrte ihn für einen Moment ungläubig an, bevor er wieder sprach. »Und dann?«

Zukov zuckte mit den Schultern. »Und dann hat er ihn umgebracht.«

»Wie?«

»Anscheinend hat er eine Art Flaschenzug benutzt, um sein Opfer zu hängen. Auf jeden Fall zog er ihn mit Stuhl und allem hoch.«

»Und das war echt?«, fragte Sean, noch immer nicht ganz überzeugt.

»Offensichtlich. Die Familie des armen Kerls hat sich schon mit der örtlichen Kripo in Verbindung gesetzt. Er wurde irgendwann gestern vermisst und seitdem nicht mehr gesehen.«

»Könnte er nicht mit von der Partie gewesen sein? Vielleicht war es ja nur ein schlechter Scherz oder ein Werbegag?«

»Es sieht nicht danach aus. Und er ist auch offensichtlich nicht der Typ für so etwas.«

»Woher haben Sie das alles?«, fragte Sean. »Wie kommt es, dass Sie so viel darüber wissen?«

»Wie gesagt, es kommt in allen Nachrichten, Chef. Und es ist auch überall im Internet.«

Sean musterte ihn prüfend, bevor er seinen Laptop über den Schreibtisch schob und Zukov mit einer Handbewegung zu verstehen gab, sich davorzusetzen. »Zeigen Sie es mir.«

Zukov setzte sich, ging ins Internet und begann zu suchen. Bald hatte er, was er wollte, und schob den Laptop zu Sean zurück. »Bitte sehr, Chef – das Ganze ist auf Your View. Es ist das meistgesehene Video, seit es sich herumgesprochen hat.«

»Mein Gott«, murmelte Sean, während er das Display anstarrte. »Das sagt aber sehr viel über unsere Gesellschaft aus. Wer zum Teufel will schon zusehen, wie ein Mann ermordet wird?«

»Tausende«, antwortete Zukov. »Millionen vielleicht sogar.«

Sean antwortete nicht, weil das Video von dem maskierten Mann und seinem Opfer seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahm. Er verfolgte die »Show«, bis der maskierte Prediger den Bildschirm schließlich wieder dunkel werden ließ.

»Was zum Teufel war das?«, fragte Sean sich selbst.

»Keine Ahnung, Chef«, sagte Zukov, der glaubte, die Frage sei an ihn gerichtet. »Aber einige in den Medien nehmen an, dass er sich möglicherweise für so was wie einen Racheengel hält.«

»Was?«

»Sie wissen schon – für einen Mann des Volkes, der sich für die kleinen Leute einsetzt und es den reichen Bankern heimzahlt.«

»Das ist doch wohl nicht Ihr Ernst«, sagte Sean. »Racheengel? Wohl eher wieder so ein verfluchter Psychopath, der berühmt werden will. Der hat uns gerade noch gefehlt.«

»Möglich«, gab Zukov zu.

Sean lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und fixierte ihn mit einem Blick, der Zukov nur allzu gut bekannt war. »Das klang aber nicht sehr überzeugt.«

»Es ist nur so, dass sehr viele Leute einer Meinung mit ihm zu sein scheinen. Nicht unbedingt mit dem Mord, aber damit, dass es höchste Zeit ist, etwas gegen die Banker zu unternehmen.«

»Was für Leute?«

»Na, zum Beispiel die auf Facebook und auf Twitter. Sie behaupten es zumindest alle.«

»Facebook? Twitter?«, fragte Sean. »Ein Wunder, dass überhaupt noch jemand seine Arbeit macht! Sehen Sie zu, dass Sie Donnelly und Sally finden, und bringen Sie sie zu einem Briefing her. Sie sollten erfahren, was passiert ist. So ein Mist, verdammter!«

»Dann gehen Sie also davon aus, dass wir diesen Fall kriegen, Chef?«

»Sieht das für Sie wie ein ganz gewöhnlicher Mord aus? Oder wie ein Killer, der die Absicht hat, es dabei bewenden zu lassen? Ja, diesen Fall, den kriegen wir. Das kann ich spüren.«

Zukov wusste, dass er nun nicht mehr gebraucht wurde. »Dann zieh ich mal los und such die beiden, Chef.«

»Tun Sie das«, sagte Sean und schaute ihm nach – nur um im selben Moment Detective Superintendent Featherstone das Großraumbüro betreten und in seine Richtung kommen zu sehen, mit einem pinkfarbenen Ordner unter dem Arm, dessen Farbe darauf hinwies, dass er Vertrauliches enthielt. Featherstone wirkte jedoch so jovial wie immer, trotz der schlechten Neuigkeiten unter seinem Arm. Er klopfte einmal kurz an Seans Türrahmen, bevor er eintrat und sich unaufgefordert vor den Schreibtisch setzte.

»Morgen«, sagte er. »Wie geht’s?«

»Bisher ganz gut, aber ich könnte mir vorstellen, dass sich das gleich ändert.«

»Wie laufen die Vorbereitungen für den Allen-Fall?«

»Sind so gut wie abgeschlossen«, antwortete Sean, ohne den Blick von dem pinkfarbenen Ordner abzuwenden. »Bis hin zur Beurteilung der Geschworenen, um festzustellen, ob sie glauben, dass er den Jungen töten wollte, oder ob sie es für einen Unfall halten. Mehr können wir im Moment nicht tun. Die Entführungen und Freiheitsberaubungen stehen außer Zweifel.«

»Gut«, antwortete Featherstone, obwohl er gar nicht wirklich zugehört hatte.

Sean deutete mit einem Nicken auf den Ordner. »Lassen Sie mich raten – die Sache mit dem Banker, der gestern live im Internet ermordet wurde?«

»Dann haben Sie es also schon gehört?«

»Gerade eben.«

Featherstone warf den Ordner auf den Schreibtisch. »Mit Grüßen von Mr Addis. Er meinte, dass dieser Fall genau der richtige für Sie sei.«

»Danke«, sagte Sean, ohne es auch so zu meinen, zog die Akte zu sich heran und schlug die erste Seite auf, wo er von einem professionell aussehenden Foto des lächelnden Opfers begrüßt wurde. »Nicht der übliche Ferienschnappschuss. Jemand Wichtiges?«

»Paul Elkins«, erklärte Featherstone. »Der CEO der Fairfield’s Bank, weshalb er sowohl wichtig als auch reich sein dürfte oder es zumindest war. Ohne das Video auf Your View und das Geschwafel des Verdächtigen hätte ich es für eine Profisache gehalten – vielleicht von Kolumbianern oder Russen, die ein Exempel an dem Banker statuieren wollten.«

»Haben Sie Grund zu der Annahme, dass er für jemanden Geld gewaschen hat, mit dem er sich besser nicht eingelassen hätte?«

»Nein, noch nicht, aber als mögliches Motiv wird das natürlich ausgeschlossen werden müssen.«

»Natürlich, aber …«

»Aber was?«

»Sie haben das Video gesehen – das sieht mir mehr nach etwas Persönlichem denn nach einer Profisache aus.«

»Na also«, sagte Featherstone. »Ich wusste ja, dass Sie der richtige Mann für den Job sind – Sie ziehen schon jetzt Ihre Schlüsse.« Featherstones Lächeln blieb unerwidert. »Jedenfalls war es so, dass Elkins sich gestern am späten Nachmittag auf den Heimweg machte und wie üblich die U-Bahn nach Hause nahm, statt sich von einem der Firmenchauffeure heimfahren zu lassen. Als er später in Chelsea die Straße entlangging, in der er wohnt, wurde er von hinten angegriffen, offenbar mehrmals auf den Kopf geschlagen und dann in einen weißen Lieferwagen verfrachtet, der direkt am Tatort stand. Der Wagen fuhr los, und nicht lange danach war Elkins live auf Your View zu sehen. Der Rest ist Geschichte, wie man so schön sagt.«

»Woher wissen wir das alles?«

»Wir haben zwei Augenzeugen, die so ziemlich alles mitgekriegt haben – eine Haushälterin, die auf dem Weg nach Hause war, und eine Nachbarin, die zufällig aus dem Fenster schaute.«

Sean sah die Akte durch und las die Aussagen der Zeuginnen, wobei ihm auffiel, dass die Nachbarin den Gegenstand, mit dem das Opfer mehrmals auf den Kopf geschlagen worden war, als kleinen schwarzen Knüppel beschrieb. »Sieht aus, als hätte er einen Schlagstock benutzt.«

»Das denke ich auch«, stimmte Featherstone ihm zu.

»Dann ist er ganz bestimmt kein Profi.«

»Wieso?«

»Weil ein Profi ihn mit einem Schlag außer Gefecht gesetzt hätte. Dieser Typ dagegen hatte so etwas noch nie gemacht. Er muss es erst noch lernen.«

»Was alles darauf hindeutet, dass der Mörder ein verärgerter Bürger ist, der eine Stinkwut auf Banker und dergleichen hat.«

»Das grenzt es auf ein paar Millionen Verdächtige ein«, erwiderte Sean spöttisch.

»Allerdings.« Featherstone zuckte mit den Schultern und erhob sich von dem unbequemen Stuhl. »Was wir bisher wissen, steht alles in der Akte. Ich überlasse sie Ihnen und wünsche Ihnen viel Glück. Assistant Commissioner Addis würde ein schnelles Ergebnis natürlich auch begrüßen – die Medien sind schon alle dran an diesem Fall.« Er ging zur Tür, wo er sich noch einmal umdrehte. »Und eins noch …« Sean schaute ihn misstrauisch an. »Mr Addis hat beschlossen, dass er gern eine alte Freundin von Ihnen bei diesem Fall dabeihätte, und deshalb wird Anna Ravenni-Ceron sich bald schon Ihrem Team anschließen. Versuchen Sie diesmal bitte mit ihr auszukommen.«

Sean schluckte, und sein Magen verkrampfte sich unwillkürlich vor Aufregung, aber es war bereits zu spät. Sosehr er auch dagegen sein mochte, dass die Kriminologin und Psychiaterin sich an seinen Ermittlungen beteiligte, konnte er doch die Anziehungskraft nicht leugnen, die sie auf ihn – und er auf sie – ausübte. Er konnte schon fast ihr langes dunkles Haar und ihre zarte Haut riechen, als stünde sie bereits in seinem Büro neben ihm.

»Ich werde mich bemühen.«

Assistant Commissioner Addis starrte Anna, die ihm auf der anderen Seite seines übergroßen Schreibtischs auf der obersten Etage in New Scotland Yard gegenübersaß, über den Rand seiner Brille prüfend an, weshalb sie sich unbehaglich und illoyal fühlte.

»Sie verstehen doch, was ich von Ihnen erwarte, oder?«, fragte er sie.

»Ja.«

»Das Gleiche wie zuvor. Sie beobachten ihn, analysieren ihn und sprechen mit ihm, so viel Sie können, ohne Ihre Karten aufzudecken, und Sie berichten ausschließlich mir persönlich. Im Gegenzug dazu erhalten Sie unbeschränkten Zugang zu der Ermittlung, einschließlich der Chance, an allen Verhören des Verdächtigen teilzunehmen, sobald wir ihn haben, was mit DI Corrigan als Ermittlungsleiter bestimmt nicht allzu lange dauern dürfte.«

»Ich werde versuchen, so nahe wie möglich an DI Corrigan heranzukommen«, sagte sie. »Aber das wird nicht gehen, ohne zu riskieren, dass er merkt, was los ist. Er ist clever und intuitiv. Es wird bestimmt nicht leicht sein.«

»Sie werden schon einen Weg finden«, sagte Addis mit einem anzüglichen Grinsen. »Ich habe vollstes Vertrauen in Sie.«

Sie fragte sich, ob er es wusste – ob er irgendwie etwas von jenem Nachmittag erfahren hatte, an dem Sean sie in ihrem Büro im Swiss Cottage besucht hatte und sie so nahe daran gewesen waren, dem Begehren und der sexuellen Anziehung zwischen ihnen nachzugeben. Doch wie konnte Addis davon wissen? Aber dann wiederum … woher konnte er auch nur die Hälfte der Dinge wissen, über die er informiert zu sein schien?

»Ich werde tun, was ich kann«, antwortete sie schließlich.

Sie spürte, wie er nach einer Schwäche suchte, als er sie eine Weile prüfend musterte. »Sie halten mich für … hinterhältig, weil ich ihn von jemandem mit Ihrem Beruf beobachten lassen will?« Anna erwiderte nichts. »Wissen Sie, Anna, Corrigan ist ein Gewinn für uns. Und ganz egal, was Sie vielleicht auch denken, als solchen schätze ich ihn auch. Aber seien wir doch ehrlich – er ist nicht gerade … der konventionelle Typ. Ich kenne Männer wie ihn – es sind die, die ständig am Rand des Abgrunds stehen müssen, um das Beste aus sich herauszuholen. Das Problem dabei ist, dass die Wahrscheinlichkeit eines Absturzes bei ihnen viel größer ist. Ich möchte so etwas kommen sehen, bevor es bei DI Corrigan so weit ist. Ich will nur das Beste für ihn, und deshalb liegt mir sehr an Ihrer fachlichen Beurteilung als Psychiaterin.«

»Natürlich. Ich verstehe.« Aber Anna glaubte kein Wort, das Addis von sich gab.

»Eine Sache an Corrigan, die mir wirklich Sorgen macht«, fuhr Addis fort, »ist sein schon fast zwanghaftes Bedürfnis, die Verdächtigen zur Rede zu stellen, sobald er sie quasi in die Enge getrieben hat. Er scheint jedenfalls entschlossen zu sein, sie Auge in Auge zu konfrontieren, und das allein. Haben Sie eine Ahnung, warum das so ist?«

Anna bewegte sich voller Unbehagen auf ihrem Stuhl und räusperte sich. Sammelte dieser Addis aus irgendeinem Grund Beweise gegen Sean, oder machte er sich Sorgen, dass er irgendetwas tun könnte, was dem Ruf der Metropolitan Police schaden würde? Die Möglichkeit, dass der stellvertretende Polizeichef tatsächlich nur um das Wohl seines Untergebenen besorgt sein könnte, kam ihr nicht mal in den Sinn.

»Es ist ein Teil von ihm, den er nicht beherrschen kann. Ein Leichtsinn, der sich auch in anderen Dingen bemerkbar macht.« Anna brach ab, als ihr klar wurde, dass sie wahrscheinlich schon zu viel gesagt hatte.

»In anderen Dingen?«, griff Addis den Gedanken auf. »Und worin?«

»Indem er beispielsweise Risiken eingeht, die andere wahrscheinlich nicht eingehen würden, und auch in sozialer Hinsicht kann er ein bisschen unbeholfen sein. Er kann Dinge sagen, die er auf der Stelle bereut oder manchmal eben auch nicht«, schloss sie und hoffte nur, dass Addis ihr das abnahm.

Er sagte eine ganze Weile nichts, bevor er dann zustimmend grunzte und mit den Schultern zuckte. »Allerdings. Aber warum hat er dieses gefährliche Bedürfnis überhaupt, mit den Verdächtigen allein zu sein? Er hat verdammtes Glück gehabt, dass Thomas Keller ihm nicht den Schädel weggepustet hat.«

»Ich glaube, er braucht das«, erwiderte Anna, die versuchte, Addis die Wahrheit zu sagen und Sean gleichwohl zu schützen. »Die Chance, allein mit ihnen zu reden, bevor die Anwälte erscheinen und die ganze Prozedur losgeht. Um auf eine unverfälschte Art und Weise mit ihnen zu sprechen, könnte man auch sagen. Damit er sie beobachten und alles an ihnen registrieren kann, solange sie noch ihr wahres Gesicht zeigen.«

»Und warum sollte er das tun?«

»Damit er beim nächsten Mal so werden kann wie sie, wenn es sein muss. Man muss wie ein Krimineller denken, um einen Kriminellen zu fassen. Behauptet man das nicht bei der Polizei?«

»Vor zwanzig Jahren vielleicht«, spottete Addis.

Anna ignorierte ihn. »Nur sind die Kriminellen, mit denen DI Corrigan es zu tun hat, Mörder, Psychopathen, Soziopathen und manchmal auch bloß Geisteskranke. Es kann also nicht einfach sein, so wie sie zu denken. Es muss ein sehr finsterer und einsamer Ort sein, in den er sich hineinversetzen muss – finden Sie nicht auch?«

Wieder schwieg Addis eine Zeitlang, bevor er antwortete. »Bestimmt. Und diese Zeit, die er allein mit den Verdächtigen verbringt, ist wichtig für ihn, um so denken zu können wie sie?«

»Ich glaube, ja. Er lernt offensichtlich aus diesen Begegnungen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er damit aufhört, wenn er nicht dazu gezwungen wird.«

»Das ist noch nicht nötig«, warf Addis ein. »Wie gesagt – für mich ist er ein wertvoller Mitarbeiter. Ich würde nichts tun, was seinen … Modus Operandi durcheinanderbringen könnte.«

»Nein«, stimmte ihm Anna zu. »Das würden Sie ganz sicher nicht.«

Geoff Jackson saß auf seinem Drehstuhl und hatte die Füße auf dem Schreibtisch liegen, während er an seinem Kugelschreiber kaute und in seiner anderen Hand eine unangezündete Zigarette drehte. Er hatte den ganzen Morgen auf den Bildschirm gestarrt und sich immer wieder das Filmmaterial des Mordes an Paul Elkins auf Your View angesehen, ohne das ununterbrochene Stimmengewirr und Telefongeklingel in dem riesigen Büro, in dessen Mitte er saß, auch nur wahrzunehmen. Als leitender Kriminalreporter bei The World, Englands meistverkaufter Zeitung, hätte er auch ein eigenes Büro haben können, aber er war gern mittendrin im Trubel, weil es ihm beim Denken half. Die Stille eines eigenen Büros hätte ihn verrückt gemacht, das wusste er. Er wusste auch, dass der Mord auf Your View die größte Story da draußen war, und er war fest entschlossen, sie zu seiner zu machen. Er konnte das Taschenbuch darüber buchstäblich schon vor sich sehen – und vielleicht sogar eine Fernsehdokumentation. Aber zuerst musste er seinen Namen und sein Gesicht zum Synonym für diesen Mord und die anderen machen, die zweifellos noch folgen würden.

Jackson spürte die Nähe der Redakteurin schon, bevor er sie sah, und sprang auf. Er war ein ziemlich großer, schlanker Mann, der sich seine Figur bewahrte, indem er so oft und so viel wie möglich rauchte in dieser neuen Nichtraucherwelt, was auch seine akzentfreie Stimme zunehmend rauer machte. »Sue«, rief er, um sie aufzuhalten. »Kann ich dich kurz sprechen?«

Sue Dempsey verdrehte ihre blauen Augen. »Was gibt’s denn, Geoff?« Mit ihrer Größe von einem Meter achtzig war sie fast so groß wie Jackson und genauso rank und schlank wie er, und mit dieser Figur und ihrem aschblond gefärbten Haar, womit sie das Grau darin verbarg, war sie mit ihren einundfünfzig Jahren eine Frau, die noch immer viele Blicke auf sich zog.

»Es geht um den Your-View-Mord – du musst mir die Titelseite dafür freihalten, Sue. Morgen und auch an den nächsten Tagen.«

»Was?« Sie hätte beinahe laut gelacht, als sie weiterging und Jackson sich an ihre Fersen heftete. »Du musst verrückt geworden sein!«

»Ich brauche diesen Fall, Sue!«, flehte er sie schon fast an und dachte dabei an sein teures Apartment in Soho und seine nicht weniger kostspielige zweiunddreißigjährige Freundin, mit der er es teilte.

»Du weißt Bescheid, Geoff. All diese Dinge müssen in der Redaktionssitzung besprochen und vereinbart werden. Ich kann nichts mehr allein genehmigen. Nicht in diesen Zeiten.«

»Aber du kannst mich unterstützen.«

»Und warum sollte ich das tun?«

»Weil diese Story im Moment die allergrößte ist. Die größte und wichtigste.«

»Wichtiger als der Terroranschlag in L.A.?«

»Wenn es nicht an unseren Küsten geschieht, verlieren die Leser schnell das Interesse, das weißt du. Diese Your-View-Sache dagegen könnte noch sehr lange gehen. Wir müssen diese Story zu unserer machen. Sie muss zur World gehören.« Dempsey blieb stehen und wandte sich ihm zu. Er konnte spüren, wie ihre Entschlossenheit nachließ. »In ein paar Tagen wird sich kein Mensch mehr für die L.A.-Story interessieren. Und ich habe immer noch meine Kontakte beim Yard, durch die ich an interne Informationen herankommen kann. Die Leute reden schon über diesen Killer, als ob er so was wie ein Racheengel wäre. Wir könnten sogar unsere eigenen Umfragen in der Bevölkerung durchführen – ›Sind Sie für oder gegen das, was der Your-View-Killer tut?‹ Das wird ein Renner, Sue. Ich sag dir, wir sind hier an etwas Großem dran. Erinnerst du dich, dass mir keiner glaubte, als ich anfing, die Wahrheit über die Pädophilen unter unseren Promis auszugraben? Denk doch nur mal dran, was für eine große Story daraus wurde! Dafür habe ich doch sicher noch ein paar Gefälligkeiten gut.«

»Ich muss zugeben, dass das gute Arbeit war«, stimmte Dempsey zu.

»Besser als gut«, betonte Jackson. »Die Cops hatten keine Ahnung, was da vorging – sie glaubten nicht, was die Eltern der Kinder ihnen erzählten, bis ich den ganzen Ring aufdeckte.« Sein selbstgefälliger Gesichtsausdruck wich auf einmal einem ernsteren, als erinnerte er sich an einen traurigen Moment in seinem eigenen Leben. »Ich habe viele Kinder davor bewahrt, das gleiche Schicksal zu erleiden wie die, die diese Dreckskerle schon in den Händen gehabt hatten.«

»Ja, das hast du«, gab Dempsey zu. »Das war rundum gute Arbeit. Also gut. In Ordnung, Geoff. Aber keine faulen Tricks. Wir brauchen eine saubere, ehrliche Berichterstattung, damit dieser Irre sich beim nächsten Mal nicht einen Journalisten schnappt.«

»Und ich will Exklusivität«, fiel er ihr schon wieder fast ins Wort. »Nur ich und keine anderen Journalisten werden über diesen Fall berichten.«

»Du denkst wohl schon voraus, Geoff?«

»Ich will nur das Beste für die Zeitung.«

»Natürlich willst du das«, antwortete sie. »Das wollen wir alle. Aber okay – von mir aus kannst du deine Exklusivität haben, nur sollte sich das besser auch auszahlen.«

»Wann hat es das mal nicht getan?«, entgegnete er mit einem breiter werdenden Lächeln.

»Frag nicht«, gab sie zurück und begann sich schon abzuwenden, bevor sie dann noch einmal innehielt. »Wie mir aufgefallen, hast du das Buch über den prominenten Kinderschänderring noch nicht geschrieben. Normalerweise bringst du das Paperback schon nach einigen Wochen heraus – nach dem Motto: Man soll das Eisen schmieden, solange es heiß ist, und all so ’n Quatsch.«

»Diesmal nicht«, antwortete er. »So gern ich diese schmierigen Promis auch vor aller Welt bloßstellen würde, gibt es doch noch ein paar Dinge, die mir heilig sind. Ich werde nicht für Geld über missbrauchte Kinder schreiben. Das ist nicht mein Stil.«

»Du wirst doch wohl nicht weich werden, Geoff?«, fragte Dempsey lächelnd und drehte sich auf dem Absatz um, bevor er etwas erwidern konnte.

Ein fröhliches Liedchen pfeifend ging Jackson zu seinem Schreibtisch zurück und überlegte, ob er seine Verlegerin jetzt schon anrufen sollte, um ihr Interesse zu wecken, oder besser abwartete, bis die Stimmung hochkochte und dieser Fall das Einzige war, worüber alle sprachen.

Sean und Donnelly hielten auf der Südseite der Barnes Bridge in South West London. Die Wasserschutzpolizei hatte eine in der Themse treibende Leiche unter der Brücke gefunden, die von dem durch die Strömung erzeugten Strudel erfasst und festgehalten worden war. Sie stiegen aus ihrem Wagen und gingen zu der kleinen Ansammlung von uniformierten Polizisten und Kriminalbeamten hinüber, die bei der Brücke standen und das Polizeiboot beobachteten, dessen Besatzung im Schutz einer kleinen Absperrung immer noch die Leiche zu bergen versuchte. Sean und Donnelly zeigten dem uniformierten Polizisten, der die Absperrung bewachte, ihre Ausweise und schritten auf die beiden Männer in Anzügen zu.

Sean streckte ihnen die Hand hin. »Detective Inspector Corrigan von der Special Investigations Unit.« Donnelly folgte seinem Beispiel.

»Detective Sergeant Rob Evans«, sagte der ältere, kleinere und stämmigere Mann, der seinem leichten Akzent nach aus Yorkshire stammte.

»Detective Constable Nathan Mead«, stellte sich der große, schlanke, junge Mann mit Londoner Akzent vor.

Evans blickte zu dem Polizeiboot hinunter, das mit dem Wellengang des Flusses kämpfte. Die steife Leiche, die mit dem Gesicht nach unten und seitlich ausgestreckten Armen in der Themse lag, wurde in dem schmutzig braunen Wasser am Brückenfundament herumgewirbelt, als ein weiterer Zug über die Brücke ratterte.

»Sie haben verdammte Mühe, den armen Kerl herauszuholen«, erklärte er. »Jedes Mal, wenn sie ihn beinahe haben, werden sie von den Wellen fast gegen die Brücke geschleudert. Aber zum Glück beruhigt sich die Strömung, sodass sie ihn jetzt sicher bald herausholen werden.«

Sean und Donnelly nickten nur, während sie das makabre Schauspiel verfolgten. Es war nie leicht, sich mit aus der Themse herausgefischten Leichen zu befassen – die Kälte des Wassers verstärkte die Totenstarre noch, und auch die Wassertierchen forderten recht schnell ihren Tribut.

»Ich schätze mal, er ist Ihr Mann, nicht wahr?«, fragte Evans.

»Könnte sein«, antwortete Sean. »Er scheint jedenfalls sehr gut gekleidet zu sein, und ich kann mir nicht vorstellen, dass heute viele Männer in Anzügen in der Themse treiben.«

»Das will ich doch nicht hoffen«, sagte Evans. »Das ist das Problem, wenn man in Wandsworth stationiert ist – wir überwachen die Themse auf der ganzen Strecke von Barnes bis Battersea und finden mehr Wasserleichen als die meisten. Aber zumindest ist diese hier noch an einem Stück.«

Sean antwortete nicht, sondern beobachtete, wie das Boot der Leiche näher und näher kam, bis endlich jemand von der Crew es schaffte, mit einer Art Enterhaken die Kleidung des Mannes zu erfassen.

»Das wurde aber auch Zeit«, nörgelte Evans. »Wir können hier nicht ins Boot steigen, deshalb habe ich ihnen gesagt, dass wir uns an dem Ruderclub dort hinten treffen. Da gibt es einen kleinen Pier oder Anlegeplatz oder wie immer man es auch nennen will. Auf jeden Fall habe ich gesagt, wir würden dorthin kommen, sobald sie ihn herausgefischt hätten. Kommen Sie?«, fragte er Sean, der ihn kaum hörte, weil er zu fasziniert war von dem makabren Anblick des starren Männerkörpers, der von der Crew an Bord gehievt wurde. Der Kopf des Toten war durch die Leichenstarre in seinen Nackenmuskeln angehoben, und seine Augen und sein Mund standen weit offen, als starre er Sean direkt an. »Ich fragte, ob Sie kommen, Chef?«, wiederholte Evans.

Sean schreckte aus seiner Träumerei hoch und drehte sich rasch zu ihm um. »Was? Ja. Klar. Wir kommen. Wohin?«

Evans verdrehte die Augen. »Folgen Sie uns einfach, Chef.«

»Gut«, antwortete Sean und trottete den anderen Detectives zu den wartenden Wagen hinterher. Donnelly ergriff als Erster das Wort, als sie losfuhren.

»Glauben Sie, es ist unser Mann?«

»Sieht so aus. Und eigentlich müsste er es sein, oder?«, antwortete Sean.

»Aye. Das nehme ich an. Haben Sie schon eine Idee?«

»Ehrlich gesagt versuche ich, keine zu haben.«

»Das sieht Ihnen aber gar nicht ähnlich«, gab Donnelly zu bedenken. »Alles okay mit Ihnen?«

»Bestens«, log Sean, während die starren Augen des Toten sich mit Bildern von Anna in seinem aufgewühlten Kopf vermischten. Angst und Erregung ergriffen ihn bei dem Gedanken, Tag für Tag mit ihr zusammen zu sein und durch sie von seiner Arbeit abgelenkt zu werden – sich ihretwegen nicht voll und ganz in die Entführung und Ermordung des Mannes hineindenken zu können, der jetzt tot auf dem Boden eines Polizeiboots lag.

»Na ja, ich glaube jedenfalls nicht, dass der Mörder ihn hier in den Fluss geschmissen hat«, sagte Donnelly. »Hier ist zu viel los – außer, er hat ihn mitten in der Nacht von der Brücke heruntergeworfen.«

»Nein«, verwarf Sean diese Möglichkeit. »Die Strömung hat ihn hierhergetrieben. Die Wasserschutzpolizei wird uns vielleicht sagen können, woher er kam.«

»Aye«, war alles, was Donnelly erwiderte, und für den Rest des kurzen Weges schwiegen sie. Sie parkten den Wagen und folgten den Wandsworther Detectives zu dem kleinen Pier des Ruderclubs, an dem das Polizeiboot bereits angelegt hatte.

»Wir werden hier auf Sie warten«, sagte Evans, der am Anfang des Piers stand. »Leider ist nicht viel Platz auf diesen Dingern«, erklärte er und nickte zu dem Boot hinüber. »Falls er nicht Ihr Mann sein sollte, können Sie ihn immer noch an uns zurückgeben, aber falls er es ist …«

»So machen wir’s«, stimmte Sean ihm zu, bevor er über den schmalen Pier zu dem Polizeiboot hinüberging.

Donnelly wartete, bis sie außer Hörweite waren, und sagte dann leise: »Er wird wohl genug haben von Wasserleichen, nehme ich an.«

»Er könnte sich ja auch nach Catford versetzen lassen«, erwiderte Sean, bevor er seinen Ausweis aus der Manteltasche zog und ihn der wachsamen Crew des Polizeiboots zeigte. »Detective Inspector Corrigan von der SIU. Ich glaube, diese Leiche gehört uns.«

»Kommen Sie an Bord«, forderte ihn der Sergeant auf. Die drei weißen Streifen auf seiner Schwimmweste wiesen ihn als Kommandanten des Bootes aus. »Aber seien Sie vorsichtig. Das Deck ist ein bisschen glitschig. Es erstaunt mich immer wieder, wie viel Wasser aus einer Leiche herauskommt – besonders, wenn sie voll bekleidet ist.« Donnelly verdrehte die Augen, während Sean die Bemerkung ignorierte, als sie an Bord gingen.

Die Wasserschutzpolizei hatte es bereits geschafft, den Toten in einem schwarzen, mit Reißverschluss versehenen Leichensack unterzubringen. Nur die Arme des Mannes standen an den Seiten noch ein wenig heraus, und sie hatten den Sack für die Detectives offen gelassen.

»Es wird verdammt schwierig werden, den Reißverschluss zu schließen«, bemerkte der Sergeant.

»Sie werden es schon schaffen«, sagte Sean zu ihm, bevor er näher an die Leiche herantrat und sich davor hinhockte, wobei das Schaukeln des Bootes die in ihm aufsteigende Übelkeit verstärkte. »Was glauben Sie, wie lange er im Wasser war?«

»Schwer zu sagen«, erwiderte der Sergeant. »Ein paar Stunden auf jeden Fall.«

»Ist er hier in der Nähe ins Wasser geworfen worden?«, fragte Sean.

Das Gesicht des Sergeant nahm einen gleichgültigen Ausdruck an. »Glaube ich nicht. Wir haben jetzt schon seit einer ganzen Weile Ebbe. Wahrscheinlich haben sie ihn irgendwo zwischen Teddington und Richmond entsorgt.«

»Na prima«, maulte Donnelly, weil ihm die Größe des Gebiets klar war, das sie nun in Betracht ziehen mussten.

Sean sah sich sehr genau die sterblichen Überreste von Paul Elkins an, dessen Gesicht infolge der Todesursache und der Zeit im Wasser aufgebläht und grotesk aussah. Seine Augen standen hervor und waren stark gerötet, und aus seinem offenen Mund ragte eine angeschwollene graue Zunge heraus. Sean versuchte, nicht an die kleinen Lebewesen im Wasser zu denken, die vermutlich schon den Weg in den Mund des Mannes gefunden hatten und seinen Körper als vorübergehenden Unterschlupf und Nahrungsquelle nutzten. Die Spuren und Quetschungen an seinem Hals, die der Strick hinterlassen hatte, mit dem er aufgehängt worden war, ließen keinen Zweifel an der Todesursache, auch wenn sie durch die obligatorische Autopsie erst noch offiziell bestätigt werden musste.

»Wenn wir hier fertig sind«, sagte Sean zu dem Sergeant, »sorgen Sie bitte dafür, dass der Tote in die Leichenhalle des Guy’s Hospitals überführt wird. Klar?«

Der Sergeant zog scharf die Luft ein. »Schwierig. Leichen aus diesem Gebiet müssen ins Charing Cross gebracht werden. Das Gericht zur Untersuchung von Todesursachen ist sehr penibel, was den Zuständigkeitsbereich angeht.«

»Das entscheide ich«, versetzte Sean nicht gerade freundlich. »Die Leiche geht zu Dr. Canning im Guy’s und niemand anderem.«

»Dann ist er also der Gesuchte?«, folgerte der Sergeant.

»Ja«, antwortete Sean bedauernd. »Er ist unser Opfer.« Dann stand er auf und wandte sich Donnelly zu.

»Ist Ihnen irgendetwas aufgefallen?«, fragte Donnelly.

»Nichts Besonderes. Obwohl …«

»Obwohl was?«

»Obwohl es nur zwei Gründe gibt, warum ein Mörder eine Leiche vom Schauplatz eines Mordes entfernt«, erklärte Sean. »Der eine ist, dass der Tatort den oder die Täter irgendwie mit dem Opfer in Verbindung bringt und sie es deshalb wegschaffen müssen, oder …«

»Oder?«, drängte Donnelly, der unbedingt die Antwort hören wollte.

»Oder sie tun es, weil sie den Tatort auch weiterhin benutzen müssen – um dort zu leben oder ein Geschäft zu führen beispielsweise –, obwohl ich in diesem Fall weder den einen noch den anderen Grund für sehr wahrscheinlich halte.«

»Was dann?«, fragte Donnelly.

»Der Täter braucht den Tatort noch«, erklärte Sean. »Er braucht ihn für weitere Opfer, und die wird es geben. Er hat uns quasi mitgeteilt, dass es noch mehr Opfer geben wird.«

»Ich hatte schon befürchtet, dass Sie das sagen würden«, bemerkte Donnelly. »Warum ist es bei uns so, dass es immer wieder neue Fälle geben wird?«

»Willkommen bei den Sonderermittlungen«, antwortete Sean.

»Womit haben wir es denn hier zu tun? Bloß mit einem weiteren verdammten Irren, oder könnte der hier tatsächlich so was wie ein selbsternannter Racheengel sein – ein normaler Typ, den man zu weit getrieben hat?«

»Das spielt eigentlich noch keine Rolle«, erklärte Sean. »Wichtig ist jetzt nur, dass er gut organisiert, motiviert, clever und gefährlich ist. Und dass wir ihn finden und aufhalten müssen, bevor das Ganze völlig außer Kontrolle gerät.«

»Das ist klar«, stimmte Donnelly ihm zu. »Möchten Sie, dass ich eine Opferschutzbeamtin hinzuziehe?«

»Ja, natürlich.« Sean versuchte, nicht an den Schmerz zu denken, den er der Familie zufügen würde. »Aber ich muss die Angehörigen zuerst allein sehen – um sie wissen zu lassen, was sie erwartet, und um vielleicht schon jetzt ein paar Antworten zu bekommen.«

»Soll ich Sie begleiten?«, fragte Donnelly.

»Warum nicht?«, antwortete Sean. »Dann können Sie mich auf dem rechten Weg halten.«

»Und was soll das heißen?«

»Das soll heißen«, antwortete Sean, »dass dies hier nicht gerade das ist, was wir gewohnt sind, nicht? Es ist ja nicht so, als ginge es um eine junge Frau, die aus ihrem eigenen Haus entführt wurde, oder um ein kleines Kind, das aus seinem Bett gerissen wurde. Diese Opfer waren … angreifbar. Aber unser Mann hier war nicht hilflos – oder dachte er zumindest. Ein Mann in den Fünfzigern, reich und mächtig … Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Öffentlichkeit ihm allzu viele Tränen nachweinen wird.«

»Bestimmt nicht. Aber trotzdem ist der Mann ermordet worden«, erinnerte ihn Donnelly. »Und jeder, der in unserem Revier auf seltsame und interessante Art und Weise umgebracht wird, muss sich darauf verlassen können, dass wir – ungeachtet seiner Herkunft – seinen Mörder finden.«

»Das weiß ich«, sagte Sean. »Aber erwarten Sie keine Flut von Informationen, falls wir bei der Lösung dieses Falls letztendlich auf die Öffentlichkeit angewiesen sein sollten.«

»Manchmal sehen Sie die Menschheit in einem sehr düsteren Licht«, bemerkte Donnelly dazu.

»Wir werden sehen«, meinte Sean mit einem warnenden Unterton in der Stimme. »Wir werden sehen, Donnelly.«

Detective Sergeant Sally Jones saß in ihrem Büro und ackerte die unzähligen Berichte durch, zu denen diese Ermittlung bereits geführt hatte. Sie hatte einen großen Teil des Tages am Telefon gehangen und mit den Leuten von Your View gesprochen, die alle sehr verärgert und schockiert darüber waren, dass ihr »Medium« für so eine sinnlose Gewalttat benutzt worden war. Aber sie seien machtlos, eine weitere solche Tat zu verhindern, sofern sie nicht ihre gesamten Aktivitäten einstellten, was sie natürlich nicht zu tun bereit waren. Sie seien sich sicher, dass die Polizei und die Öffentlichkeit das verstehen würden, meinten sie.

Als Sally eine ungewohnte Unruhe im Großraumbüro wahrnahm, blickte sie auf und sah Anna bei einer kleinen Gruppe von Detectives stehen, denen sie fröhlich plaudernd ihr unerwartetes und unangekündigtes Erscheinen erklärte.

Sally spürte, wie alle Farbe aus ihrem Gesicht wich und ein altes, vertrautes Gefühl der Übelkeit in ihr hochstieg. Ihre privaten Sitzungen mit Anna hatten ganz im Geheimen und ohne das Wissen von irgendjemandem bei der Polizei stattgefunden, doch nun stand ihre Psychiaterin in ihrem Büro und plauderte mit ihren Kollegen.

Sally sprang buchstäblich von ihrem Stuhl und stürmte in das große Büro, wo sie sich durch die kleine Gruppe drängte und Anna am Arm ergriff. »Anna! Wie schön, Sie zu sehen. Was tun Sie hier?«, fragte sie mit falscher Freundlichkeit und begann die Psychiaterin auf die relative Ungestörtheit ihres eigenen Arbeitszimmers zuzubugsieren.

»Niemand weiß es, Sally, falls Sie deshalb so besorgt aussehen«, versuchte Anna sie zu beruhigen, »und niemand wird etwas davon erfahren. Ich bin nur als Beraterin zu den Your-View-Ermittlungen hinzugezogen worden, weiter nichts.«

»Als Beraterin bei den Ermittlungen?«, wiederholte Sally. »Ich glaube mich zu erinnern, dass das beim letzten Mal nicht allzu gut gelaufen ist. Auf jeden Fall nicht für Sean.«

»Sally«, sagte Anna leise und blickte sich um, um sicherzugehen, dass sie von niemandem gehört werden konnten. »Falls meine Anwesenheit hier Feindseligkeit zwischen uns erzeugt – oder unsere Arzt-Patient-Beziehung nachteilig beeinflusst–, verspreche ich Ihnen, dem stellvertretenden Polizeichef zu sagen, dass ich bei dem Fall nicht assistieren kann.« Eine kurze Pause entstand. »Sie sind mir wichtiger als diese Ermittlung.«

Sally betrachtete eine Weile prüfend die Frau, der sie inzwischen ihre tiefsten Geheimnisse anvertraute – Geheimnisse, die sie sogar Sean verschwieg. »Mein Gott, Anna. Es tut mir wirklich leid. Ich hatte nur nicht damit gerechnet, Sie plötzlich hier in meinem Büro stehen zu sehen. Das hat mich etwas aus dem Konzept gebracht.«

»Meine Schuld«, gab Anna zu. »Ich hätte vorher mit Ihnen sprechen und Sie vorwarnen sollen.«