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Über 13 Jahre kämpfte Jackie Freitag gegen ihren Körper und ihr Essverhalten. In diesem Buch schildert sie ihre tiefgreifenden Erfahrungen mit ständigen Diätversuchen, Essanfällen, Magersucht, Bulimie & Sportzwang und erzählt eindrucksvoll, wie sie es schließlich schaffte, Frieden mit sich selbst und ihrem Körper zu schließen. Seit einigen Jahren folgt Jackie Freitag nun ihrer Herzensaufgabe: In ihrem erfolgreichen Online-Coaching "Soulfood" begleitet sie Frauen auf ihrem Weg zurück zu einem selbstbestimmten Leben. Ihr gesamtes Wissen aus der eigenen Erfahrung und der Arbeit mit inzwischen tausenden Frauen bündelt Jackie Freitag in diesem Buch. Das Buch soll Betroffenen Mut und Hoffnung schenken, sie dabei unterstützen, den Kampf gegen sich selbst aufzugeben und sie auf ihrem Weg begleiten – hin zu einem friedvollen Leben.
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Seitenzahl: 352
Veröffentlichungsjahr: 2024
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.ddb.de abrufbar.
Jackie Freitag
MEIN GRÖSSTES GESCHENK — MEINE ESSSTÖRUNG
Wie ich nach 13 Jahren den Kampf mit meinem Körper und dem Essen beendete
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1. Auflage 2024
KVM-Verlag in der Quintessenz Verlags-GmbH
Postfach 42 04 52; D–12064 Berlin
Ifenpfad 2–4, D–12107 Berlin
© 2024 Quintessenz Verlags-GmbH, Berlin
Lektorat: Renate Mannaa, Berlin
Illustrationen: Fotos – Jackie Freitag /
Bearbeitung – Maxine Lauhoff
Abbildung S. 244 (links): Foto – Oliver Rink
Gesamtherstellung: Quintessenz Verlags-GmbH, Berlin
eISBN: 978-3-86867-708-9
www.kvm-verlag.de
Dieses Buch widme ich allen Betroffenen, die sich im Kampf gegen sich selbst befinden, und ihren Angehörigen.
Ich möchte euch mit meiner eigenen Geschichte zeigen, dass es einen Ausweg gibt.
Dieser Weg führt über Liebe, Verbundenheit & Vertrauen.
Denn die Antwort ist in dir.
Deine Jackie ♥
Dieses Buch handelt von dem Thema Essstörung und den expliziten Schilderungen einer ehemaligen Betroffenen. Wenn du dich ebenfalls von diesem Thema betroffen fühlen solltest, könnten dich nachfolgende Inhalte triggern. Solltest du Hilfe benötigen, kontaktiere uns gerne unter [email protected].
Prolog — bin ICH das?
Warum ich dieses Buch schreibe
Kapitel 1
Ich habe nie gelernt mich zu lieben
Woher kommt ein emotionales Loch?
Mein Ausgangspunkt: Ich weiß, ich bin ein Fehler
Kapitel 2
Meine erste Diät
Was ist wirklich passiert?
Kapitel 3
Essen wird mein Feind
Was ist wirklich passiert?
Kapitel 4
Hätte ich nur endlich den perfekten Körper, dann könnte ich mich lieben!
Was ist wirklich passiert?
Kapitel 5
Vom Kontrollwahn zum Kontrollverlust
Meine neue Diät
Der Kontrollverlust
Was ist wirklich passiert?
Abnehmen und Diät — mein erstes Seelenpflaster
Essen — mein zweites Seelenpflaster
Emotionale Abhängigkeit — mein drittes Seelenpflaster
Kontrollverlust — Auslöser
Kapitel 6
Essen wird mein pures Lebensglück
Die nächsten Jahre
Was ist wirklich passiert?
Kapitel 7
Meine Seele hungert unaufhörlich
Die erste Zeit in meinem neuen Leben
Es ufert weiter aus
Es eskaliert
Der Essensdrang endet in heftigen Fressanfällen
Was ist wirklich passiert?
Tägliche Fressanfälle bestimmen mein Leben
Ein Date verändert alles
Endlich wieder schlank, schön und beliebt
Der Einzug in meine erste eigene Wohnung
Beginn meiner heftigsten Bulimie- und Fressanfallphase
Fressanfälle übernehmen die Kontrolle über mein Leben
Was ist wirklich passiert?
Sehnsucht nach Essen
Das Date
Der Einzug in meine erste eigene Wohnung
Notzustände haben Auswirkungen
Essen wird meine Droge
Ich missbrauche Essen, um meine Seele zu füttern
Kapitel 8
Sport — der Weg raus aus dem emotionalen Essen?
Mein Sportzwang startet durch
Krafttraining bestimmt jetzt mein Leben
Ernährung und Training müssen perfekt passen
Meine Trainerkarriere beginnt
Drei Jahre später
Meine Wettkampfvorbereitung
Mein großer Auftritt
Die deutsche Meisterschaft
Was ist wirklich passiert?
Kapitel 9
Wendepunkt — meine Seele muss heilen
Meine Beziehung wird der Spiegel meines inneren Kampfes
Mein Umdenken beginnt
Eine neue Bekanntschaft hält mir den Spiegel vor
Erst nach ein paar Monaten macht es KLICK
Mein KLICK-Moment
Was ist wirklich passiert?
Meine Beziehung
Bereit für Veränderungen
Der große AHA-Moment
Kapitel 10
Mein Heilungsweg
Anfang meiner tiefen inneren Reise
Versprechen 1: Ich pflege meinen Körper wieder gesund
Versprechen 2: Ich stelle meine Ernährung um
Versprechen 3: Ich werde meine Seele heilen lassen
Ich weiß instinktiv, dass ich keine Schutzstrategien mehr brauchen werde
Die praktische Umsetzung
Loslassen ist das Zauberwort
Meine vier ersten Schritte auf dem Weg zur Heilung
Das neue Jahr schenkt mir ein neues Leben
Meine Essstörung wird zu einem Geschenk
Mein Essverhalten verändert sich zum Positiven
Mein Sportverhalten verändert sich zum Positiven
Mein Leben verändert sich zum Positiven
Was ist wirklich passiert?
Körperliche Heilung
Seelische Heilung
Ursprungsarbeit statt Symptombehandlung
Nachwort
Was machen wir heute?
Seit Stunden sitze ich hier mit meiner Lieblingsdecke, eingekuschelt auf meinem Bett, und versuche zu lernen. Es fällt mir schwer, mich zu konzentrieren, denn meine Gedanken kreisen schon seit heute Morgen nur ums Essen. Es ist Freitagnachmittag und das bedeutet, dass es heute Abend endlich wieder so weit ist: Es ist der Tag, an dem unser Lieblingsrestaurant sein All-you-can-eat-Buffet auffährt. Ich freue mich, denn wir haben bereits letztes Wochenende beschlossen, dass wir das heute machen werden. Seitdem fiebere ich diesem Abend entgegen und kann kaum noch an etwas anderes denken. Beim Gedanken an die gebratenen Nudeln, die köstlichen Frühlingsröllchen, die überbackenen Bananen mit Honig und all die anderen kleinen Leckereien steigt ein wohliges Gefühl in mir auf. Ich kann alles schon förmlich schmecken und auch der Speichel in meinem Mund sammelt sich einzig und allein bei dem Gedanken daran. Als wäre ich jetzt schon mittendrin und gerade dabei, alles zu verschlingen! Ich muss zugeben, dass ich mich öfters dabei erwische, wie ich an all die Leckereien vom letzten Mal denke, besonders an den Nachtisch. Auch jetzt erwische ich mich wieder dabei, wie ich alles bis ins kleinste Detail durchgehe und mich gedanklich darauf vorbereite, mit welchen Vorspeisen ich wohl dieses Mal am besten starten werde.
Wie in Trance starre ich auf meine Lernunterlagen und bemerke, dass ich denselben Satz vor mir bereits zum zehnten Mal lese, ohne ihn wirklich zu verstehen. Wenn ich so weitermache, werde ich die Klausur nie bestehen oder nur ganz miserabel. Ich weiß, dass ich mich jetzt zusammenreißen muss, sonst wird das nichts mehr mit dem Lernen. Seit Stunden zwinge ich mich dazu, mich voll und ganz auf das Lernen zu konzentrieren. Doch irgendwie bringt es nichts.
Ich weiß, dass ich gerade notenmäßig nicht so gut dastehe. Dabei war ich so hochmotiviert und voller Ehrgeiz, als ich mit dem Studium begonnen hatte! Das macht mich unheimlich sauer und wütend auf mich selbst. Denn eigentlich bin ich doch intelligent genug, um diesen Stoff zu verstehen. Auch an Ehrgeiz hat es mir nie gefehlt. Dennoch gelingt es mir nicht, mich zu konzentrieren und für den Stoff zu begeistern. Die Gedanken an Essen sind einfach zu stark.
Während meine Gedanken zwischen Essen und Lernstoff hin und her springen, geht mir durch den Kopf, dass ich mich trotz aller Vorfreude heute Abend beim Buffet ein bisschen mehr zusammenreißen muss und diesmal nicht so übertreiben darf wie bei den letzten Malen. Letztendlich lande ich doch wieder in Gedanken bei den leckeren Frühlingsröllchen.
Leicht deprimiert schaue ich mich in meiner Einzimmerwohnung um. Aufräumen müsste ich auch mal wieder. Die dreckige Wäsche, die ich Anfang der Woche waschen wollte, liegt nämlich immer noch mitten im Zimmer. Aber dafür bin ich viel zu müde. Meine Augen wandern weiter zum Esstisch, der platztechnisch gerade so in den Raum passt und kaum zu übersehen ist. Darauf liegen immer noch die leeren Chips- und Gummibärchen-Tüten meines gestrigen Fressanfalls.
Ich nehme mir schon lange vor, meine Wohnung immer sauber und ordentlich zu halten, falls ich mal Besuch bekommen sollte. Aber auch das gelingt mir nicht. Ich merke, dass mich das gerade nur noch mehr herunterzieht. Denn es kommt wieder das gewohnte Gefühl in mir hoch, versagt und mein Leben nicht im Griff zu haben. Mein Leben fühlt sich wie ein riesengroßes Chaos an. Nein, mein Leben ist ein riesengroßes Chaos, wenn ich ehrlich zu mir bin. Die Frustration und Wut in mir werden immer größer. Ich werde es wohl nie schaffen, die Dinge durchzuziehen, die ich mir vorgenommen habe!
Niedergeschlagen nehme ich die Lernunterlagen von meinen Beinen, schiebe die Decke beiseite und steige aus meinem Bett. „Was soll das heute noch bringen? Der Tag lässt sich nicht mehr retten. Ich krieg’s sowieso nicht hin!“ Ich kenne mich und diese Gedanken zu gut und weiß schon genau, was mir gerade bevorsteht. Ich werde mich auf die Suche nach Essen machen.
Kurze Zeit später finde ich mich in meiner winzigen Küche wieder. Ich erinnere mich noch haargenau an den Moment, als ich mir vor ein paar Monaten die Wohnung angesehen hatte. Ich hoffte damals so sehr, sie zu bekommen. Es war kurz vor meinem achtzehnten Geburtstag und mir war eigentlich völlig egal, wie die Wohnung aussah. Ich sehnte mich nur danach, allein zu sein. Ich wollte einen Raum für mich, in dem ich mich zurückziehen und verstecken konnte. Einen Ort nur für mich, an dem mir niemand sagen konnte, was ich zu tun und zu lassen habe. Einen Ort, an dem ich selbst bestimmen konnte, wie ich mich verhalte, wie ich lebe und was ich machen möchte.
Ich blicke zum kleinen Küchenfenster und betrachte die Wassertropfen, die an der Fensterscheibe hinunterlaufen, weil es in der Wohnung kälter ist als draußen. Ich weiß, dass ich die Heizung eigentlich höher drehen müsste, aber die Angst vor einer Nachzahlung ist dann doch zu groß, denn das wäre einfach nicht drin mit meinem Kellnergehalt. Ich erinnere mich, wie viel Ärger es damals bei meinen Eltern zu Hause gab, als wir eine Nachzahlungsaufforderung bekamen. Aus dieser Lektion habe ich gelernt.
Gedankenversunken ziehe ich meinen dicken Cardigan ein Stückchen weiter zu und merke, wie es mich schüttelt und ich Gänsehaut bekomme. Dabei bemerke ich den Schimmel in der Ecke über dem Fenster und frage mich, ob er schon da war, als ich eingezogen bin, oder ob er dann doch durch die Kälte in der Wohnung entstanden ist. Ich will nicht weiter über die Konsequenzen nachdenken und beschließe stattdessen, den Kühlschrank zu öffnen. Jedes Mal, sobald ich das tue, schießen mir automatisch Gedanken meiner Stimme der Vernunft in den Kopf: „Ich brauche jetzt nichts zu essen! Wir gehen nachher doch zum All-you-can-eat-Buffet. Ich muss jetzt vernünftig sein! Wenn ich mich jetzt zusammenreiße, kann ich nochmal den Versuch starten zu lernen. Vielleicht kann ich so aus dem Tag doch noch etwas Positives machen.“ Doch ich weiß gleichzeitig, dass ich es sowieso nicht hinbekommen werde. Ich kenne diese Gedanken nur allzu gut, mit denen ich versuche, mir selbst etwas vorzumachen. So oft habe ich schon versucht, mir alles schön zu reden. Doch eigentlich weiß ich, dass ich mich nur selbst belüge.
Ich bemerke, wie meine Gedanken noch negativer und verachtender werden:
„Es ist überhaupt NICHTS schön! Und, was ändert es schon, ob ich jetzt esse oder nicht? Am Ende des Tages kriege ich sowieso nichts geregelt! Ob ich jetzt zu viel esse oder nachher beim Buffet! Hinkriegen werde ich es sowieso NIE! Ich werde es nie schaffen, ganz normal zu essen – wie ein ganz normaler Mensch! Ich werde es nie schaffen, Essen zu genießen, anstatt es einfach nur zu verschlingen! Ich werde nie diese Leichtigkeit dabei empfinden wie all die anderen Menschen! Ich werde mich nie dabei ausgelassen unterhalten können oder frei und gelöst sein! Auch heute Abend werde ich mich nicht einfach auf ein schönes Gespräch einlassen können, ohne der nächsten Sprechpause entgegenfiebern zu müssen, damit ich mir das nächste Stück in den Mund schieben kann! Auch den heutigen Abend werde ich nicht genießen können – im Gegenteil!“
Stattdessen weiß ich jetzt schon, dass ich kaum mitbekommen werde, was mir die Person am Tisch gegenüber erzählen wird. Einfach, weil ich viel zu sehr damit beschäftigt sein werde, darüber nachzudenken, was ich als Nächstes essen könnte und wie viel ich noch in meinen Magen bekommen werde, bevor ich es dann auf der Toilette zum ersten Mal an diesem Abend wieder loswerde. Ich weiß außerdem, dass meine Gedanken den ganzen Abend darum kreisen werden, wie oft ich zur Toilette gehen kann, ohne dass es dem Gegenüber auffällt. Und darum, welche Ausreden und Lügen ich am besten dafür erzählen kann.
Jetzt ist eh alles egal!
Ich bin so ein Versager!
Ich bekomme nichts auf die Reihe …
Durch meinen Gedankenausflug zögere ich einen Moment und betrachte dabei meinen fast leeren Kühlschrank. Er ist die meiste Zeit über leer. Einzig und allein aus dem Grund, weil ich es nicht aushalten würde, etwas Leckeres oder überhaupt etwas Essbares im Haus zu haben. Es ist nicht so, dass ich nichts einkaufe. Nein, vielmehr ist es so, dass ich sofort alles verschlingen muss, sobald ich etwas dahabe. So ist es zur Gewohnheit geworden, dass ich mehrmals am Tag den Supermarkt um die Ecke aufsuche und mein komplettes Trinkgeld vom Vorabend dort lasse.
Damit ich dort nicht auffalle, habe ich mir schon lauter Ausreden und Lügen einfallen lassen. Nur für den Fall, dass mich die Verkäuferin fragend anschauen sollte, wenn ich wieder einmal mit einem Korb voller Toast, Nutella, Keksen, Gummibärchen, Limo und Chips an der Kasse stehe. Für gewöhnlich tue ich dann so, als würde ich telefonieren und für meine Freundinnen oder meinen Freund einkaufen gehen. Oft habe ich mich nicht getraut, der Verkäuferin in die Augen zu schauen, oder sogar verzweifelt nach einer Kasse gesucht, an der man mich heute noch nicht gesehen hat.
Wieder erwische ich mich dabei, wie meine Gedanken abgeschweift sind, und spüre, wie ein Gefühl der Scham, der Wut und des Versagens in mir hochkommt. Spätestens JETZT weiß ich, dass ich die letzten Reste aus meinem Kühlschrank verschlingen werde. Natürlich esse ich in diesen Momenten lieber Süßigkeiten, Fastfood oder andere leckere Sachen. Aber wenn nichts da ist, tut es auch eine Schüssel Haferflocken mit Milch und ganz viel Zucker.
Es geht mir gerade nicht darum, Essen zu genießen. Vielmehr ist es so, dass ich das Essen BRAUCHE. Ich merke, wie zittrig und nervös ich bereits bin. Ich reiße die Haferflocken aus dem Schrank, kippe sie in meine bereits benutzte Schüssel von heute Morgen und schütte sie bis zum Rand voll mit Milch. Wie praktisch, dass der Zucker von gestern noch auf meiner Ablage steht. So kann ich noch schneller eine riesige Menge in die Schüssel kippen. Dass einiges dabei daneben landet, interessiert mich nicht.
In solchen Momenten kann ich das Essen weder genießen noch mir dafür Zeit nehmen, es liebevoll zuzubereiten. Es geht einzig und allein darum, so schnell und so viel wie möglich in mich hineinzustopfen. Klar denken kann ich in diesen Momenten nicht mehr. Ich fühle mich wie ferngesteuert und alles um mich herum ist mir vollkommen egal. Vielleicht realisiere ich diesen Zustand noch, aber ändern oder stoppen kann ich ihn nicht mehr. Ich fühle mich, als sei ich nicht mehr ICH selbst. Ich bin nicht mehr bei mir. Als wäre ich zwar körperlich noch anwesend, aber geistig nicht mehr in diesem Raum oder in diesem Zimmer. Ich fühle absolut nichts mehr – außer den Drang nach Essen. Ich habe schon oft darüber nachgedacht, ob sich wohl so ein Drogenabhängiger fühlen muss. Denn es ist mir absolut nicht mehr möglich, eine bewusste Entscheidung zu treffen, wenn ich mich in diesem Zustand befinde.
Ich muss mir leider eingestehen:
Auch wenn ich es mir noch so oft einrede und mir fast jeden Abend aufs Neue sage, dass ich ab Morgen bewusst und gesund leben und essen werde …
Auch wenn ich mir immer wieder einrede, dass ich sofort aufhören könnte, Essen maßlos in mich hineinzustopfen, wann immer ich nur wollen würde …
Auch wenn die Lügen mir so oft das Gefühl geben, noch irgendeine Art der Kontrolle zu haben …
… so finde ich mich doch tagtäglich im Supermarkt, beim Essen und schließlich über der Kloschlüssel wieder.
Noch während ich auf dem Weg zu meinem Zimmer bin, habe ich schon den ersten Löffel mit gehäuftem Zucker, ein wenig Milch und einzelnen Haferflocken in meinen Mund geschoben. Mir ist leicht schwindelig und die Nervosität steigt. Ich kaue wenig und schmecke kaum etwas. Ich nehme lediglich die Süße in meinem Mund wahr und fühle mich ein klein bisschen befriedigter. Jedoch lange noch nicht befriedigt genug. Kaum habe ich den zweiten vollgehäuften Löffel in meinem Mund, denke ich schon darüber nach, ob ich nicht zufälligerweise noch einen Schokoriegel, Bonbons oder Ähnliches in irgendeiner Tasche liegen gelassen und vergessen habe.
Ich werfe mich aufs Bett und drücke auf die Fernbedienung in der Hoffnung, dass irgendetwas im Fernseher läuft, dass mir noch gute Laune machen könnte. Ich möchte gerade nicht mit meinen Gedanken und Gefühlen allein sein. Ich hoffe irgendetwas zu finden, das mich in dem Moment vergessen lässt. Wie so oft finde ich eine Sendung, in der ich mir das Leben anderer Menschen angucken kann. Denn das gibt mir das Gefühl, mit meinen Problemen nicht allein zu sein. Ich schaue gerne diese Art von Serien, denn dadurch habe ich das Gefühl, dass es schlimmer um mich bestellt sein könnte. Sie helfen mir dabei, die Lügen aufrechtzuerhalten, die mir jeden Tag Kraft und Halt geben. Gerade rede ich mir ein, dass es mir doch eigentlich ganz gut geht. Ich schaue hinab auf meinen Schoß und realisiere, dass meine Schüssel schon wieder leer ist. Lediglich ein bisschen Zuckermilch ist noch übrig – ich lege den Kopf tief in den Nacken und gieße sie mir in den Mund.
„Was könnte ich jetzt noch essen?“ Und noch während ich den Satz denke, weiß ich, dass ich mich am Anfang eines Fressanfalls befinde. Meine Gedanken wandern in die Abstellkammer: „Gibt es nicht vielleicht in irgendeiner Tasche noch etwas, das ich vergessen haben könnte?“ Hastig stelle ich die Schüssel auf meiner Decke ab und springe aus dem Bett. Ich reiße die Tür der Abstellkammer auf und fange an, in meinen Taschen zu wühlen.
Mir kommt in den Sinn, dass ich in dieser Woche früher von der Uni nach Hause gegangen bin. Der Grund war, dass während der Vorlesung der Essensdrang und die Gedanken an Schokocroissants und Nussecken so stark aufkamen, dass es nicht mehr auszuhalten war und ich einfach gehen musste.
Auch hier hatte ich wieder einmal kaum etwas von dem mitbekommen, was der Professor vorne erzählte. Und das, obwohl das Fach einmal zu meinen Lieblingsfächern gehörte und ich den Dozenten immer sehr mochte. Ich kann mich noch so gut an den Moment erinnern, als ich das Fach „Gestaltung“ am Anfang des Semesters wählte, weil ich mich so sehr darauf gefreut hatte! Von klein auf habe ich mich für alles interessiert, was mit Kunst und Kreativität zu tun hatte.
Doch wenn die Gedanken ans Essen aufkommen, verliere ich komplett die Kontrolle über mich. Mir fällt es dann schwer, irgendwelchen Worten zu folgen, meine Konzentration lässt innerhalb weniger Sekunden nach und gedanklich finde ich mich in irgendeinem Supermarkt wieder. Für mich gibt es in diese Situation nur eins: die tiefe Sehnsucht, mir endlich Essen in den Mund zu stopfen. Und davon am besten so viel und so schnell wie möglich.
Nachdem ich aus der Vorlesung geflüchtet war, fand ich mich kurze Zeit später in der Uni-Kantine wieder, die dem Vorlesungssaal am nächsten war. Der Drang nach Essen war wieder so stark, dass ich es bis nach Hause nicht aushalten würde. Deshalb nahm ich mir vorsichtshalber aus der Kantine ein Salamibrötchen, ein Croissant, einen Muffin und etwas zu trinken mit auf den Weg. Das sollte doch zumindest reichen, bis ich zu Hause ankomme. Auf dem Weg zur nahen U-Bahn-Station nahm ich plötzlich den herrlichen Duft von frischen Brezeln wahr. Er kam aus dem kleinen Café, in dem wir gerne zwischen den Vorlesungen zusammensitzen, quatschen oder lernen. Der Duft war so verlockend und verführerisch, dass ich nicht anders konnte als hineinzugehen, um den Laden dann kurze Zeit später wieder mit zwei frischen Brezeln zu verlassen. Sie rochen so lecker, wodurch mein Drang nach Essen immer stärker wurde. Bepackt mit einer weiteren Essenstüte lief ich weiter zur U-Bahn-Station und musste unbedingt dabei den Muffin probieren. Das Probieren wurde schnell zum Schlingen und endete letztendlich im Stopfen. Dabei hatte ich immer meine Umgebung im Blick. Denn ich war stets darauf bedacht, nicht gesehen oder ertappt zu werden. Schließlich hatte ich meiner Freundin erzählt, dass mir schlecht war. Und von meiner starken Sucht nach Essen wusste niemand etwas und es sollte auch niemand davon erfahren.
Als ich endlich in der U-Bahn saß, hatte ich bereits den Muffin und das halbe Croissant verschlungen. Hier musste ich ein bisschen vorsichtiger sein. Denn die Gefahr war groß, dass mich jemand sah und erkannte. Ich musste mich regelrecht dazu zwingen, die zweite Hälfte meines Croissants langsamer zu essen. So, wie ein ganz normaler Mensch eben.
Ich musste nur acht Minuten Fahrt überstehen bis zur Haltestelle fast vor meiner Haustür, wo ca. 100 Meter weiter der nächste Supermarkt auf mich wartete. Also versuchte ich mich so zivilisiert und unauffällig wie möglich zu verhalten, bis ich endlich aus der Bahn aussteigen konnte. Ich konnte deutlich spüren, wie die Nervosität in mir aufstieg und wie meine Schritte immer schneller wurden. Ich wollte nur noch eins: so schnell wie möglich alles im Supermarkt besorgen, was mich glücklich macht, und mich dann endlich ungestört zu Hause zurückziehen und über alles hermachen.
Plötzlich werden meine Gedanken unterbrochen, weil mir schlagartig einfällt, dass ich die beiden Brezeln vergessen und noch nicht gegessen habe, die ich Anfang der Woche spontan in dem kleinen Uni-Café mitnahm. Ein unbeschreiblich schönes und starkes Glücksgefühl überkommt mich in diesem Moment. Nur Sekunden später finde ich mich sitzend auf dem Boden vor meiner Abstellkammer wieder, während ich mir das erste Stück harte Brezel in den Mund schiebe. Ich verschlinge die zwei Brezeln so schnell, dass mir sogar das Schlucken schwerfällt. Einfach, weil die Stücke zu groß und mittlerweile völlig trocken sind. Während ich auf dem kalten Boden sitze und die Brezeln in mich hineinstopfe, fällt mir auf, dass ich den Geschmack kaum wahrnehme. Mit Genießen hat das alles gar nichts mehr zu tun. Hauptsache Essen, denke ich mir.
Meine Gedanken sind dabei nicht mehr bei den Brezeln, sondern schon wieder einen Schritt weiter: Ich überlege nochmals, diesmal intensiver, ob ich vielleicht doch noch irgendwo etwas Essbares vergessen habe, das ich mir danach noch in den Mund stopfen kann. Außerdem beschäftigt mich das Thema, wie ich später das Essen wieder loswerde. Ich habe im Laufe der Zeit viele Techniken und Strategien entwickelt, wie ich es schaffe, das Essen nach einem Fressanfall loszuwerden. Hier bin ich mit der Zeit und natürlich mit der Erfahrung immer kreativer und erfinderisch geworden. Was zunächst mit Sporteinheiten und weniger Essen am Folgetag anfing, führte dann später zu Abführmitteln, exzessivem Sport, Hungern und letztendlich hin zum Übergeben nach dem Essen.
Ich stopfe mir das letzte Stückchen Brezel in den Mund und werde allmählich nervös. Ich weiß, dass mir das bisschen Essen natürlich nicht reichen wird. Ich brauche mehr! Denn für einen Fressanfall war das gerade erst der Anfang und ich brauche jetzt dringend mehr, um mich einigermaßen befriedigt zu fühlen.
Für einen kurzen Moment denke ich an heute Abend. Es wäre schade, wenn ich später wieder Magen- oder Halsschmerzen hätte und den Abend nicht richtig genießen könnte. Nichtsdestotrotz ist mein Essensdrang gerade viel zu stark und, wenn ich ehrlich zu mir bin, ist es jetzt eh schon zu spät und mir völlig egal. Oh, wie oft mich dieser Gedanke heimsucht, dass jetzt alles eh egal und zu spät ist! Er ist mittlerweile zu einem ständigen Begleiter geworden und gar nicht mehr wegzudenken. Er schießt in meinen Kopf, wenn ich ein bisschen zu viel esse, wenn ich etwas Süßes esse, wenn ich Fastfood verschlinge, wenn ich zu wenig Sport mache oder der Tag generell einfach nicht gut läuft. Denn dieser Satz ist meine Entschuldigung und Ausrede dafür, wenn ich im nächsten Moment mit dem Kopf in der Einkaufstüte hänge und bestaune, was ich alles Leckeres eingekauft habe. Wenn ich zurückdenke, begleitet mich dieser Satz schon seit meiner Kindheit. Es ist immer wieder dasselbe Muster: Entweder gab es den perfekten Plan und die perfekte Ausführung oder es gab ein „Jetzt ist auch alles egal …“.
Vorwurfsvoll und fast schon selbstbestrafend ziehe ich mich an der Tür zur Abstellkammer hoch. Ich schlüpfe schnell in meine Boots, die direkt neben meiner Eingangstür stehen, reiße meine Jacke vom Kleiderhaken an der Haustür, überprüfe, ob ich genug Trinkgeld vom Vorabend eingesteckt habe, und verlasse eilig meine Wohnung, um mich dann einige wenige Minuten später im Supermarkt um die Ecke wiederzufinden, in dem ich alles einpacken werde, was ich für mein Geld bekommen kann.
Seitdem ich denken kann, hat das Thema „Essen und Körper“ eine so prägnante und einnehmende Rolle in meinem Leben gespielt, dass ich mehrere Bücher schreiben müsste, um all das festzuhalten und zu beschreiben. Bereits sehr früh wurde mein Körper zu meinem größten Feind und dafür hasste ich ihn abgrundtief.
Ich habe alles versucht und gegeben, um ihn mit aller Gewalt zu verändern. Ich habe wahrscheinlich jede Diät und jedes Sportprogramm getestet, das es zu der jeweiligen Zeit und Lebensphase gab. Ich habe ihn gequält, indem ich zu wenig oder zu viel aß, indem ich ihn stundenlangen Sportsessions unterzog, indem ich ihm zu wenig Nährstoffe und Kalorien gab, indem ich von ihm wollte, endlich meinen Vorstellungen zu entsprechen, indem ich alles versuchte, um das Essen wieder loszuwerden, indem ich ihm Unmengen an schädlichen Lebensmitteln gab und schließlich indem ich ihn auch noch zwang, auf der Bühne zu stehen – perfekt in Szene gesetzt mit angemalter brauner Haut und keinem Gramm Fett, um ihn von fremden Menschen bewerten zu lassen.
Insgesamt litt ich 13 Jahre unter einem gestörten Essverhalten, das sich in den verschiedensten Formen zeigte. Immer mit dem Ziel im Kopf, endlich glücklich und zufrieden in meinem Körper zu sein und meinen Körper wirklich lieben und annehmen zu können. Auch wenn ich es in den 13 Jahren mehrere Male schaffte, meine anfänglich gesetzten körperlichen Ziele zu erreichen, genügten sie mir dann doch wieder nicht. Denn was ich nie erreichte, war das Gefühl von Zufriedenheit, Wohlbefinden und Selbstliebe. Immer wieder dachte ich, kurz davor zu sein. Mit jedem erreichten Ziel dachte ich, dass ich es fast geschafft habe und sicherlich nur noch 7,5 oder auch nur 3 kg abnehmen müsse, um endlich wirklich zufrieden mit mir zu sein. Ich dachte, dass ich nur noch meinen Po besser trainieren, dass die Cellulite nur komplett verschwinden oder mein Bauch nur noch etwas definierter sein müsste, sodass ich endlich meinen Körper lieben könnte.
Dabei bemerkte ich nicht, dass mein Körper und das Streben nach Zufriedenheit eine so prägnante Rolle in meinem Leben einnahmen, dass ich viele andere Lebensbereiche stark vernachlässigte. Denn trotz der ganzen erbrachten Opfer wurde ich einfach nicht glücklicher – im Gegenteil – es wurde schlimmer: Wenn ich die selbst aufgebaute Kontrolle durch strenge Essens- und Sportpläne mal nicht aufrechterhalten konnte, fiel ich in tiefe Löcher und erlebte die schlimmsten Fressanfälle überhaupt, wodurch die Bulimie über lange Zeit einen festen Platz in meinem Leben einnahm.
Zusammengefasst heißt das: Ich habe sehr lange unter dem Kampf gegen meinen eigenen Körper und dem Essen gelitten. Ich musste sehr harte Zeiten durchmachen und stand oft an einem Punkt, an dem ich alle Hoffnung verloren und nicht mehr geglaubt hatte, jemals aus diesem Teufelskreis herauszukommen. Ich habe nicht mehr geglaubt, jemals wieder ein normales Essverhalten aufbauen, geschweige denn, mich und meinen Körper jemals lieben und annehmen zu können.
Ich habe so viele Jahre gebraucht, um zu verstehen, dass ich auf den falschen Wegen nach den richtigen Antworten suchte und wieso ich sie auf den mir damals bekannten Wegen niemals finden konnte. Denn ich war besessen von dem Gedanken, dass ich mich endlich gut fühlen und glücklich sein würde, wenn ich erst einmal den in meinen Augen perfekten Körper erreicht hätte, sodass ich nicht mal auf die Idee kam, auf dem falschen Weg zu sein. Ich habe weitere Jahre gebraucht, um zu verstehen, dass ich mich in einer Sackgasse befand. Ich hatte versucht, dort einen Ausweg zu finden, obwohl es nie einen gab, bis ich mir irgendwann bitter eingestehen musste, dass dieser Weg niemals zu meinem Ziel führen würde und ich einen neuen Weg würde suchen und finden müssen.
Erst als ich bereit war, das zu begreifen und ganz tief in mir zu verinnerlichen, konnte ich einen neuen Weg einschlagen und mich von all den selbst auferlegten Ketten befreien, die mich die ganze Zeit über innerlich gefangen hielten. Seitdem beschäftige ich mich mit den tiefen inneren Gründen, wieso so viele Frauen (und auch Männer) eine gestörte Beziehung zu ihrem eigenen Körper und zum Essen entwickeln. Dabei beobachte ich überwiegend die konventionellen Wege, die die meisten versuchen zu gehen, um wieder Frieden mit sich selbst, ihrem Körper und dem Essen zu finden.
Aus meiner eigenen Erfahrung und meiner heutigen Arbeit mit vielen betroffenen Frauen kann ich bestätigen, dass keiner der klassischen, uns bekannten Wege jemals funktionieren wird. Denn genau wie ich damals befinden sich viele in der Sackgasse und suchen dort verzweifelt nach einem Ausweg.
In unserer Gesellschaft ist das Thema Essstörung leider immer noch ein zu wenig erforschtes und leider oft verrufenes Gebiet. Häufig wird den Betroffenen eingeredet, dass ein Teil der Essstörung niemals weggehen und sie einen ein Leben lang begleiten wird, wenn man einmal damit in Berührung gekommen ist. Doch hier kann ich aus eigener Erfahrung und im Namen aller Frauen, die ich betreuen durfte, ganz klar sagen: Das ist nicht so! Denn es gibt eindeutig einen Weg raus aus der Essstörung. Hierfür bedarf es jedoch eines vollständig neuen Denkansatzes im Umgang mit uns selbst, mit unserem Körper, mit dem Essen und vor allem auch mit unserer „Seele“. Wie das aussieht und was es genau bedeutet, werde ich in diesem Buch beschreiben und auf die einzelnen Punkte tiefer eingehen.
Ich bin 13 Jahre lang einen Weg gegangen und heute weiß ich, dass er mich nie an mein Ziel, ein glücklicher Mensch zu sein, hätte bringen können. Ich gab alles, bin hart und streng mit mir umgegangen und zwang mich in die Knie, habe aber niemals den Punkt erreicht, an dem ich glücklich war. Auch wenn ich noch eine Schippe draufgelegt hätte, hätte ich mich niemals akzeptieren, mich niemals in meinem Körper wohlfühlen und niemals mein Leben so führen können, wie ich es mir so sehr gewünscht hatte.
Ich wäre damals froh gewesen und hätte mir von Herzen gewünscht, ein Buch wie dieses in meinen Händen halten zu können. Denn wahrscheinlich hätte es mir sehr viele Jahre des Herumirrens und der Verzweiflung erspart. Daher möchte ich dieses Buch all den Frauen widmen, die die gleichen Wünsche, Sehnsüchte und Träume in sich tragen, die ich so viele Jahre tief in mir hatte. Wünsche, Sehnsüchte und Träume, die ich auf meinem Weg damals niemals erreichen konnte, weil ich nicht verstanden hatte, was ich falsch mache und wie es anders gehen soll.
Ich möchte diesen Frauen mit meinem Buch Mut machen und Antworten auf all die quälenden und bohrenden Fragezeichen in ihren Köpfen geben. Ich möchte aufzeigen, dass es einen Weg gibt, der abseits der konventionellen Wege existiert: der einzige, mir bekannte Weg zu wahrem innerem Frieden. Dieser Weg hilft nicht nur dabei, wieder ein normales Essverhalten aufzubauen und uns in unserem Körper wieder zu Hause zu fühlen, sondern führt vor allem auch dazu, zu uns selbst zu finden und so das Leben führen zu können, das uns tief erfüllt.
Um den Inhalt dieses Buches für Dich nutzen zu können, musst du nicht unbedingt von einer Essstörung betroffen sein. Vielmehr ist dieses Buch an all diejenigen gerichtet, die das Gefühl haben, eine gestörte Beziehung zu ihrem eigenen Körper und ihrem Essverhalten entwickelt zu haben – egal in welcher Form und wie diese sich ausdrücken mag. Daher ist dieses Buch so viel mehr als nur ein Ratgeber bei Essstörungen. Denn du wirst lernen und erfahren, wie du wieder zu dir selbst zurückfinden und eine echte Beziehung aufbauen kannst.
Ich werde dir zeigen, dass dein gestörtes Verhältnis zum Essen und zu deinem Körper nur Ausdruck anderer, tiefer liegender Themen ist, die die ganze Zeit über nur gehört werden möchten. Außerdem wirst du mit jeder Zeile mehr verstehen, dass diese Themen sich in den unterschiedlichsten Arten einer „Essstörung“ ausdrücken können, nämlich in Form von Fressanfällen, im Diätwahn, in ständigen Gedanken ans Essen, in dem andauernden Gefühl, abnehmen zu müssen, in Form von Bulimie oder aber auch im Sport- und Fitnesswahn.
All diese verschiedenen Formen der Essstörung habe ich durchlebt. Dabei habe ich nicht immer erkannt, dass es sich um einen Ausdruck der Essstörung handelte bzw. sich eine Form in eine andere verlagerte. Denn leider werden in unserer Gesellschaft nur einzelne Formen als Essstörung deklariert und akzeptiert und andere erscheinen uns als Normalität und werden sogar mit Ehrgeiz und Disziplin verbunden.
Meinem Inneren und meiner Seele ging es dennoch immer gleich, egal an welchem Punkt ich mich gerade befunden habe. Alle Formen waren gleich schlimm. Der Unterschied lag lediglich darin, dass ich mir unterschiedliche Schutzstrategien ausgesucht hatte, um besser damit umgehen zu können.
Ich werde dir in diesem Buch aufzeigen, wie du diese Schutzstrategien nach und nach lösen und loslassen kannst, sodass du deine eigentlichen Sehnsüchte erkennen kannst. Ich zeige dir einen Weg auf, der dich an den Punkt führt, den du dir so lange schon wünschst, und lasse dich dabei tief an meiner persönlichen Geschichte teilhaben. Ich bin mir sicher, dass du dich darin wiederfinden und dich selbst erkennen wirst. Du wirst sehen, dass auch du den Kreislauf beenden kannst! Ich bin absolut der Überzeugung, dass, wenn ich es da raus geschafft habe, es JEDER schaffen kann!
Du wirst Zeile für Zeile erkennen, dass der Weg aus der Essstörung keinen Kampf braucht, sondern viel mehr mit „Loslassen“ zu tun hat. Du wirst verstehen, wieso Kampf und Frieden widersprüchlich zueinander stehen und nebeneinander nie existieren können.
Ich bin sehr dankbar, dass ich dich auf deinem Weg begleiten darf, und erleichtert, dass du heute dieses Buch in deinen Händen hältst. Denn ich bin mir sicher, dass ich diesen Weg damals nicht nur für mich allein gegangen bin, sondern für Tausende, vielleicht Millionen anderer Frauen durchleben durfte. Ich sehe es heute als meine Bestimmung und Berufung an, anderen Frauen dabei zu helfen, aus ihrem Kreislauf auszubrechen, um sich selbst finden und neu begegnen zu können.
Ich bin den Weg der Heilung für DICH gegangen, um ihn DIR zeigen zu können. Jetzt bist DU an der Reihe! Also lass uns unsere gemeinsame Reise beginnen …
Wenn ich heute auf meine Kindheit zurückblicke, kann ich mich kaum an einen Tag erinnern, an dem ich frei von dem Gedanken war, nicht gut genug zu sein. Ich kämpfte immer schon mit den Gedanken, dass die Mädchen in meiner Klasse schöner, beliebter und schlanker waren als ich. Ich schämte mich oft für mich und meine Figur, weshalb ich mich immer versteckte und nie traute, voll und ganz „Ich“ zu sein.
Immer hatte ich das Gefühl, sehr bedacht mit meinen Worten und Auftreten umgehen zu müssen, damit man mich überhaupt mochte. Diese tiefen Selbstzweifel haben sich unterschiedlich ausgedrückt: Mal war ich der Klassenclown, der versuchte, die Unsicherheiten zu überspielen, mal war ich der Rebell, der gegen meine Eltern, meine Lehrer und jeden rebellierte, der mir das Gefühl gab, anders und besser sein zu müssen. Genauso gab es aber auch Phasen, in denen ich mich zurückzog, versteckte und am liebsten allein war.
Ich kann mich nicht daran erinnern, dass ich jemals einen Moment hatte, an dem ich nicht dachte, jemand sein zu müssen, um geliebt und gemocht zu werden. Auch kann ich mich nicht daran erinnern, dass ich mich jemals innerlich frei fühlte, innere Leichtigkeit empfand oder das Leben einfach nur liebte.
Als Kind ist man sich nicht bewusst, was genau da in einem los ist. Genauso ist man sich nicht bewusst, wieso man sich schämte, wenn man nicht die neuesten Markenklamotten anhatte, nicht so gute Noten bekam wie die beste Freundin oder man nicht so beliebt bei den Jungs war wie die hübschen, schlanken Mädchen aus der Klasse.
Wenn wir ehrlich sind, geht es den allermeisten erwachsenen Frauen heute noch so, ohne dass sie sich dessen bewusst sind. Wenn man nämlich genauer hinsieht und hinter die Fassade schaut, kann man erkennen, dass sich heute noch so viele schämen, wertlos fühlen und alles dafür tun, um diese Gefühle nicht fühlen zu müssen. Dabei erkennen sie nicht, dass hier immer noch dieselben Muster aus ihrer Kindheit aktiv sind, die sie nie aufgearbeitet haben. Sie haben nie hinterfragt, wieso es ihnen eigentlich so wichtig ist, was andere Menschen von ihnen denken bzw. halten und wieso es sie so sehr trifft, wenn sie jemand ablehnt oder kritisiert.
Auch ich habe diese Selbstzweifel und Gefühle lange Zeit wie einen schweren Rucksack mit mir herumgetragen, ohne zu erkennen, dass ich allen und jedem versuchte, gerecht zu werden. Anstatt im Inneren nach den Gründen zu suchen, habe auch ich versucht, die Antworten im Außen zu suchen, denn ich habe nie gelernt, mich für mein reines SEIN zu lieben.
Als Kind suchte ich die Anerkennung bei meinen Eltern, später brauchte ich sie von meinem Partner. Wollte ich als Kind noch den neuesten Schulrucksack haben, brauchte ich später die schicksten Klamotten oder Taschen. Während ich als Kind noch Angst hatte, von meinen Klassenkameradinnen nicht gemocht zu werden bzw. nicht beliebt zu sein, hatte ich die Angst später auf der Arbeit bei meinen Kolleginnen. Hatte ich als Kind noch Angst, dass der Lehrer sieht, dass ich meine Hausaufgaben nicht richtig gemacht hatte, so hatte ich als erwachsene Frau die Angst, nicht als gut und wertvoll von meinem Chef betrachtet zu werden.
Und zu guter Letzt: Während ich mich als Kind für meine Figur schämte und dachte, beliebter bei den Jungs in der Klasse zu sein, wenn ich erst einmal schlank bin, tat ich das genauso als erwachsene Frau bei den Männern. Es waren immer dieselben Gedanken, dieselbe Hoffnung und auch dieselbe mangelnde Selbstliebe.
Ist man sich dessen erst einmal bewusst, ist man schon ein ganzes Stückchen weiter. Leider ist es in unserer Gesellschaft nicht üblich, uns in unseren jungen Jahren beizubringen, was echte und wahre Selbstliebe ist oder wie wir mit Selbstzweifeln umgehen können. Deshalb möchte ich besonders tief auf diesen Punkt eingehen und das Versäumte nachholen.
Meist lernen wir, unseren Wert mit Dingen im Außen zu verknüpfen und an unserem Aussehen zu messen. So entsteht schnell das Gefühl, liebenswerter zu sein, wenn wir optisch das Beste aus uns herausholen. Dass wir eigentlich auf der Suche nach Liebe sind, verstehen wir an diesem Punkt natürlich noch nicht. Und so rennen wir wie Blinde durchs Leben, finden uns nicht mehr zurecht und halten uns an Dingen fest, von denen wir denken, dass sie uns Halt geben könnten. Wir alle brauchen Liebe. Das liegt in unserer Natur. Aber solange wir nicht lernen, sie uns selbst zu schenken, laufen wir permanent mit einem emotionalen Loch herum, das wir dann versuchen, über äußere Dinge zu füllen.
• Selbstzweifel
• Angst
• Scham
• Seelenwunden
• Selbsthass
• Gefühl, nicht wertvoll zu sein
Mein emotionales Loch war sehr groß. Deshalb war es umso schmerzhafter für mich, wenn ich diese Liebe nicht im Außen fand. Denn wenn wir uns die Liebe nicht selbst geben können, dann versuchen wir sie uns über Anerkennung, Beliebtheit und/oder Wertschätzung zu holen. Und dafür tun wir alles. Diese Anerkennung kann man sich vorstellen wie ein Beatmungsgerät, das uns am Leben hält. Nimmt man es uns weg, dann haben wir das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Deswegen setzte ich damals alles daran, die „lebenserhaltende“ Anerkennung und Aufmerksamkeit zu erlangen.
Ich möchte im Folgenden auf die Gründe eingehen, wieso ich nie gelernt habe, mich zu lieben. Dadurch wird verständlicher, wieso und weshalb es wohl die Wenigsten tun. Zunächst möchte ich aber erklären, wie so ein emotionales Loch überhaupt zustande kommt.
Eins vorweg: Wir alle brauchen Liebe! Und ich bin fest davon überzeugt, dass sich alles in unserem Leben darum dreht, einander Liebe zu geben und Liebe zu empfangen. Ich glaube, dass wir von Natur aus pure Liebe und reines Mitgefühl in uns tragen. Wenn wir von Anfang an erfahren und erkennen, dass Liebe das Wichtigste und Schönste auf dieser Erde ist, dann steht uns ein erfülltes Leben bevor.
Bekommen wir allerdings – besonders in unseren ersten Lebensjahren – keine oder zu wenig Liebe oder nur dann, wenn wir bestimmte Bedingungen erfüllen, dann wird uns diese Erfahrung unser ganzes Leben begleiten. Es entsteht ein emotionales Loch, das wir ein Leben lang versuchen zu füllen. Dieses emotionale Loch drückt sich in uns heute bekannten Volkskrankheiten aus: Bindungsängste, Depressionen, Angst vor dem Alleinsein, Panikattacken, Süchte und viele weitere.
Ein Experiment, das mich sehr schockiert hat, veranschaulicht sehr gut, wie wichtig es ist, dass wir in unseren frühen Jahren genug Liebe, Zuwendung und Körperkontakt bekommen:
Im 13. Jahrhundert wollte man herausfinden, was die ursprüngliche Sprache der Menschheit ist. Dafür trennte man einige Babys direkt nach der Geburt von ihren Müttern und übergab sie Betreuerinnen, die sie versorgen sollten. Diese durften die Babys nur füttern und säubern, ihnen jedoch keine Liebe und Zuwendung schenken. Außerdem durften sie sie nicht in den Arm nehmen, keine Zärtlichkeiten mit ihnen austauschen, keine liebevollen Wörter zu ihnen sagen und sie noch nicht einmal anlächeln. Das Experiment endete sehr grausam. Alle Babys starben nach kurzer Zeit.
Das zeigt eindeutig, dass wir mehr zum Leben benötigen als nurdie Befriedigung unserer materiellen Grundbedürfnisse. Genauso haben wir Hunger nach Liebe und dieser Hunger muss gestillt werden.
Ich denke, dass dieses grausame Experiment sehr gut verdeutlicht, dass wir besonders in unseren ersten Lebensjahren von der Liebe unserer Eltern abhängig sind. Bekommen wir sie nicht in dem Ausmaß, wie es eigentlich normal sein sollte, dann tragen wir ein leeres und ungefülltes emotionales Loch in uns. Es lässt sich ganz gut mit einem Loch in unserem Bauch veranschaulichen, das wir von nun an mit durch unser Leben tragen. Diese innere Leere ist der Grund dafür, warum wir uns so unerfüllt fühlen und niemals das Gefühl haben, angekommen zu sein. Um die uns ständig begleitende innere Leere nicht spüren zu müssen, haben wir im Laufe unseres Lebens Schutzstrategien entwickelt. Wir versuchen, sie mit Dingen zu füllen, mit denen diese Leere einfach nicht zu füllen ist.