Mein Herz ist ein Idiot - Christiane Hagn - E-Book

Mein Herz ist ein Idiot E-Book

Christiane Hagn

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Beschreibung

Als frischgebackene Uni-Absolventin lässt Maja nicht nur die Kleinstadt, sondern auch die Affäre mit ihrem Dozenten hinter sich und macht sich nach einer furiosen Abschiedsliebesnacht auf nach Berlin. Die Hauptstadt mit all ihren Verheißungen scheint Maja genau der richtige Ort, um einen Job und ihr großes Glück zu finden. Für ihre 2er-WG in Berlin-Kreuzberg sucht sie sich den überaus attraktiven, aber auch geheimnisvollen Ben aus, in den sie sich schon bald Hals über Kopf verknallt. Damit ist Herzschmerz vorprogrammiert, denn Ben gibt sich immer wieder abweisend. Maja flüchtet sich in sexuelle Abenteuer und hat darüber hinaus mit ihrem Dasein als arbeitslose Akademikerin zu kämpfen. Als sich die lockere Freundschaft mit Ben endlich in Richtung Beziehung entwickelt, will ihr verrücktes Herz auch noch ein Wörtchen mitreden …

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Christiane Hagn

Mein Herz ist ein Idiot

Roman

Für meine Schwester

Prolog

Als ich zu meiner Zahnbürste greifen will, halte ich inne. Meine ausgefranste rosa Dr. Best steht wie gehabt in meinem Zahnputzbecher. In demselben Becher sehe ich zum ersten Mal seine Zahnbürste. Sie ist blau. Sie ist wunderschön. Dieser Anblick unserer beiden Zahnbürsten in ein und demselben Becher, wie sie einander ihre Köpfe zuwenden, als stünden sie kurz vor dem ersten Kuss, lässt mein Herz wie verrückt klopfen. In diesem Moment wird mir eine ganz schreckliche Tatsache bewusst: Ich habe mich verliebt. So eine Scheiße.

1. Kapitel

Drei Männer in 24 Stunden

Heute ist die letzte Nacht meines alten Lebens. Die letzte Nacht in der Stadt, in der ich fünf Jahre gelebt, geliebt und gelitten habe. Kurz gesagt, studiert habe. Eigentlich handelt es sich um gar keine Stadt. Eher um eine Ansiedlung zwischen Nirgendwo und Trostlosigkeit.

Wenn man an so einem Ort studiert, muss man sich weit größeren Herausforderungen stellen, als nur Scheine zu machen und Prüfungen zu bestehen. Das Ganze ist viel mehr ein Selbstexperiment. Konfrontiert mit den Tücken der Provinz, lernt man die eigenen Grenzen kennen. Man beginnt, sich sonderbare Fragen zu stellen: Wie lange kann ich mich Nacht für Nacht in der immergleichen Bar betrinken? Was passiert, wenn alle Flaschen leer sind? Wozu braucht man öffentliche Verkehrsmittel? Und wo fahren die hin? (Neue Flaschen holen?) Gibt es hier noch irgendeinen Mann, mit dem ich noch nicht geschlafen habe? Oder zumindest einen, der noch nicht mit mir und meinen zwei besten Freundinnen geschlafen hat? Solche Fragen sind es, die die grausame Realität eines Studiums in der Kleinstadt bestimmen.

In einem Nest wie diesem lassen sich Überschneidungen in der Wahl des Beischlafpartners, des potenziellen Fickobjektes – wie es im studentischen Fachjargon heißt –, gar nicht vermeiden, gehören quasi zur Tagesordnung, zum guten Ton. Man hat nicht viel, aber was man hat, wird geteilt. Das hat Vorteile. So weiß man schon vor der sexuellen Begegnung mit einem Mann, worauf man sich einlässt, und kann Enttäuschungen über einen viel zu kleinen Penis oder eine mögliche Analfixierung gekonnt umschiffen. Oder gezielt aufsuchen, je nach Vorliebe.

Ja, hier im Süden Deutschlands, in unserer kreis- und tabufreien Stadt halten wir noch zusammen. Es ist die Verzweiflung, die uns verbindet, die Hoffnung auf ein Leben nach der Provinz und natürlich: unser Traum. Unser aller Traum von einem Leben in der Großstadt, von Abenteuern in Metropolen, von einem Spaziergang mit fremden Gesichtern auf der Straße, von einem Supermarkteinkauf nach zwanzig Uhr, von täglichen Fahrten in einer U-Bahn, von einem One-Night-Stand, den man niemals wiedertrifft, weil man sich niemals einfach so über den Weg laufen wird. Niemals. Verrückt.

Heute, hier und jetzt soll es für uns alle endlich losgehen, unsere Sehnsucht nach Anonymität schon bald gestillt werden. Es ist die Nacht unserer Magisterfeier. Unsere letzte gemeinsame Nacht in der verhassten und gleichzeitig geliebten, weil bekannten Welt. Wir treffen uns in hübschen Kleidern und dunklen Sakkos vor der Tür der Philfuck, der philosophischen Fakultät. Die Stimmung ist feierlich und wir sind sehr aufgeregt, auch wenn wir nicht wissen warum. Die Noten sind längst bekannt, die Gesichter vertraut. Nur die Zukunft, die ist ungewiss.

Ich trage ein rückenfreies schwarzes Sommerkleid und die Haare offen – zur Feier des Tages sogar gekämmt. Ich bin erholt und braun gebrannt. Man sieht sofort, dass ich mich die letzten Wochen nicht in eine dunkle Kammer eingesperrt habe, um zu lernen. Aber im Schwimmbad – auf einer grünen Wiese neben dem Beckenrand – konnte ich mich schon immer am besten auf Prüfungen vorbereiten. Dachte ich zumindest. Ich habe den drittschlechtesten Abschluss meines Jahrganges. Mit einer Note von 2,4 kann ich allerdings sehr gut leben. Mit einem Sommer ohne Schwimmbad nicht.

Alle Absolventen versammeln sich artig im Theatersaal unserer Universität, dem Raum der emotionalen Entblößung, vom ersten bis zum letzten Tag. Angefangen beim Pantomimekurs im ersten Semester, über groteske Vorsprechen und Theaterproben, bis hin zur Aufführung unserer selbst inszenierten Stücke und Filme im Abschlussjahr. Ein Ort, an dem schon alle Masken gefallen, Tränen der Niederlage oder des Ruhmes geflossen sind. Ein Ort, an dem es nach Angstschweiß und Bühnenschminke riecht. Ab heute kann uns dieser Ort nichts mehr anhaben. Ich fürchte, ab heute werden wir ihn vermissen.

Nach einer viel zu langen Ansprache einiger Professoren erhalten wir endlich unsere Zeugnisse. Anschließend Smalltalk und Sekt. Ich nehme all meinen Mut zusammen und frage meinen Dozenten, warum er meine Magisterarbeit über »Sinn und Sinnlosigkeit im deutschen Kino« nur mit einer Drei benotet hat. Er sagt, sie sei ihm zu »ontologisch«. Ich sage: »Verstehe« und hole mir noch einen Sekt. Ich habe keine Ahnung, was ontologisch bedeutet, und nehme mir vor, das so schnell wie möglich zu wikipedieren, um dann zum intellektuellen Gegenschlag auszuholen. Am besten schriftlich, im Rahmen meiner Promotion. Diesen Gedanken fasse ich bei meinem inzwischen vierten Glas Sekt. Ich trinke es in einem Zug leer, und der Alkohol steigt mir direkt ins Gehirn. Auf dem Weg dorthin hinterlässt er Spuren in Form rot gefärbter Wangen und eines ins Wanken gebrachten Sprachzentrums. »Onto-ologisch! Der spinnt doch voll so was von.«

Nach zwei Stunden der nur mit Kampftrinken zu überstehenden Scheinheiligkeiten verlassen wir endlich die graue Betonhöhle der Universität und gehen dahin, wo wir immer hingegangen sind. In den einzigen Laden, in dem man in dieser gottverdammten Kleinstadt auch tanzen kann, ins Bergwerk. Alles ist wie immer, nur in Schön. Das liegt am Abschiedsschmerz, der uns ganz melancholisch werden lässt. Nadine tanzt mit geschlossenen Augen ihren berühmten Hüftschwung, und Moni begibt sich mit rudernden Armen mal wieder gekonnt in die Rückenlage, bis ihr Haar am Boden schleift. Ach, ich liebe meine Freundinnen und werde sie sehr vermissen in Berlin.

Berlin: mein neues Zuhause. Aber erst ab morgen. Heute habe ich noch viel vor. Denn ab heute bin ich eine 25-jährige Akademikerin der Theater- und Medienwissenschaften. Bisher fühlt sich nichts wirklich anders an. Aber vielleicht ist es ganz anders, mit akademischem Titel Sex zu haben. Das ist auf jeden Fall einen Versuch wert, denke ich, als ich Tobias neben mir an der Bar betrachte. Tobias ist dunkelhaarig und groß. Er hat diese perfekte Größe, bei der ich – wenn wir uns umarmen würden – meinen Kopf ganz genau an seine Brust ablegen könnte. Das sollten wir wirklich mal tun. Tobias hat scharf geschnittene Wangenknochen, schmale Lippen und trägt so einen Seitenscheitel, wie die Männer aus den H&M-Katalogen. Würde er jetzt noch Röhrenjeans und einen karierten Pullunder tragen, könnte man denken, er sei Model oder Rockstar. Er würde sehr gut nach Berlin passen. Zumindest stelle ich mir die Männer in Berlin so vor. Männer mit karierten Pullundern.

Tobias sieht auch nicht danach aus, als hätte er zuletzt im stillen Kämmerlein gepaukt. Eher, als hätte er die letzten Wochen ausschließlich Gewichte gestemmt. Sehr schwere Gewichte. Geile Sau, denke ich und tadle mich im Stillen für diesen Tourettesyndrom-artig in meinen Kopf gesprungenen Gedanken. Dürfen denn Akademiker so etwas Profanes wie geile Sau denken? Bestimmt. »Die Gedanken sind frei«, sagt meine Schwester. Soweit ich weiß, will Tobias noch seinen Doktor machen. Das finde ich – Klischee hin oder her – auch schon wieder ziemlich sexy. Tobias ist das, was man, euphemistisch ausgedrückt, geheimnisvoll nennen könnte. Wahrscheinlich ist er nur schweigsam, schüchtern oder hat einfach nichts zu sagen. Zumindest habe ich noch nie wirklich mit ihm gesprochen. Ich nehme an, dass ich ihn gerade deshalb so spannend finde, das Doktorchen in spe.

Wir sitzen also nebeneinander und schweigen. Die Musik ist laut und aggressiv. Es ist mal wieder Indie-Night, wie immer. Alles ist wie immer. Das hat die Provinz so an sich. Das macht die Provinz so liebens- und hassenswert zugleich. Man ist ständig hin und her gerissen zwischen garantierter Geborgenheit und todsicherer Langeweile. Ich sehne mich so extrem stark nach Abwechslung und denke nicht lange nach, als ich anfange, Tobias über den Rücken zu streicheln. Einfach so. Ich fahre mit meiner Hand unter sein T-Shirt und würdige ihn dabei keines Blickes, starre reglos vor mich hin, Richtung Tanzfläche, ins Leere. Er sieht mich von der Seite an und sagt: »Ich gehe jetzt nach Hause.« Ich sage: »Okay.« Dann stehe ich auf, lege meine Arme um seine Hüfte und meinen Kopf an seine Brust. Das fühlt sich sogar noch schöner an, als ich es mir vorgestellt habe. Er riecht so gut. Nach Waschmittel. Ich atme zweimal tief ein, bevor ich ihn wieder loslasse und zurück auf meinen Barhocker klettere. Dann sehe ich ihm für ein paar Sekunden direkt in die Augen. Trotzdem könnte ich jetzt nicht sagen, welche Farbe seine Augen haben. Ich kann Augenfarben einfach nicht im Kopf behalten. Ich bin augenfarbenblind.

Tobias holt den zerknüllten Garderobenzettel aus seiner Hosentasche und bleibt dabei ganz dicht neben mir stehen. Durch den Stoff seiner Hose spüre ich seinen erigierten Schwanz an meinem Knie. Mir wird klar, dass er jetzt nicht alleine nach Hause gehen wird. Ihm auch. »Bis gleich«, sage ich und wundere mich über meinen eigenen Mut. Tobias nickt und geht. Ich zähle im Stillen bis hundert. Dabei frage ich mich, ob so eine Erektion eigentlich beim Gehen wehtut.

Bei neunzig angekommen, trinke ich meinen letzten Schluck Bier aus, stehe auf und folge ihm. Ohne mich von Nadine oder Moni zu verabschieden, gehe ich nach draußen. Ich kann Tobias nirgends sehen und komme ins Zweifeln, ob die erotische Spannung zwischen uns möglicherweise nur ein Produkt meiner Fantasie war. Ob da wohl der Wunsch Vater des Gedankens war? Warum fallen mir so bescheuerte Redewendungen, die ich allesamt von meiner Schwester habe, immer in den unmöglichsten Momenten ein? Dann entdecke ich Tobias, etwas versteckt hinter den Müllcontainern. Da steht er und wartet – ganz offensichtlich auf mich. Ohne ein Wort zu wechseln, gehen wir zusammen los, als wären wir alte Freunde.

Ich habe mit diesem Mann in fünf Jahren maximal fünf Sätze gewechselt. Tobias war der Typ, der irgendwie immer in einer langjährigen, nach außen hin scheinbar glücklichen Beziehung steckte und daher als potenzielles Fickobjekt von vornherein ausschied. Momentan ist er Single, hat Nadine mir verraten. Unvorsichtigerweise. Denn vermutlich hat sie mir das nur gesagt, weil sie selbst einen Angriff auf ihn plant und ihr niemand dazwischenfunken soll. Zu spät. Sie wird mich umbringen. Aber Nadine ist grundsätzlich wütend, wenn ich Sex habe, egal mit wem. Natürlich gefällt ihr Tobias auch. Aber er gefällt allen. Kein Wunder, er ist auch wirklich schön anzusehen. Besonders hier im Licht dieser Straßenlaterne. Es ist eine dieser Laternen, die man nur aus alten Schwarz-Weiß-Filmen kennt. Überhaupt sieht diese ganze Stadt aus wie aus Pappmaché. Wie eine Filmkulisse, die jemand vergessen hat abzubauen. Unwirklich. Gerade allerdings unwirklich bezaubernd. (Mein Verhältnis zur Provinz ist nach dem Genuss von Alkohol immer sehr ambivalent.)

Nach nur fünf Minuten Fußweg stehen wir prompt vor seiner Haustür. Man hat gar keine Wahl. Wer hier lebt, kann nichts anderes machen außer vögeln. Die Wege sind einfach zu kurz, um es sich doch noch anders zu überlegen oder um sich zu verabschieden, weil man in unterschiedliche Richtungen müsste. Hier führen alle Wege zum Beischlaf.

Ich folge ihm über morsche Treppen in eine kleine, überschaubare Wohnung, für die das Wort Holzvertäfelung erfunden wurde. Wir setzen uns nebeneinander auf eine dunkelbraune Cord-Couch und starren auf den Teppich. Ich sage: »Schöner Teppich«, nur um überhaupt irgendwas zu sagen, und er sagt: »Ist von meiner Oma.« Dann stürzt er sich auf mich.

Tobias packt mich mit der rechten Hand am Nacken und zieht an meinen Haaren meinen Kopf nach hinten. So hält er mich einen Moment fest und starrt mich von oben herab an. Seine Augen sind braun. So wie meine. Dann greift er mit der anderen Hand an meinen Kiefer und öffnet meinen Mund, mit Druck durch Daumen und Mittelfinger. Genauso, wie man einem Hund das Maul öffnet, wenn er was gefressen hat, was er nicht fressen durfte. »Stille Wasser gründen tief«, lausche ich der amüsierten Stimme meiner Schwester in meinem Kopf, als Tobias seine Zunge in meinen geöffneten Mund schiebt. Ich beiße auf seine Zungenspitze, und Tobias weicht zurück, sieht mich ernst an. Mit einem gekonnten Griff unter meinen Rücken hebt er mich von der Couch und legt mich auf den Boden, auf Omas Teppich. In den Armen dieses Mannes fühle ich mich wie ein Fliegengewicht.

Ich liege auf dem Rücken und strecke mich aus. Tobias fährt unter mein Kleid, schiebt es nach oben und betrachtet meinen Körper. Ich glaube, er gefällt ihm. Und mir gerade auch. Weiße Brüste und braune Haut sind toll. Ich ziehe mir das Kleid über den Kopf, das an meinen riesigen, sehr bunten Ohrringen hängen bleibt. Während sich Tobias an meinem BH zu schaffen macht, befreie ich mich von Kreolen und Kleid. Er kriegt ihn nicht auf. Also schiebt er ihn ungeduldig nach oben und küsst gierig meine harten Brustwarzen, während ich an Alexander den Großen denken muss, der den gordischen Knoten einfach mit dem Schwert durchtrennt hat.

Sein Kopf verschwindet über meinen Bauchnabel nach unten, zwischen meine Schenkel. Tobias zieht mir mein Höschen aus, was zur Abwechslung auch mal klappt. Meinen BH öffne ich selbst. Dann fängt er an, meine Schamlippen zu küssen und mit seinem Finger zwischen meinen Pobacken zu streicheln. Ich spüre seine Zunge erst an meinem Kitzler, dann in mir drin. In diesem Moment frage ich mich, ob Männer zu allen Zeiten so gerne geleckt haben wie heute. Oder ob diese Leidenschaft erst mit dem Trend Intimrasur einherging. Dieser Gedanke schwirrt in meinem Kopf umher und lenkt mich ab. Das ist schlecht. Denn beim Gelecktwerden muss ich mich stark konzentrieren. Außerdem stimuliert mich Tobias an zwei Stellen gleichzeitig, da er immer noch zwischen meinen Pobacken rumstreichelt. Mir ist das zu viel. Männer sind doch sonst auch nicht multitasking, aber Lecken und Fingern geht anscheinend. Um der Reizüberflutung ein Ende zu setzen, flüstere ich ganz leise: »Schlaf mit mir!«

Tobias folgt meiner Aufforderung, kommt zu mir nach oben, küsst meinen Hals, dann meinen Mund. Ich zerre an seinem T-Shirt, ziehe es über seinen Kopf. Seine Brust ist ganz weich. Und hart. Weiche Haut, gebettet auf Muskeln. »Schlaf mit mir!«, wiederhole ich, und Tobias zieht sich endlich die Hose aus. Dann geht alles wieder sehr schnell. Er legt sich auf mich und dringt mit einem festen Ruck in mich ein. Tobias bewegt sich langsam und fest, ganz eng an mir dran. Es ist keine Rein-raus-Bewegung, sondern eher so eine Noch-tiefer-in-mich-rein-Bewegung. Sein Haar riecht nach Pfirsich. Ich suche seine Zunge mit meiner und sauge an ihr. Ich mag es, einen Mann zu küssen, der mich gerade geleckt hat.

Dann hält Tobias für einen Moment ganz still. Er sieht mich an. Ich fasse an seine angespannten Oberarme und möchte, dass er sich weiter bewegt, drücke meine Hüfte fordernd gegen die seine. Er zögert, bevor er mit einem tiefen Stoß antwortet, einmal, noch einmal, dann hält er wieder inne. Ich stöhne auf und drücke mich gegen ihn, greife an seinen Hintern und presse ihn noch fester an mich dran. Ich habe das Gefühl, ab dem Bauchnabel abwärts zu zittern. Tobias lässt mich noch einen Moment warten, bevor er weiter seine Hüften kreist. Dieses Ficken mit Pause macht mich ganz verrückt. Es dauert nicht lange, bis ich komme. Das gefällt ihm und macht ihn an. Denn er stößt schneller zu und krallt seine Finger in meine Haut. Als Tobias kommt, bilde ich mir ein, dass ich seinen Samenerguss in mir spüre.

Tobias liegt erschöpft neben mir. »Du riechst gut«, sage ich. »Du schmeckst gut«, sagt er. Hey, das war ja schon fast ein richtiger Dialog. Wir küssen uns noch mal auf den Mund, bevor ich ganz akademisch mein Kleid wieder anziehe und meine Ohrringe anstecke, die noch auf Omas Teppich liegen. Dann greife ich nach meinem BH, den ich vergessen habe anzuziehen, und verabschiede mich mit einer langen Umarmung, wobei ich meinen Kopf noch einmal kurz an seine Brust lege. Diese Verabschiedung verläuft wortlos. Natürlich.

Mit dem BH in meiner Hand finde ich mich wieder, mitten in der Altstadt, auf einem für solche Städte typischen Marktplatz: Kopfsteinpflaster, in der Mitte ein verschnörkelter Brunnen, umsäumt von nackten Bronzefiguren, die aus goldenen Kelchen Wasser in das Steinbecken gießen. Als ich diesen Brunnen betrachte, spüre ich, wie das Sperma langsam aus mir raus in mein Höschen fließt. Zum ersten Mal habe ich das Gefühl, die Metaphorik dieses Brunnens wirklich verstanden zu haben. Wunderschön. Ach, Akademikerin sein fühlt sich toll an. Man sieht die Welt mit ganz anderen Augen.

Unmöglich kann ich jetzt zu Ralf gehen. Eigentlich sollte ich diese letzte Nacht bei ihm verbringen. Seine Frau ist auf einem Wellness-Weekend und lässt sich hoffentlich ordentlich von ihrem Masseur durchbumsen. Das würde mein schlechtes Gewissen darüber, dass ich kein schlechtes Gewissen habe, etwas mildern. Ralf freut sich sicherlich schon seit Stunden auf meinen Besuch. Ich nehme an, er hat ein ausgiebiges Bad genommen, seine Haare mit drei Spülungen versehen und diesen Duft aufgelegt, den ich nicht leiden kann. Das habe ich ihm nie gesagt. Ich kann Ralf nicht kränken. Deshalb ist es auch undenkbar, jetzt noch zu ihm zu gehen, mit dem Geruch eines fremden Mannes an meinem Körper, in meinem Körper, an Ralfs Lieblingsstellen. Mit fremdem Sperma in meinem Höschen! Ich überlege, am besten jetzt einfach nach Hause zu gehen, bis mir einfällt, dass mein Schlüsselbund in meiner Jacke ist, die wiederum in Ralfs Auto liegt. Wirklich beschissene Logistik. Unentschlossen, immer noch mit dem BH in der Hand, kehre ich um – zurück ins Bergwerk. Dann muss ich eben weiterfeiern.

Ich treffe Max an der Garderobe. Seine blonden Haare stehen in alle Richtungen ab, sein T-Shirt ist verschwitzt. »Kommst du, oder gehst du?«, frage ich. »Wollte gerade gehen.« – »Kann ich mitkommen? Ich brauche heute Nacht Asyl.« Max sieht mich fragend an. »Lange Geschichte«, winke ich ab. »Klar«, sagt Max. »Ich muss halt morgen früh raus. Diese fucking Magisterarbeit.«

Max und ich waren vor fast zwei Jahren mal ein Paar. Für sage und schreibe einen Monat. Dann hatte er ständig Migräne und wollte lieber wieder alleine schlafen. Max machte den Vorschlag, uns besser wieder zu trennen. Ich habe meinen kurzen Kummer mit einem heißblütigen, romantischen Klischee-Italiener vertrieben, der mir allerdings nach einem Monat ebenso auf die Nerven fiel wie ich zuvor Max. Danach konnte ich Max besser verstehen, und wir wurden Freunde. Ich verstaue meinen BH unauffällig in seiner Jackentasche und hake mich bei ihm unter. Wir schlendern zusammen nach Hause und sprechen darüber, wie schnell die Zeit vergeht. Das Verrückte ist, wir meinen es auch so.

In Max’ Wohnung kenne ich mich bestens aus. Ich borge mir seine Zahnbürste, eine Shorts und ein T-Shirt. Wir schlafen im selben Bett. Wie Bruder und Schwester. Ich falle in einen tiefen, schweren Schlaf und träume, dass ich meinen Vater mit dem Bürgerlichen Gesetzbuch erschlage. Schuldgefühle?

Als ich morgens aufwache, ist die andere Betthälfte leer. Ich rieche den Duft von frischem Kaffee, gemischt mit Rasierwasser, und freue mich auf mein erstes akademisches Frühstück. Max sitzt im Wohnzimmer schon am Rechner. Er schenkt mir Kaffee ein, als ich in Shorts und T-Shirt verschlafen das Zimmer betrete. Wie immer gibt es bei Max lauter ungesund ekelhaft geile Sachen. Nutella und Leberwurst, Eiersalat und Karamellpudding, Streichkäse und Fruchtzwerge. Wir setzen uns nebeneinander, halten ein bisschen Händchen, schlürfen Kaffee. Ich schwanke gerade zwischen Eiersalat und Streichkäse, als sich Max ohne Vorankündigung über mich beugt und vorsichtig in die Innenseite meines Oberschenkels beißt. So, als wäre ich sein Leberwurstbrötchen. Ehe ich michs versehe, zieht er mir das T-Shirt aus, mit einer Entschlossenheit, die mich schon wieder beeindruckt. Er packt mich mit seinen Schlagzeuger-Armen an der Hüfte und hebt mich auf seinen Schoß. Fast gleichzeitig schiebt er meine Shorts nach unten und packt seinen Schwanz aus. Mit einer gezielten Bewegung setzt er mich auf sich drauf und steckt schon in mir drin.

Max’ Penis ist toll. Er ist genau richtig groß und immer hart, seitdem ich ihn kenne. Ich weiß gar nicht, wie mir geschieht, aber Max’ Penis in mir fühlt sich unglaublich gut an. Er stimuliert Stellen, die noch nie stimuliert wurden, von deren Existenz ich keine Ahnung hatte. Zum ersten Mal habe ich das Gefühl, dass ich mich zurückhalten muss, um nicht sofort zu kommen. Ob es diese Momente sind, in denen Männer versuchen, an Fußball oder an ihre nackten Omas zu denken? Max stöhnt sein unverblümt oberbayerisches Stöhnen, authentisch animalisch. Ich bewege mich auf ihm auf und ab, reite ihn, ganz langsam und sanft. Meine rechte Hand greift nach seinem Nacken, und ich sehe ihm in die Augen, so wie Tobias vor ein paar Stunden in meine Augen sah. Max’ Augen sind blau. Ich werde besser. »Ja, oh Gott!«, stöhne ich und sinke an seinen Hals. Immer spreche ich von Gott, wenn ich richtig geil bin. Dabei spreche ich sonst kaum zu Gott, nur im Bett. »Max, ich kann nicht mehr«, sage ich, bereits zu spät. So etwas habe ich nie zuvor erlebt. Das muss er sein: der berühmte vaginale Orgasmus!

Mit dem Orgasmus ist das so eine Sache. Man kann ihn nicht beschreiben, aber spürt genau, wenn man ihn hat. Das ist wie mit Verliebtsein, Glücksgefühlen beim Joggen, Liebeskummer oder Regelschmerzen. Man muss es selbst erlebt haben, um es zu verstehen. So auch der vaginale Orgasmus. Anders als der klitorale Orgasmus zieht er sich durch den ganzen Körper, irgendwie allumfassender. Ähnlich dem Gefühl, wenn man in einem Flugzeug sitzt, das gerade startet und mit circa dreihundert Sachen endlich in die Luft abhebt. Nur so, als ob man selbst das Flugzeug sei. Ich sag ja, wirklich schwierig zu beschreiben.

Mein ganzer Körper bebt. Ich stöhne so laut auf, dass spätestens jetzt die ganze Stadt wach geworden ist. Bestimmt auch Ralf. Max’ verzerrter Gesichtsausdruck lenkt mich ab. Er sieht aus, als habe er große Schmerzen oder – was wahrscheinlicher ist – als würde er auch gleich kommen. In dieser Sekunde zieht er seinen Schwanz aus mir raus und wichst mir auf den Bauch. Was für eine Verhütungsmethode. So macht man das also in Oberbayern. Da fällt mir ein, ich muss noch die Pille nehmen.

Ich klettere von Max runter, wische mir das Sperma mit einer Serviette vom Bauch und beschmiere uns zwei Brötchenhälften mit Leberwurst. Max und ich müssen lachen. Er sagt: »Danke.« Ich sage: »Da nich für.« (Das habe ich mal in Hamburg aufgeschnappt.)

Mein Handy klingelt, irgendwo. Ich laufe nackt von einem Zimmer zum nächsten, bis ich es endlich finde, in meinem Schuh. Ich schaffe es nicht mehr abzuheben, aber entdecke fünf Sprachnachrichten auf meiner Mailbox. Alle sind von Ralf. Von er mache sich Sorgen, wo ich bleibe, bis hin zu: »Du hättest auch einfach sagen können, wenn du mich nicht sehen willst!« Oje.

Jetzt habe ich seit über einem Jahr ein Verhältnis mit Ralf, meinem Italienisch-Dozenten. Da schlafe ich schon mit meinem Dozenten und dann nicht mal mit dem, der mich prüft. Ich bin wirklich keine Karrierefrau. Nicht mal nach oben schlafen kann ich mich. Aber was soll ich sagen, mein Herz hängt nun mal an Ralf. Leider. Er ist verheiratet und sehr viel älter als ich, aber irgendwie können wir beide nicht voneinander lassen. Es begann bei einem Ausflug in den botanischen Garten zu einer nächtlichen Lesung italienischer Gedichte. Ich war die Einzige aus unserem Kurs, die gekommen war. Ralf und ich lauschten unterm Sternenhimmel. Ich verstand kein Wort. Nach einer Flasche Rotwein und zu viel Limoncello wurde in dieser Nacht aus dem Abschiedskuss ein richtiger Kuss. Den Limoncello habe ich ein paar Stunden später wieder ausgekotzt. Im Nachhinein war das die Geburtsstunde meiner Affäre mit meinem verheirateten Italienisch-Dozenten. Der Kuss, nicht das Kotzen.

Ich verabschiede mich von Max, der inzwischen sein viertes Leberwurstbrötchen verdrückt. Wo er das nur hinsteckt, möchte ich mal wissen. Vermutlich in die Oberarme. Wir umarmen uns und versprechen hoch und heilig, auf alle Fälle den Kontakt zu halten. Dabei wissen wir beide, dass wir das nicht tun werden. Ach Max, du bist der Beste.

Ich schreibe Ralf eine Entschuldigungs-SMS, in der ich mich auf einen leeren Akku hinausrede und verspreche, ganz sicher heute Abend zu ihm zu kommen. Muss Berlin eben noch einen Tag warten.

Auf dem Heimweg treffe ich Moni und Nadine. Die beiden haben die Nacht durchgemacht. Sie waren mit Thomas im Take Ten, der einzigen Kneipe, die durchgehend geöffnet ist und rund um die Uhr Schnitzel serviert.

Die nächsten Stunden verbringen wir drei in der Sonne liegend im Park und entwerfen aberwitzige Zukunftsszenarien. Moni, die bald eine PR-Stelle in Paris antritt, sieht sich an der Seite eines französischen Schriftstellers mit Baskenmütze und Baguette durch die Stadt der Liebe schlendern. Immer wenn er eine Schreibblockade haben sollte, würde sie ihm einen blasen – bis ihm die Poesie wieder aus den Fingern fließt. Das würde natürlich nur bei ihr funktionieren, und so wäre sie auf immer und ewig seine Muse. Nadine hatte eh nur studiert, um von zu Hause auszuziehen. Sie will Opernsängerin werden. Wir stellen uns vor, wie Moni und ich Nadine in der Pariser Oper beklatschen, während unsere unglaublich attraktiven französischen Liebhaber unter unseren Röcken fummeln. Nadine meint, so ein Franzose würde mir mit seinem »Oh, là, là« bestimmt bald auf die Nerven gehen. Ihrer Ansicht nach sollte ich mir besser einen sizilianischen Zementmischer suchen, der Paolo heißt, Bierflaschen mit den Zähnen öffnet und auch im Winter oben ohne Holz für mich hackt. (Es ist mir einfach zum Verhängnis geworden, dass ich klischeegetreu auf muskulöse Oberarme stehe.)

Mir fällt auf, dass die beiden zumindest so ungefähr wissen, was sie beruflich machen wollen. Im Gegensatz zu mir – Maja Engel –, die erst mal zu ihrer Freundin Paula nach Berlin zieht, heute oder morgen, um dann weiterzusehen. Klingt nach einem todsicheren Plan, der todsicher in die Hose gehen wird.

Endlich ruft Claudi an, meine Mitbewohnerin. Sie sei jetzt zu Hause und könne mich reinlassen. Ich muss auch wirklich los, um meine letzten Habseligkeiten in einen Rucksack zu packen und mich auf die Nacht mit Ralf vorzubereiten. Das heißt duschen, rasieren und viel vorrauchen. Bei Ralf darf ich nicht rauchen – zumindest keine Zigaretten. Nadine und Moni verstehen nicht, was ich an ihm finde. Darüber bin ich sehr froh. Immerhin mal ein Mann, mit dem Nadine nicht auch schlafen will.

Mit einer akademischen Viertelstunde Verspätung klingle ich bei Ralf und Sonja Reuter. Ich hasse dieses Klingelschild. Ralf öffnet, und der weiße Kater nutzt seine Chance und folgt dem Ruf der Freiheit. Im Wohnzimmer läuft das, was man wohl als Lounge-Musik bezeichnet. So ein nichtssagender Chill-Mix-Scheiß. Das Licht ist gedämpft, und eine Karaffe Rotwein steht auf dem Tisch. Daneben zwei Gläser und ein paar Oliven. Hoffentlich gibt es noch was Richtiges zu essen, denke ich, als ich meine Strickjacke ausziehe und mich mit meinem weißen Kleid auf die rustikale Holzbank setze. Bei Ralf mime ich gerne das unschuldige Mädchen. Ich glaube, das macht Männer in seinem Alter an. Der Lolita-Effekt. Passend dazu habe ich meine braune Mähne zu einem seitlichen Zopf geflochten.

»Hast du wild gefeiert?«, will er wissen. Ich erzähle ihm von meinem leeren Akku, dass ich morgens um drei noch Schnitzel essen war und mich nicht getraut habe, so spät bei ihm zu klingeln. Fast glaube ich es selbst. Eigentlich müsste ich nicht lügen. Ralf schläft schließlich auch mit seiner Frau. Außerdem haben wir nur eine Affäre. Keine Beziehung. Unsere Abmachung heißt Sex, nicht: Ehe kaputt machen. Na gut, ich gebe zu, diese Abmachung stammt von ihm.

Ich sehe Ralf zu, wie er unsere Gläser füllt und eine Kerze anzündet. Er trägt Jeans und ein schwarzes Leinenhemd. Seine braunen Locken umranden sein Gesicht wie ein Gemälde. Er gefällt mir heute ausgenommen gut. Leider. Wir stoßen an und trinken auf meine letzte Nacht in der bösen Kleinstadt. Schon morgen wird mich eine neue Welt empfangen, sagt Ralf, und ich bilde mir ein, dass er gerade ziemlich besorgt aussieht. (Oder vielleicht wünsche ich mir das auch nur.) Ralf setzt sich neben mich und baut uns einen Joint. Wir sitzen und rauchen. Ich spiele mit meinen Fingern in seinen Locken, wickle einzelne Haarsträhnen darum, bis meine Fingerspitzen blutrot anlaufen.

Ralf steht auf, stellt sich hinter mich und fängt an, meinen Nacken zu massieren. Seine großen Hände fahren meinen Rücken entlang, massieren unter meinem Kleid weiter. Er schiebt die dünnen Träger meines Kleides zur Seite, sodass es von selbst nach unten rutscht. Ich kiffe weiter. Er küsst meine Schultern, meinen Nacken und streichelt mein Dekolleté, dann meine Brüste. Ich reiche ihm unseren Joint. Ralf lehnt ab, kommt vor mich und drückt meinen Oberkörper nach hinten. Ich liege mit dem Rücken auf der Bank. Da sich der Raum ohne Unterlass dreht, schließe ich meine Augen.

Ralf deutet das als Zeichen meiner Entspannung. Er liebt es, mich zu lecken. Ich kann mich nicht erinnern, dass wir jemals miteinander geschlafen haben, ohne dass er mich vorher geleckt hätte. Er streift erst mein Kleid, dann meinen Tanga nach unten und küsst mich zwischen meinen Schamlippen. Dabei überlege ich, dass ich mich selbst gerne mal lecken würde, nur um zu sehen, wie das ist. Ralf küsst und küsst, ganz zärtlich, dann wieder ungeduldiger. Ich spüre, wie alles zu pulsieren beginnt, streichle meine Brüste, packe ihn an seinen Haaren und drücke seinen Mund noch fester an meine Muschi. Jetzt fange ich tatsächlich an, mich zu entspannen. Ich will ihn ganz fest spüren. Ralf saugt an meinem Kitzler. Saugen ist noch besser, als lecken. Dann schiebt er zusätzlich einen Finger in mich rein. Ich will seinen Namen stöhnen. Aber plötzlich bin ich mir nicht mehr sicher, welchen Namen. Ich muss an Tobias denken. Und an Max. Das Kiffen ist schuld. Es verwirrt mich. In meinem Kopf dreht sich alles. Ich höre auf, über Namen nachzudenken, stöhne wieder zu Gott und komme.

Das ging schnell. Muss am Training liegen. Ralf zieht seinen Kopf zurück und sieht mich sehr stolz an. Wenn man von einem Mann geleckt wird, gibt es diesen speziellen Blick. Man hat immer ein bisschen das Gefühl, dass der Mann nach erfolgreichem oralen Akt auf eine Belohnung wartet. Ein Leckerli. Vielleicht ein Leberwurstbrötchen, denke ich und versuche, nicht laut zu lachen. Ralf sieht mich immer noch an, als hätte er gerade als erster Mann den Mount Everest bestiegen. Ich streichle ihm anerkennend über den Kopf (fein gemacht!) und strecke meine Hände nach ihm aus. Er kommt zu mir nach oben, und ich lege meine Arme um seinen Hals. Ralf trägt mich ins Schlafzimmer und wirft mich aufs Ehebett. Kurz sehne ich mich nach dem Teppich von Tobias’ Oma. Dann zieht er sich aus, wie immer: Alles runter, auf einmal. Ich glaube, ich habe Ralf noch nie in Unterhosen gesehen. Er ist immer sofort splitterfasernackt. Sein Penis steht steil nach oben, und schon wieder sieht Ralf sehr stolz aus. Sogar sein Penis sieht mich stolz an. Männer werden nie erwachsen, denke ich, als er in mich eindringt. Ich muss an einen Exfreund denken, der mir mal präsentiert hat, wie er ohne Hände klatschen kann. Dabei stellte er sich vor mich und ließ seinen Penis von links nach rechts an seine Oberschenkel schlagen. Er freute sich darüber wie ein Kind zu Weihnachten und rief immer: »Schau mal, was ich kann, klatschen ohne Hände!«

Ralf stößt zu und sagt, dass er das vermissen wird. Er sagt das, und nicht dich. Ich merke, dass ich fast heulen muss, und drehe mich um. Ralf zieht mein Becken nach oben und bumst mich von hinten, fester als zuvor. Von hinten auf allen vieren komme ich nie, aber ich liebe es, wenn Ralf die Kontrolle verliert. In dieser Position hält er es nicht lange aus. Ich sehe nach links in den golden umrahmten Spiegel und sehe uns beim Sex zu. Unsere Blicke treffen sich. Ralf sieht sich auch gerne zu, wie er mich so nimmt, meine Brüste wippen und seine Hoden an meinen Hintern klatschen. Ich spanne meine Beckenbodenmuskulatur an. Ralf richtet seinen Oberkörper nach oben und packt mit beiden Händen seitlich an meinen Po. Ich lasse locker und spanne wieder an. Ralf verkrampft sein Gesicht und kommt.

Mein Magen knurrt. Auf der Anzeige des Digitalweckers sehe ich, dass es noch nicht mal Mitternacht ist. Mir wird klar, dass ich in 24 Stunden mit drei Männern geschlafen habe. Ob es da einen Zusammenhang mit meinem drittschlechtesten Abschluss gibt? Ob man daraus beruflich etwas machen könnte? So ist das also als Akademikerin. Noch mehr Fragen, noch weniger Antworten.

2. Kapitel

Im Zug aus Tränen

Ralf muss immer früh los zur Uni. So auch heute. Er fragt, ob er später noch zum Bahnhof kommen soll, um mich zu verabschieden. Soll? Wie blöd kann man denn fragen. »Musst du nicht«, sage ich. Wenn ich ihm was bedeute, wird er da sein, denke ich. Er küsst mich zum Abschied auf die Stirn. »Pass auf dich auf. Und melde dich bald.« Wie furchtbar väterlich ist das denn? Pass auf dich auf. Kuss auf die Stirn. Schrecklich. »Gute Fahrt!«, hätte noch gefehlt. Das hat er sich bestimmt verkniffen.

Jetzt bin ich alleine in dieser Ehepaar-Wohnung. Dafür ist dieser Scheißkater zurück, der mich herausfordernd anglotzt. Er sieht mich an, als wollte er fragen: »Und jetzt, du Dummerchen? Hast du gedacht, er würde seine Frau verlassen, nur weil du weggehst – weil er womöglich Angst bekommen könnte, dich zu verlieren? Dich, sein Betthäschen? Und so was nennt sich Akademikerin. Schande über unser Bildungssystem!« Ich trete nach dem Kater, der miauend davonhüpft, und hasse mich sofort dafür. »Miezekater«, rufe ich ihm nach, aber er ist weg, ab durchs Fenster. Typisch Mann. Immer abhauen, wenn es unbequem wird.

Bevor ich diesen Ort – diesen Tatort – heute wahrscheinlich zum allerletzten Mal verlasse, will ich noch irgendetwas Verbotenes tun und überlege, mir mit Sonja Reuters Zahnbürste die Zähne zu putzen. Welch revolutionärer Akt des stummen und dennoch oralen Protestes! Das ist sogar mir zu blöd. Mit ihrer Zahnbürste das Klo zu putzen finde ich zu gemein. Ich stelle die Zahnbürste wieder weg und betupfe mich stattdessen nur ein bisschen diebisch mit ihrem Parfum. Chanel riecht irgendwie nach alter Frau.

Ich werfe einen letzten Blick ins Schlafzimmer. Ralf hat tatsächlich noch das Bett gemacht, bevor er ach so eilig los musste. So ein Pedant. Schön die Betten machen, schön den Schein wahren. Das Bett unberührt, der Körper frevelhaft. Seine Hände sind rein, aber sein Herz ist blutig! Na warte, du Lady Macbeth, denke ich, als ich bereits an der Türe stehe, wieder umkehre und das Laken zerwühle. Aber auch das befriedigt mich nicht wirklich. Ich will gerade aufgeben, als ich die Kühlschrank-Magneten entdecke. Viele lustige Worte und Buchstaben, die man beliebig aneinanderlegen kann. Ich stehe sehr lange davor und denke nach. Als Akademikerin muss mir jetzt ein besonders vielsagender Spruch einfallen. Aber ich kann nur an lauter Blödsinn denken, wie: »Am Arsch hängt der Hammer.« Oder: »Wer nicht vögeln kann, muss fliegen.« Ich schreibe: »Bitte entschuldige, Kater« und hoffe, dass Ralf ihm das vorlesen wird. Bestimmt findet er mich jetzt furchtbar kindisch. Selbst schuld, wenn er seine Studentin bumst.

Auf dem Weg nach draußen rufe ich Moni an. Sie sitzt mit Nadine im Garten ihres Wohnheims. Sie seien total verkatert und fragen, ob mich später jemand zum Bahnhof bringen würde. »Ein ganzer Hofstaat«, lüge ich. Wir küssen uns durchs Telefon, und die beiden versprechen, mich sobald wie möglich in Berlin besuchen zu kommen. Vielleicht schon in zwei Wochen, falls mich Hollywood bis dahin noch nicht abgeworben hat. Also kein Grund, jetzt eine große Abschiedsszene hinzulegen. Außerdem hoffe ich noch immer, dass Ralf zum Bahnhof kommen wird. Diese peinliche Verabschiedung von heute Morgen kann ja wohl nicht sein Ernst gewesen sein. Bestimmt hat er noch eine Überraschung geplant. Ich stelle mir vor, wie Ralf mich ganz knapp am Bahnhof verpassen würde und dann, in seinem weißen Saab dem Zug hinterherfahrend, durch ein Megaphon nach mir ruft: »Maja! Verlass mich nicht! Ich liebe dich!« Oder so ähnlich.

Ach, ich bin eine stupide Romantikerin. Die Erde ist ein Lebkuchenherz, wir sind der Zuckerguss. Ich habe den Realitätssinn einer Fruchtfliege. Wenn überhaupt. Es wird wirklich Zeit, hier wegzukommen. Seit drei Tagen mache ich nichts anderes außer trinken, ficken und kiffen. Dafür haben mich meine Eltern bestimmt nicht großgezogen und zum Studieren geschickt. Mein Vater wollte immer, dass ich Jura studiere. Bestimmt wären meine Plädoyers rhetorische Orgasmen blanker Gerechtigkeit gewesen. Aber für das Jurastudium war ich zu ungeduldig, und ich wollte irgendwas mit Theater machen. Gelandet bin ich bei den Theater- und Medienwissenschaften. Hier bin ich zwar der einzige Zuschauer in meinem Publikum. Aber: Ich habe ein Abo, die Sicht ist ausgezeichnet, keiner hustet mir dazwischen, und von Zeit zu Zeit applaudiere ich mir einfach selbst. Vätern kann man es eh nie recht machen.

In meiner Provinz-WG herrscht außergewöhnliche Stille. Kein Mensch ist da. Björns Müslischale steht wie immer unausgespült auf dem Tisch, Fruchtfliegen frühstücken darin. Diese Tiere wissen ihre Chancen wirklich besser zu nutzen als ich. Unsere Küchenuhr steht seit drei Jahren auf fünf vor fünf. Als ich gerade frisch bei Claudi und Björn eingezogen bin, habe ich in meinem Übereifer die leeren gegen volle Batterien ausgetauscht. Meine Mitbewohner waren entsetzt. Die Uhr stand immer schon auf fünf vor fünf, und das sollte auch so bleiben. Sofort haben wir die Batterien wieder rausgenommen und uns danach ständig gefragt, wie viel Uhr es wohl gerade sein möge. »Fünf vor fünf, wie immer!«, rief Claudi. Das ging stundenlang so und wir fanden das urkomisch. Achtung: Wortspiel.

Ich mag diese Küchenuhr. Oh nein, jetzt werde ich ganz melancholisch. Den Ort zu verlassen, an dem die Zeit stehen geblieben ist, ist schwerer, als ich dachte. Ich setze mich wie immer aufs Fensterbrett in unserem Esszimmer, das wir Rittersaal nennen. Darin stehen ein braun lackierter Biertisch mit zwei Bänken, ein weißes, völlig verstimmtes Klavier und zahlreiche Bodenkerzen. Hier haben wir immer gesessen, gefeiert, geraucht, getrunken, manchmal geküsst, öfter geweint, gejammert und viel gelacht. Vom Fenster aus sieht man auf die trostlose Hauptstraße, die zur trostlosen Fußgängerzone führt. Gleich gegenüber ist der Metzger Meixner, der souverän mit einem Schild aus den Siebzigerjahren wirbt: Ein rosa Schwein mit Kochmütze serviert Wurst auf einem Silbertablett. In der Sprechblase steht: »Wurst von Meixner ist noch feiner!« Das reimt sich nicht mal. Neben dem Metzger befindet sich ein Geschäft für orthopädische Artikel mit Stützstrümpfen, Gehhilfen und Beinprothesen im Schaufenster. Dieser Ausblick ist ekelhaft bedrückend und zugleich äußerst amüsant.

Ich rauche meine letzte Zigarette an diesem Fenster und bin selbst schon genervt von meinen ständigen Letztes-Mal-Gedanken. Ich denke lieber wieder an erste Male. Leider kann ich mich an das erste Mal mit Ralf nicht mehr erinnern. Aber ich weiß noch sehr genau, wie wir das erste Mal fast miteinander geschlafen hätten.

Der Beinahe-Beischlaf passierte ungefähr eine Woche nach dem Kuss im botanischen Garten. Am Ende seiner Vorlesung über italienische Literaturgeschichte um die Jahrhundertwende blieb ich länger im Hörsaal als notwendig, kramte umständlich in meiner Tasche, als würde ich noch nach etwas suchen. Ich weiß nicht genau, was ich vorhatte, aber ich hatte das dringende Bedürfnis, für einen Moment mit Ralf – damals noch Herr Reuter – alleine zu sein. Ich wollte ihm zeigen, dass ich den Kuss vom letzten Mal nicht bereute. Noch viel mehr, dass ich ihn gerne wiederholen würde. Aber mich verließ der Mut, und plötzlich kam ich mir ziemlich blöd vor, wie ich da wie eine dumme Kuh in meiner Tasche wühlte und künstlich die Zeit in die Länge zog. Ich wollte nun doch möglichst schnell den Raum verlassen. Als ich gerade als Letzte durch die Tür huschte, rief er meinen Namen: »Maja, kannst du noch mal kurz kommen?« Mein Herz konnte sich für einen Moment nicht entscheiden. Stehen bleiben – oder im Galopp davonspringen? Als brave Studentin gehorchte ich artig, kehrte um und blieb an der Wand neben der Tür mit fragendem Blick stehen. Ralf ging eiligen Schrittes zur Tür und nuschelte etwas von der anstehenden Klausur. Dann warf er einen Blick auf den Gang, bevor er die Tür von innen zuzog, zweimal absperrte und abrupt verstummte.

Wir sahen uns an, und es war ganz klar, was gleich passieren würde. Oder zumindest, das gleich etwas passieren würde. Ralf machte einen Schritt auf mich zu, drückte seinen Körper gegen meinen, mich damit gegen die Wand. Erst streichelte er über meine Wange, mit dem Handrücken seiner rechten Hand. Die ohne Ehering. Dann griff er mein Kinn, zog meinen Kopf nach oben und zwang mich, ihm direkt in die Augen zu sehen. (Braun? Grün? Keine Ahnung.) Das machte mich nervös. Es erinnerte mich an diese Szene aus Casablanca: »Schau mir in die Augen, Kleines!« In dieser Position fühlte ich mich nicht sonderlich wohl, und um mich daraus zu lösen, küsste ich meinen Dozenten. Eine Art Übersprungshandlung. Ralf küsste zurück, hungrig und feucht. Ganz anders als damals im botanischen Garten. Er küsste mich, als wäre das hier und jetzt unsere einzige Chance. Es fühlte sich wie ein Beginn und ein Abschied zugleich an. Er küsste meinen Hals und fuhr mit seinen Händen unter mein Top. Ich trug keinen BH. Das machte ihn noch geiler. Er sah mir kurz tief in die Augen, als würde er um mein Einverständnis bitten, mich hier und jetzt so richtig schön durchficken zu dürfen. Vielleicht hätte ich damals sagen sollen: »Uns bleibt immer noch Paris!« Aber das war kein Film, das war mein Leben und ich, wie immer, ohne Drehbuch.

Statt also genau an dieser Stelle meinen Kopf einzuschalten, schob ich meine Hände unter Ralfs Hemd. Wir befühlten uns gegenseitig die Brustwarzen, küssten uns. Dann kniete er sich vor mich auf den Boden, öffnete den Reißverschluss meines geblümten Rocks und streifte ihn nach unten. Meine Unterhose zog er nur bis knapp unter meinen Hintern. Sofort begann er, an meinem Kitzler zu lecken. Dieses Bild, wie mein Dozent vor mir auf dem Linoleumboden kniete und mich in unserem Hörsaal leckte, kam mir so surreal vor – machte mir Angst und Lust zugleich. Die Lust besiegte die Angst. Ich drückte Ralfs Oberkörper auf den Boden, öffnete seine Hose und holte seinen Schwanz heraus. Er war steinhart. Gerade als ich über ihn lecken wollte, klopfte es an der Tür. Ich sprang sofort auf, in meinen Rock, zog mein Oberteil über und rückte alles zurecht. »Einen Moment bitte«, rief Ralf, der umständlich versuchte, seinen Ständer wieder einzupacken. Dann hörten wir schon einen Schlüsselbund im Schloss, sodass Ralfs Schlüssel auf den Boden fiel. Es war die Putzfrau. »Gut, dass Sie kommen. Uns muss jemand von außen eingesperrt haben.« Ralf log schlechter als Homer Simpson. Unser aller Blick fiel auf den Schlüsselbund vor uns. Die Situation war einfach zu absurd. Ich griff nach dem Schlüssel, als wäre er meiner, bedankte mich bei Herrn Reuter für die Kopien und verabschiedete mich schnell zum nächsten Kurs. Ein Stockwerk tiefer wartete ich auf ihn. Ralf hatte immer noch einen hochroten Kopf. Ich gab ihm meinen Schlüssel zurück. Dabei griff er nach meiner Hand und hielt sie fest. »Kann ich dich anrufen?«, fragte er flüsternd. Ich antwortete in normaler Stimmlage: »Danke noch mal für die Kopien. Darf ich Ihnen meine Nummer geben? Falls Sie doch noch einen Nachhilfetermin frei hätten, wäre das wirklich prima. Beim Konjunktiv habe ich noch große Lücken.« Mann kann ich gut lügen. Vielleicht hätte ich doch Anwältin werden sollen? Seit diesem Tag war der Konjunktiv mein geringstes Problem.

Jetzt stehe ich auf diesem dämlichen Provinzbahnhof an Gleis eins. Alleine. Alles hier sieht schon wieder nach einer Filmkulisse aus. Aber niemand ruft: »Danke und aus!«, um dem Spuk endlich ein Ende zu bereiten. Ich stehe alleine am Gleis mit einem riesigen Rucksack, und plötzlich kommen mir die Tränen. Tränen der Wut und der Enttäuschung. Ralf ist tatsächlich nicht mehr gekommen, um mich zu verabschieden. Meine letzte Hoffnung klebt auf Gleis Nummer eins und wird schonungslos vom einfahrenden Zug zermalmt. Bahnhöfe sind solche Scheißarschlöcher.

Alle Plätze sind reserviert, und mein Gepäck passt nicht in die Ablage. Überall gestresste Fahrgäste, die sich im Gang schimpfend an mir vorbeidrängen. Ein Familienvater erbarmt sich meiner, nimmt einen seiner zwei Söhne auf den Schoß und lässt mich sitzen. Ich bin ihm sehr dankbar. So sitze ich nun da, völlig apathisch, lasse die Tränen weiter über meine Wangen kullern. Auf einmal wird mir bewusst, dass ich ein Jahr gewartet habe. Aber auf was? Auf Liebe? So naiv kann nicht mal ich sein, oder?

Ich starre aus dem Fenster und erinnere mich, wie ich das erste Mal bei Ralf zu Hause war. Ich weiß, dass wir an jenem Abend auch zum ersten Mal miteinander geschlafen haben. Aber, wie gesagt, ich kann mich nicht mehr daran erinnern. Ein paar Tage nach dem Vorfall im Hörsaal rief Ralf mich an. »Wegen des Konjunktivs«, wie er am Telefon betonte. Er lud mich zur Italienisch-Nachhilfe zu sich nach Hause ein. Er könne nicht weg. Seine Frau sei verreist, und er müsse auf den Kater aufpassen. Ich fragte mich, ob während des Telefonates wieder die Putzfrau hinter ihm stand oder ob er einfach Gefallen daran gefunden hatte, in unserer Geheimsprache mit mir zu kommunizieren. Ich spielte mit (»Oh, prima! Schön, dass Sie sich Zeit nehmen.«) und kam an jenem Abend mit meinem Alibi-Italienischbuch in der Hand bei ihm an. Man weiß ja nie, wen man unterwegs in der Provinz so trifft. Vielleicht die Putzfrau? Dann hätte ich ein wasserdichtes Alibi gehabt. Ich hätte ihr gesagt, dass ich zu Herrn Reuter nach Hause gehe, weil er auf den Kater aufpassen müsse und mein Konjunktiv noch große Lücken aufweise. Der Beweis dafür – mein Italienischbuch – hier in meiner Hand. Kein Verdacht auf möglichen Beischlaf.

Trotz meiner perfekten Tarnung war ich an diesem Abend ziemlich aufgeregt und ein paar Stunden später schon sehr betrunken. Wir haben zu zweit drei Flaschen Rotwein gekippt und dabei italienische Schnulzen gehört. Dann weiß ich nichts mehr, bis zum nächsten Morgen. Das Aufwachen war der Horror. Die Wände rot, die Laken weiß, in meinem Kopf ein schwarzes Loch. Ich lag nackt im Ehebett meines Dozenten, der wiederum nackt neben mir lag, und ich konnte mich an nichts erinnern. Klassische Mischung aus Filmriss und Verdrängung. Ich schloss die Augen, und als ich sie wieder öffnete, blickte ich direkt in zwei grüne Augen. Ja, ich erinnere mich an die Augenfarbe des Katers. Und das Fell dieses Katers war schneeweiß. Schneeweiß, als stamme er aus einer der Tragödien von Lorca. Weiß symbolisiert bei Lorca immer den Tod. Er saß auf meiner Brust und glotzte.

»Haben wir miteinander geschlafen?«, habe ich Ralf gefragt. Er sah mich ungläubig an. Ob ich Witze mache, wollte er wissen. »Klar, war nur ein Scherz«, log ich. Das merkte Ralf, und ehe ich michs versah, trieben wir es noch einmal. Zur Erinnerung. Den Konjunktiv beherrsche ich übrigens bis heute nicht.

Die Kinder hier im Zug plärren, was das Zeug hält, piesacken den Vater und singen Wikingerlieder. Wäre ich in einem zurechnungsfähigen Zustand, würde ich es auf diesem Platz keine Minute aushalten. Aber ich befinde mich im lethargischen Zustand des Abschiedsschmerzes. Eine Frau beschwert sich bei dem zuvorkommenden Familienvater: »Können Sie Ihren Kindern mal was von Rücksichtnahme erzählen? Sie sind ja nicht alleine im Zug!« Der Vater: »Ich schick sie Ihnen gleich mal rüber.« Andere Frau: »Das könnte Ihnen so passen.« Kinder: »Außerdem ist das ein ICE, kein Zug, du Kakawurst!« Genau, du Kakawurst! Scheiß doch auf Rücksichtnahme.

Seit jener Nacht ging es dann so weiter. Immer dann, wenn Ralfs Frau nicht da war. Und viele Male dazwischen, wenn ich ihn in meine Wohnung schmuggelte und er seiner Frau etwas von Kartenspielen oder Abendseminaren erzählte. Bei mir wurde »Ich muss zur Italienisch-Nachhilfe« zur diskreten Umschreibung für es mit seinem Dozenten treiben. Irgendwann verlor ich die Kontrolle. Ich wurde eifersüchtig. Auf seine Frau. Vielleicht habe ich mich verliebt. Ganz sicher aber habe ich mich emotional abhängig gemacht, von einem verheirateten Mann. Daher ist es höchste Zeit, diese Stadt zu verlassen.

Paula, meine Freundin aus Kindheitstagen, hat mich überredet, nach dem Studium zu ihr nach Berlin zu kommen. Dort könne ich mir eine Arbeit suchen und mit ihr zusammen den Ungerechtigkeiten des Lebens trotzen. So kam es, dass ich, Little Miss Drama Queen, jetzt hier im Zug aus Tränen sitze. Der kleine Junge hört endlich auf, Wikingerlieder zu singen, und reicht mir ein Taschentuch für mein Aua. Der Schaffner fragt, ob jemand zugestiegen sei, und interpretiert mein Schluchzen als ein Nein. Ich habe kein Ticket (vor lauter Aufregung ganz vergessen), und er fragt auch nicht danach. Ich mache ihn verlegen. Liebeskummer macht Zugfahren sehr günstig.