Mein Luftschloß auf Erden - Katharina von Arx - E-Book

Mein Luftschloß auf Erden E-Book

Katharina von Arx

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Beschreibung

In einer Arbeit von mehr als zwölf Jahren, von der Mitwelt belächelt, bewundert, beneidet, holte Katharina von Arx ihr Luftschloß auf die Erde, grub sie aus Schutt und Ruinen eines der schönsten mittelalterlichen Bauwerke der Schweiz: Schloß Romainmôtier. Die Geschichte dieses Abenteuers, amüsant und bezaubernd, ist für all jene geschrieben, die auch den Traum vom romantischen Nest, vom Heim als Burg, träumen, die «ihre» Wohnung suchen, «ihr» Haus bauen wollen und darüber manchmal mutlos werden. Katharina von Arx beweist ihnen, wie Wünsche Wirklichkeit werden können, wenn der Mensch nur fest daran glaubt. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Seitenzahl: 312

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Katharina von Arx

Mein Luftschloß auf Erden

FISCHER Digital

Inhalt

1 Wie ich mein Geburtshaus verloren und nie wiedergefunden habe2 Von Herrn Niederhafl, Beethoven und einer Prinzessin3 Mieterfolklore im Barock-Palais4 Das Bichlhäusl im Tirol5 Das 20. Jahrhundert verirrt sich auf die Alm6 Gesucht: Land mit möglichst altem Haus7 Ein Schloß, das niemand will als wir8 Entdeckungsreise im eigenen Haus9 Distanz wahren! Aber wie?10 Alte Möbel für neue Diebe11 Heißes Wasser in der Burgruine12 Sodom und Gomorrha im Schloß13 Die Archäologen machen uns zum nationalen Objekt14 Glanz und Elend des Restaurierens15 Der Denkmalschutz als Rettungsanker16 Der totale Bauplatz ist eröffnet17 Von unbezahlten Rechnungen, Bettelbriefen und einer Stiftung18 Durch Schaden wird man auch nicht klug19 Haben wir einen Brunnen gestohlen?20 Ein Tea-Room in echtem Biedermeier21 Die Steine singen in Romainmôtier22 Neue alte Zeiten

1 Wie ich mein Geburtshaus verloren und nie wiedergefunden habe

Es wird mir erst jetzt beim Schreiben bewußt, daß Häuser mein Leben sind und mein Leben anders verlaufen wäre mit anderen Häusern. Mein Leben wechselte mit jedem Haus, in dem ich lebte, und den Menschen, die mich mochten oder nicht.

Glücklicherweise bin ich einfach in einem Haus geboren, nicht in einem Krankenhaus. Ich hoffe, einmal auch so zu sterben, in einem Haus mit noch ungeschriebenem Kapitel.

Bis vor kurzem hatte ich jenes Haus in Niedergösgen ungeheuer groß in Erinnerung, nur schon die Treppe ein paarmal so hoch wie ich selbst. Als ich es nun nach einem halben Leben wiedersah, war ich erschrocken: Das ist also meine große Welt gewesen, dieses kleine Häuschen? Der Garten, einst beinahe unendlich, war jetzt nur noch etwa zwanzig Schritte breit. Keine Spur vom Reck mehr und vom Rundlauf, die Filzfabrik dahinter leblos. Ich läutete nebenan bei Frickers, die noch immer Fricker heißen. «Sie, das Dittli?» Der Mann starrte mich an, als ob ich lebendig aus dem Geschichtenbuch getreten sei. «Ja, die ‹Filzi›, mit der ging’s immer weiter bergab. Der heutige Besitzer hat nur eine Tochter, keinen Sohn.»

Zu meiner Zeit lagen die Dinge umgekehrt. Als mein Bruder als zweiter Sohn auf die Welt kam, war mein Vater dermaßen außer sich, weil der Bub kein Mädchen war, daß Tante Lilli aus dem Appenzellerland herunterkommen mußte, um das Büblein anzumelden.

Bei meiner Geburt schenkte mein Vater jedem der vierzig Filzarbeiter ein «Goldvreneli», mit dem Versprechen auf zehn «Goldvreneli» bei meiner Hochzeit. Armer Vati, wenn ich an meine Hochzeit denke, mit Salamibrot als Hochzeitsmahl, auf einer öffentlichen Bank in Solothurn!

Meine Welt war damals noch in Ordnung. Sie drehte sich ganz schön ruhig um mich, weil sie mir gehörte. Alle schienen für mich da zu sein, Eltern, Brüder, Schwester Anna mit dem Häubchen, das große Haus und die Fabrik, deren Rollbähnchen das Schönste war, was man sich vorstellen konnte. Wenn die Kinderschwester einmal nicht aufpaßte, setzte Rolf mich drauf, und dann stießen die Brüder den Wagen mächtig an, sprangen auf, und wir sausten nur so dahin, durch Fabrik und Hof und Lager, in einem solchen Tempo, daß ich mich im Schienenlärm nicht einmal mehr schreien hörte. Im Lager war Endstation. Wenn Schwester Anna mit flatternder Haube herbeieilte, waren wir bereits oben auf den Ballen, wo sie mit ihren vielen Röcken nicht mehr hinkam. Ein sprungbreiter tiefer Schacht trennte das Lagerfenster vom Küchenfenster. Rolf hatte mir versprochen, daß er, wenn er ein bißchen größer wäre, mich vom Lager aus in die Küche werfen wollte, dem Turli direkt in die Arme, wie den roten Ball. Leider ist es nie dazu gekommen.

Wir hatten alles, was es geben konnte, und was es nicht gab, ließ Vati auf Wunsch anfertigen: den von Rolf bestellten Feuerwehrspritzenwagen, zum Beispiel. Mutti protestierte wieder milde, das sei nun doch zuviel; wir fanden das gar nicht.

Eines Tages war das ganze Dorf in Aufruhr. Die Zigeuner waren da. Alle Türen zu! «Zigeuner nehmen Kinder mit», wurde mir bedeutet, damit ich mich ja nicht in ihre Nähe wagte. Aber wovor sollte ich mich fürchten, ich hatte das Fürchten noch nicht gelernt.

Die Großen gingen dann aber doch und schauten, was die Zigeuner trieben. So gelang es mir zu entwischen.

Pferde zogen Häuser auf Rädern mit richtigen Fenstern, Vorhängen und Türen. So etwas Wunderbares, Häuser, die vorwärts kamen!

«Komm herein», bedeutete mir von der Wagentüre herunter ein Mädchen, so groß wie ich, mit schwarzen Haaren, die in allen Richtungen vom Kopf abstanden. War es wahr? Ich durfte ins Wagenhaus? Das Mädchen führte erst meinen Puppenwagen und dann mich an der Hand ins Haus.

Im halbdunklen Inneren saß eine Frau mit einem Baby auf dem Schoß. Die warmen dunklen Augen. Sie gab mir Süßholz. Ein Knabe machte Musik. Sie war schön, diese Musik. Und wie schön der Knabe war, und das Mädchen, es konnte alles wie die Großen. Ich kam mir dagegen dumm und hilflos vor. Ich konnte nichts allein, ich mit meiner ewigen Schwester Anna.

«Gibst du mir den Puppenwagen und das Deckchen und die Puppe?» – «Natürlich, den Puppenwagen und das Deckchen, nur das Püppchen nicht, es würde schreien, hörst du es, das ist mein Kind, du hast ja schon eins.» Seine Puppe war ein Holzscheit mit aufgemalten Augen und Lumpenkleidern – eigentlich ein größeres Wunder als meine Puppe, ein Holzscheit, das ein Kind war, und wenn Püppchen nicht schreien würde, hätte ich es gegen jenes hölzerne Kind getauscht.

Das Mädchen probierte meine Mütze. «Gibst du sie mir?»

«Ja.»

«Deinen Mantel, gibst du ihn mir? Weißt du, ich habe keinen Mantel.»

Ich weiß nicht mehr, wie ich nach Hause kam, ich kann mich nur noch an die allgemeine Aufregung erinnern. Mutti weinte, Vati nahm mich in die Arme. Schwester Anna wollte schimpfen, durfte nicht, Mutti hörte auf zu weinen. «Kind, wo ist dein Mantel?»

«Ich hab’ ihn dem Mädchen gegeben.»

«Und der Puppenwagen?»

«Beim Mädchen.»

«Die Puppenkleider aus Paris?»

«Dem Mädchen gegeben.»

«Aber Dittli, Dittli.»

«Das Mädchen hat keinen Mantel, und ich habe noch den weißen und den roten, und es hat keinen Puppenwagen.»

Die Großen schauten einander an. Niemand schimpfte. Mutti beklagte nur die selbstgestrickte Wagendecke, die nun bei den Zigeunern war. Ich sehe sie noch vor mir, mausgrau-lachsrosa gestreift, ringsherum grau umhäkelt. Niemand erfuhr je meine Freude darüber, daß wenigstens mein Puppenwagen mit der Decke im Hauswagen mitfahren durfte.

In der folgenden Zeit veränderte sich unsere Welt. Wir durften nicht mehr lustig sein. Vati ertrug kein Lachen. Mutti beantwortete unsere Fragen nur noch so nebenbei.

Eines Tages holten Männer alles aus dem Haus. Ich durfte nur meine Puppe behalten. Mutti kam ins Spital und ich mit der Puppe zu meiner Patin Cläri und ihren beiden Schwestern Lydie und Luise nach Binningen.

Mein Leben war jetzt ein wenig rauher. Tante Cläri legte mir lange schlichte Röcke an und darüber erst noch Schürzen. Ich sollte nur zum Kämmen in den Spiegel schauen, stricken lernen, und nur wenn die sanfte Tante Luise am Mittwoch nicht Schule gab, durfte ich zeichnen. «Du bist ja eine Künstlerin», kommentierte staunend Tante Luise, aber Tante Cläri fuhr ihr über den Mund. «Schweig, sonst glaubt sie es noch.» Tante Cläri hatte eine rauhe Stimme, aber ich wußte, sie meinte es nicht so.

Bei ihr konnte mir nichts geschehen. Ich hatte ein hohes Bett hinter Vorhängen, in das man tief hineinsank und dabei mit dem Fuß auf die warme Bettflasche mit dem Häkelmusterfutter stieß. Ich suche so ein Bett noch heute, in einem Alkoven; erst wenn ich es wieder gefunden habe, bin ich endgültig geborgen.

Ich mußte jetzt in den Kindergarten, was ich gar nicht mochte, weil ich dazu das schöne Bett verlassen mußte. Wenn das Fräulein Brodbeck mit mir sprach, fing ich an zu heulen. Ich weiß noch heute nicht, warum. «Es muß in ein Haus mit Kindern», hörte ich Tante Cläri sagen. So kam ich auf die andere Hügelseite, an den Kirchweg, zu Tante Marieli und Onkel Emil, den Cousins Jacques und Willi und den Cousinen Rosemarie und Elsbeth.

Ich weiß nicht, was an ihrem Haus fehlte. Es lag in einem großen Garten mit Goldfischen in einem Teich, Bienen, Blumen und Himbeeren. Irgend etwas Großes fehlte, die abenteuerliche Fabrik vielleicht oder der lustige Vati oder Mutti, dabei war Tante Marieli fast so lieb wie Mutti.

In Binningen ist mir der liebe Gott verleidet. Alles war so ernst um ihn, nie ein Lachen. Wir mußten die ganze Zeit beten, ohne daß je eintraf, was wir uns vom lieben Gott wünschten. Hatte ich ihm nicht gesagt, er solle Mutti gesundmachen? Ich fühlte mich unsicher, weil hier alle Angst hatten vor dem lieben Gott. Wenn schon die Großen Angst haben, dann ist nichts mehr sicher.

Alles war undurchsichtig oder unsichtbar. Gegen Abend, während jener bedrückenden halben Stunde, bevor die Sonne untergeht, weinte ich meistens. «Jetzt kommt dann der böse Geist», verkündete Jacques mit unheimlich flüsternder Stimme, und bald muhte es aus allen dunklen Ecken uuuh – huuuuu. Wenn ich schrie, lachten Rosemarie und Elsbeth. «Es ist ja nur der Willi und der Jacques!»

Im Frühling fuhr ich mit der Bahn und sah Mutti am Bahnhof wieder. Wir stiegen in ein Auto, das Taxi hieß, nicht Chrysler, wie unser altes.

«Wir wohnen jetzt in Zürich», sagte Mutti.

Unser Haus stand an der Streulistraße. Daß das Haus nicht unseres war, habe ich bald erfahren müssen. Von den vielen Türen im Treppenhaus durften wir nur noch eine öffnen, und wir schliefen nicht mehr «oben» – oben wohnten andere Leute –, sondern im unsicheren Parterre, wo eines Nachts einmal einer hat einsteigen wollen.

Wir durften im Haus jetzt nicht mehr lustig sein, sonst klopfte es von oben her, und wenn wir draußen die Wiese betraten, öffnete sich das oberste Fenster, und eine Frau rief: «Wotsch ächt, oder ich chumme abe!»

Am ersten Schultag kam Rolf weinend aus der neuen Schule. Einer von der Klasse hatte ihm einen Tritt gegeben und ihn verhöhnt; da wo wir wohnten, seien alles Bonzen. Mutti beschwichtigte ihn: «Dem sein Vater ist nur ein böser Kommunist, und der Bub lügt. Wir sind jetzt arm und nicht mehr reich, aber du darfst es niemandem sagen, sonst werden sie noch böser.»

Ich war jetzt kein liebes Kind mehr. «Ein anderes Kind», hörte ich Mutti zu Tante Irma sagen. Ich war mit nichts mehr einverstanden, was die Großen mit mir vorhatten, schon gar nicht mit dem Kindergarten. Da war so eine Tante, die immer etwas von uns wollte, und nie das, was ich gerade im Sinn hatte. Eine Zeitlang machte ich mit, aber eines Morgens hatte ich genug, ich wollte endlich allein sein und setzte mich statt auf unter die Bank. Die Kindergartentante war dagegen.

Von da an machte ich mich wohl auf den Weg zum Kindergarten, aber ich ging nicht mehr hinein, und ich kehrte scheinbar aus dem Kindergarten nach Hause zurück, sobald ich die Kinder nach Hause gehen sah. In der Zwischenzeit suchte ich das Haus in Niedergösgen, wo alles so schön gewesen war. Mitzi, unsere Katze, war auch dorthin zurückgekehrt, warum sollte ich das Haus nicht finden, wenn es Mitzi fand?

Unheimlich, wie viele Häuser es gab. Hinter jeder Ecke tauchten neue auf, neue Ecken, neue Häuser, nur mein eigenes, ich fand es nicht. Ich fragte einen Mann, ob er mein Haus gesehen habe. Er gab mir einen Batzen, worüber ich in Tränen ausbrach, da führte mich der Mann zur Polizei.

Um mir die Hoffnung zu bewahren, wagte ich nie, Mutti nach dem Haus zu fragen. Sie konnte mir nicht helfen, so krank und schwach war sie. Ich mußte ganz allein mit der Hausangelegenheit fertig werden. Rolf spielte Fußball, und Turli hatte genug damit zu tun, groß zu werden. Außerdem mußte er oft an freien Nachmittagen aufs Konkursamt, weil Vati nicht mehr da war und Mutti noch immer krank im Bett lag.

Sobald Mutti wieder aufstehen konnte, mußten wir umziehen. «Wegen der Miete», erklärte mir Turli.

In einem Garten würde Haus Nummer elf an der Hammerstraße ganz verträumt anmuten: Mit seinen zwei niedrigen Stockwerken, dem Walmdach über elegant gerilltem Fries, mit seiner Nußbaumtreppe und dem Messing am Geländer wäre es eins der altmodischen Häuser mit Gemüt gewesen, wenn nicht die mächtigen Gebäude ringsherum dazugekommen wären, die abschreckende Garage mit Autowerkstatt, deren Wellblechdach unter unserem Wohnungsfenster im Sommer brütete. Lichtschacht, Zement und Hinterhöfe, nein, kein Filmdekor, häßlich, aber nicht romantisch genug, weil viel zu kleinlich. Immerhin gelang es mir, mit einem Seil und Tüchern ein Puppenhaus in den Lichtschacht hineinzudrapieren. Über dieses hinweg rief an jenem Tag die Nachbarin zu Mutti in die Küche: «Der Hitler ist in Österreich!»

Ich wiederholte es der Hilde: «Weißt du, der Hitler ist in Österreich.» Sie fragte mich, wer denn der Hitler sei. «Ich glaube, es ist einer vom Fußballklub, die Leute am Radio brüllen ihm immer so zu.» – «Um Himmels willen», hörte ich Mutti in der Küche sagen, «dann kommt er auch zu uns.»

Als ich zum Puppenhaus zurückkam, lag es am Boden, und der Hausmeister brüllte mich an: «Was ist das für ein Plunder, mach, daß du damit wegkommst!»

Das war früher nicht so gewesen. Alles war beim Hausmeister verboten. Ich durfte nirgends sein, nicht im Schacht, nicht auf dem Blechdach, das so schön summte, wenn man darauf herumhopste. Wo sollte ich denn sein? Ich mußte einen Ort finden zum Sein.

Nach drei Sommern Fegefeuer über dem Blechdach hatten wir den Burgweg wohl verdient.

Bereits vor hundert Jahren genossen die Stadtherren an lauen Abenden in dieser idyllischen Häusergruppe die Sommerfrische. Unter dem Dachgeschoß befanden sich deshalb blumig tapezierte Kämmerlein. Unbegreiflich, diese Herren von früher, sie waren also ins Grüne gekommen, um sich in niedrigen Kämmerlein zu verkriechen, wo die Großen nicht einmal stehen konnten. Unheimlich sogar, wegen der Schranktüre. Ich rührte sie nie an. Der Schrank sei vier Meter tief und führe ins Nebenhaus, dort drin sei einmal einer oder eine tot aufgefunden worden.

Ich weiß jetzt nicht mehr, ob ich das alles schreiben sollte, vielleicht ist es gar nicht wahr. Der Nordteil, wo wir wohnten, sei eine ausgebaute Scheune. Ja, im Haupthaus sei früher einmal Most abgegeben worden – mit Patent – an die Handwerker des im Bau befindlichen Herrschaftshauses an der Zollikerstraße. Lisbeth hat es mir erzählt, die Tochter des Hausmeisters, der ich begegnete, als ich nach vielen Jahren den Burgweg wiedersah. Noch in ihrer Kindheit schauten die Herrschaftskinder ängstlich um sich, ob sie niemand sehe, bevor sie ans hohe Gitter traten, um mit den gewöhnlichen Kindern draußen zu plaudern, was ihnen streng verboten war.

Zwischen den Kämmerchen im Estrich führte eine Hühnertreppe ins Türmchen, das vier Fenster in alle Himmelsrichtungen hatte. Das Türmchen ist mein Haus geworden. Mit den gelben Vorhängen aus Niedergösgen teilte ich es in vier Zimmer ein für drei Freundinnen und mich. Zur Vollendung meiner Unabhängigkeit baute ich vom Kämmerchen aus mit einem doppelten Wäscheseil und einem Brett eine Seilbahn auf den nächsten Baum, und von da eine Schaukel zum folgenden Baum. Dort konnten unser zwei drauf sitzen, ohne daß die Spaziergänger uns sahen, vorausgesetzt, daß es uns gelang, die Schaukel zum Stillstand zu bringen, und uns die Zappelbeine nicht verrieten.

Alles war so schön am Burgweg, daß ich wollte, es bliebe immer so. Doch das Türmchen wurde mit jedem Winter kleiner. Als ich in warmen Frühlingstagen wieder heraufkam, konnte ich darin nicht mehr aufrecht stehen.

Onkel Emil lud uns zu jener Zeit alle in die Oper ein: Die Entführung aus dem Serail. Ich weiß nicht mehr, was geschah, aber die Filigran-Gitterfenster hatten es mir angetan. Das afrikanische Deckchen von Tante Cläris Cousin bei der Mission war der Anfang meiner Höhle Ali Babas. Alle Kissen der Wohnung, der Inhalt aller Puppenbetten aus dem Türmchen kamen in mein Zimmer auf den Boden. An freien Nachmittagen fügte ich Haremsfensterfiligran aus Wellkarton in meine Zimmerfenster. Durch Kreppapier gebrochen, kam das Licht nun farbig schummerig herein. Ich fand mich furchtbar interessant, wie ich da auf meinem Kissen saß bei orientalischem Geleier – immer dieselbe Platte. Mit der Zeit aber wurde mir auch das zu langweilig.

Meine orientalische Epoche wich dem Rokoko. Woher hatte ich den Fimmel nur? Keine Linie durfte mehr gerade sein, alles war schwulstig drapiert in Samt und Seide, und noch immer mußten die gelben Vorhänge aus Niedergösgen dazu herhalten. Kaum zu glauben, daß ich schon fast erwachsen war.

Der Krieg war längst zu Ende, als Tante Irmas Erbschaft kam. Tante Irma war kurz vor Kriegsausbruch aus dem siebenundvierzigsten Stock eines New Yorker Wolkenkratzers gefallen. Mutti sagte, das sei nicht mit rechten Dingen zugegangen, weil Tante Irma zu der Zeit nach Europa heimkehren wollte.

Jeder von uns dreien bekam die Riesensumme von zweitausend Franken. Ich kaufte davon einen Rokokofauteuil, muschelgestickte Vorhänge und Nippsächelchen bei Trödlern. Tante Cläri schickte mir ein Delft-Stück. Die Lampenfüße und was sonst noch fehlte, knetete ich in Ton auf Rokoko zurecht. Die Beleuchtung hellte ich von blutrot auf altrosa auf, und fürs Klavier fand ich Messingkerzenleuchter. Das Resultat glich einer Confiserie. Nur gab es vor lauter Schnörkeln keinen Platz mehr zum Sitzen, außer bestenfalls für mich.

Aber das war bereits nicht mehr so wichtig, ich weilte bald lieber auswärts, nicht weit vom Haus, in Begleitung eines Jünglings. In Sommernächten spazierten wir den Burgweg auf und ab, dem Bach entlang, hoch über der Schlucht.

An einem Sonntag abend bat mich Turli in die Stube. «Ich heirate. Mutti bleibt bei mir, du bist jetzt erwachsen, kannst für dich selber sorgen, suche dir ein Zimmer.»

Das war ein Schlag. Ich mußte weg vom Burgweg, weil ich erwachsen war. Unvorstellbar, an einem anderen Ort zu wohnen. Ich säße heute noch in meinem Rokoko am Burgweg, deshalb bin ich meinem Bruder dankbar für jenen Sonntag abend.

Die SBB verkaufte Waggons, das Stück zu zweihundert Franken. Am Greifensee war noch viel Platz, dort würde ich meinen Waggon aufstellen, vielleicht auch deren zwei, ich hatte ja noch etwas von Tante Irmas Erbschaft übrig. Das großartige Projekt scheiterte am Transportproblem. Lächerlich, einen Zug zu besitzen und damit nicht einmal von Zürich zum Greifensee zu kommen.

Anstelle der Eisenbahn kaufte ich ein altes Auto.

Mein Freundeskreis wohnte damals ums Oberdorf herum. Das Oberdorf hatte es mir angetan, und ich beschloß, dort zu wohnen, genauer an der Trittligasse.

Ich läutete an jedem Haus, wie ein Hausierer. «Hätten Sie ein Zimmer zu vermieten? Sicher haben Sie eines, im zweiten Stock hängen keine Vorhänge, ist da nicht ein Zimmer leer? Sagen Sie bitte ja.»

Etwa in der Mitte, hinter der Diakonenstation war ein Gartenhäuschen frei. Bereits soll einmal jemand eine Nacht darin verbracht haben. «Es ist Ihnen doch wohl nicht ernst, Fräulein?»

«Es ist mir ernst. Ich will das Gartenhäuschen mieten.»

«Wo arbeiten Sie?»

«Bei der Polizei.»

Der Diakon faßte sichtlich Vertrauen. Wohl das erste und das letztemal, daß die Polizei jemandem zu einem Gartenhäuschen verholfen hat, und erst noch zu einem sündigen.

Das hatte dem Herrn Diakon gerade noch gefehlt, ein Sündenhaus im eigenen christlichen Garten. Die Sünde beschäftigte ihn bereits so sehr, daß er sie in allen ihren Formen studierte, um ihr wirksam zu begegnen. Welch ein Arbeitsfeld, in Zeiten, da es nichts als Sünde gab. Wenn ich zurückdenke: Im Vergleich zu heute glichen jene Sünden wahrhaft klösterlichen Gepflogenheiten.

Schon das Häuschenstreichen war sündeverdächtig, da es zweigeschlechtlich vor sich ging. Das Sündenhäuschen war bald weit und breit bekannt für seine Küche. Neben meinem Zimmer lag nämlich die Waschküche der Frau Diakon. Manchmal, wenn ich von der Arbeit nach Hause kam, roch es bereits im ganzen Gärtchen angenehm nach Wurst. Die Düfte dürften bis in die Diakonenstation gedrungen sein, denn da saßen im Häuschen bereits zehn, fünfzehn, zwanzig Freunde um den Waschkessel, in dem in dreißig Litern Suppe fünfzig Würste brodelten.

Eines Abends belebten unzählige Sturmlaternen die christliche Umgebung. Lautsprecher bescherten öffentliche Gartenmusik vom Pfauen bis zum Limmatquai. Alle Leute sollten an unserer Freude teilhaben, denn wenn wir guter Dinge sind, so sind es die anderen auch, außer dem Diakon natürlich, dem es mit der Laune meist umgekehrt erging. Seine Söhne und Töchter hatten an jenem Abend Gärtchenverbot.

Es gab auch ruhige Tage, stille düstere Nächte. Nach einem Regentag im Herbst war alles Grüne weg. Übrig blieben große weiße Chrysanthemen, dicht an meinem Fenster. Jenseits des Gärtchens, unter der hohen Mauer fuhren auf der Rämistraße die Autos vorbei, und im Scheinwerferlicht wanderten die Schatten der weißen Chrysanthemen durch mein dunkles Zimmer.

Eines Abends leuchtete vom Parterre des Haupthauses her ein helles Fenster in mein Gärtchen. Es war der neue Mieter.

«Ich bin der Pinocchio, du siehst wohl schon warum.» Im Vergleich zu ihm war ich ein Mammuth. Wir zwei bildeten das ideale Gruppenbild für die Sündenstudien des Diakons.

Anfangs blickten wir oft wie zufällig zu gleicher Zeit ins Gärtchen, jeder von seinem Fenster aus.

Die Gemeinsamkeit unseres Problems führte uns Ungleiche zusammen. Wir warteten nämlich beide auf jemand. An langen Winterabenden spendeten wir einander Trost. Es kamen schon Leute, nette Leute, aber nicht der rechte. «Vielleicht ist er krank», meinte Pinocchio.

«Aber dann würde er es mich doch wissen lassen, damit ich ihm einen Tee kochen kann. Stell ihn dir vor, ganz allein in seiner kalten Bude. Meinst du, ich soll telefonieren?»

«Nein, das wäre falsch. Er muß kommen, er wird schon kommen, trink jetzt deinen Tee. – Herrschaft, wo steckt sie nur? Ich will sie anrufen.»

«Nein, dann läßt sie dich das nächstemal wieder zappeln, Pinocchio, Frauen sind so. – Vielleicht kam er, und ich war noch nicht da?»

«Dann sähe man Spuren im Schnee – wart, ich habe eine Taschenlampe.» Meter um Meter haben wir das Schneegärtchen abgeleuchtet.

«Da!»

«Nein, das sind nicht seine Schuhe, er hat gerillte Sohlen.»

«Vielleicht fand er im Ausverkauf ein neues Paar.»

«Nein, die Schuhnummer stimmt auch nicht, diese Sohlen sind sicher vom Diakon, der wollte wieder nachschaun, ob.»

Jener ist nie mehr gekommen, jene auch nicht.

Nach der heiteren Fastnacht erhielt ich vom Diakon einen eingeschriebenen Brief: «… zu unserem Bedauern sehen wir uns genötigt, Ihnen zu kündigen, aus Gründen Ihrer vielen Herrenbesuche.»

Schade um die nichtgehabten Orgien.

Vielleicht war ich nicht aufmerksam genug mit dem Diakon. «Verschnaufen Sie doch ein bißchen», hätte ich ihm sagen sollen, bei seiner Gartenarbeit. «Kommen Sie, setzen Sie sich ein wenig – ein Schlücklein?»

Mit meinen Beteuerungen klammerte ich mich ans Häuschen, die ganze Familie Diakon saß um den Familientisch, ich stand und sagte aus.

«Es sind nicht nur die Herrenbesuche», wendete der Diakon ein. «Es ist Ihr ganzes Gebahren. An der oberen Gasse beim Parkplätzchen sind Sie unter dem Auto gesehen worden.»

«Ja und? Ich befestigte das Auspuffrohr, das darf man doch wohl?»

«Männer ja, Frauen nein. Unter dem Auto liegen, das schickt sich nicht für Ihr Geschlecht.»

Ich ließ ihm dieses letzte Wort.

Pinocchio sah traurig zu, wie ich alles in eine Kiste packte, die ich ihm überließ, als eine Art Verlängerung schöner Wehmut zu zweit.

«Vielleicht komme ich einmal zurück nach Zürich, sonst behältst du das Zeug einfach.»

Er lächelte mit Mühe. Das war mein letzter Eindruck von Pinocchio. Ich habe ihn nie mehr gesehen. Er starb nach ein paar Jahren.

Was ich zum Anziehen brauchte, packte ich in mein Auto und wanderte nach Wien aus.

2 Von Herrn Niederhafl, Beethoven und einer Prinzessin

Ich stellte mir mein Wiener Zimmer im winkeligen Stadtkern vor. Ich suchte etwas richtig Individuelles mit Gemüt und fand eine Mietskaserne. Aber was für eine Mietskaserne! Eine Mietskaserne aus dem achtzehnten Jahrhundert, vielleicht die erste in Europa. Ein skrupelloser Häusermakler hatte das Ungetüm dem niedlichen Dreimäderlhaus – wo Schubert gewohnt hat – direkt vor die Aussicht über die Mölkerbastei aufs grüne Glacis gestellt.

Block acht trug neben dem Eingang eine Tafel:

In diesem Hause wohnte in den Jahren 1804 bis 1815

der Komponist LUDWIG VAN BEETHOVEN

Erinnerungsraum im 4. Stock

Öffnungszeiten wochentags 14 bis 15 Uhr

Montag ausgenommen.

Der hohe gewölbte Eingang mit den Rippbogen war für Pferd und Wagen gebaut. Anstelle meines Pferdes ließ ich Erich im stillen Hof warten. In so einem Haus kann sich ein gnädiges Fräulein, wie ich in Wien eins geworden war, nicht gleich mit dem Freund vorstellen.

Erich gab mir noch einen Ratschlag mit auf den Wendeltreppenweg: «Wenn sie dich wegen des Akzents nach deiner Herkunft fragen, sag Vorarlberg, für Schweizer ist die Miete doppelt so hoch.»

«Na und?» fragte er mich, als ich zurückkam.

«Dreihundert.»

«Du bist ja verrückt, dafür krieg ich eine ganze Wohnung.»

«Schweizer eben nicht. Der Schwindel mit dem Vorarlberg hat mir nicht über die Lippen wollen. Übrigens zahlt Jimmy zweitausend an der Kärntnerstraße.»

«Der hat aber auch Dollars wie Schillinge.»

«Und ich Franken wie Schillinge.»

«Weißt du, daß die meisten Untervermieter von der Untermiete leben?»

«Ich wäre froh, die Niederhafls kämen mit meiner Miete aus, dann kann ich es nämlich auch. Wäre doch schön, nicht? Zwei Monate in Zürich arbeiten und den Lohn in zehn Monaten Wien verjubeln?»

Mit achthundert Schilling im Monat müßte ich überleben können, wo doch eine ganze Familie von Jimmys zweitausend lebt – allerdings ein wenig eingeengt, denn wenn Jimmy seine fürstlichen Feste gab, drückte sich die Familie mäuschenstill im Arbeitskabinett des Hausherrn zusammen. Auch benützte sie den Wasserhahn des ehemaligen Gesindes, damit der erlauchte Boy im eigenen (bombenentschädigten) Bad ungestört planschen konnte, wann immer und sooft es ihm beliebte.

Jimmy ist nicht der erste, der auszog, die Stadt zu erobern, in deren Gemütlichkeit jeder Sieger, ohne es zu merken, unterliegt. In Wien verwischten ungewollt die weichgewordenen Russen das grimmige Image des kalten Krieges. Die Wiener selber tun eigentlich nichts dazu und nichts dagegen, sie huldigen jedem mit verschmitzter Eleganz.

Nur damals bei der Türkenbelagerung haben sie ein wenig streiten müssen, aber nur während eines Vormittags, wie Herr Niederhafl zu berichten weiß. Ich rede davon, weil ich über Jimmy, die Russen und die Türken endlich wieder auf die Mölkerbastei zurückkommen will, vor der sich diese ganze österreichische Geschichte abgespielt hat. Mein Hausmeister erzählte sie mir abends am Fenster, als ob es gestern und er dabeigewesen wäre. Wie fern waren jetzt die Abende im Gartenhäuschen des strengen Diakons, wie nahe, beinahe riechbar da unten vor der Bastei der orientalische Dunst türkischen Kaffees über den Kriegerzelten.

«Do untn sans gsessn und ham Kaffee trunkn. Die Weana habn se eh schon an die Morgenländer gwehnt ghabt, aber da sans auf einmal gegen die Bastei gestürmt, mit ihra krummn Sebln, bei der Freyung dribn. I sag ehna, des war a Radau. Der Bäckermeister hats zuerst gsehn, weil der frieher aufsteht. Dann ist der Starhemberg kuman und hot die Tirkn heimgschickt … Später ist der Napoleon einzogn, dribn vom Glacis her, der Ludwig von oben hat die Eroica schon bereitghabt, im obern Stock hat er se geschriebn. Aber der Napoleon hat keine Zeit zum Zuhörn habt, die Franzosn san viel zu nerves, wenn’s was wolln, drum han se si a Moskau verpatzt.»

Manchmal am Abend, beim Blick übers Pflaster, träumt Herr Niederhafl von seinem entschwundenen Glacis. «Do tät i jetzt spaziern, auf dem grünen Glacis, rund um die Stadtmauer. Wo solln die Weana nun spaziarn gehn, i sag ehna, es is a Kreiz mit die Bauhean, aber mit ’n Parlament, do habens se se um an Meter verrechnet – zu hoch hans baut wegen der Perspektive, des hot ehna der Kaiser Franz Josef gsagt, do hat si der Architekt glei umbrocht. Seither hat der Kaiser nur noch gsagt – es ist schön und ich bin sehr zufrieden. Des hett i ned gsagt, wo sie di schene Basteimauer niedergrissn han, um die Wuzzelbaim vor die Aussicht hinzugebn. Sehns, wie der Hitler übern Ring kam, do warn die Blätter schon wie jetzt heraus, und nix hammer gsehn …»

Wenn im Sommer das Laub dem Herrn Niederhafl die Aussicht auf den Ring versperrt, kann er wenigstens von der guten Stube aus aus dem Fenster lehnen und sehen, wer da alles den Ludwig besuchen kommt. Es sind Beethoven-Jünger aus der ganzen Welt; Russen, Japaner, ein Neger, der wie ein Berliner deutsch sprach, und jener unvergeßliche Amerikaner, der an der Hausfassade emporschaute, bis sein Blick auf dem Kopf des Herrn Niederhafl haften blieb: «Are you Mr. Beethoven?» (Sind Sie Herr Beethoven?) «No gar so schiach wie der Ludwig bin i ned. – Aber was der für fesche Madln zu Besuch hat – do tet i a no an Ludwig spüin …»

Im Gegensatz zu Herrn Niederhafl mochte die Hausbesorgerin die feschen Madln in Hosen gar nicht. «Na so schamlos dem Meister gegenübertreten!» Sobald sie nackte Beine ums Eck kommen sah, legte sie ihre Strickarbeit auf den Sims und schloß das Hausbesorgersfenster – die sollen ihren Weg selber finden, der Meister hätte ihr die Wegweisung verargt, sie womöglich durch Schweigen bestraft.

In manchen Nächten ließ er seine Schritte in der Wendeltreppe hören, um ihr alsdann auf dem Klavier ihre Lieblingsweise zu spielen. Sein Geist war ihr allgegenwärtig. Solch wunderbare geistige Zweisamkeit wird nur gehobeneren Seelen zuteil, weshalb die Hausbesorgerin seit einiger Zeit das niedrigere Wendeltreppenwaschen eingestellt hat, zum Verdruß der Anderen. Ja, der Meister hatte auch noch eine Andere. Zwei Frauen kämpften da gegeneinander um des großen Meisters Geistes Gunst mit ungleichen Waffen.

Vom ersten Stock weg nämlich diente die Beschließerin, die ihr Amt von Gottes Gnaden durch Erbe innehatte. Ihr Vater hatte schon dem Haus gedient und dessen Vater, der den Meister noch gekannt und oft genug Beethovens respektlosen liederlichen Neffen zurechtgewiesen hatte, weil dieser in der Wendeltreppe pfiff. Großvater hatte auch Beethovens Bruder, den Apotheker, nicht gemocht: «Ein eingebildeter Mensch, als ‹Beethoven, Großgrundbesitzer› hat der unterschrieben, was den Meister veranlaßte, Briefe an den Bruder mit ‹Ludwig, Hirnbesitzer› zu zeichnen.»

Den großen handgeschmiedeten und den kleinen Patentschlüssel verwahrte die Beschließerin in der eingelegten Schatulle, die seit Meisters Zeiten auf dem Vertikow stand. Der Schatullenschlüssel lag auf dem Nachttisch im Alkoven; während des Russeneinmarsches nahm ihn die Beschließerin nachts unters Kopfkissen. Für den Ernstfall hatte sie die Worte längst bereit: «Nur über meine Leiche.» Und sie hätte für ihren Meister sterben dürfen, im Gegensatz zur Hausbesorgerin, welche die Auffassung vertrat: «Man muß nur liab zan Russn sein, do sans a liab.»

Nein, kein einziger Mann auf Erden war würdig, daß die Beschließerin die Schlüssel aus der Hand gab. An kranken Tagen waren die Erinnerungsräume für die ganze Welt geschlossen, der Kaiser hätte kommen können …

Ein Streicherklavier mit ziemlich angeglichenen Klängen, des Meisters Zuckerdose und Salzfaß in einer Vitrine, zusammen mit Feder und Tintenfaß, das war der Erinnerungsraum. Vielleicht stand noch ein Kanapee in einer Ecke, ich kann mich nicht mehr recht erinnern.

Dumpfer Groll gegen das Spießertum gärte im Raum, wenn die Beschließerin erzählte: «Der Meister von hartem Ohr konnte seine Klänge nur hören, wenn er sehr laut spielte. Wo immer er wohnte, fühlten sich die Hausleute durch Beethovens Lärm gestört. So mußte der arme unverstandene Meister von Haus zu Haus ziehen, insgesamt zog er vierzig Male um. Aber nirgends hat er so lange gewohnt wie an der Mölkerbastei. Mit Unterbrüchen zwar, hier in der Brandmauer wollte er ein Fenster ausbrechen lassen, was sein Freund Pasqualati, der Hausbesitzer, nicht zuließ. Beethoven zog daraufhin für ein paar Wochen aus.» Das Fenster ist noch heute nicht herausgebrochen.

An schwülen Tagen, wenn ihm der Ruhestand zur Last fiel, brummte Herr Niederhafl wegen des ganzen Federlesens: «Des Zeig, was die aufführn um den alten Ludwig. Der war a ned besser als wir, wenn ihm was ned paßt hat. Bei der Gräfin hat er an Zucker mit Hand statt mit der Zangen gnommen, worauf die Gräfin den Johann rief: ‹Bring er einen anderen Zucker.› Nachdem Beethoven seinen Tee ausgetrunken hatte, schmetterte er die kostbare Tasse an die Wand.

‹Aber Meister?›

‹Gnädige Frau, Ihnen ekelt vor dem Zucker, den ich berührt habe, wie muß Ihnen vor der Tasse ekeln, aus der ich getrunken habe!›»

Am Tag, an dem Herr Niederhafl von seiner Wohnung aus den elektrischen Strom für den Beethoven-Film liefern durfte, war er trotzdem stolz, und auch der alte Ludwig «mecht den Tag mit der feschen Komteß genießen».

Vor der Kamera, auf das Streicherklavier gestützt, stand ein braungeschminktes Mädchen in einem Empire-Spitzenkleid. Mit immer größer werdenden Augen fixierte es eine Stelle, auf einmal schloß es die Augen und fiel anmutig in Ohnmacht, und dies zwei Tage lang unendlich viele Male.

Die Beschließerin war ungehalten wegen des Spitzenausschnitts im Ohnmachtsanfall, und für einmal ging sie mit der Hausbesorgerin einig: «Na, so tief hat die Komteß an Meister nicht blicken lassen. Die Person is ka Komteß.»

«Gehns», fiel Herr Niederhafl der Hausbesorgerin ins Wort, «beim Spieln schaut a jeder Meister abi.»

Eines Morgens bat die Hausbesorgerin Herrn Niederhafl, mit ihr doch einmal nach der Beschließerin zu sehn, es sei so still im ersten Stock. Sie fanden das alte Fräulein in ihrem Lehnstuhl sitzend tot, ihres Meisters Schlüssel in der Hand.

Im Juli begaben sich die Niederhafls zur Sommerfrische auf den Semmering und überließen mir vertrauensvoll die Schlüsselgewalt der Wohnung.

Mit der Beschließerin war das Haus ein wenig gestorben. Irgend etwas Lebendiges mußte geschehen. Erichs bestandnes Examen gab Anlaß zu einem Fest in sämtlichen Niederhaflschen Räumen. Es war nicht leicht, in den vollgestopften drei Zimmern Platz für dreißig Geladene zu schaffen.

Aus Pietät vor dem Ludwig tanzten wir langsam und ganz leise barfuß, zu schwülem, dunklem Licht.

Auf das verrauschte Fest folgte ein furchtbares Erwachen. Die Möblierung! Himmel, wo hatte der Tisch gestanden, auf welchen Sessel gehört das Häkelkissen, die Nippsachen? Mit allen Möbeln und den hunderterlei Sachen versuchten wir, die ursprüngliche Möblierung wieder herzustellen. Es war nicht mehr wie früher bei den Niederhafls.

Ich empfing sie mit Rosenstrauß und Schweizer Schokolade, dafür haben sie nie etwas gemerkt.

Im Herbst meldete ich mich für die Aufnahmeprüfung an der Akademie der Bildenden Künste an. Veränderungen sind dem echten Wiener suspekt, weil sie ihn immer weiter von seinem alten Wien entfernen. Meine Kunstidee schien die Niederhafls zu beunruhigen und den Erich auch. Ich weiß nicht, wieviel Glück sie mir fürs Examen wünschten.

Wie viel, wie wenig es gewesen sein mag, ich bin durchgekommen. Weshalb, ist mir noch heute unbegreiflich. Gott, was ich da an Bildern von mir gab; mir wird noch heute heiß, wenn ich dran denke. «Kampf» und «Flucht» waren die gestellten Themen, neben dem Porträt. Der Professor verriet mir, das Porträt habe mir durchgeholfen.

Einmal hineingerutscht, konnten wir mit der Akademie machen, was wir wollten; sie war uns ausgeliefert. Meinem schweizerischen Arbeitsgewissen war dabei ein wenig unbehaglich, weil mir der Schweiß selten auf der Stirn stand. Mir kam es so vor, als würde es auf diese Weise mit meiner und der Wiener Kunst nur abwärtsgehen. Dabei geschah das Umgekehrte, wie die kunstspekulative Welt heute nach zwanzig Jahren feststellt und dabei bedauert, damals in unseren Klassenzimmern nicht die Papierkörbe geleert oder eine Skizze gegen ein Butterbrot getauscht zu haben.

Wir kamen, wann wir wollten, und auch die Professoren erschienen höchstens, wenn einer von uns eine Audienz begehrte. «Da noch ein bißl Mut und Leidenschaft», ermahnte mich Professor Gütersloh auf Vorlegen meines sitzenden Aktes hin, anläßlich meiner ersten und einzigen Audienz.

Im Klassenzimmer saß auf dem Podium jeweils von morgens neun Uhr an einsam ein Aktmodell mit einer alten Wolldecke auf der Hühnerhaut der bloßen Schultern, wartend, bis endlich jemand sich graphisch seiner Konturen annehmen wollte.

Trotz leerer Klassenzimmer war die Akademie dicht bevölkert. Studenten höherer Semester konnten im k.u.k. Kunstpalast ein Atelier beziehen. Mit ihrer Staffelei brachten sie auch gleich die Matratze mit. So gegen Mittag krochen sie aus ihren Höhlen zum Modell hinüber. Und um Viertel eins kam auch ich vom Naschmarkt herüber. Um diese Zeit hatte ich bereits für die Firma Mühlbacher GmbH aus England auf englisch ein paar dutzend oder hundert Benzinpumpen bestellt und auf italienisch offeriert.

Ich muß zugeben, daß ich manchmal Mühe hatte, von Benzinpumpen auf Aktmodell umzustellen, und neidisch war auf die Kollegen, die sich bereits im Element des Akts befanden, und besonders wütend auf den Marcel:

«Geh, Kathi, gib’s doch auf, schau, ihr Frauen reicht’s doch nicht an die Schöpfung heran. Zu anderem seid’s ihr auf der Welt.»

Um ein Uhr stieg das Modell, ungeachtet unfertiger Halspartien, vom Podest herunter.

Mit meinem Stück Käse im Zeichenpapier folgte ich dem Mikl und dem Hollegha ins Atelier. Oft sprang uns eine Dampfwolke ins Gesicht, die Teigwaren im Leimkocher waren zu einem dicken schwarzen Brei verkohlt.

Stowasser sah ich nur einmal in der Akademie. Nach einem Blick auf seinen Block sprach Professor Böckel – ein paar Schüler weiter – von den Lausbuben, die die hohe Kunst verhöhnten.

Ich kannte Stowasser vom Prüfungstag her, als ich mich, gequälten Blicks, mit meinem Wurstbrot auf die Bank vor der Akademie setzte, wo schon einer saß, der Fritz hieß. Ich mußte einfach jemandem Mitteilung machen von meinem schlechten «Kampf».

«Kommst scho durch, mit deinen Augen brauchst ned hart zu kämpfen.»

Einmal war ich bei ihm zu Hause. Hühnerhaut überkam mich schon im Treppenhaus, das ein Bombentrichter war; das Bombenloch im Dach war mit Baubrettern notdürftig ausgefüllt. Vielleicht machte ihm die Umgebung selber Angst, und er mußte etwas dagegen finden, etwas ganz Neues, verrückt Farbiges, gegen das bombengraue Grau – und das Grauen der Vergangenheit.

Ich persönlich hätte das Dekorationsproblem wohl etwas wärmer und romantischer gelöst, mit Stoff und Zeugs und Sachen, aber ich war ja – leider – auch nicht Fritz.

An der Wand hing ein breites schwarzes Band mit grünen, blauen, roten Köpfen, Mandelaugen zwischen dreieckigen Nasen, Spiralen um und um. Hundertwasser stand darunter. «Heißt du Hundertwasser?», fragte ich. «‹Sto› heißt in den slawischen Sprachen hundert», gab er zur Antwort.

Fritzens drei Möbelstücke, zwei Stühle und ein Tisch, hingen an der Decke, bemalt mit Köpfen auf der Unterseite. Statt auf diesen Stühlen saßen wir am Boden. Milchig fahles Licht drang durch die weiß gestrichenen Fensterscheiben, und Fritzens Augen leuchteten noch größer, dunkler aus den Höhlen. Gelächelt hat er nie.

«Was stellst du dir beim Malen vor?» fragte ich Fritz einmal.

«Die Träume meiner Kindheit.»

Eine Zeitlang wanderte er scheinbar ziellos durch die Straßen. Nachher hing im Art Club sein Gemälde Werte der Straße