Mein Onkel Benjamin - Claude Tillier - E-Book

Mein Onkel Benjamin E-Book

Claude Tillier

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Beschreibung

Das Buch "Mein Onkel Benjamin" von Claude Tillier ist ein humorvoller und satirischer Roman, der im Frankreich des 19. Jahrhunderts spielt. Der Roman handelt von den Abenteuern und Eskapaden des Titelcharakters Onkel Benjamin, einem liebenswerten Schürzenjäger und Freigeist. Tillier's Schreibstil ist lebhaft und voller Ironie, was dem Buch eine spielerische und unterhaltsame Note verleiht. Das Werk wird oft als Klassiker der französischen literarischen Satire angesehen und hebt sich durch seinen scharfen Humor und seine unkonventionelle Erzählweise von anderen Werken seiner Zeit ab. Tillier nimmt soziale und politische Themen ihrer Zeit aufs Korn und porträtiert auf humorvolle Weise das Leben in der französischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts.

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Seitenzahl: 348

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Claude Tillier

Mein Onkel Benjamin

Eine turbulente Komödie

Books

- Innovative digitale Lösungen & Optimale Formatierung -
2017 OK Publishing
ISBN 978-80-272-3791-3

INHALTSVERZEICHNIS

Erstes Kapitel: Was mein Onkel war

Zweites Kapitel: Warum sich mein Onkel zum Heiraten entschloß

Drittes Kapitel: Wie mein Onkel die Bekanntschaft eines alten Sergeanten und eines Pudels machte, was ihn hinderte, zu Herrn Minxit zu gehen

Viertes Kapitel: Wie sich mein Onkel für den Ewigen Juden ausgab

Fünftes Kapitel: Mein Onkel tut ein Wunder

Sechstes Kapitel: Herr Minxit

Siebtes Kapitel: Was an Herrn Minxits Tafel gesprochen wurde

Achtes Kapitel: Wie mein Onkel einen Marquis küßte

Neuntes Kapitel: Herr Minxit rüstet zum Krieg

Zehntes Kapitel: Wie sich mein Onkel von dem Marquis küssen ließ

Elftes Kapitel: Wie mein Onkel seinem Tuchhändler half, ihn auszupfänden

Zwölftes Kapitel: Wie mein Onkel Herrn Susurrans an einen Küchenhaken hängte

Dreizehntes Kapitel: Wie mein Onkel für die glückliche Niederkunft seiner Schwester die Nacht im Gebet zubrachte

Vierzehntes Kapitel: Die Rede meines Onkels vor dem Amtmann

Fünfzehntes Kapitel: Wie mein Onkel in seinen Patenverrichtungen gestört und ins Gefängnis gebracht wurde

Sechzehntes Kapitel: Ein Frühstück im Gefängnis Wie mein Onkel aus dem Gefängnis herauskam

Siebzehntes Kapitel: Eine Reise nach Corvol

Achtzehntes Kapitel: Was mein Onkel bei sich über das Duell sagte

Neunzehntes Kapitel: Wie mein Onkel Herrn von Brückenbruch dreimal entwaffnete

Zwanzigstes Kapitel: Entführung und Tod der Jungfrau Minxit

Einundzwanzigstes Kapitel: Das letzte Fest

ERSTES KAPITEL

WAS MEIN ONKEL WAR

Inhaltsverzeichnis

Wahrhaftig, ich weiß nicht, warum der Mensch so am Leben hängt. Was findet er eigentlich so Angenehmes an dieser schmacklosen Folge von Tag und Nacht, Sommer und Winter? Immer derselbe Himmel, dieselbe Sonne; immer dieselben grünen Wiesen und dieselben gelben Felder; immer dieselben Thronreden, dieselben Gauner und dieselben Gimpel. Wenn Gott es nicht besser gekonnt hat, so ist er ein trauriger Werkmeister, und der Maschinist der Großen Oper versteht mehr als er.

›Noch nicht genug der Anzüglichkeiten?‹ sagt ihr; ›jetzt kommt er gar mit Anzüglichkeiten gegen den lieben Gott.‹ Was wollt ihr! ist er doch recht eigentlich ein Beamter, und ein hoher Beamter dazu, nur daß seine Ämter keine Sinekure sind. Aber ich habe keine Angst, er werde hingehen und mich wegen des Schadens, den ich seiner Ehre beigebracht, auf Schadenersatz belangen, um von dem Geld eine Kirche bauen zu lassen.

Ich weiß wohl, daß Staatsanwälte empfindlicher im Hinblick auf seine Reputation sind als er selbst; aber das gerade finde ich nicht in Ordnung. Kraft welchen Titels maßen sich diese schwarztalarigen Menschen das Recht an, Beleidigungen zu rächen, die ihn höchst persönlich angehen? Haben sie eine ›Jehova‹ gezeichnete Vollmacht, die sie dazu befugt?

Glaubt ihr, daß er so zufrieden ist, wenn das Zuchtpolizeigericht seinen Donner in die Hand nimmt und damit brutal Unglückliche zerschmettert, um nichts als ein Delikt von ein paar Silben? Wer beweist denn übrigens diesen Herren, daß Gott beleidigt worden ist? Hier ist er, an sein Kreuz geheftet, während sie, ja, sie in ihren Richtersesseln sitzen: sollen sie ihn fragen! Wenn er es bestätigt, will ich unrecht haben. Wißt ihr, warum er die Dynastie der Kapetinger vom Thron gestoßen hat, diesen alten und erlauchten Königssalat, der mit so viel heiligem Öl angemacht war? Ich weiß es und will es euch sagen: weil sie das Gotteslästerungsgesetz gemacht hat.

Aber das steht hier nicht in Frage.

Was heißt leben! Aufstehen, sich schlafen legen, frühstücken, mittagessen und am andern Morgen von vorn anfangen. Wenn man das vierzig Jahre geübt hat, ist es am Ende recht fade geworden.

Die Menschen gleichen Zuschauern bei einem Schauspiel, welche Abend für Abend, die einen auf Sammetpolstern, die andern auf nackten Bänken, die Mehrzahl aber auf Stehplätzen, dasselbe Stück ansehen; alle gähnen bis zum Kieferverrenken, alle sind sich einig, daß all das todlangweilig ist, daß sie viel besser in ihren Betten lägen, aber nichtsdestoweniger will niemand seinen Platz aufgeben.

Leben – ist es die Mühe wert, auch nur die Augen zu öffnen? Alle unsere Unternehmungen sind nichts weiter als Anfänge; das Haus, das wir bauen, ist für unsere Erben; der Schlafrock, den wir uns mit Liebe auswattieren lassen als Hülle unseres Alters, wird als Wickeltücher für unsere Enkel seine Verwendung finden. Gerade sagen wir: ›Nun ist der Tag zu Ende‹; wir zünden unsere Lampe an; wir schüren unser Feuer; wir sind drauf und dran, einen wohligen und friedlichen Abend an unserm Kamin zu verbringen: pang! pang! klopft jemand an die Tür. Wer ist da? Der Tod: scheiden heißt es. Wenn wir alle Gelüste der Jugend haben und unser Blut voller Saus und Braus ist, besitzen wir keinen Taler; wenn wir keine Zähne mehr haben, keinen Magen, sind wir Millionäre. Wir haben kaum die Zeit, zu einer Frau zu sagen: ›Ich liebe dich!‹ Bei unserm zweiten Kuß ist sie eine alte Schachtel. Kaum sind die Reiche aufgerichtet, so stürzen sie wieder zusammen; sie gleichen jenen Ameisenhaufen, die arme Insekten mit großen Mühen in die Höhe führen; wenn nicht mehr als ein Strohhälmchen zu ihrer Vollendung fehlt, tritt sie ein Ochse mit seinem breiten Huf zusammen, oder ein Karrenrad fährt sie nieder. Das, was ihr die vegetabilische Hülle dieser Erdkugel nennt, sind tausend und aber tausend Leichentücher, die die Generationen übereinandergeschichtet haben. Alle die großen Namen, die im Munde der Menschen widerhallen, Namen von Hauptstädten, Monarchen, Feldherren, es sind nur tönende Scherben verfallener Reiche. Ihr tut keinen Schritt, ohne den Staub von tausend Dingen um euch aufzuwirbeln, die zerstört wurden, bevor sie vollendet waren.

Ich bin vierzig Jahre und habe doch schon vier Berufe durchwandert: ich war Lehrgehilfe, Soldat, Schulmeister und bin nun Journalist. Ich habe auf dem festen Lande gelebt und auf dem Ozean, im Zelt und am Kamin, hinter Kerkergittern und im Freigebiete dieser Welt; ich habe gehorcht und befehligt; ich habe Augenblicke des Überflusses gehabt und Jahre des Elends. Man hat mich geliebt und gehaßt; man hat mir Beifall geklatscht und mir verächtlich den Rücken gekehrt. Ich bin Sohn gewesen und Vater, Liebhaber und Gatte; ich bin durch die Zeiten der Blumen gewandelt und durch die der Früchte, wie die Dichter es ausdrücken. In keinem dieser wechselnden Zustände habe ich gefunden, daß ich mich sonderlich zu beglückwünschen hätte, in der Haut eines Menschen zu stecken statt in der eines Wolfs oder Fuchses, statt in der Muschel einer Auster, in der Rinde eines Baumes oder in der Schale einer Kartoffel. Vielleicht wenn ich Rentier wäre, Rentier mit fünfzigtausend Francs besonders, würde ich anders denken.

Einstweilen habe ich die Meinung, daß der Mensch eine Maschine ist, die ganz ausdrücklich für den Schmerz geschaffen wurde. Er hat nur fünf Sinne zur Wahrnehmung der Lust, während der Schmerz im ganzen Umkreis seiner Körperoberfläche ihm vermittelt wird: wo man ihn sticht, blutet er; wo man ihn brennt, zieht er Blasen. Die Lungen, die Leber, die Eingeweide können ihm nicht den geringsten Genuß bereiten: nichtsdestoweniger entzündet sich die Lunge und macht ihn husten; die Leber verstopft sich und macht ihm Fieber; die Eingeweide verlagern sich und machen ihm Kolik. Ihr habt keinen Nerv, keinen Muskel, keine Sehne im Leibe, die euch nicht vor Schmerz schreien machen könnten.

Euer Organismus gerät alle Augenblicke in Unordnung wie eine schlechte Uhr. Ihr hebt eure Augen zum Himmel, um ihn anzuflehen: ein Schwalbendreck fällt hinein, der sie erblinden läßt. Ihr geht zu Balle: eine Fußverrenkung packt euch am Bein, und man muß euch auf einer Matratze nach Hause tragen. Heute seid ihr ein großer Schriftsteller, ein großer Philosoph, ein großer Dichter: ein Gehirnfäserchen reißt; man hat euch gut zur Ader lassen, euch Eis auf den Kopf legen, morgen seid ihr nur noch ein armer Narr.

Der Schmerz lauert hinter allen euern Freuden; ihr seid Naschmäuse, die er mit etwas duftendem Speck für sich ködert. Ihr wandelt im Schatten eures Gartens und ruft aus: ›O die schöne Rose!‹ Die Rose aber sticht euch. ›O die schöne Frucht!‹ Es ist eine Wespe darin, und die Frucht verwundet euch.

Ihr sagt: ›Gott hat uns geschaffen, ihm zu dienen und ihn zu lieben.‹ Das ist nicht wahr. Er hat euch geschaffen, zu leiden. Der Mensch, der nicht leidet, ist eine mißglückte Maschine, ein mißlungenes Geschöpf, ein moralischer Krüppel, eine Fehlgeburt der Natur. Der Tod ist nicht nur das Ende des Lebens, er ist auch das Heilmittel dagegen. Man ist nirgends so gut aufgehoben als in einem Sarg. Wenn ihr mir glauben wollt, so bestellt euch statt eines neuen Paletots einen Sarg. Es ist der einzige Rock, der euch nicht unbequem sitzt.

Was ich euch da gesagt habe, mögt ihr für eine philosophische Idee oder ein Paradox halten, mir gilt es gleich. Nur als Vorrede wenigstens bitte ich euch es hinnehmen zu wollen; denn ich wüßte nicht, eine bessere und für diese traurige und wehmütige Geschichte passendere zu machen, die ich nun die Ehre habe euch zu erzählen. Ihr werdet mir erlauben, meine Geschichte zwei Generationen vor unserer Zeit beginnen zu lassen, wie die eines Fürsten oder Helden, dessen Leichenrede man hält. Ihr werdet dabei schwerlich etwas verlieren. Die Bräuche jener Zeit können sich recht wohl mit denen der unseren messen: das Volk trug Ketten; aber es tanzte darin und wußte ihrem Rasseln etwas von Kastagnettenklang zu geben.

Denn – es ist schon wahr – der Frohsinn geht immer mit der Knechtschaft. Er ist ein Gut, das Gott, der große Ausgleicher, recht eigentlich für die geschaffen hat, die unter der Botmäßigkeit eines Herrn oder der harten und schweren Hand der Armut stehen.

Dieses Gut, er hat es als Trost für ihr Elend geschaffen, wie er gewisse Kräuter geschaffen hat, um zwischen den Pflastersteinen zu blühen, die man mit Füßen tritt; oder gewisse Vögel, um auf allen Türmen zu singen; wie er das schöne Grün des Efeus geschaffen hat, um über grinsenden Ruinen zu lächeln.

Der Frohsinn eilt, wie die Schwalbe, über die großen glänzenden Dächer hinweg. Aber in den Höfen der Schulen, am Tor der Kaserne, auf den verwitterten Steinplatten der Gefängnisse läßt er sich nieder. Wie ein schöner Schmetterling setzt er sich auf die Feder des Schülers, der seine Aufgabe kritzelt; er stößt in der Soldatenschenke mit den alten Grenadieren an; und nie singt er so laut – wenn man ihn überhaupt singen läßt – als zwischen den schwarzen Mauern, wo man Unglückliche einsperrt.

Übrigens ist der Frohsinn des Armen eine Art Stolz. Ich bin arm gewesen unter den Ärmsten; nun wohl, ich fand ein Vergnügen darin, zum Schicksal zu sagen: ›Ich werde mich doch nicht beugen unter deiner Hand, ich werde mein hartes Brot ebenso stolz essen wie Fabricius, der Diktator, seine Rüben; ich werde mein Elend tragen wie Könige ihr Diadem; triff mich, sooft du willst, schlag nur zu: ich werde auf deine Schläge mit Spott antworten; ich werde wie ein Baum sein, der weiterblüht, wenn man mit der Axt an ihn geht; wie die Säule, deren bronzener Adler in der Sonne glänzt, während schon die Hacke an ihrem Fuß arbeitet.‹

Begnügt euch, liebe Leser, mit diesen Erklärungen, ich wüßte euch keine vernünftigeren zu liefern. Welcher Unterschied zwischen jener Zeit und der unseren! Der Mensch von heute ist nicht zum Lachen aufgelegt, ach nein.

Er ist heuchlerisch, geizig und von Grund aus egoistisch; welche Frage es sein mag, auf die er mit seinem Schädel stößt, sein Schädel klingt immer wie ein Schublade voll Geld.

Er ist anmaßend und aufgeblasen; der Gewürzkrämer nennt den Zuckerbäcker, seinen Nachbarn, seinen sehr verehrten Freund, und der Zuckerbäcker bittet den Gewürzkrämer die Versicherung seiner ausgezeichneten Hochachtung entgegennehmen zu wollen, mit der er die Ehre hat zu sein usw. usw.

Der Mensch von heute hat die Sucht, sich vom Volke unterscheiden zu wollen. Der Vater geht im blauen Baumwollkittel, der Sohn im langen Rock vom besten Elbeuftuch. Kein Opfer ist dem Menschen von heute zu groß, um seine Sucht zu befriedigen, etwas vorzustellen. Er will durchaus so scheinen, als ob er immer obenauf sei. Er lebt von Wasser und Brot, gönnt sich das Feuer nicht im Winter und das Bier nicht im Sommer, nur um einen Frack von feinem Tuch, eine Kaschmirweste und gelbe Handschuhe zu tragen. Wenn man ihn nur als einen feinen Mann betrachtet, dann ist er, in seinen eigenen Augen, schon etwas Besonderes.

Er ist geschraubt und abgemessen; er schreit nicht, er lacht nicht geradeheraus, er weiß nicht, wohin spucken, er macht keine Bewegung, die über die andere hinausginge. Er sagt fein ordentlich: ›Guten Tag, Herr Fischer; guten Abend, Frau Oberkreissteuersekretärin.‹ Das gehört zum guten Ton. Aber was ist dieser gute Ton? Ein lügnerischer Firnis, den man auf ein gewöhnliches Stück Holz streicht, um es für ein spanisches Rohr auszugeben. So mag man vor den Damen bestehen. Zugegeben; aber vor Gott, wie soll man da bestehen?

Er ist Pedant; den Geist, den er nicht hat, ersetzt er durch säuberliche Redensarten, wie eine gute Hausfrau die Möbel, die ihr fehlen, durch Ordnung und Sauberkeit ersetzt.

Er kommt aus der Diät gar nicht heraus. Nimmt er an einer Gasterei teil, so ist er stumm und zerstreut; er schluckt einen Stopfen für ein Stück Brot; er nimmt sich Rahm statt weißer Sauce. Er wartet mit dem Trinken, bis ein Toast ausgebracht wird. Er hat immer eine Zeitung in der Tasche; er spricht von nichts als von Handelsverträgen und Eisenbahnlinien und lacht nur in der Kammer der Abgeordneten.

Zu der Zeit aber, in die ich euch zurückführe, da waren die Sitten der kleinen Städte noch nicht mit Eleganz geschmückt; sie waren erfüllt von einem bezaubernden Sichgehenlassen und einer liebenswürdigen Einfachheit. Der Charakter dieser glücklichen Zeit war die Sorglosigkeit. Alle diese Leute, mochten sie Fregatten oder Nußschalen sein, überließen sich mit geschlossenen Augen dem Strom des Lebens, ohne sich zu beunruhigen, wo sie landen würden.

Die Bürger jagten nicht nach Anstellungen, sie legten sich keinen Schatz an; sie lebten zu Hause in einem fröhlichen Überfluß und verputzten ihr Einkommen bis auf den letzten Louis. Die Kaufleute, damals noch selten, bereicherten sich langsam, ohne sich zu nahezutreten, so durch den Lauf der Dinge; die Handwerker arbeiteten nicht, um etwas auf die hohe Kante zu legen, sondern um gerade herumzukommen. Sie hatten nicht diese entsetzliche Konkurrenz auf den Fersen, die hinter uns her ist und uns unaufhörlich anschreit: ›Vorwärts!‹ So ging denn nichts über ihre Bequemlichkeit; sie hatten ihre Väter gefüttert, und wenn sie alt sein würden, waren ihre Kinder an der Reihe, sie zu füttern.

Derart war die Gemütlichkeit dieser lustigen Gesellschaft, daß die Anwaltschaft und die Mitglieder des Gerichtshofes höchstselbst insgemein ins Wirtshaus zogen und dort öffentlich ihre Orgien veranstalteten; aus Fürsorge, daß es ja jeder erfahre, würden sie bereitwillig ihren Hut am Wirtshausschild aufgehängt haben. Alle diese Leute, groß und klein, schienen weiter nichts zu tun zu haben, als sich zu vergnügen; sie begeisterten sich für nichts mehr, als eine rechte Posse aufzuführen oder eine gute Geschichte zu erfinden. Wer damals Geist hatte, verausgabte ihn in Spaßen statt in Ränken.

Die Faulenzer – und es waren ihrer nicht wenige – versammelten sich auf dem Rathausplatz; der Markttag war ihr Theatertag. Die Bauern, die ihre Vorräte zur Stadt brachten, waren ihre Schlachtopfer; sie bedachten sie mit den tollsten und witzigsten Grausamkeiten; die ganze Nachbarschaft lief hinzu, um ihren Teil an dem Spektakel zu haben. Die Polizei von heute würde sich dieser Dinge gleich mit einer hochpeinlichen Untersuchung annehmen; aber die Justiz von damals ergötzte sich mit den andern an diesen burlesken Szenen, und oft genug spielte sie selbst eine Rolle darin.

Mein Großvater nun war Gerichtsbote; meine Großmutter war eine kleine Frau, der man nachsagte, sie könne, wenn sie in die Kirche ginge, nicht sehen, ob der Weihkessel voll sei. Sie ist in meinem Gedächtnis geblieben als ein kleines Mädchen von sechzig Jahren. Nach sechsjähriger Ehe hatte sie bereits fünf Kinder, so Knaben als Mädchen; alles das lebte von dem schmalen Einkommen meines Großvaters und befand sich wundervoll. Man dinierte zu sieben bei drei Heringen, aber man hatte Brot und Wein nach Belieben, denn mein Großvater besaß einen Weinberg, der eine unerschöpfliche Quelle weißen Weines war. Alle diese Kinder wurden, nach Alter und Kräften, von meiner Großmutter nutzbar gemacht. Der Älteste, der mein Vater war, hieß Kaspar; er spülte das Geschirr und ging zum Metzger; kein Pudel in der Stadt war besser abgerichtet als er. Der nächste kehrte die Stube; das dritte Kind hatte das vierte auf dem Arm, während das fünfte in seiner Wiege strampelte. Unterdessen war meine Großmutter in der Kirche oder schwatzte mit der Nachbarin. Im übrigen ging alles gut; man langte mit Ach und Krach, ohne Schulden zu machen, am Ende des Jahres an. Die Knaben waren kräftig, die Mädchen nicht übel, und Vater und Mutter waren glücklich.

Mein Onkel Benjamin wohnte bei seiner Schwester; er maß sechs Fuß drei Zoll, trug einen langen Degen an der Seite, einen Frack von scharlachrotem Satin, Hosen von gleichem Stoff und gleicher Farbe, perlgraue seidene Strümpfe und Schuhe mit silbernen Schnallen. Auf seinem Frack tänzelte ein langer, schwarzer Zopf, fast so lang wie sein Degen, der, im beständigen Kommen und Gehen, ihn derart mit Puder verputzte, daß dieses Kleidungsstück mit seiner roten und weißen Färbung einem aufrechtgestellten Ziegelstein glich, der sich schuppt. Mein Onkel war Arzt, deshalb trug er einen Degen. Ich weiß nicht, ob die Kranken großes Vertrauen zu ihm hatten; aber er, Benjamin, hatte sehr wenig Vertrauen zur Heilkunst; er pflegte oft zu sagen, ein Arzt habe genug getan, wenn er seinen Kranken nicht umgebracht habe. Wenn mein Onkel irgendwo dreißig Sous eingenommen hatte, ging er und kaufte einen großen Karpfen; den brachte er seiner Schwester, ihn nach Matrosenart anzurichten, und die ganze Familie ließ es sich schmecken. Mein Onkel Benjamin war, nach den Reden aller, die ihn gekannt haben, der fröhlichste, drolligste, witzigste Mann im Land, und er würde der – wie soll ich sagen, um den Respekt vor dem Andenken meines Großonkels nicht zu verletzen? – er würde auch der wenigst Nüchterne gewesen sein, wenn der Stadttrommler, Cicero mit Namen, seinen Ruhm in diesem Punkte nicht geteilt hätte.

Keinesfalls war mein Onkel indes das, was man gemeinhin einen Trunkenbold nennt; man hüte sich, das zu glauben. Er war ein Epikuräer, der die Weltweisheit bis zur Trunkenheit trieb, das ist alles. Er hatte einen Magen voller Erhabenheit und voll Adels. Er liebte den Wein nicht um seiner Selbst willen, sondern wegen jener Narrheit weniger Stunden, die er verschafft, jener Narrheit, die aus einem Mann von Geist solch kindlich-köstlichen, prickelnden, urwüchsigen Unsinn redet, daß man am liebsten auch in der Besonnenheit so reden möchte. Hätte er sich mit Messelesen berauschen können, er hätte jeden Tag Messe gelesen. Mein Onkel Benjamin hatte Grundsätze; er behauptete, ein nüchterner Mensch sei ein noch halb schlafender Mensch, die Trunkenheit würde eine der größten Wohltaten des Schöpfers sein, wenn sie nicht Kopfweh machte, und das einzige, was den Menschen über das Tier erhebe, sei die Fähigkeit, sich zu berauschen.

Die Vernunft, sagte mein Onkel, ist nichts; das ist nur das Vermögen, die gegenwärtigen Übel zu empfinden und der vergangenen sich zu erinnern. Das Vorrecht, seine Vernunft abzudanken, ist allein etwas. Ihr sagt, daß der Mensch, der seine Vernunft im Wein ertränkt, sich zum Tier mache. Das ist reiner Kastenstolz, der euch diesen Satz aufstellen heißt. Glaubt ihr denn, daß das Tier schlechter dran sei als ihr? Wenn euch der Hunger peinigt, möchtet ihr gern der Ochse sein, der bis zum Bauch im Grase weidet; wenn ihr im Gefängnis steckt, möchtet ihr gern der Vogel sein, der mit freiem Flügel das Blau des Himmels zerteilt; wenn man euch auspfändet und nackt auf die Straße setzt, möchtet ihr gern die häßliche Schnecke sein, der niemand ihr Haus streitig macht.

Die Gleichheit, die ihr träumt, das Tier besitzt sie. In den Wäldern gibt es keinen König, keinen Adel, keinen dritten Stand. Das Problem des Gemeinschaftslebens, dem eure Philosophen vergeblich nachspüren, arme Insekten, die Ameisen, die Bienen, haben es seit Jahrtausenden gelöst. Die Tiere haben keine Ärzte; aber sie sind weder blind noch lahm, noch bucklig, noch krummbeinig, und sie haben keine Angst vor der Hölle.

Mein Onkel war achtundzwanzig Jahre alt. Seit drei Jahren betrieb er die Heilkunst; aber die Heilkunst hatte ihm keine Renten gebracht – im Gegenteil: er schuldete drei scharlachene Fräcke seinem Tuchhändler, drei Jahre Verschönerung seinem Haarkräusler, und in jedem Wirtshaus von Renommee in der Stadt hatte er eine nette kleine Rechnung stehen, von der er höchstens ein paar Hausmittelchen in Abzug bringen konnte.

Meine Großmutter war drei Jahre älter als Benjamin; sie hatte ihn auf ihren Knien gewiegt, auf ihren Armen getragen, und sie betrachtete sich als seinen guten Geist und Berater. Sie kaufte ihm seine Hals- und Taschentücher, flickte ihm seine Hemden und gab ihm gute Ratschläge, die er – das muß man ihm lassen – sehr aufmerksam anhörte, von denen er aber nicht den geringsten Gebrauch machte.

Alle Abende, die Gott werden ließ, regelmäßig nach dem Nachtessen, setzte sie ihm zu, eine Frau zu nehmen. »Pfui!« sagte Benjamin, »um sechs Kinder zu haben wie Beißkurz« – so nannte er meinen Großvater – » und zu Mittag nur Heringsflossen!«

»Aber Brot hättest du wenigstens, du Unglücksmensch.«

»Ja, Brot, das heute zuviel aufgegangen ist, morgen zuwenig und übermorgen den Roggenausschlag hat! Brot was ist das! Gut dafür, einen am Sterben zu hindern, aber nicht, einen lebendig zu erhalten. Ich wäre, wahrhaftig, fein heraus mit einer Frau, die findet, ich tue zuviel Zucker in meine Arzneiflaschen und zuviel Puder in meinen Zopf, die mich aus dem Wirtshaus holt, meine Taschen durchsucht, wenn ich schlafe, und sich drei Mantillen kauft für jeden Frack, den ich kriege.«

»Aber deine Gläubiger, Benjamin, wie willst du's anstellen, sie zu bezahlen?«

»Zunächst, wenn man Kredit hat, ist's, wie wenn man reich wäre, und sind die Gläubiger aus dem richtigen Teig geknetet, so daß sie Geduld haben, so ist's, als hätte man keine. Ferner, was braucht es, um mich aufs laufende zu bringen? Eine ordentliche Epidemie. – Gott ist gut, liebe Schwester, und wird den nicht in der Patsche lassen, der ihm sein schönstes Werk flickt.«

»Ja«, sagte mein Großvater, »und der es dabei so schön untauglich macht, daß man es einscharren muß.«

»Ganz recht!« antwortete mein Onkel, »das ist gerade die Nutzanwendung der Arzneien; ohne sie wäre die Welt übervölkert. Was würde es nützen, daß Gott sich die Mühe gibt, uns Krankheiten zu schicken, wenn es Menschen gäbe, die sie heilen könnten?«

»Wenn du so rechnest, bist du ein unehrlicher Mann; du stiehlst denen das Geld, die dich rufen lassen.«

»Nein, ich stehle es ihnen nicht, denn ich richte sie auf, ich gebe ihnen Hoffnung, und ich finde immer ein Mittel, sie lachen zu machen. Das ist schon etwas.«

Meine Großmutter, die sah, daß die Unterhaltung sich gedreht hatte, zog es vor, einzuschlafen.

ZWEITES KAPITEL

WARUM SICH MEIN ONKEL ZUM HEIRATEN ENTSCHLOß

Inhaltsverzeichnis

Ein schreckliches Geschehnis indessen, das ich sogleich erzählen werde, erschütterte die Entschließungen Benjamins.

Eines Tages kam mein Vetter Page, Advokat beim Amtsgericht von Clamecy, um meinen Onkel mit Beißkurz zur Feier des Sankt-Ives-Tages einzuladen. Das Diner sollte in seiner wohlberufenen Kneipe, zwei Flintenschüsse weit vor dem Tor, stattfinden; die Gäste waren übrigens lauter erlesene Leute. Benjamin würde diesen Abend nicht für eine ganze Woche seines gewöhnlichen Lebens hingegeben haben. So waren denn nach Vesper mein Großvater, mit seinem Hochzeitsfrack angetan, und mein Onkel, den Degen an der Seite, zur Stelle.

Die Geladenen waren beinahe alle versammelt. Der heilige Yves war prächtig vertreten in dieser Gesellschaft. Da war zuerst der Advokat Page, der nie anders als zwischen zwei Weinen, einem vor, einem nach dem Termine, plädierte; der Gerichtskanzlist, der es in der Gewohnheit hatte, im Schlafe zu schreiben; der Sachwalter Rapin, der als Geschenk von einem Klienten ein Fäßchen stichigen Wein erhalten hatte und ihn deshalb vorladen ließ, um ihn zur Lieferung eines besseren anzuhalten; der Notar Arthus, der einen Lachs zum Nachtisch verzehrt hatte; Millot-Rataut, Schneider und Poet, Verfasser der großen Christlitanei: ein alter Architekt, der seit zwanzig Jahren sich nicht ernüchtert hatte; Herr Minxit, Arzt aus der Nachbarschaft, der den Urin beschaute; zwei oder drei Handelsherren von Ansehen (wegen ihrer Lustigkeit und ihres Appetits) und einige Jäger, die die Tafel zum Biegen mit Wildbret versorgt hatten. Beim Anblick Benjamins stießen alle Mitschmauser ein Freudengeschrei aus und erklärten, es müsse zu Tisch gegangen werden. Während der ersten beiden Gänge verlief alles gut. Mein Onkel war bezaubernd in seinem Witz und seinen Ausfällen; aber beim Nachtisch erhitzten sich die Köpfe; alle schrien durcheinander. Bald war die Unterhaltung nichts mehr als ein Aufeinanderprasseln von Epigrammen, Kraftworten und Witzschüssen, die sich alle auf einmal entluden und sich gegenseitig zu übertäuben suchten. Alles das machte einen Lärm wie ein Dutzend beständig aufeinanderklirrender Gläser.

»Meine Herren«, rief der Advokat Page, »ich muß Ihnen unweigerlich meine letzte Verteidigungsrede zum besten geben. Die Sache ist die: Zwei Esel kriegten auf einer Wiese Händel. Der Herr des einen, ein schlechter Strick – wenn's einen gibt –, eilt herzu und bearbeitet den andern Esel mit seinem Stock. Aber dieser Vierfüßler war nicht langmütig und beißt unsern Mann in den kleinen Finger. Der Eigentümer des gebissen habenden Esels wurde vor den Herrn Amtmann geladen als verantwortlich für die Taten und Aufführungen seines Tieres. Ich war der Rechtsbeistand des Beklagten. ›Bevor ich in die Erörterung des Tatbestands eintrete‹, sagte ich zum Amtmann, ›muß ich Sie über die Moralität des Esels, den ich verteidige, und über die des Klägers aufklären. Unser Esel ist ein durchaus harmloser Quadruped; er erfreut sich der Achtung aller, die ihn kennen, und der Feldschütz hat eine hohe Meinung von ihm. Nun möchte ich bezweifeln, daß der Mann, der unsrer Partei gegenübersteht, dasselbe von sich sagen kann. Unser Esel ist Träger eines vom Schultheißen seiner Gemeinde ausgestellten Zeugnisses‹, – und dies Zeugnis existierte in der Tat –, ›welches seine Gesittung und seinen guten Lebenswandel bezeugt. Wenn der Kläger ein gleiches Zeugnis vorweisen kann, sind wir bereit, ihm tausend Taler Schadenersatz zu zahlen.‹«

»Der heilige Yves segne dich«! rief mein Onkel; »nun muß uns der Poet Millot-Rataut seine große Weihnachtslitanei singen: ›Kniet, ihr Christen, knieet alle!‹ Das ist doch unglaublich lyrisch. Nur der Heilige Geist kann ihn zu diesem schönen Vers begeistert haben.«

»Mach du nur auch so einen!« brüllte der Schneider, den der Burgunder reizbar machte.

»So dumm!« antwortete mein Onkel.

»Silentium!« unterbrach der Advokat Page, indem er aus Leibeskräften auf den Tisch schlug; »ich erkläre dem Gerichtshof, daß ich mein Plaidoyer zu Ende führen will.«

»Alles zu seiner Zeit«, sagte mein Onkel; »du bist noch nicht betrunken genug, um zu plaidieren.«

»Und ich sage dir, daß ich auf der Stelle plaidieren werde. Wer bist du, du Sechs-Fuß-drei-Zoll, daß du einen Advokaten am Sprechen hindern willst?«

»Nimm dich in acht, Page«, machte der Notar Arthus, »du bist nur ein Mann der Feder und hast es mit einem Mann des Degens zu tun.«

»Es steht dir schon an, du Mann der Gabel, Lachsfresser, von Männern des Degens zu reden; wenn du einem Angst machen wolltest, du, dann müßte er schon gebraten sein.«

»Benjamin ist in der Tat fürchterlich«, sagte der Architekt. »Er ist wie der Löwe: mit einem Schlag seines geschwänzten Endes könnte er einen Menschen zu Boden strecken.«

»Mein Herren«, sagte mein Großvater und erhob sich, »ich bürge für meinen Schwager; er hat hoch nie Blut vergossen, außer mit seiner Lanzette.«

»Wagst du wirklich, das aufrechtzuerhalten, Beißkurz?« »Und du, Benjamin, wagst du wohl das Gegenteil zu behaupten?«

»Dann wirst du mir auf der Stelle Satisfaktion für diese Beleidigung geben; und da wir nur einen Degen hier haben, will sagen den meinigen, werde ich die Scheide behalten, und du wirst die Klinge nehmen.«

Mein Großvater, der seinen Schwager zu sehr liebte, um ihm zu widersprechen, nahm die Forderung an. Als die beiden Gegner sich erhoben, rief der Advokat Page:

»Einen Augenblick, meine Herren; man muß die Kampfregeln festsetzen.

Ich schlage vor, daß jeder der beiden Gegner, um nicht umzufallen, bevor es losgeht, seinen Zeugen am Arme packt.«

»Angenommen!« riefen alle Tafelgenossen. Bald standen sich Benjamin und Beißkurz gegenüber.

»Bist du's, Benjamin?«

»Und du, Beißkurz?«

Mit seinem ersten Degenstreich hieb mein Großvater die Scheide Benjamins mittendurch, als wäre sie eine Schwarzwurzel gewesen, und brachte ihm einen Blutigen am Handgelenk bei, der ihn mindestens acht Tage zwang, mit der Linken zu trinken.

»Der Ungeschickte!« rief Benjamin, »er hat mich angeschnitten.«

»Na, warum«, antwortete mein Großvater mit bezaubernder Herzlichkeit, »warum hast du auch einen Degen, der schneidet?«

»Das ist gleich; ich will meine Revanche; und ich habe genug an der Hälfte dieser Scheide, um dich um Gnade flehen zumachen.«

»Nein, Benjamin«, versetzte mein Großvater, »jetzt bist du daran, den Degen zu nehmen. Wenn du mich anspießt, sind wir quitt und geben das Spiel auf.«

Die Zechgenossen, von dem Zwischenfall ernüchtert, wollten zur Stadt zurückkehren.

»Nein, meine Herren«, rief Benjamin mit seiner Stentorstimme, »jeder gehe wieder an seinen Platz. Ich habe euch einen Vorschlag zu machen: Beißkurz hat sich, für seinen ersten Waffengang, aufs glänzendste geschlagen; er ist befähigt, sich mit dem mörderischsten aller Barbiere zu messen, vorausgesetzt, daß dieser ihm den Degen überläßt und die Scheide behält. Ich beantrage, ihn zum Oberstgewaltigen des Waffenwesens zu ernennen; nur unter dieser Bedingung könnte ich mich dazu verstehen, ihn am Leben zu lassen; ja ich würde mich, wenn ihr euch meinem Vorschlag fügt, sogar bereit erklären, ihm meine linke Hand zu reichen, sintemal er mir die rechte verstümmelt hat.«

»Benjamin hat recht!« schrie eine Menge Stimmen; »bravo, Benjamin! Man muß Beißkurz zum Waffenobersten erheben.«

Und jeder rannte an seinen Platz, und Benjamin verlangte einen zweiten Nachtisch.

Indessen hatte sich die Nachricht von diesem Zwischenfall in Clamecy verbreitet. Auf ihrer Wanderung von Mund zu Mund hatte sie sich wunderbar vergrößert, und als sie bei meiner Großmutter anlangte, hatte sie die riesenhaften Dimensionen eines Totschlags, begangen von ihrem Mann an der Person ihres Bruders, angenommen.

Meine Großmutter trug in einem Körper von der Länge einer Elle ein Herz von Festigkeit und Tatkraft. Sie ging nicht zu ihren Nachbarn, um in ein Klagegeheul auszubrechen und sich Essig ins Gesicht spritzen zu lassen. Mit jener Geistesgegenwart, die der Schmerz starken Seelen verleiht, sah sie sofort, was sie zu tun hatte. Sie brachte die Kinder zu Bett, nahm alles Geld, was im Hause war, und das bißchen von Schmuckstücken, das sie besaß, um ihrem Mann die Mittel zu verschaffen, das Land zu verlassen, falls es nötig sei; machte einen Pack saubere Leinwand zurecht, um Binden und Scharpie für den Verwundeten herzustellen, falls er noch am Leben sei; zog eine Matratze aus ihrem Bett und bat einen Nachbarn, ihr damit zu folgen. Dann wickelte sie sich in ihre Kapuze und setzte sich, ohne Wanken, auf die verhängnisvolle Kneipe zu in Bewegung. An den ersten Häusern der Vorstadt traf sie ihren Gatten, den man im Triumph daherführte, mit einem Diadem von Weinpfropfen gekrönt. Er stützte sich auf den linken Arm von Benjamin, der aus vollem Halse schrie: »Allen Gegenwärtigen tun wir kund und zu wissen, daß der edle Herr Beißkurz, Gerichtsbote seiner Majestät, soeben zum Oberstgewaltigen des Waffenwesens ernannt worden ist, in Anerkennung ...«

»Du Hund von einem Saufaus!« rief meine Großmutter, als sie Benjamin erblickte; und unfähig, der Erregung, die sie seit einer Stunde erstickte, länger zu widerstehen, stürzte sie aufs Pflaster nieder. Man mußte sie auf der Matratze nach Hause tragen, die sie für ihren Bruder bestimmt hatte.

Was diesen letzteren betrifft, so erinnerte er sich seiner Wunde erst am andern Tag, als er seinen Frack anziehen wollte; seine Schwester aber hatte ein heftiges Fieber. Sie war acht Tage gefährlich krank, und während dieser ganzen Zeit wich Benjamin nicht von ihrem Bett. Als sie wieder fähig war, ihn anzuhören, gelobte er ihr, daß er hinfürder ein geregeltes Leben führen wolle, daß er mit Entschiedenheit daran denke, seine Schulden zu bezahlen und zu heiraten.

Meine Großmutter war bald wieder hergestellt. Sie beauftragte ihren Mann, sich nach einer Frau für Benjamin umzutun.

Einige Zeit darauf, an einem Novemberabend, kam mein Großvater nach Hause, bespritzt bis ans Kreuz, aber strahlend.

»Ich habe etwas gefunden, was über alle unsere Erwartung geht«, rief der Prächtige, indem er seinem Schwager die Hände drückte; »Benjamin, nun bist du reich und kannst Fischragouts essen, soviel du willst.«

»Aber was hast du denn gefunden?« riefen meine Großmutter und Benjamin zugleich.

»Eine einzige Tochter, eine reiche Erbin, die Tochter des Vaters Minxit, mit dem wir vor einem Monat Sankt Yves gefeiert haben.«

»Des Dorfarztes, der den Urin beschaut?«

»Richtig! Er nimmt dich ohne weiteres, er ist bezaubert von deinem Geist; er hält dich für sehr geeignet, durch deine Verbindlichkeit und deine Redefertigkeit, ihm in seinem Geschäft zur Seite zu stehen.«

»Den Teufel!« knurrte Benjamin und kratzte sich den Kopf, »ich schwärme nicht gerade für Urinbeschauungen.«

»Ach was, du großer Kindskopf! Bist du einmal Vater Minxits Schwiegersohn, so wirst du ihn samt seinen Phiolen zum Kuckuck jagen und deine Frau nach Clamecy bringen.«

»Ja, aber die Jungfer Minxit ist rothaarig.«

»Sie ist nicht mehr als blond, Benjamin; ich gebe dir mein Ehrenwort darauf.«

»Sie ist so sommersprossig, als hätte man ihr eine Handvoll Kleie ins Gesicht geworfen.«

»Ich habe sie heute abend gesehn; ich versichere dich, es ist fast gar nichts.«

»Zudem hat sie fünf Fuß neun Zoll; ich fürchte wahrhaftig, die menschliche Rasse zu verderben; wir werden Kinder zuwege bringen, lang wie Hopfenstangen.«

»Was du da sagst, sind lauter schlechte Scherze«, warf meine Großmutter ein; »ich bin gestern deinem Tuchhändler begegnet, er will durchaus bezahlt sein, und du weißt wohl, daß dein Haarkräusler dich nicht mehr bedienen will.«

»Du verlangst also, teure Schwester, daß ich die Jungfer Minxit heirate; aber du weißt nicht, du, was das heißen will: Minxit. Und du, Beißkurz, weißt du's?«

»Gewiß doch weiß ich's; das will heißen: Vater Minxit.«

»Hast du Horaz gelesen, Beißkurz?«

»Nein, Benjamin.«

»Na also, Horaz hat gesagt: Num minxit patrios cineres. Dieses niederträchtige Perfektum ist es, was mich aufsässig macht: Herr Minxit, Frau Minxit, Herr Rathery, Benjamin Minxit, der kleine Johann Rathery Minxit, der kleine Peter Rathery Minxit – mit so einer Familie könnte man eine Mühle treiben. Und dann, offen gestanden, ich habe keine Lust zu heiraten. Es gibt zwar ein Lied, das sagt:

Ach, wie so wonnig

Sind die Bande der Ehe!

Aber dieses Lied weiß nicht, was es singt. Nur ein Hagestolz kann sein Verfasser sein:

Ach, wie so wonnig

Sind die Bande der Ehe!

Das wäre ganz gut und schön, wenn der Mann frei wäre in der Wahl seiner Gefährtin; aber die Notwendigkeiten des gesellschaftlichen Lebens zwingen uns immer, lächerlich und unseren Neigungen zuwider zu heiraten. Der Mann heiratet eine Mitgift und die Frau eine Profession. Dann, wenn man die Hochzeit mit ihren schönen Feiertagen hinter sich hat, wenn man in die Zurückgezogenheit seines Haushalts eingezogen ist, merkt man, daß man nicht zueinander paßt. Sie ist geizig, er verschwenderisch; die Frau ist gefallsüchtig, der Mann ist eifersüchtig; das eine liebt wie ein zartes Lüftchen, das andere wie ein steifer Wind. Man wünscht sich tausend Meilen auseinander, aber man muß in dem eisernen Ring leben, in den man sich eingeschlossen hat, und beisammenbleiben usque ad vitam aeternam.«

»Ist er grau«? sagte mein Großvater meiner Großmutter ins Ohr.

»Warum?« fragte diese.

» Weil er so vernünftig spricht.«

Nichtsdestoweniger brachte man meinem Onkel Gefügigkeit bei, und es wurde ausgemacht, daß er am morgigen Sonntag der Jungfer Minxit einen Besuch abstatten solle.

DRITTES KAPITEL

WIE MEIN ONKEL DIE BEKANNTSCHAFT EINES ALTEN SERGEANTEN UND EINES PUDELS MACHTE, WAS IHN HINDERTE, ZU HERRN MINXIT ZU GEHEN

Inhaltsverzeichnis

Am folgenden Tage um acht Uhr in der Frühe war mein Onkel frisch herausgeputzt; er wartete, um sich auf den Weg zu machen, nur auf ein Paar Schuhe, die ihm Cicero bringen sollte, jener berühmte Stadtherold, dessen wir schon Erwähnung getan und der das Handwerk eines Schusters mit der Würde eines Stadttrommlers in sich vereinigte.

Cicero ließ nicht lange auf sich warten. In jenen Zeiten der guten, frischen und franken Art war es Brauch, wenn ein Handwerker seine Arbeit in einem Haus ablieferte, ihn nicht gehen zu lassen, ohne ihm ein Glas Wein vorzusetzen. Das war nicht gerade fein, ich gebe es zu; aber dieses wohlwollende Entgegenkommen brachte die Stände einander näher; der Arme wußte dem Reichen für die Zugeständnisse, die er ihm machte, Dank und neidete ihm nichts. So hat man denn auch während der Revolution Beispiele wunderbarster Ergebenheit von Dienern gegen ihre Herren, Pächtern gegen ihre Edelleute, Handwerkern gegen ihre Meister gesehen, die sich in unserer Zeit unverschämten Hochmuts und lächerlichen Stolzes sicher nicht wiederholen würden.

Benjamin bat seine Schwester, eine Flasche Weißen abzuziehen, um mit Cicero anzustoßen. Meine Schwester zapfte eine, zapfte zwei, zapfte drei, und so bis zu sieben.

»Meine teure Schwester, ich bitte Sie, noch eine Flasche.«

»Aber du weißt ja nicht, Unglücklicher, daß du schon bei der achten bist!«

»Sie weiß wohl, liebe Schwester, daß wir nicht rechnen miteinander.«

»Aber du weißt wohl, du, daß du eine Reise vorhast.«

»Noch diese letzte Flasche, und ich gehe.«

»Ja, du bist in einem schönen Zustand, zu gehen! Wenn man dich nun holen käme, um einen Kranken zu besuchen?«

»Wie wenig, liebe Schwester, weiß Sie doch die Wirkungen des Weins zu würdigen! Man sieht, daß Sie nichts trinkt als die durchsichtigen Gewässer des Beuvron. Heißt es gehen? mein Schwerpunkt ist immer auf demselben Fleck; heißt es zur Ader lassen? ... apropos, Frau Schwester, ich muß Ihr zur Ader lassen, Beißkurz hat es mir beim Weggehen ans Herz gelegt. Sie klagte diesen Morgen über einen mächtigen Kopfschmerz, ein Aderläßchen wird Ihr guttun.« Und Benjamin zog sein Besteck hervor, während meine Großmutter sich mit der Feuerzange bewaffnete.

»Teufel! Sie spielt einen recht widerspenstigen Kranken. Also gut, vergleichen wir uns: Ich werde Ihr nicht zur Ader lassen, und Sie wird gehen, uns noch eine achte Flasche Wein abzuziehen.«

»Ich werde dir nicht ein Glas abziehen.«

»So werde ich es tun«, sagte Benjamin, ergriff die Flasche und steuerte nach dem Keller.

Meine Großmutter, die nichts Besseres sah, ihn aufzuhalten, hängte sich an seinen Zopf; aber Benjamin, ohne sich mit diesem Zwischenfall zu befassen, begab sich so festen Schrittes in den Keller, als hätte er höchstens ein Bündel Zwiebeln am Ende seines Zopfes hängen, und kehrte mit seiner gefüllten Flasche zurück.

»Nun, meine liebe Schwester, das war wohl der Mühe wert, zu zweit in den Keller zu gehen wegen einer lumpigen Flasche Weißwein; aber ich muß Sie warnen: wenn Sie in diesen schlechten Gepflogenheiten verharrt, wird Sie mich zwingen, mir meinen Zopf abschneiden zu lassen.«

Indessen versteifte sich Benjamin, der eben noch den Marsch nach Corvol als einen höchst unbequemen Dienst betrachtet hatte, nun darauf, zu gehen. Meine Großmutter hatte, um ihn daran zu hindern, seine Schuhe in den Schrank geschlossen.

»Ich sage Ihr, ich werde gehen.«

»Ich sage dir, du wirst nicht gehen.«

»Will Sie, daß ich Sie an meinem Zopf zu Herrn Minxit trage?«

Solcher Art war das Zwiegespräch, das sich zwischen Bruder und Schwester entsponnen hatte, als mein Großvater eintrat. Er machte der Verhandlung ein Ende, indem er erklärte, er habe am folgenden Tag in La Chapelle zu tun und werde Benjamin mitnehmen.

Schon vor Tag war mein Großvater auf den Beinen. Nachdem er seine Vorladung gekritzelt und daruntergesetzt hatte: ›Wovon die Gebühr zwei Taler vier Groschen sechs Pfennig‹, wischte er seine Feder am Ärmel seines Überrocks aus, steckte seine Brille bedächtig in ihr Futteral und ging, Benjamin zu wecken. Dieser schlief wie der Prinz von Condé – wenn anders der Prinz sich nicht schlafend stellte – am Vorabend einer Schlacht.

»Holla, he! Benjamin, auf! es ist heller Tag.«

»Du täuschest dich«, antwortete Benjamin mit einem Grunzen und drehte sich nach der Wand um; »es ist schwarze Nacht.«

»Heb nur den Kopf in die Höhe, und du kannst den Sonnenschein auf dem Fußboden tanzen sehen.«

»Ich sage dir, es ist der Schein von der Laterne.«

»Ah, wolltest du vielleicht nicht gehen?«

»Nein; ich habe die ganze Nacht geträumt von hartem Brot und stichigem Wein, und wenn wir uns in Marsch setzen wollten, könnte uns ein Unglück zustoßen.«

»Also gut! Ich erkläre dir, daß, wenn du in zehn Minuten nicht aufgestanden bist, ich dir deine teure Schwester hereinschicke; wenn du dagegen aufgestanden bist, steche ich das Viertel alten Wein an, du weißt schon.«

»Du bist sicher, daß es Pouilly ist, nicht wahr?« sagte Benjamin und erhob sich auf sein Sitzteil; »du gibst mir dein Ehrenwort?«

»Ja, Gerichtsbotenehre!«

»Also, dann geh und stich dein Quart an; aber ich sage dir im voraus: wenn uns unterwegs ein Unglück zustößt, so hast du es bei meiner lieben Schwester zu verantworten.«

Eine Stunde später waren mein Onkel und mein Großvater auf dem Wege nach Moulot. In einiger Entfernung von der Stadt trafen sie zwei Bauernbuben, von denen der eine einen Stallhasen unter dem Arm trug, der andere zwei Hühner in seinem Korbe. Der erste sagte zu dem zweiten:

»Wenn du zu Herrn Klipp sagen willst, daß mein Stallhase ein Feldhase ist und daß du gesehen hast, wie ich ihn in der Schlinge fing, bist du mein Kamerad.«

»Ich will schon«, antwortete der zweite, »aber unter der Bedingung, daß du zu Frau Schnerr sagst, meine Hühner legten zweimal am Tag, und Eier, so groß wie Enteneier.«

»Ihr seid zwei kleine Gauner«, sagte mein Großvater, »ich werde euch nächstens von dem Herrn Polizeikommissar an den Ohren kriegen lassen.«

»Und ich, meine Freunde«, sagte Benjamin, »ich bitte euch, dieses Groschenstück von mir anzunehmen.«

»Das ist so die Freigebigkeit am rechten Ort!« sagte mein Großvater und zuckte die Achseln; »du wirst jedenfalls den ersten ehrlichen Armen, den du triffst, mit dem flachen Degen fortjagen, da du dein Geld an diese beiden Taugenichtse verluderst.«

»Taugenichtse für dich, Beißkurz, der du von jedem Ding nur das Oberhäutchen siehst; aber für mich zwei Philosophen. Sie haben da gerade eine Maschine erfunden, die, wohl eingerichtet, das Glück von zehn ehrlichen Kerlen machen würde.«

»Und was ist das für eine Maschine«, fragte mein Großvater mit ungläubigem Gesicht, »welche diese beiden Philosophen gerade erfunden haben, die ich mit Nachdruck durchwamsen würde, wenn wir Zeit hätten, uns aufzuhalten?«