15,99 €
In der Gegend gilt er als Besessener, »besessen nicht allein von einem, sondern von mehreren, vielen, gar unzähligen Dämonen«. Tags geht er, der eigentlich Obstgärtner ist, durch den Ort. Leise redet er in Zungen in einer nichtexistierenden Sprache, erschreckt die Dorfbewohner mit Beschimpfungen und Schmähreden, mit Orakelsprüchen. Nur die Schwester hält zu ihm, die Eltern leben schon lang nicht mehr. Sie beobachtet, wie er anderen Lebewesen, Tieren zuspricht, und will nicht wahrhaben, dass er wie aus der Kehle eines Engels singt. Sie folgt ihm, auch an den See »mit dem anderen Land an dem Ufer gegenüber« – dort blickt ihn ein Mann an, wie er »noch keinmal von einem Menschen angeblickt worden war«, und da fahren die Dämonen aus ihm heraus. So macht er sich, »nach einem freilich langgezogenen Abschied, auf den Weg hinüber ins andere Land«.
Peter Handke erzählt von Dämonen, die ihren Schrecken verlieren im Blick desjenigen, der sagt: »Da bist du mir ja wieder, mein Freund!« Im Moment, in dem der Besessene so ist, wie er da war. Er erzählt von einer poetischen Verwandlung, einer Befreiung, die neben den Harmonien das »unausrottbar Widerständige« bewahrt; denn: »Ohne es wird nichts. Ohne es nichts als Dasein, Dortsein, und ewig unbeseeltes Sein.«
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 60
Veröffentlichungsjahr: 2021
Peter Handke
Mein Tag im anderen Land
Eine Dämonengeschichte
Suhrkamp
»Ich, Idiot, ins Gemeinwesen gestellt«
Pindar
Cover
Titel
Widmung
Inhalt
Informationen zum Buch
Impressum
Hinweise zum eBook
Cover
Titel
Widmung
Inhalt
1
2
3
Informationen zum Buch
Impressum
Hinweise zum eBook
In meinem Leben gibt es eine Geschichte, die ich noch keinem Menschen erzählt habe. Und wenn ich jetzt, gar spät, endlich damit komme, so stammt das zu Erzählende, obwohl ich selber, jedenfalls für den Anfang der Geschichte, deren Hauptperson und einziger Handelnder bin, weder in Wort noch in Bild von mir. Die Geschichte hier: Ich habe sie, in ihrem ersten Teil, in Fleisch und Blut erlebt, leibhaftig wie kaum eine der sonstigen Geschichten meines Lebens. Aber ich weiß von ihr allein vom Hörensagen – aus den Erzählungen anderer, meiner Familie, und stärker noch, raumgreifender, Dritter, der Leute aus dem Dorf; wenn nicht, mit noch größerer Nachwirkung heute, aller der mir völlig Unbekannten aus den umliegenden Ortschaften und noch weit darüber hinaus.
Nicht bloß, daß ich ohne Erinnerung bin an damals, ohne eine auch nur andeutende Spur im Gedächtnis, ohne, wie heißt es, »die leiseste Ahnung«: Ich sei schon zu der fraglichen Zeit, wie ich im nachhinein dann zu hören bekam, nach Aussage der einen nicht bei Bewußtsein oder, gemäß Aussage der andern, nicht bei Sinnen gewesen. »Ohne Bewußtsein«, das war die Version der Familie: eine Art des Schlafwandlertums, von welchem schon nicht wenige Vorfahrensgeschichten überliefert waren – bei meiner Person mit der Variante des Schlafwandelns auch tagsüber. »Von Sinnen« aber war ich zu jener Zeit in den Augen all der andern jenseits des Familienkreises.
Außer Haus galt es in der Gegend als eine Tatsache, daß es sich bei mir um einen Besessenen handelte, besessen nicht allein von einem, sondern von mehreren, vielen, gar unzähligen Dämonen. »Außer Haus«: Dazu paßte, daß ich, so wurde mir danach erzählt, im Verlauf der Begebenheiten aus unserem heimischen Anwesen ausgebrochen sei und, sage und schreibe, mein Zelt, ein sehr kleines, außerhalb der Siedlung aufgeschlagen hätte, in einem Friedhof, nicht dem aktuellen, vielmehr dem »alten«, dem ehemaligen, mit den in der Mehrheit längst aufgelassenen und überwachsenen Grabstätten aus den zwei vergangenen Jahrhunderten.
Meine Arbeit als Obstgärtner – Hauptberuf schon von Jugend an – sei, so hieß es weiter, während jener Wahnperiode von meiner einzigen Schwester übernommen worden. Wenn vorhin von »Familie« die Rede war, so meinte ich damit die Schwester allein; Vater und Mutter lebten schon lange nicht mehr, und es gab in dem Haus und drum herum einzig uns beide; und schon vor meinem Schlafwandeln beziehungsweise Außermichgeraten war mir die Schwester in unseren vielfältigen Obstgartenbezirken rund ums einstige Elternhaus zur Hand gegangen. Sie sei es auch gewesen, die mich dann an meinem Platz in der hintersten Ecke des vorzeitlichen Friedhofs wenn nicht täglich, so doch ein-, zweimal die Woche mit dem Nötigsten versorgt habe. Das Nötigste? Nach der Erzählung der Schwester hätte ich Schlafwandlerexistenz kaum etwas nötig gehabt außer vielleicht die heimischen Äpfel, die »Jonathan«, »Boskoop«, »Ontario« und vor allem die »Gravensteiner« – gepflanzt vom Vater einst im Vorkrieg –, und dazu das Hausbrot mit den eingebackenen Bucheckern und Haselnüssen, schon zuvor, seit der Kindheit meine Leibspeise, welche mir aber in der fraglichen Zeit noch besonders gemundet haben soll.
Hier jetzt endlich eine eigene Erinnerung: Auch ich, der Obstgärtner, damals noch mehr oder weniger bei klarem Verstand und, sage ich, dank meiner Tätigkeit die Geistesgegenwart in Person, muß, dann und wann, etwas Seltsames, nicht ganz Geheures, ja Unheimliches an mir gehabt haben. Vor allem manche Kinder schienen das, und zwar schon von weitem, zu erwittern. Nicht wenige, die bei meinem Anblick auf der Stelle kehrtmachten, freilich nur für ein paar Schritte, worauf sie stehenblieben und, wie das Füchse tun, den Kopf auf der Schulter, zu mir zurückäugten, und es war dann ich, der jeweils einen Bogen um das Kind machte, um ihm die Angst zu nehmen.
Doch auch von den Leuten meines Alters, und nicht nur von solchen, ja, öfter noch von Älteren, und insbesondere von Uralten bekam ich zeitweise zu hören, sie wüßten nicht, wie sie mit dem Obstgärtner da »dran seien«. »Irgendetwas stimmt nicht mit dir, schon oben von deinem Scheitelwirbel an!« Es waren in dem Dorf dann gar Redensarten im Schwange, etwa des Wortlauts »launisch wie ein Obstgärtner«; oder: »mit dem bösen Blick eines Obstgärtners«; oder: »obstgärtnerischer als ein Obstgärtner«; oder: »Seine Hoheit, der Obstgärtner«; oder auch, freundlicher: »weltfremd und kopfscheu wie ein Obstgärtner«.
Meine Schwester mutmaßte seinerzeit, solche im übrigen episodischen und tags darauf verflüchtigten schlechten Meinungen zu meiner Person rührten daher, daß ich, noch als Junger, bald nach der Landwirtschaftsschule, ein Buch über den Obstbau geschrieben hatte, eine bloße Broschüre »Über die drei Arten, Spalierbäume zu ziehen«, wovon aber im Dorf das Gerücht namens »Buch« in Umlauf war, als etwas für unsere Region Fremdes, gar Anmaßendes, wenn nicht Macht Behauptendes, und zwar eine falsche, eine gefälschte Macht. »Der Obstgärtner im Machtwahn!«
Mit dem Jahr, mit den Jahren meiner Besessenheit dann sei ich freilich in den Augen der anderen der eindeutig und endgültig Böse geworden, die Ausgeburt des Bösen, ein unheilbar Böser. Das habe auch, so mein Schwesterherz, in jedem Moment, da ich, außerhalb »meines« Friedhofs, der Bevölkerung »ins Bild gerückt sei«, in der Tat ganz so den Anschein gehabt. Wo es vorher vielleicht an mir etwas zu belächeln gegeben habe: ausgelächelt.
Sowie ich mich auf der Dorfstraße sehen ließ, sei es nicht bloß zu einem allgemeinen Ausweichen gekommen, sondern zu einer Flucht, hinein in die Häuser. »Du hast erschreckt, hast Schrecken verbreitet. Und das kam nicht von deinem Aufzug – werweißwie hast du es jeweils geschafft, sauber, ordentlich, ja geradezu elegant gekleidet aus deinem Unterschlupf aufzutauchen – und auch nicht von irgendwelchen Aktionen – keinmal sah man dich, gleichwie, agieren, und völlig ohne Gebärden, selbst ohne kleine Gesten oder einen Fingerzeig hast du den Ort durchstreift –: Der Schrecken, er ging aus von deinen Worten, von dem, was du sie, die anderen, die Gesamtheit, hören hast lassen. Und wiederum ein Nein. Nein, du hast nicht geschrieen, geschweige denn gebrüllt, oder geheult und mit den Zähnen geknirscht. Du hast fast leise geredet, gleichsam in Zimmerlautstärke, vor dich hin, wie mit dir selber, und doch wurde ein jedes deiner in dich hineingemurmelten Worte hörbar, wie in Lautsprechern schallverstärkt, von einem Ortsende zum andern.«
Was ich so von mir gegeben hätte, seien jedesmal Beschimpfungen und Schmähreden gewesen, und ein jedes Mal wieder andere, neue, und ein jedes Mal unerhörte, und dann womöglich noch »unerhörtere«. Unmöglich, zu bestimmen, wen oder welche ich so schmähte und beschimpfte. Öfter als eine Mehrzahl oder eine Gruppe meinte ich jedenfalls einzelne, und zwischendurch, so meine Schwester, schien ich mich allein als den »Unverbesserlichen!«, die »Jammergestalt!«, die »Ausgeburt der Hölle!«, den »Untermenschen!«, den »Spaltpilz!«, den »Verwurmten Kern!« zu beschimpfen. Und ein Zeichen, daß es sich dabei um Anwürfe an mich selbst handelte: einzig da in meiner Ortsdurchquerungssuada sei ich ein wenig lauter geworden, und ein-, zweimal im Lauf der Wahnjahre sogar »ins Schreien, nein, ein kurzkurzes Aufschreien« ausgebrochen.