Meine schönsten Erzählungen, Band 2 - Adalbert Stifter - E-Book

Meine schönsten Erzählungen, Band 2 E-Book

Adalbert Stifter

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Beschreibung

Dies ist der zweite von drei Sammelbänden mit den schönsten Erzählungen des österreichischen Autors und bedeutenden Vertreter des Biedermeiers. Enthalten sind die Werke: Der Hagestolz Der Hochwald Die drei Schmiede ihres Schicksals Die Narrenburg Feldblumen

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Meine schönsten Erzählungen, Band 2

Adalbert Stifter

Inhalt:

Adalbert Stifter – Biografie und Bibliografie

Der Hagestolz

l. Gegenbild

2. Eintracht

3. Abschied

4. Wanderung

5. Aufenthalt

6. Rückkehr

7. Beschluß

Der Hochwald

1. Waldburg

2. Waldwanderung

3. Waldhaus

4. Waldsee

5. Waldwiese

6. Waldfels

7. Waldruine

Die drei Schmiede ihres Schicksals

Die Narrenburg

1. Die grüne Fichtau

2. Das graue Schloß

3. Der rote Stein

Feldblumen

1. Primel

2. Veilchen

3. Kleinwinziger Zentunkel

4. Glockenblume

5. Nachtviole

6. Wiesenbocksbart

7. Himmelblauer Enzian

8. Erdrauch

9. Schwarzrote Königskerze

10. Ehrenpreis

11. Osterluzei

12. Vergißmeinnicht und Wolfsmilch

13. Purpurrotes Fingerhütlein

14. Ginster

15. Liebfrauenschuh

16. Baldrian

17. Lilie

18. Gundelrebe

19. Himmelsröschen

Meine schönsten Erzählungen 2, A. Stifter

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

Loschberg 9

86450 Altenmünster

ISBN: 9783849636791

www.jazzybee-verlag.de

[email protected]

Adalbert Stifter – Biografie und Bibliografie

Dichter und Schriftsteller, geb. 23. Okt. 1805 zu Oberplan im deutschen Böhmerwald, gest. 28. Jan. 1868 in Linz, studierte in Wien die Rechte, daneben Philosophie und Naturwissenschaften, ward Lehrer des Fürsten Richard Metternich und 1850 zum Schulrat für das Volksschulwesen Oberösterreichs ernannt. Als solcher nahm er seinen Wohnsitz in Linz, von wo aus er vielfach die Alpen, Italien etc. bereiste, ward 1865 pensioniert und zum Hofrat ernannt. In Linz (1902) sowie in seinem Geburtsort (1906) wurden ihm Denkmäler errichtet, ein weiteres ist für Wien geplant. Seine Idyllen und Novellen erschienen gesammelt unter den Titeln: »Studien« (Pest 1844–1850, 6 Bde. u. ö.) und »Bunte Steine« (das. 1852, 2 Bde. u. ö.). Namentlich die »Studien« erregten von ihrem Erscheinen an Teilnahme und selbst Enthusiasmus. Die unbedingte Hinwegwendung von allen Problemen und Tendenzen des Tages, der idyllische, fast quietistische Grundzug, die meisterhaften Details, namentlich die sinnigen Naturschilderungen, die seine, gleichmäßige Durchführung bilden einen so wohltuenden Gegensatz zur Tagesbelletristik, daß man darüber die Mängel der überwiegend kontemplativen, aller Leidenschaft und Tatkraft abgewandten, zur lebendigern Menschendarstellung daher unfähigen Natur des Autors übersah. Diese Mängel traten namentlich in den größern Romanen Stifters: »Der Nachsommer« (Pest 1857, 3 Bde.; 3. Aufl. 1877) und »Witiko« (das. 1864–67, 3 Bde.), hervor. Stifters Nachlaß (»Briefe«, Pest 1869, 3 Bde.; »Erzählungen«, das. 1869, 2 Bde.; 4. Aufl., Leipz. 1894; »Vermischte Schriften«, das. 1870, 2 Bde.) gab Aprent heraus. »Ausgewählte Werke« von ihm erschienen in 4 Bänden (Leipz. 1887; besorgt von Stößl, Berl. 1899, 7 Bde.). Eine kritische Ausgabe, besorgt von A. Sauer, erscheint in Prag (1904 ff., bisher 1 Bd.). Vgl. Emil Kuh, Zwei Dichter Österreichs. Franz Grillparzer, Adalbert S. (Preßb. 1872); Markus, Adalbert S., ein Denkmal (2. Aufl., Wien 1879); Sauer, Adalbert S. als Stilkünstler (in der »Festschrift des Vereins für Geschichte der Deutschen in Böhmen«, Prag 1902); Hein, Adalbert S., sein Leben und seine Werke (das. 1904); Kosch, Adalbert S., eine Studie (Leipz. 1905) und Adalbert S. und die Romantik (Prag 1905); Klaiber, Adalbert S. (Stuttg. 1905); »Aus Adalbert Stifters Briefen« (hrsg. von Dieterich, Leipz. 1906).

Der Hagestolz

l. Gegenbild

Auf einem schönen grünen Platze, der bergan steigt, wo Bäume stehen und Nachtigallen schlagen, gingen mehrere Jünglinge in dem Brausen und Schäumen ihres jungen, kaum erst beginnenden Lebens. Eine glänzende Landschaft war rings um sie geworfen. Wolkenschatten flogen, und unten in der Ebene blickten die Türme und Häuserlasten einer großen Stadt.

Einer von ihnen rief die Worte: »Es ist nun für alle Ewigkeit ganz gewiß, daß ich nie heiraten werde.«

Es war ein schlanker Jüngling mit sanften, schmachtenden Augen, der dieses gesagt hatte. Die andern achteten nicht sonderlich darauf, mehrere lachten, knickten Zweige, bewarfen sich und schritten weiter.

»Ha, wer wird denn heiraten,« sagte einer, »die lächerlichen Bande eines Weibes tragen und wie der Vogel auf den Stangen eines Käfiches sitzen?«

»Ja, du Narr, aber tanzen, verliebt sein, sich schämen, rot werden, gelt?« rief ein dritter, und es erschallte wieder Gelächter.

»Dich nähme ohnehin keine.«

»Dich auch nicht.«

»Was liegt daran?«

Die nächsten Worte waren nicht mehr verständlich. Es kam noch durch die Stämme der Bäume ein lustiges Rufen zurück und dann nichts mehr; denn die Jünglinge gingen bereits auf der schiefen Fläche, die sich von dem Platze weg zieht, empor und setzten die Gebüsche der Fläche in Bewegung. Rüstig schritten sie in der funkelnden Sonne hinan, ringsum sind grünende Zweige, und auf ihren Wangen und in ihren Augen leuchtet die ganze unerschütterliche Zuversicht in die Welt. Um sie herum liegt der Frühling, der eben so unerfahren und zuversichtlich ist wie sie.

Der Jüngling, aus dessen Munde der Entschluß der Nichtvermählung hervor gegangen war, hatte in der Sache nichts mehr gesprochen, und sie war vergessen.

Ein neues Geplauder und ein fröhliches Sprechen tanzte von den beweglichen Zungen. Sie redeten zuerst von allem und oft alle zugleich. Dann reden sie von dem Höchsten, dann von dem Tiefsten und haben beides schnell erschöpft. Dann kommt der Staat. Es wird in ihm die unendlichste Freiheit vorgeschlagen, die größte Gerechtigkeit und unbeschränkteste Duldsamkeit. Wer gegen dieses ist, wird niedergeworfen und besiegt. Der Landesfeind muß zerschmettert werden, und von dem Haupte der Helden leuchtet dann der Ruhm. Während sie so, wie sie meinten, von dem Großen redeten, geschieht um sie her, wie sie ebenfalls meinten, nur das Kleine; es grünen weithin die Büsche, es keimt die brütende Erde und beginnt mit ihren ersten Frühlingstierchen wie mit Juwelen zu spielen.

Hierauf singen sie ein Lied, dann jagen sie sich, stoßen sich gegenseitig in den Hohlweg oder ins Gebüsch, schneiden Ruten und Stäbe, und kommen dabei immer höher auf den Berg und über die Wohnungen der Menschen.

Wir müssen hier bemerken: welch ein rätselhaftes, unbeschreibliches, geheimnisreiches, lockendes Ding ist die Zukunft, wenn wir noch nicht in ihr sind – wie schnell und unbegriffen rauscht sie als Gegenwart davon – und wie klar, verbraucht und wesenlos liegt sie dann als Vergangenheit da! Alle diese Jünglinge stürmen schon in sie hinein, als könnten sie dieselbe gar nicht erwarten. Der eine prahlt mit Dingen und Genüssen, die über seine Jahre gehen, der andere tut langweilig, als hätte er schon alles erschöpft, und der dritte redet Worte, die er bei seinem Vater Männer und Greise hatte reden gehört. Dann haschen sie nach einem vorüberflatternden Schmetterlinge und finden auf dem Wege einen bunten Stein.

Immer höher streben sie hinauf. Oben an dem Waldesrande schauen sie auf die Stadt zurück. Sie sehen allerlei Häuser und Gebäude, und wetten, ob sie es sind oder nicht. Dann dringen sie in die Schatten der Buchen hinein. Der Wald geht fast mit ebenem Boden dahin. Jenseits desselben aber steigen glänzende Wiesen mit einzelnen Fruchtbäumen besetzt in ein Tal hinab, das still und heimlich um die Bergeswölbungen läuft und von diesen Bergen zwei spiegelhelle, dahinschießende Bäche empfängt. Die Wasser rieseln lustig über die geglätteten Kiesel, an dichten Obstwäldern, Gartenplanken und Häusern vorbei, und von dort wieder in die Weinberge hinaus. Alles dieses ist so stille, daß man in mancher klaren Nachmittagsluft weithin den Hahn krähen hört, oder den einzelnen Glockenschlag vernimmt, der von dem Turme der Kirche fällt. Selten besucht ein Städter das Tal, und noch keiner hat in demselben seine Sommerwohnung aufgeschlagen.

Unsere Freunde aber laufen mehr, als sie gehen, über die Wiese in die sanft geschwungene Wiege hinab. Lärmend kommen sie an den Gartengehegen herunter, schreiten über den ersten Steg, über den zweiten, gehen dem Wasser entlang, und dringen endlich in einen Garten hinein, der von Flieder, Nußbäumen und Linden strotzt. Es ist der Garten eines Gasthauses. Hier umringen sie einen der Tische, wie sie mit den Füßen in dem Grase stecken, aufgebügelte Platten haben und auf den Platten eingeschnittene Herzen und Namen von denen zeigen, die vorlängst an dem Tische gesessen waren. Sie bestellten sich ein Mittagsessen, und zwar ein jeder dasjenige, was er wollte. Als sie es verzehrt hatten, spielten sie eine Weile mit einem Pudel, der sich in dem Garten vorfand, zahlten und gingen dann fort. Sie gingen durch die Mündung des Tales in ein anderes, breiteres hinaus, in welchem ein Strom fließt. An dem Strome nahmen sie ein angebundenes Schiffchen und fuhren an einer bekannt gefährlichen Stelle über, ohne daß sie es wußten. Zufällig vorübergehende Frauen erschraken sehr, als sie die jungen Leute da fahren sahen. Jenseits des Stromes dingten sie einen Mann, der den Kahn wieder zurückführen und an der Stelle anbinden sollte, wo sie ihn genommen hatten.

Dann drangen sie durch Röhrichte und Auen vor, bis sie zu einem Damme gelangten, auf dem eine Straße lief und ein Wirtshaus stand. Bei dem Wirte mieteten sie einen offenen Wagen, um nun jenseits des Stromes in die Stadt zurück zu fahren. Sie flogen an Auen, Gebüschen, Feldern, Anlagen, Gärten und Häusern vorbei, bis sie die ersten Gebäude der Vorstädte erreichten und abstiegen. Als sie ankamen, lag die Sonne, die sie heute so freundlich den ganzen Tag begleitet hatte, weit draußen am Himmel als glühende, erlöschende Kugel. Da sie untergesunken war, sahen die Freunde die Berge, auf welchen sie heute ihre Morgenfreuden genossen hatten, als einfaches blaues Band gegen den gelben Abendhimmel empor stehen.

Sie gingen nun gegen die Stadt und deren staubige, bereits dämmernde Gassen. An einem bestimmten Platze trennten sie sich und riefen einander fröhlichen Abschied zu.

»Lebe wohl«, sagte der eine.

»Lebe wohl«, antwortete der andere.

»Gute Nacht, grüße mir Rosina.«

»Gute Nacht, grüße morgen den August und Theobald.«

»Und du den Karl und Lothar.«

Es kamen noch mehrere Namen; denn die Jugend hat viele Freunde, und es werben sich täglich neue an. Sie gingen auseinander. Zwei derselben schlugen den nämlichen Weg ein, und es sagte der eine zu dem andern: »Nun, Victor, kannst du die Nacht bei mir bleiben, und morgen gehst du hinaus, sobald du nur willst. Ist es auch wirklich wahr, daß du gar nicht heiraten willst?«

»Ich muß dir nur sagen,« antwortete der Angeredete, »daß ich wirklich ganz und gar nicht heiraten werde, und daß ich sehr unglücklich bin.«

Aber die Augen waren so klar, da er dieses sagte, und die Lippen so frisch, da der Hauch der Worte über sie ging.

Die zwei Freunde schritten noch eine Strecke in der Gasse entlang, dann traten sie in ein wohlbekanntes Haus und gingen über zwei Treppen hinauf an Zimmern vorbei, die mit Menschen und Lichtern angefüllt waren. Sie gelangten in eine einsame Stube.

»So, Victor,« sagte der eine, »da habe ich dir neben dem meinen ein Bett herrichten lassen, daß du eine gute Nacht hast, die Schwester Rosina wird uns Speisen herauf schicken, wir bleiben hier und sind fröhlich. Das war ein himmlischer Tag, und ich mag sein Ende gar nicht mehr unten bei den Leuten zubringen. Ich habe es der Mutter schon gesagt; ist es nicht so recht, Victor?«

»Freilich,« entgegnete dieser, »es ist bei dem Tische deines Vaters so langweilig, wenn zwischen den Speisen so viele Zeit vergeht und er dabei so viele Lehren gibt. Aber morgen, Ferdinand, ist es nicht anders, ich muß mit Tagesanbruch fort.«

»Du kannst, sobald du willst,« antwortete Ferdinand, »du weißt, daß der Hausschlüssel innen in der Tornische liegt.«

Während dieses Gespräches begannen sie sich zu entkleiden und sich der lästigen, staubigen Stiefel zu entledigen. Ein Stück der Kleider ward hierhin, das andere dorthin gelegt. Ein Diener brachte Lichter, und eine Magd ein Speisebrett mit reichlicher Nahrung versehen. Sie aßen schnell und ohne Auswahl. Dann schauten sie bald bei dem einen, bald bei dem andern Fenster hinaus, gingen in dem Zimmer herum, besahen die Geschenke, die Ferdinand erst gestern bekommen hatte, zählten die roten Abendwolken, kleideten sich vollends aus und legten sich auf ihre Betten. In denselben redeten sie noch fort; aber ehe einige Minuten vergingen, war keiner mehr mächtig, weder zu reden noch zu denken; denn sie lagen beide in tiefem Schlafe.

Das nämliche mochte auch mit den andern sein, welchen dieselbe Lust mit ihnen heute zu Teil geworden war. – –

Während die Jünglinge diesen Tag so gefeiert hatten, war auf einer anderen Stelle etwas anderes gewesen: Ein Greis hatte den Tag damit zugebracht, daß er im Sonnenscheine auf der Bank vor seinem Hause gesessen war. Weit von dem grünen Baumplatze, wo die Nachtigallen geschlagen und die Jünglinge so fröhlich gelacht hatten, lag hinter den glänzenden blauen Bergen, die die Aussicht des Platzes besäumten, eine Insel mit dem Hause. Der Greis saß an dem Hause und zitterte vor dem Sterben. Man hätte ihn vorher schon viele Jahre können sitzen sehen, wenn er überhaupt gerne Augen zugelassen hätte, ihn zu sehen. Weil er kein Weib gehabt hatte, saß an dem Tage keine alte Gefährtin neben ihm auf der Bank, so wie an allen Orten, wo er vor der Erwerbung des Inselhauses gewesen sein mag, nie eine Gattin bei ihm war. Er hatte nie Kinder gehabt und nie eine Qual oder Freude an Kindern erlebt, es trat daher keines in den Schatten, den er von der Bank auf den Sand warf. In dem Hause war es sehr schweigsam, und wenn er zufällig hinein ging, schloß er die Tür selbst, und wenn er herausging, öffnete er sie wieder selbst. Während die Jünglinge auf ihrem Berge emporgestrebt waren und ein wimmelndes Leben und dichte Freude sie umgab, war er auf seiner Bank gesessen, hatte auf die an Stäbe gebundenen Frühlingsblumen geschaut, und die leere Luft und der vergebliche Sonnenschein hatten um ihn gespielt. Als die Jünglinge nach Vollbringung des Tages auf ihr Lager gesunken und in Schlummer verfallen waren, lag er auch in seinem Bette, das in einer wohlverwahrten Stube stand, und drückte die Augen zu, damit er schlafe. –

Die nämliche Nacht ging mit dem kühlen Mantel aller ihrer Sterne gleichgültig herauf, ob junge Herzen sich des entschwundenen Tages gefreut und nie an einen Tod gedacht hatten, als wenn es keinen gäbe – oder ob ein altes sich vor gewalttätiger Verkürzung seines Lebens fürchtete und doch schon wieder dem Ende desselben um einen Tag näher war.

2. Eintracht

Als das erste blasse Licht des andern Tages leuchtete, ging Victor schon in den noch öden Gassen der Stadt dahin, daß seine Tritte hallten. Es war anfänglich noch kein Mensch zu erblicken; dann begegnete ihm manche verdrießliche, verschlafene Gestalt, die zu früher Arbeit mußte; und ein beginnendes fernes Wagenrasseln zeigte, daß man schon anfange, Lebensmittel in die große, bedürfende Stadt zu führen. Er strebte dem Stadttore zu. Außer demselben wurde er von dem kühlen, feuchten Grün der Felder empfangen. Der erste Sonnenrand zeigte sich am Erdsaume, und die Spitzen der nassen Gräser hatten rotes und grünes Feuer. Die Lerchen wirbelten freudig in der Luft, während die nahe Stadt, die doch sonst so lärmte, fast noch völlig stumm war.

Als er sich außer den Mauern fühlte, schlug er sogleich einen Weg durch die Felder gegen jenen grünen Baumplatz ein, von welchem wir sagten, daß gestern dort die Nachtigallen geschlagen und die Jünglinge gescherzt hatten. Er erreichte ihn nach einer nicht ganz zweistündigen Wanderung. Von da machte er den nämlichen Weg wie gestern mit den Freunden. Er stieg die schiefe Berglehne mit den Gebüschen hinan, er kam an den Rand des Waldes, sah sich da nicht um, drang unter die Bäume ein, eilte fort und stieg dann über die Wiese mit den Fruchtbäumen in das Tal hinab, von dem wir sagten, daß es so stille ist, und daß in demselben die zwei spiegelnden Bäche rinnen.

Als er in dem Grunde des Tales angekommen war, ging er über den ersten Steg. nur daß er heute, gleichsam wie zu einer Begrüßung, ein wenig auf die glänzenden Kiesel hinab sah, über welche das Wasser dahin rollte. Dann ging er über den zweiten Steg und ging an dem Wasser dahin. Aber er ging heute nicht bis zu dem Gasthausgarten, in welchem sie gestern gegessen hatten, sondern viel früher bog er an einer Stelle, wo ein großer Fliederbusch stand, der seine Äste und Wurzeln mit dem Wasser spielen ließ, von dem Wege ab und ging in den Flieder und das Gebüsche hinein. Dort war eine aschgraue Gartenplanke, die ihre Farbe von den unzähligen Regen und Sonnenstrahlen erhalten hatte, und in der Planke war ein kleines Türchen. Das Türchen öffnete Victor und ging hinein. Es war wie ein Gartenplatz hier, und etwas ferner auf dem Platze blickte die lange weiße Wand eines niederen Hauses, sich sanft von Holundergesträuchen und Obstbäumen abhebend, herüber. Das Haus hatte glänzende Fenster, und hinter denselben hingen ruhige weiße Vorhänge nieder.

Victor ging an dem Gebüschrande gegen die Wohnung zu. Als er auf den freien Sandplatz vor dem Hause gekommen war, auf dem der Brunnen stand und ein bejahrter Apfelbaum war, an den sich wieder Stangen und allerlei andere Dinge lehnten, wurde er von einem alten Spitz angewedelt und begrüßt. Die Hühner, ebenfalls freundliche Umwohner des Hauses, scharrten unter dem Apfelbaume unbeirrt fort. Er ging in das Haus hinein, und über den knisternden Flursand in die Stube, aus welcher ein reiner, gebohnter Fußboden heraus sah.

In der Stube war bloß eine alte Frau, die gerade ein Fenster geöffnet hatte und damit beschäftigt war, von den weißgescheuerten Tischen, Stühlen und Schreinen den Staub abzuwischen und die Dinge, die sich etwa gestern abends verschoben hatten, wieder zu recht zu stellen. Durch das Geräusch des Hereintretenden von ihrer Arbeit abgelenkt, wendete sie ihr Antlitz gegen ihn. Es war eines jener schönen alten Frauenantlitze, die so selten sind. Ruhige, sanfte Farben waren auf ihm, und jedes der unzähligen kleinen Fältchen war eine Güte und eine Freundlichkeit. Um alle diese Fältchen waren hier noch die unendlich vielen andern einer schneeweißen gekrauseten Haube. Auf jeder der Wangen saß ein kleines, feines Fleckchen Rot.

»Schau, bist du schon da, Victor,« sagte sie, »ich habe auf die Milch wieder vergessen, daß ich sie warm gehalten hätte. Es steht wohl alles an dem Feuer, aber dasselbe wird ausgegangen sein. Warte, ich will es wieder anblasen.«

»Ich bin nicht hungrig, Mutter«, sagte Victor; »denn ich habe bei Ferdinand, ehe ich fortging, zwei Schnitten Kaltes von dem gestrigen Abendmahle, das noch da stand, gegessen.«

»Du mußt aber hungrig sein,« antwortete die Frau, »weil du schon bei vier Stunden in der Morgenluft und dann durch den feuchten Wald gegangen bist.«

»So weit ist es ja nicht über die Thurnwiese herüber.«

»Ja, weil du immer läufst und meinst, die Füße dauern ewig – aber sie dauern nicht ewig – und im Gehen merkst du auch die Müdigkeit nicht, aber wenn du eine Weile sitzest, dann schmerzen die Füße.«

Sie sagte nichts weiter und ging in die Küche hinaus. Victor setzte sich indessen auf einen Stuhl nieder.

Als sie wieder hereingekommen war, sagte sie: »Bist du müde?«

»Nein«, antwortete er.

»Du wirst wohl müde sein – freilich müde – warte nur, warte ein wenig, es wird gleich alles warm sein.«

Victor antwortete nicht darauf, sondern tief niedergebückt gegen den Spitz, der mit ihm hereingegangen war, strich er mit der flachen Hand über die weichen, langen Haare desselben, der sich ebenfalls liebkosend an dem Jünglinge aufgerichtet hatte und beständig in seine Augen schaute – er strich immer an der nämlichen Stelle, und blickte auch immer auf diese nämliche Stelle, als wäre eine recht schwere, tiefe Bewegung in seinem Herzen.

Die alte Mutter setzte indessen ihr Geschäft fort. Sie war sehr fleißig. Wenn sie den Staub nicht erreichen konnte, so stellte sie sich auf die Spitzen ihrer Zehen, um den unsauberen Gast fort zu bringen. Hiebei schonte und liebte sie die ältesten, unbrauchbarsten Dinge. Da lag auf einem Schreine ein altes Kinderspielzeug, das schon lange nicht gebraucht worden war, und vielleicht nie mehr gebraucht werden wird – es war ein Pfeifchen mit einer hohlen Kugel, in der klappernde Dinge waren – sie wischte es ringsum sauber ab und legte es wieder hin.

»Aber warum erzählst du denn nichts?« sagte sie plötzlich, da sie das rings um herrschende Schweigen zu bemerken schien.

»Weil mich schon gar nichts mehr freut«, antwortete Victor.

Die Frau sagte kein Wort, kein einzig Wörtlein, auf diese Rede, sondern sie setzte ihr Abwischen fort, und ihr stetes Ausschlingen des Tuches beim offenen Fenster.

Nach einer Weile sagte sie: »Ich habe dir oben den Koffer und die Kisten schon hergerichtet. Da du gestern aus warest, habe ich den ganzen Tag damit verbracht. Die Kleider habe ich zusammengelegt, wie sie in den Koffer getan werden müssen. Auch die Wäsche, welche ausgebessert ist, liegt dabei. Die Bücher mußt du schon selber besorgen, und eben so das, was du in das Ränzlein zu tun gedenkst. Ich habe dir einen weichen, feinen Lederkoffer gekauft, wie du einmal gesagt hast, daß sie dir so gefallen. – Aber wo willst du denn hin, Victor?«

»Einpacken.«

»Mein Gott, Kind, du hast ja noch nicht gegessen. Warte nur ein Weilchen. Jetzt wird es wohl schon warm sein.«

Victor wartete. Sie ging hinaus und brachte zwei Töpfchen, eine Schale, eine Tasse und ein Stück Milchbrod auf einem runden, reinen, messingberänderten Brette herein. Sie stellte alles nieder, schenkte ein, kostete, ob es gut und gehörig warm sei, und schob dann das Ganze vor den Jüngling hin, es dem Dufte der Dinge überlassend, ob er ihn anlocken werde oder nicht. Und in der Tat: ihre Erfahrung täuschte sie nicht; denn der Jüngling, der anfangs nur ein wenig zu kosten begann, setzte sich endlich wieder nieder, und aß mit all dem guten Behagen und Gedeihen, das so sehr der Jugend eigen ist.

Sie war indessen allgemach fertig geworden, und ihre Abwischtücher zusammenlegend, schaute sie zu Zeiten freundlich und lächelnd auf ihn hin. Als er endlich alles Hereingebrachte verzehrt hatte, gab sie dem Spitz noch die kleinen Überreste, die da waren, und trug dann das Geschirr wieder in die Küche hinaus, daß es von der Magd gereinigt werde, wenn sie nach Hause komme; denn dieselbe war auf den Kirchenplatz des Tales hinaus gegangen, um manche Bedürfnisse für den heutigen Tag einzukaufen.

Als sie wieder von der Küche herein gekommen war, stellte sich die Frau vor Victor hin und sagte: »Jetzt hast du dich erquickt, und nun höre mich an. Wenn ich wirklich deine Mutter wäre, wie du mich immer nennst, so würde ich recht böse auf dich werden, Victor; denn siehe, ich muß dir sagen, daß dein Wort groß Unrecht ist, welches du erst sagtest, daß dich nichts mehr freue. Du verstehst es jetzt nur noch nicht, wie unrecht es ist. Wenn es selbst etwas Trauriges wäre, das auf dich harrt, so solltest du ein solches Wort nicht sagen. Siehe mich an, Victor, ich bin jetzt bald siebenzig Jahre alt, und sage noch nicht, daß mich nichts mehr freue, weil einen alles, alles freuen muß, da die Welt so schön ist und noch immer schöner wird, je länger man lebt. Ich muß dir nur gestehen – und du wirst selber auf meine Erfahrung kommen, wenn du älter wirst – als ich achtzehn Jahre alt war, sagte ich auch alle Augenblicke, mich freut nichts mehr – ich sagte es nämlich, wenn mir diejenige Freude versagt wurde, die ich mir gerade einbildete. Dann wünschte ich alle Zeit weg, welche mich noch von einer künftigen Freude trennte, und bedachte nicht, welch ein kostbares Gut die Zeit ist. Wenn man älter wird, lernt man die Dinge und Weile, welche auch noch immer kürzer wird, erst recht schätzen. Alles, was Gott sendet, ist schön, wenn man es auch nicht begreift – und wenn man nur recht nachdenkt, so sieht man, daß es bloß lauter Freude ist, was er gibt; das Leid legen wir nur selber dazu. Hast du im Hereingehen nicht gesehen, wie der Salat an der Holzplanke, von dem noch gestern kaum eine Spur war, heute schon aller hervor ist?«

»Nein, ich habe es nicht gesehen«, antwortete Victor.

»Ich habe ihn vor Sonnenaufgang angeschaut und mich darüber gefreut«, sagte die Frau. »Ich werde es mir von nun an sogar so einrichten, daß kein Mensch von mir mehr sagen kann, er habe mich eine Träne aus Schmerz weinen gesehen, wenn auch ein Schmerz käme, der doch wieder nur eine andere Art Freude ist. In meiner Jugend habe ich große, große und heiße Schmerzen gehabt; aber sie sind alle zu meinem Wohle und zu meiner Besserung oft sogar zu irdischem Glücke ausgefallen. Ich sage das alles, Victor, weil du bald fort gehst. Du solltest Gott sehr danken, mein Kind, daß du die jungen Glieder und den gesunden Körper hast, um hinaus gehen und alle die Freuden und Wonnen aufsuchen zu können, die nicht zu uns herein kommen. – – Siehe, du hast kein Vermögen dein Vater hat von dem Mißgeschicke, das ihn hienieden traf, vieles selbst verschuldet, jenseits wird er wohl die ewige Seligkeit haben; denn er war ein guter Mann und hat immer ein weiches Herz gehabt wie du. Als sie dich nach der Verordnung des Testamentes deines verstorbenen Vaters zu mir brachten, damit du bei mir lebest und auf dem Dorfe für dich lernest, um was sie dich dann immer in der Stadt fragen würden, hattest du so viel als nichts. Aber du bist herangewachsen, und nun hast du sogar das Amt erhalten, um welches so viele geworben haben, und um welches sie dich beneiden. Daß du jetzt fort mußt, ist nichts, und liegt in der Natur begründet; denn alle die Männer müssen von der Mutter, und müssen wirken. Du hast daher lauter Gutes erfahren. Du sollst deshalb zu Gott dein Gebet verrichten, daß er dir alles gegeben hat, und du sollst demütig sein, daß du die Gaben hast, es zu verdienen. – – Siehst du, Victor, alles das zusammengefaßt, würde ich über deine Rede böse sein wenn ich deine Mutter wäre, weil du Gott den Herrn nicht erkennst; aber weil ich deine Mutter nicht bin, so weiß ich nicht, ob ich dir so viel Liebes und Gutes getan habe, daß ich mich sonst auch erzürnen darf und zu dir sagen: Kind, das ist nicht recht von dir, und es ist ganz und gar nicht gut.«

»Mutter, ich habe es auch in dem Sinne nicht gemeint, wie Ihr es nehmt«, sagte Victor.

»Ich weiß, mein Kind, und betrübe dich auch nicht zu sehr über meine Rede«, erwiderte die Mutter. »Ich muß dir nun auch sagen, Victor, daß du jetzt gar nicht so arm bist, als du vielleicht denken magst. Ich habe dir oft gesagt, wie ich erschrocken bin – das heißt, aus Freude bin ich erschrocken – als ich erfahren habe, dein Vater hätte in sein Testament gesetzt, daß du bei mir erzogen werden sollest. Er hat mich schon recht gut gekannt und hat das Vertrauen zu mir gehabt. Ich glaube, es wird nicht getäuscht worden sein. Victor, mein liebes, mein teures Kind, ich werde dir jetzt sagen, was du hast. Du hast an Linnen – das ist der auserlesenste Teil unserer Kleider, weil er am nächsten an dem Körper ist und ihn schützt und gesund erhält – so viel, daß du täglich wechseln kannst, wie du es bei mir gelernt hast. Wir haben alles ausgebessert, daß kein Faden davon schadhaft ist. Für die Zukunft wirst du immer noch erhalten, was du brauchst. Hanna bleicht draußen Stücke, wovon die Hälfte schon für dich gerechnet ist – und Stricken, Nähen, Ausbessern werden wir besorgen. Im andern Gewande bist du anständig; du kannst dich dreimal anders anziehen, das nicht gerechnet, was du eben am Leibe hast. Es ist jetzt alles feiner hergerichtet worden, als du es bisher gehabt hast; denn ein Mann, Victor, der sein erstes Amt antritt, ist wie ein Bräutigam, der ausgestattet wird – und er soll auch im Stande der Gnade sein, wie ein Bräutigam. Das Geld, welches sie mir alle Jahre für deinen Unterhalt geben mußten, habe ich angelegt, und habe immer die Zinsen wieder dazu getan. Das hast du nun alles. Der Vormund weiß es nicht und braucht es auch nicht zu wissen; denn du mußt ja auch etwas für dich haben, daß du es ausgeben kannst, wenn sich andere sehen lassen, damit dir das Herz nicht zu wehe tut. Wenn dir dein Oheim das kleine Gütchen entreißt welches noch da ist, so betrübe dich nicht, Victor; denn es sind so viele Schulden darauf, daß kaum mehr ein einziger Dachziegel dazu gehört. Ich bin in dem Amte gewesen und habe mir es für dich aufschlagen lassen, damit ich es weiß. Manches Mal einen Notpfennig bekommst du schon von mir auch noch. So ist alles gut. – Zu deinem Oheime mußt du nun schon die Reise machen, ehe du in das Amt eintrittst, weil er es so wünscht. Wer weiß, wozu es gut ist – du verstehst das noch nicht. Der Vormund erkennt auch die Notwendigkeit, daß du dich dem Wunsche einer Fußwanderung zu dem Oheime fügest. Hast du gestern Rosina gesehen?«

»Nein, Mutter; wir sind spät abends zurück gekommen, haben in dem Zimmer Ferdinands gespeiset, und heute bin ich mit Tagesanbruch fort gegangen, weil so viel zu tun ist. Der Vormund hat gesagt, daß ich meine Fußreise über die Stadt antreten und bei dieser Gelegenheit von ihnen allen Abschied nehmen soll.«

»Siehst du, Victor, Rosina könntest du einmal zu deiner Frau bekommen, wenn du in deinem Berufe recht tätig bist. Sie ist sehr schön, und denke, wie ihr Vater mächtig ist. Er hat die lästige Vormundschaft über dich sehr redlich und fleißig verwaltet, und ist dir nicht abgeneigt; denn er hatte immer viele Freude, wenn du deine Prüfungen gut gemacht hattest. Aber lassen wir das, zu dieser Heirat ist es noch weit hin. – – Dein Vater könnte jetzt auch so hoch ein, oder noch höher; denn er hat einen gewaltigen Geist gehabt, den sie nur nicht kannten. Deine eigene leibliche Mutter hat ihn nicht einmal gekannt. Und gut ist er gewesen, so sehr gut, daß ich jetzt noch manchmal daran denke, wie er gar so gut gewesen ist. Deine Mutter ist auch recht lieb und fromm gewesen, nur ist sie viel zu frühe für dich gestorben. – – Sei nicht traurig, Victor – gehe nun hinauf in deine Stabe und bringe alles in Ordnung. Die Kleider mußt du nicht auseinander reißen, sie liegen schon so, wie sie in den Koffer passen. Sei bei dem Hineinlegen sorgsam, daß nichts zu sehr verknittert wird. – So. – – Ehe du hinauf gehst, Victor, höre noch eine Bitte von deiner Ziehmutter: wenn du heute oder morgen noch mit Hanna zusammen triffst, so sage ihr ein gutes Wort; es ist nicht recht gewesen, daß ihr euch nicht immer gut vertragen habt! – So, Victor, gehe nun; denn ein Tag ist gar nicht so lange.«

Der Jüngling sagte gar nichts auf diese Rede, sondern er stand auf und ging hinaus, wie einer, dem das Herz in Wehmut schwimmt. Und wie man oft bei innerer Bewegung in der äußern ungeschickt ist, geschah es ihm auch, daß er die Schulter an die Fassung der Tür anstieß. Der Spitz ging mit ihm hinauf.

Oben in seiner Stube, in der er nun so viele Jahre gewohnt hatte, war es erst recht traurig; denn nichts stand so, wie es in den Tagen der ruhig dauernden Gewohnheit gestanden war. Nur eines war noch so: der große Holunderbusch, auf den seine Fenster hinaus sahen, und das rieselnde Wasser unten, das einen feinen, zitternden Lichtschein auf die Decke seines Zimmers herauf sandte; die Berge waren noch, die sonnenhell schweigend und hütend das Tal umstehen; und der Obstwald war noch, der im Grunde des Tales in Fülle und Dichte das Dorf umhüllt und recht fruchtbar und segenbringend in der warmen Luft ruht, die zwischen die Berge geklemmt ist. Alles andere war anders. Die Laden und Fächer der Kästen waren heraus gerissen und leer, und ihr Inhalt lag außen auf ihnen herum: die blütenweiße Linnenwäsche, nach Stücken geordnet – dann die Kleider, rein zusammen gelegt und in gehörige Stöße abgeteilt – andere Dinge, die teils in den Koffer gepackt werden sollten, teils in das Wanderränzchen gehörten, das schon geöffnet auf einem Sessel lag und wartete – auf dem Bette waren fremde Sachen, auf dem Boden stand der Koffer mit gelöstem Riemzeug und lagen zerrissene Papiere: nur die Taschenuhr, auf ihrem gewöhnlichen Platze hängend, pickte wie sonst, und nur die Bücher standen in den Schreinen wie sonst und harrten auf ihren Gebrauch.

Victor sah das alles an, aber er tat nichts. Statt einzupacken, setzte er sich auf einen Stuhl, der in der Ecke des Zimmers stand, und drückte den Spitz an sein Herz. Dann blieb er sitzen.

Die Klänge der Turmuhr kamen durch die offenen Fenster herein, wie sie die Stunde ausschlug, aber Victor wußte nicht, die wie vielte es sei – die Magd, welche zurück gekommen war, hörte man aus dem Garten herauf singen – auf den fernen Bergen glitzerte es zuweilen, als wenn ein blankes Silberstück oder ein Glastäfelchen dort läge – das Lichtzittern auf der Stubendecke hatte aufgehört, weil die Sonne schon zu hoch hinüber gegangen war – das Horn des Hirten war zu vernehmen, der auf den Bergen seine Tiere trieb – die Uhr schlug wieder; aber der Jüngling saß immer auf dem Stuhle, und der Hund saß vor ihm und schaute ihn unbeweglich an.

Endlich, als er die Tritte seiner Mutter über die Treppe herauf hörte, sprang er plötzlich auf und stürzte an sein Geschäft. Er riß die Flügel des Bücherkastens auseinander und begann schnell die Bücher stoßweise auf den Boden heraus zu legen. Die Frau aber steckte bloß ein wenig den Kopf bei der gelüfteten Tür herein, und da sie ihn so beschäftigt sah, zog sie sich wieder zurück und ging auf den Zehen davon. Er aber, da er sich einmal in Tätigkeit gesetzt hatte, blieb auch dabei und arbeitete feuereifrig fort.

Alle Bücher wurden aus den zwei Bücherkästen heraus getan, bis sie leer waren und die ledigen Fächer in das Zimmer starrten. Dann band er die Bücher in Stöße und legte sie in eine bereit stehende Kiste, deren Deckel er als die Bücher untergebracht waren, fest schraubte und mit einer Aufschrift versah. Hierauf ging er an seine Papiere. Alle Fächer des Schreibtisches und der zwei andern Tische wurden heraus gezogen und alle Schriften, die darin waren, Stück für Stück untersucht. Einiges wurde bloß angeschaut und an bestimmten Stellen zum sofortigen Einpacken zusammen gelegt, anderes wurde gelesen, manches zerrissen und auf die Erde geworfen, und manches in die Rock- oder Brieftasche gelegt. Endlich, da auch alle Tischfächer leer waren und auf ihren Boden nichts zeigten als den traurigen Staub, der die langen Jahre her hinein gerieselt war, und die Spalten, die sich unterdessen in dem Holze gebildet hatten, band er auch die hingelegten Schriften in Bündel und legte sie in den Koffer. Nun ging er an die Kleider und an das Kofferpacken. Manches Gedenkstück früherer Tage, als ein kleines silbernes Handleuchterchen, ein Futteral mit einer Goldkette, ein Fernrohr, zwei kleine Pistolen und endlich seine geliebte Flöte, wurden unter die weiche, schonende Wäsche untergebracht. Als alles beendet war, wurde der Deckel geschlossen, das Riemzeug verschnallt, das Schloß gesperrt und oben eine Aufschrift aufgeklebt. Der Koffer und die Kiste mußten fort gesendet werden, das Ränzchen aber, welches noch auf dem Stuhle lag, sollte die Dinge enthalten, welche er auf seine Fußwanderung mitnehmen würde. Er pachte es schnell voll und schnallte es dann mit seinem Riemzeug zusammen.

Als er nun mit allem fertig war, schaute er noch einmal in dem Zimmer und an den Wänden herum, ob nichts liege oder hänge, was noch eingepackt werden müsse; aber es war nichts mehr da, und die Stabe blickte ihn verwüstet an. Unter dem Gewirre der fremden Dinge und der ebenfalls gleichsam fremdgewordenen Geräte stand das einzige Bett noch wie bisher; aber auch auf ihm lag verunreinigender Staub, oder lagen Stücke zerrissenen Papieres. So stand er eine Weile. Der Spitz, der bisher dem Treiben mit Verdacht schöpfenden Augen zugeschaut hatte und keinen einzigen Handgriff außer Acht lassend bald rechts, bald links ausgewichen war, je nachdem er den Jüngling hinderte, stand nun auch ruhig vor ihm und blickte empor, gleichsam fragend: »Was nun?«

Victor aber wischte sich mit der flachen Hand und mit dem Tuche den Schweiß von der Stirne, nahm eine Bürste, die da lag, fegte damit den Staub von seinen Kleidern und stieg dann die Treppe hinab.

Es war indessen viele Zeit vergangen, und die Dinge hatten sich unten geändert. In der Stube war niemand. Die Morgensonne, welche so freundlich hereingeschienen und die Fenstervorhänge so schimmerweiß gemacht hatte, als er heute früh aus der Stadt gekommen war, ist nun eine Mittagssonne geworden, und stand gerade über dem Dache, ihr blendend Licht und ihren warmen Strom auf das graue Holz desselben nieder senkend. Die Obstbäume standen ruhig, ihre am Morgen so nassen und funkelnden Blätter sind trocken geworden, glänzen nur mehr matt, regen sich nicht, und die Vögel in den Zweigen picken ihr Futter. Die Fenstervorhänge sind zurück geschlagen, die Fenster offen, und die heiße Landschaft schaut herein. In der Küche lodert ein glänzendes, rauchloses Feuer, die kochende Magd steht dabei. – Alles ist in jener tiefen Stille, von der die Heiden einst sagten: ›Pan schläft.‹

Victor ging in die Küche und fragte, wo die Mutter sei.

»In dem Garten, oder sonst wo herum«, antwortete die Magd.

»Und wo ist Hanna?« fragte Victor wieder.

»Sie ist vor wenigen Augenblicken hier gewesen,« erwiderte die Magd, »ich weiß nicht, wo sie hingegangen ist.«

Victor ging in den Garten hinaus und ging zwischen reinlichen Beeten dahin, die er so lange gekannt hatte, und auf denen die verschiedenen Dinge knospeten und grünten. Der Gartenknecht setzte Pflanzen, und sein Söhnlein pumpte Wasser, wie es sonst oft gewesen war. Victor fragte um die Mutter: man hatte sie in dem Garten nicht gesehen. Er ging weiter an Johannisbeeren, Stachelbeeren, an Obstbäumen und Hecken vorüber. Zwischen den Stämmen stand das hohe Gras, und in den Einfassungen blühten manche Blümlein. Von der Gegend des Glashauses, dessen Fenster in der Wärme offen standen, tönte eine Stimme herbei: »Victor, Victor!«

Der Gerufene, welcher durch seine feurige Arbeit in seiner Stabe oben einen Teil der Bekümmernis zerstreut hatte, die wegen der nahen Fortreise über ihn gekommen war, wendete bei diesem Rufe sein erheitertes Antlitz gegen die Glashäuser. Es stand ein schönes, schlankes Mädchen dort, welches ihm winkte. Er schritt den nächsten Weg durch das Gartengras zu ihr hinüber.

»Victor,« sagte sie, als er bei ihr angelangt war, »bist du denn schon da, ich habe ja gar nichts davon gewußt, wann bist du denn gekommen?«

»Ja sehr früh morgens, Hanna!«

»Ich bin mit der Magd einkaufen gewesen, darum habe ich dich nicht ankommen gesehen. Und wo bist du denn dann darauf gewesen?«

»Ich habe in meiner Stube meine Sachen eingepackt.«

»Die Mutter hat mir auch gar nicht gesagt, daß du schon da seiest, und so habe ich gemeint, du würdest etwa lange geschlafen haben und erst nachmittags aus der Stadt herüber kommen.«

»Das war eine törichte Meinung, Hanna. Werde ich denn bis in den Tag schlafen, oder bin ich denn ein Schwächling, der einen Spaziergang vom Tage vorher durch Ruhe verwinden muß, oder ist es etwa weit herüber, oder soll ich die Mittagshitze wählen?«

»Warum hast du denn gestern gar nicht auf unsere Fenster herüber geschaut, Victor, da ihr vorbei ginget?«

»Weil wir Ferdinands Geburtstag feierten und nach Einverständnis der Eltern den ganzen Tag für uns besaßen. Deswegen hatten wir keinen Vater, keine Mutter, noch sonst jemanden, der uns etwas befehlen durfte. Darum war auch unser Dorf bloß der Ort, wo wir zu Mittag essen wollten, weil es so schön ist, weiter nichts. Verstehst du es!«

»Nein; denn ich hätte doch herüber geschaut.«

»Weil du alles vermengst, weil du neugierig bist und dich nicht beherrschen kannst. Wo ist denn die Mutter? Ich habe ihr etwas Notwendiges zu sagen: erst war ich nur nicht gleich gefaßt, da sie mit mir redete, jetzt weiß ich aber schon, was ich antworten soll.«

»Sie ist auf der Bleiche.«

»Da muß ich also hinüber gehen.«

»So gehe, Victor«, sagte das Mädchen, indem es sich um die Ecke des Glashauses herumwendete.

Victor ging sofort, ohne sonderlich auf sie zu achten, gegen die ihm wohlbekannte Bleiche.

Es ist hinter dem Garten ein Platz mit kurzem, samtenen Grase, auf welchem weithin in langen Streifen die Leinwand aufgespannt lag. Dort stand die Mutter und betrachtete den wirtlichen Schnee zu ihren Füßen. Zuweilen prüfte sie die Stellen, ob sie schon trocken seien, zuweilen befestigte sie eine Schlupfe an dem Haken, mit dem das Linnen an den Boden gespannt war, zuweilen hielt sie die flache Hand wie ein Dächlein über die Augen und schaute in der Gegend herum.

Victor trat zu ihr.

»Bist du schon fertig,« sagte sie, »oder hast du dir etwas auf Nachmittag gelassen? Nicht wahr, es ist viel, wie wenig es auch aussieht. Du bist heute weit gegangen, tue den Rest nach dem Essen, oder morgen. Ich hätte gestern alles selber packen können, und wollte es auch tun; aber da dachte ich: er muß selber daran gehen, daß er es lernt.«

»Nein, Mutter,« antwortete er, »ich habe nichts übrig gelassen, ich bin schon ganz fertig.«

»So?« sagte die Mutter, »laß sehen.«

Bei diesen Worten griff sie gegen seine Stirne. Er neigte sich ein wenig gegen sie, sie streifte ihm eine Locke, die sich bei der Arbeit nieder gesenkt hatte, weg und sagte: »Du hast dich recht erhitzt.«

»Es ist schon der Tag so warm«, antwortete er.

»Nein, nein, es ist auch vom Arbeiten. Und wenn du alles getan hast, so mußt du heute und morgen schon in deinen Reisekleidern bleiben, und was wirst du denn da immer tun?«

»Ich gehe an dem Bache hinauf, an dem Buchengewände und so herum. Die Kleider behalte ich an. – – Aber ich bin wegen etwas anderem heraus gekommen, Mutter, und möchte gerne etwas sagen, aber es wird Euch erzürnen.«

»So erschrecke mich nicht, Kind, und rede. Willst du noch etwas? Geht noch irgendein Ding ab?«

»Nein, es geht keines ab, eher ist um eines zu viel. Ihr habt heute eine Rede getan, Mutter, die mir gleich damals nicht zu Sinne wollte, und die ich nun doch nicht wieder aus demselben bringe.«

»Welche Rede meinst du denn, Victor?«

»Ihr habt gesagt, daß Euch zu meinem Unterhalte ein Geld angewiesen worden sei, das Ihr alle Jahre empfangen solltet. – Ihr habt gesagt, daß Ihr das Geld empfangen habt – und ferner habt Ihr gesagt, daß Ihr das Geld für mich auf Zinsen angelegt und allemal auch die Zinsen dazu getan habt.«

»Ja, das habe ich gesagt, und das habe ich getan.«

»Nun seht, Mutter, da sagt mir mein Gewissen, daß es nicht recht sei, wenn ich das Geld von Euch annehme, weil es mir nicht gebührt – und da bin ich gekommen, um es Euch vorher lieber im guten zu sagen, als daß ich nachher das Geld ausschlüge und Euch erzürnte. – Seid Ihr böse?«

»Nein, ich bin nicht böse,« sagte sie, indem sie ihn mit freudestrahlenden Augen ansah – – »aber sei kein törichtes Kind, Victor! Du siehst wohl ein, daß ich dich nicht des Gewinnes wegen in mein Haus aufgenommen habe – um des Gewinnes willen hätte ich nie ein Kind genommen daher ist ja das, was von dem Gelde jährlich übrig geblieben ist, von Rechts wegen dein. Höre mich an, ich werde es dir erklären. Die Kleider hat der Vormund herbei geschafft, für Speisen hast du keine Auslagen verursacht – du aßest ja kaum wie ein Vogel, und das Gemüse und das Obst und das andere, wovon du genossest, das hatten wir ja alles selbst. Siehst du nun? – Und daß ich dich so lieb gewonnen habe, das hat mir dein Vater nicht aufgetragen, das stand auch in keinem Testamente, und dafür kannst du nichts. Begreifst du nun alles?«

»Nein, ich begreife es nicht, und es ist auch nicht so. Ihr seid nur wieder zu gut, daß Ihr nichts als Scham auf mein Herz ladet. Wenn nach Abzug der Kosten wirklich in jedem Jahre etwas übrig geblieben wäre und Ihr hättet das für mich aufbewahrt, so wäre es schon nur eine Liebe und Güte gewesen; und nun sagt Ihr, daß alles übrig geblieben ist, – was man fast nur mit Schmerzen anhören kann. – Ihr habt ohnedies getan, was kaum zu verantworten ist: Ihr habt mir nicht nur eine schöne Stube gegeben, sondern habt auch gerade das hinein gestellt, was mir lieb und wert war; Ihr habt mir Speise und Trank verschafft und Euch nur Arbeit. Das ganze Reisegeräte habt Ihr jetzt wieder gekauft; von Euren Feldern und Gärten habt Ihr das Nötige abgekargt, daß schöne Linnen und anderes in meiner Lade liegen – – und wenn ich in früheren Zeiten alles hatte, was ich bedurfte, so ginget Ihr hin und gabet mir noch etwas – und wenn ich auch das hatte, so stecktet Ihr mir jeden Tag noch heimlich zu, was Euch deuchte, daß es mich freuen wird. – Ihr habt mich lieber gehabt als Hanna!«

»Nein, mein Victor, da tust du mir unrecht. Du verstehst das Gefühl noch nicht. Was nicht vom Herzen geht, geht nicht wieder zu Herzen. Hanna ist meine leibliche Tochter – ich habe sie im Schoße unter dem eigenen Herzen getragen, das ihrer Ankunft entgegen schlug – ich habe sie dann geboren. in spätem Alter ist mir das Glück zu Teil geworden, als ich schon hätte ihre Großmutter sein können – mitten unter dem Schmerze über den Tod ihres Vaters habe ich sie doch mit Freuden geboren dann habe ich sie erzogen – – und sie ist mir daher auch lieber. Ich habe aber auch dich sehr geliebt, Victor. Seit du in dieses Haus gekommen und aufgewachsen bist, liebte ich dich sehr. Oft war es mir, als hätte ich dich wirklich unter dem Herzen getragen – – und ich hätte dich ja eigentlich unter diesem Herzen tragen sollen; es war Gottes Wille, wenn es auch nachher anders geworden ist – ich werde dir das erzählen, wenn du älter geworden bist. Und zuletzt, daß ich es sage, um Gott und der Wahrheit die Ehre zu geben, ihr werdet mir wohl beide gleich lieb sein. – – Mit dem Gelde machen wir es so, Victor: man muß keinem Menschen in seinem Gewissen Gewalt antun, und ich dringe daher nicht mehr in dich; lassen wir das Geld anliegen bleiben, wo es jetzt liegt, ich werde eine Schrift verfertigen, daß es dir und Hanna ausgefolgt werde, wenn ihr großjährig seid; dann könnt ihr es teilen oder sonst darüber verfügen, wie ihr wollt. Ist es dir so recht, Victor?«

»Ja, dann kann ich ihr alles geben.«

»Lasse das nur jetzt ruhen. Wenn die Zeit kömmt, wird sich schon finden, was mit dem Gelde zu machen sei. Ich will dir noch auf das andere antworten, was du gesagt hast, Victor. Wenn ich dir heimlich Gutes tat, so tat ich es auch Hanna. Die Mütter machen es schon so. Seit du in unser Haus gekommen bist, ist es beinahe, als wäre ein größerer Segen gekommen. Ich konnte für Hanna jährlich mehr ersparen als sonst. Die Sorge für zwei ist geschicktere und geübtere Sorge, und wo Gott für zwei zu segnen hat, segnet er oft für drei. – – O Victor! die Zeit ist recht schnell vergangen, seit du da bist. Wenn ich so zurück denke an meine einstige Jugend, so ist es mir: wo sind denn die Jahre hingekommen, und wie bin ich denn so alt geworden? Da ist noch alles so schön wie gestern – die Berge stehen noch, die Sonne strahlt auf sie herunter, und die Jahre sind dahin als wie ein Tag. Wenn du nachmittag, wie du sagst, oder etwa morgen noch einmal in den Wald hinauf gehst, so suche eine Stelle auf – man könnte sie von hier beinahe sehen siehst du, dort oben in der Bergrinne, wo das Licht gleichsam über die grünen Buchen herab rieselt. – Die Stelle ist für dich bedeutsam. Es quillt ein Brünnlein hervor und fließt in die Bergrinne nieder, über das Brünnlein legt sich ein breiter, flacher Stein, und eine sehr alte Buche steht dabei, welche unten einen langen Ast ausstreckt, auf den man Tücher legen oder einen Frauenhut aufhängen kann.«

»Ich kenne die Stelle nicht, Mutter, aber wenn Ihr wollt, werde ich hinauf gehen und sie aufsuchen.«

»Nein, Victor, dir ist sie doch nicht so nahe wie mir auch wirst du andere wissen, die in deinen Augen schöner sind. Lassen wir das. Sei über alles ruhig, denke nicht mehr an das Geld und sei nicht traurig. Ich weiß es, der Schmerz über die Scheidung ist schon in dir, und da nimmst du alles tiefer auf, als es ist. – – Du sagtest, daß du heute noch an dem Buchengewände hinauf gehen willst: hast du aber auch gesehen, wie sich kein Zweiglein in dem Garten rührt und die Baumwipfel gleichsam in den Lüften stocken; ich denke, es könnte ein Gewitter kommen, du mußt nicht zu weit gehen.«

»Ich gehe nicht zu weit, und ich kenne schon die Gewitterzeichen; wenn sich einige zeigen, gehe ich nach Hause.«

»Ja, Victor, halte es so, und es ist gut. Willst du nach einem Weilchen mit mir in die Stube hinein gehen es ist schon bald Mittag – oder willst du noch lieber hier herum sein, bis es Zeit zum Essen wird?«

»Ich will noch ein wenig in dem Garten bleiben.«

»So bleibe in dem Garten. Ich werde hier noch die Schlupfen befestigen und nachsehen, ob mir das Geflügel nicht wieder die Leinwand verunreinigt hat.«

Er blieb noch eine Zeit bei ihr stehen und sah ihr zu. Dann ging er in den Garten, und sie blickte ihm nach.

Hierauf befestigte sie die eine Schlupfe, und dann die andere, bis keine mehr fehlte. Sie wischte das Stückchen Erde weg, das ein Gänsefuß oder ein anderer auf das Linnen gebracht hatte. Sie lüftete jetzt diese und jetzt jene Stelle, daß sie nicht zu sehr an dem Grase klebe. – – Und so oft sie aufsah, sah sie sich nach Victor um, und erblickte ihn vor dem einen oder dem andern Busche des Gartens stehend, oder herum gehend, oder über die Planke hinaus nach der Gegend schauend. Dies dauerte so lange, bis plötzlich in der stillen, heißen Luft das klare Mittagsglöcklein klang – für die Gemeinde das Zeichen zum Gebete, und für dieses Haus nach stetiger Gewohnheit zugleich das Zeichen, daß man sich zum Mittagsessen versammeln solle. Die Mutter sah noch, wie sich Victor auf den Schall des Glöckleins umwandte und dem Hause zuschritt. Dann folgte sie ihm.

Als der Jüngling in das Haus trat, sah er, daß unterdessen Gäste gekommen waren, nämlich der Vormund und seine Familie. Man hatte, wie es bei solchen Gelegenheiten oft geschieht, Victor eine Überraschung machen und nebstbei einen Tag auf dem Lande zubringen wollen.

»Du siehst, mein lieber Mündel,« sagte der Vormund zu dem erstaunten Jünglinge, »daß wir artig sind. Wir wollen dich heute noch einmal sehen und ein Abschiedsfest feiern. Du kannst dann übermorgen, oder wann deine Reiseanstalten fertig sind, deinen geraden Weg über die Berge wandern, ohne, wie wir verabredet haben, noch einmal die Stadt zu berühren, um von uns Abschied zu nehmen. Genieße dann nur recht deine wenigen noch übrigen Tage der Freiheit, bis du in das Joch der harten Arbeit mußt.«

»Sei mir gegrüßt, mein Sohn«, sagte die Gattin des Vormunds und küßte Victor, der sich auf ihre Hand niederbeugen wollte, auf die Stirne.

»Nicht wahr, das ist schön geworden, wie es jetzt ist?« sagte Ferdinand, der Sohn, indem er dem Freunde die Hand schüttelte.

Rosine, die Tochter, welche ein wirklich recht schönes zwölfjähriges Mädchen war, stand seitwärts, sah freundlich um sich, und sagte nichts.

Victors Ziehmutter mußte um den bevorstehenden Besuch gewußt haben; denn der Tisch war gerade für so viele Menschen gedeckt, als da waren. Sie grüßte alle sehr freundlich, als sie herein kam, ordnete an, in welcher Reihe man an dem Tische sitzen sollte, und sagte: »Siehst du, Victor, wie dich alle doch lieb haben.«

Die Speisen kamen, und das Mahl begann.

Der Vormund und seine Gattin saßen oben an, neben Rosinen wurde Hanna, die Ziehschwester Victors, gesetzt, den Mädchen gegenüber waren die Jünglinge, und ganz unten hatte sich als Wirtin die Mutter hingesetzt, die häufig aus und ein zu gehen und zu sorgen hatte.

Man genoß die ländlichen Gerichte.

Der Vormund erzählte Reiseabenteuer, die er selbst erlebt hatte, da er noch in den Schalen war, er gab Regeln, wie man mit müßigem Frohsinne die Welt genießen solle, und unterwies Victor, wie er sich nun zunächst zu benehmen habe. Die Gattin des Vormunds spielte auf eine künftige Braut an, und Ferdinand sagte, er würde den Freund sehr bald besuchen, wenn derselbe nur einmal in seinen Standort würde eingerückt sein. Victor redete wenig, und versprach, alles genau zu befolgen, was ihm der Vormund anriet und einprägte. Den Brief, den er ihm an den Oheim mit gab, zu welchem Victor nun unmittelbar und zwar auf die ausdrückliche sonderbare und etwas eigensinnige Forderung des Oheims selbst zu Fuße zum Besuche kommen mußte, versprach er recht gut aufzubewahren und sogleich bei der Ankunft abzugeben.

Als es gegen Abend ging, machten sich die Stadtbewohner auf den Heimweg. Sie ließen ihren Wagen, der in dem Gasthause gehalten hatte, in dem engeren Tale bis zu seiner Mündung in das weitere vorausgehen, und wurden von ihrer Wirtin und Victor und Hanna begleitet.

»Lebt wohl, Frau Ludmilla,« sagte der Vormund, als er in den Wagen stieg, »lebe wohl, Victor, und befolge alles, was ich dir gesagt habe.«

Als er in den Wagen gestiegen war, als Victor noch einmal gedankt und man sich allseitig empfohlen hatte, flogen die Pferde davon.

Es war heute schon zu spät, daß Victor noch weit in den Wald hinauf gegangen wäre. Er blieb zu Hause, sah verschiedene Dinge in dem Garten an, und untersuchte noch einmal alle Habe, die er in sein Ränzchen gepackt hatte.

3. Abschied

Der andere Tag, der letzte, den Victor in diesem Hause zuzubringen hatte, brachte nichts Ungewöhnliches. Man pachte noch manches, man ordnete das schon Geordnete noch einmal, man tat, wie es in solchen Fällen sehr gewöhnlich ist, gegen einander, als sollte gar nichts vorfallen, und so war der Vormittag bald vorüber.

Nach dem Mittagsessen, als man kaum aufgestanden war, ging Victor schon an dem Bache durch die Gegend hinauf und wandelte für sich allein dem Buchengewände und dessen Steinhängen zu.

»Laß ihn gehen, laß ihn gehen,« sagte die alte Frau für sich, »das Herz wird ihm schwer sein.«

»Mutter, wo ist denn Victor?« fragte Hanna einmal im Laufe des Nachmittages.

»Er ist Abschied nehmen gegangen,« antwortete diese, »von der Gegend ist er Abschied nehmen gegangen. Mein Gott! er hat ja nichts anders. Der Vormund, ein so vortrefflicher und vorsorglicher Mann er ist, ist ihm doch ferne, und so sind es auch die Angehörigen des Vormundes.«

Hanna erwiderte auf diese Worte nichts – – gar nicht den leisesten Laut erwiderte sie darauf, und ging zwischen das Gebüsche der kleinen Pflaumenbäume hinein.

Der Rest des Nachmittages verging in diesem Hause wie gewöhnlich. Die Menschen verbrachten ihn mit den Arbeiten, die ihnen zukamen, die Vögel in ihren Bäumen verzwitscherten ihn, die Hühner gingen in dem Hofe herum, die Gräser und Pflanzen gediehen ein wenig weiter, und die Berge schmückten sich mit Abendgold.

Als die Sonne schon von dem Himmel verschwunden war und nur mehr die goldblasse, ahnungsreiche Kuppel über dem Tale stand – darum ahnungsreich, weil sie morgen als eben so goldblasse Frühkuppel über dem Tale stehen und denjenigen auf immer fortführen wird, den hier alle so lieben – als diese Kuppel über dem Tale glänzte, kam Victor von seinem Gange, auf den er sich so eilig nach dem Essen begeben hatte, zurück. Er ging längs der Gartenplanke, um das Pförtchen zu gewinnen, das von der Leinwandbleiche hineinführt. Die weißen Linnenstreifen waren nicht mehr da, nur das grünere und nassere Gras wies die Stellen, wo sie unter Tags gelegen waren – manche Fenster waren über die Gartenbeete gedeckt, weil der blanke Himmel eine kühle Nacht versprach – von dem Hause stieg ein dünnes Rauchsäulchen auf, weil die Mutter schon vielleicht für das Abendessen sorgte. Victor hatte sein Angesicht dem Abendhimmel zugewendet, es wurde von demselben sanft beleuchtet, die kühlere Luft floß durch seine Haare, und der Himmel spiegelte sich in dem trauernden Auge.

Hanna hatte ihn beinahe dicht an sich vorüber gehen gesehen, da sie an der innern Wand der Gartenplanke stand, aber sie hatte nicht den Mut gehabt, ihn anzureden. Das Mädchen war beschäftigt, von einem struppigen geschornen Busche Stücke eines Seidenstoffes herab zu lesen, die in einem getrennten Kleide bestanden, gefärbt worden waren und unter Tags zum Trocknen sich auf dem Busche befunden hatten. Stück nach Stück nahm sie herab und legte sie auf ein Häufchen zusammen. Da sie nach einer Weile umblickte, sah sie Victor im Garten bei der großen Rosenhecke stehen.

Später sah sie ihn wieder bei der Hecke des blauen Holunders stehen, der schon Knospen hatte. Der Holunder aber war viel näher gegen sie her als die Rosenhecke. Dann ging er wieder ein wenig weiter, und endlich kam er zu ihr herzu und sagte: »Ich will dir etwas hinein tragen helfen, Hanna.«

»Ach nein, Victor, ich danke dir,« antwortete sie, »es sind ja nur ein paar leichte Läppchen, die ich färbte und hier trocknen ließ.«

»Hat sie dir die Sonne denn nicht sehr ausgezogen?«

»Nein; dieses Blau muß man in die Sonne legen, vorzüglich in die Frühlingssonne, da wird es immer schöner.«

»Nun, und ist es schön geworden?«

»Sieh her.«

»Ach, ich verstehe es doch nicht.«

»Es ist nicht so schön geworden wie die Bänder im vorigen Jahre, aber doch schön genug.«

»Es ist sehr feine Seide.«

»Sehr fein.«

»Gibt es noch feinere?«

»Ja, es gibt noch viel feinere.«

»Und machtest du recht viele schöne seidene Kleider haben?«

»Nein; sie sind zum Festtagsgewand sehr vorzüglich; aber da man nicht viel Festgewand braucht, so wünsche ich nicht viel Seide. Die andern Kleider sind auch schön, und Seide ist immer ein stolzes Tragen.«

»Ist der Seidenwurm nicht ein recht armes Ding?«

»Warum, Victor?«

»Weil man ihn toten muß, um sein Gewebe zu bekommen.«

»Tut man das?«

»Ja, man siedet sein Gespinst im Wasserdunst, oder räuchert es in Schwefel, damit das Tier drinnen stirbt; denn sonst frißt es die Fäden durch und kömmt als Schmetterling heraus.«

»Armes Tier!«

»Ja – und in unsern Zeiten trennt man ihn auch von seinem armen Vaterlande – siehst du, Hanna – wo er auf sonnigen Maulbeerbäumen herum kriechen könnte, und füttert ihn in unsern Stuben mit Blättern, die draußen wachsen und auch nicht so heiter sind wie in ihrem Vaterlande. – – Und die Schwalben und die Störche und die andern Zugvögel gehen im Herbste von uns fort, vielleicht weit, weit in die Fremde; aber sie kommen im Frühlinge wieder. – – Es muß die Welt doch eine ungeheure, ungeheure Größe haben.«

»Mein armer Victor, rede nicht solche Dinge.«

»Ich möchte dich um etwas fragen, Hanna.«

»So frage mich, Victor.«

»Ich muß dir noch vielmal danken, Hanna, daß du mir die schöne Geldbörse gemacht hast. Das Gewebe ist so fein und weich, und die Farben sind recht schön. Ich habe sie mir aufbewahrt, und werde kein Geld hinein tun.«

»Ach, Victor, das ist ja schon lange her, daß ich dir die Börse gab, und es ist nicht der Mühe wert, daß du mir dankst. Tue du nur dein Geld hinein, ich werde dir eine neue machen, wenn diese schlecht wird, und so immer fort, daß du nie einen Mangel haben sollst. Ich habe dir zu deiner jetzigen Abreise noch etwas gemacht, das viel schöner ist als die Börse, aber die Mutter wollte, daß ich es dir erst heute abends oder morgen früh geben sollte.«

»Das freut mich, Hanna, das freut mich sehr.«

»Wo bist du denn den ganzen Nachmittag gewesen, Victor?«