Meine Weihnachtserzählungen - Charles Dickens - E-Book

Meine Weihnachtserzählungen E-Book

Charles Dickens.

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Beschreibung

Dickens hatte Zeit seines Lebens ein Faible für Geschichten rund um Weihnachten und die stille Zeit. Neben dem selbstverständlich auch hier enthaltenen "Der Weihnachtsabend", auch bekannt als "Eine Weihnachtsgeschichte" gibt es viele schöne und nur teilweise bekannte Erzählungen des Meisters. Hier enthalten sind: Doktor Marigold Mrs. Lirripers Fremdenpension Die Geschichte des Schuljungen Die Geschichte des armen Verwandten Der Weihnachtsabend. Das Heimchen am Herde. Hochzeitsttanz. Der Kampf des Lebens. Die Silvester-Glocken. Der Behexte und der Pakt mit dem Geiste Auf der Walstatt des Lebens

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Meine Weihnachtserzählungen

Charles Dickens

Inhalt:

Charles Dickens – Biografie und Bibliografie

Doktor Marigold

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Mrs. Lirripers Fremdenpension

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Die Geschichte des Schuljungen

Die Geschichte des armen Verwandten

Der Weihnachtsabend.

Erstes Kapitel. Marleys Geist.

Zweites Kapitel. Der erste der drei Geister.

Drittes Kapitel. Der zweite der drei Geister.

Viertes Kapitel. Der letzte der drei Geister.

Fünftes Kapitel. Das Ende des Liedes.

Das Heimchen am Herde.

Erstes Zirpen.

Zweites Zirpen.

Drittes Zirpen.

Hochzeitsttanz.

Der Kampf des Lebens.

Erster Teil.

Zweiter Teil.

Dritter Teil.

Die Silvester-Glocken.

Erstes Viertel

Zweites Viertel

Drittes Viertel.

Viertes Viertel.

Der Behexte und der Pakt mit dem Geiste

Erstes Kapitel. Die Gabe

Zweites Kapitel. Die Verbreitung

Drittes Kapitel. Die Gabe wird zurückgenommen

Auf der Walstatt des Lebens

Erster Teil

Zweiter Teil

Dritter Teil

Meine Weihnachtserzählungen, C. Dickens

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

Loschberg 9

86450 Altenmünster, Deutschland

ISBN: 9783849628024

www.jazzybee-verlag.de

[email protected]

Charles Dickens – Biografie und Bibliografie

Früher bekannt unter dem Pseudonym Boz, berühmter engl. Schriftsteller, nebst Thackeray der Hauptvertreter der Londoner Romanschule, geb. 7. Febr. 1812 in Landport bei Portsmouth, wo sein Vater bei der Marine angestellt war, gest. 9. Juni 1870, kam mit seinen mittellosen Eltern 1816 nach Chatham, im Winter 1822/23 nach London, war schwächlich und genoß keine gute Schulbildung, zeichnete sich aber schon als Kind durch eifriges Lesen von Romanen und Dramen aus. Eine Weile saß der Vater im Schuldgefängnis, und Charles machte in einem Geschäftshaus Pakete für 6 oder 7 Schilling die Woche. Dann besserten sich die Verhältnisse; Charles besuchte eine »Academy« in Hampstead Road, wurde Advokaturschreiber, wobei er Gelegenheit hatte, das englische Volksleben zu studieren, trieb zugleich im Britischen Museum literarische Studien, lernte stenographieren, bekam eine Stelle als Reporter und zeigte dabei so großes Geschick, daß er zur Mitarbeit an »The true sun« und später am »Morning Chronicle« herangezogen wurde. Im »Monthly Magazine«, »Morning Chronicle« und in ähnlichen Zeitschriften veröffentlichte er seit Dezember 1833 die Skizzen vom bunten Treiben der Hauptstadt, die er gesammelt als »Sketches of London« (1836, 2 Bde.) mit Zeichnungen von Cruikshank herausgab. Im August 1834 unterzeichnete er zum erstenmal einen Aufsatz mit Boz, einer Kinderform für Moses, wie sein jüngerer Bruder, Augustus, nach einem Knaben im »Vikar von Wakefield« gewöhnlich genannt wurde. Eine zweite Reihe »Sketches« folgte noch 1836. Seinen Ruhm aber gründete er durch die »Pickwick papers« (1836–37), die in wöchentlichen Heften mit Federzeichnungen von Cruikshank und Phiz erschienen und von allen Schichten der Gesellschaft mit Freude begrüßt wurden. Das Buch enthält lustige Abenteuer einiger Herren des Pickwickklubs, die auf einer Reise durch England die Sitten verschiedener Gesellschaftsklassen beobachten. Die Frische, Schwäche und Gutherzigkeit des Londoners (cockney) ist darin mit ebensoviel Menschenkenntnis als Gemütsteilnahme dargestellt, ja literarisch entdeckt worden. D. hat seinem Volke die Poesie des gewöhnlichen Lebens durch das Medium des Humors zum Bewußtsein gebracht. Am 2. Dez. 1836 heiratete D. Katharina, die Tochter eines Kollegen beim »Morning Chronicle«. Im Januar 1837 begann er einen zweiten Roman: »Oliver Twist«, eine Erzählung aus den untern Volksschichten (1837 bis 1839). Es folgten: »Nicholas Nickleby« (1839), noch erfolgreicher als die »Pickwickier«; »Master Humphrey's clock« (1840–41), eine Reihe von Erzählungen, in denen die Zeichnung von Leidenschaften und die Schilderung des oft hoffnungslosen Elends in den Fabrikstädten besonders ansprechen (aufgelöst in zwei Geschichten: »The old curiosity shop« und »Barnaby Rudge«), u. »Martin Chuzzlewit«, worin manche Früchte einer inzwischen unternommenen Reise nach Amerika eingestreut sind. Seine im Allgemeinen nicht günstigen Eindrücke von Amerika legte er in eignem Zusammenhang nieder in den »American notes« (1842). D. bewohnte nun ein hübsches Haus mit Garten am Regent's Park, wurde viel gefeiert, auch hoch bezahlt. Er blieb aber auch im Wohlstand ein Philanthrop und bewährte dies besonders durch seine Weihnachtsgaben: »A Christmas carol« (1843), »Chimes« (geschrieben in Italien, 1844), »The cricket oa the hearth« (1845), »Battle of life« (geschrieben am Genfer See, 1846); »The haunted man« (1848). Dazwischen entstand der Roman »Dombey and son« (1846–48), ein erschütterndes Bild bürgerlichen Lebens. Mit erstaunlicher Arbeitskraft ließ D. bereits 1849–50 den mehr autobiographischen Roman »David Copperfield« folgen, durch treffliche Charakterzeichnung und einen wahrscheinlichern Plan vor den andern Werken ausgezeichnet; ferner »Bleakhouse« (1852), »Hard times« (1853), »Little Dorrit« (1855), »Tale of two cities« (1859), »Great expectations« (1861), »Our mutual friend« (1864–65). Dazu gesellten sich journalistische Unternehmungen: er wurde 1845 Redakteur der neubegründeten liberalen Zeitung »Daily news«, in der er »Pictures of Italy« veröffentlichte, zog sich aber bald von dem Blatt zurück und begann 1849 die Herausgabe einer Wochenschrift: »Household words«, die Unterhaltung mit Belehrung verbinden sollte und, seit 1860 u. d. T.: »All the year round« erscheinend, ungemeine Verbreitung fand. Seine spätern Romane sind regelmäßig darin erschienen. Eine Ergänzung bildete das monatlich erscheinende -»Household narrative of current events«, eine Übersicht der Zeitgeschichte. »A child's history of England« (1852) ist eine behaglich geschriebene Geschichte Englands. In den von der »Literary guild«, einer Anstalt für altersschwache Schriftsteller, in den großen Städten gegebenen Theatervorstellungen entwickelte D. auch dramatisches Talent, wie er denn seit seiner Kindheit sich an Dilettantenschauspielen mit Lust beteiligte. Indes wirkten die Anstrengungen doch auf seine Gesundheit, um so mehr, als sich Verluste und Unbefriedigtheit in der Familie (Trennung von der Frau 1858) dazu gesellten; eine Rastlosigkeit befiel ihn, deren Spuren man in seinen Schriften zuerst in »Bleakhouse« bemerken will. Auf mannigfachen Reisen und in seinem Hause Gadshill Place, das er seit 1856 besaß und verschönerte, suchte er rastlos nach Erholung. Vollends verderblich wurden ihm die Vorlesungen aus seinen Werken, die er seit 1858 in Cyklen in London, der Provinz, Schottland, Irland und 1868 auch auf einer zweiten Reise nach Nordamerika hielt. Er gewann Ehren und ungeheure Honorare, fühlte sich aber oft am Ende seiner Kraft. Ein Blutaustritt im Gehirn führte schließlich seine Auflösung herbei. Er starb im geliebten Gadshill Place, während er an dem »Mistery of Edwin Drood« arbeitete, das deshalb Fragment blieb, und wurde in der Westminsterabtei beigesetzt. In den 12 Jahren nach seinem Tode wurden von seinen Werken über 4 Millionen in England verkauft. Die erste Sammelausgabe war schon 1847 begonnen worden. Die »Charles D. edition«, in Amerika unternommen, erschien in England 1868–70 u. ö.; 1881 in 21 Bdn.; die »Library edition« 1881 in 30 Bdn. Seine »Speeches, literary and social« veröffentlichte Shepherd (Lond. 1870, 2. Aufl. 1883), der auch die »Plays and poems« sammelte (das. 1882–85, 2 Bde.). Von Gesamtausgaben deutscher Übersetzungen sind zu erwähnen: die Webersche (von Roberts, Leipz. 1842–70, 125 Bde., illustriert), die Hoffmannsche (von Kolb u. a., Stuttg. 1855ff., 25 Bde.), die Seybtsche (Leipz. 1862, 24 Bde.), die Scheibesche (Auswahl, Halle 1892, 15 Bde.), die Schirmersche (von Heichen, Naumb. 1902ff., 34 Bde.). Zur Erläuterung seiner Schriften veröffentlichte Pierce ein »D. Dictionary« (2. Aufl., Boston 1878). D. schildert das Leben, die Charaktere der Weltstadt von den Gemächern der Aristokratie bis zur Dachstube oder den Kellern, wo die Armut und das Verbrechen wohnen, mit einer glücklichen Mischung von Satire und Gefühl, nicht ohne die Absicht, zu bessern und Mißbräuche zu beseitigen. Das Londoner Leben der mittlern und untern Stände ist seine eigentliche Sphäre; will er weiter hinauf und Bilder aus den höhern Ständen oder aus der Geschichte liefern, so mißlingt es ihm. Sein Pathos reicht aus, wahr und ergreifend den Tod eines Kindes zu schildern; eine tiefe Leidenschaft zum Ausdruck zu bringen, lag nicht in der realen Richtung seines Wesens. Seine Liebesszenen sind gern drollig, seine Verbrecher Ungeheuer. Nebenfiguren baut er sich auf aus einigen Eigentümlichkeiten, Launen, Sprechweisen. Von Frauengestalten weiß er alte Damen und Dienstboten gut zu schildern; seine Liebhaberinnen sind unbedeutend. Dagegen gelingt ihm die Zeichnung von Kindern meisterhaft, weil ihm bei allem Realismus der Sinn des Poeten für das Märchenhafte nicht abging. Dadurch wußte er selbst dem Häßlichen eine Anziehungskraft zu leihen und bei allem Realismus dezent zu wirken. Charakteristisch für seine Romane ist der Mangel an einheitlichem Plan, z. T. wahrscheinlich eine Folge davon, daß sie in Lieferungen erschienen; das Gedränge am Ende, wenn über Hals und Kopf abzuschließen ist, wird oft sehr fühlbar. Aber wie bei Walter Scott bleibt der Verfasser selber und um so mehr der Leser bis zum Ende in Spannung, wie es ausgehen wird. Sein Leben schrieben I. Forster (Lond. 1872–74, 3 Bde.; zuletzt 1891; deutsch von F. Althaus, Berl. 1872–75; in abgekürzter Ausg. von Gissing, Lond. 1898), Julian Schmidt (»Bilder aus dem geistigen Leben unserer Zeit«, neue Folge, Leipz.1872), A. W. Ward (1882), Marzials (1887), Kitton (1902), Heichen (1902); vgl. auch Langton, Childhood and growth of D. (1891); G. Dolby, D. as I knew him (neue Ausg. 1900); R. Bluhm, Autobiographisches in »David Copperfield« (Leipz.1891); »The letters of Charles D.« (hrsg. von seiner Schwiegertochter und ältesten Tochter Lond. 1880, 3 Bde.); »Letters to Wilkie Collins« (das. 1892). Eine brauchbare »Bibliography of D.« lieferte Shepherd (Lond. 1880), zu ergänzen durch Kitton, Dickensiana (das. 1886), der auch »Minor writings of D.« herausgab (das. 1900) und in »The novels of D.« (1897) bequeme Inhaltsübersichten bot. Seinen Jugendeinflüssen ging Benignus nach (Straßb. 1894), seinen Beziehungen zu Addison Winter (Leipz. 1899), zu Fielding und Smollet Wilson (das. 1899).

Doktor Marigold

Erstes Kapitel

Muß gleich genommen werden

Ich bin ein fahrender Händler, und der Name meines Vaters war Willum Marigold. Zu seinen Lebzeiten vermuteten einige Leute, sein Name sei William, aber mein Vater behauptete stets hartnäckig, nein, er hieße Willum. Was mich angeht, so begnüge ich mich damit, die Sache von folgendem Standpunkt aus zu betrachten: Wenn es einem Mann in einem freien Lande nicht gestattet sein soll, seinen eigenen Namen zu kennen, was kann ihm da wohl noch in einem Land, wo Sklaverei herrscht, erlaubt sein? Wenn man die Sache vom Standpunkt des Registers aus betrachtet, so kam Willum Marigold auf die Welt, bevor noch Register sehr im Schwange waren – und ebenso verließ er sie auch wieder. Außerdem würden sie ihm sehr wenig zugesagt haben, wenn sie zufälligerweise schon vor ihm aufgekommen wären.

Ich wurde an der Staatsstraße geboren, und mein Vater holte einen Doktor zu meiner Mutter, als das Ereignis auf einer Gemeindewiese eintrat. Dieser Doktor war ein sehr freundlicher Gentleman und wollte als Honorar nichts annehmen als ein Teetablett, und so wurde ich aus Dankbarkeit und als besondere Aufmerksamkeit ihm gegenüber Doktor genannt. Da habt ihr mich also, Doktor Marigold.

Ich bin gegenwärtig ein Mann in mittleren Jahren, von untersetzter Gestalt, in Manchesterhosen, Ledergamaschen und einer Weste mit Ärmeln, an der hinten stets der Riegel fehlt. Man kann ihn so oft ausbessern, wie man will, er platzt immer wieder, wie die Saiten einer Violine. Ihr seid sicher schon im Theater gewesen und habt gesehen, wie einer der Violinspieler, nachdem er an seiner Violine gehorcht hatte, als flüstere sie ihm das Geheimnis zu, sie fürchte, nicht in Ordnung zu sein, an ihr herumdrehte, und auf einmal hörtet ihr, wie die Saite platzte. Genauso geht es auch mit meiner Weste, soweit eine Weste und eine Violine einander gleich sein können.

Ich bevorzuge einen weißen Hut und liebe es, um den Hals ein lose und bequem geschlungenes Tuch zu tragen. Sitzen ist meine Lieblingsstellung, und was meinen Geschmack in bezug auf das Tragen von Schmuck angeht, so habe ich etwas für Perlmuttknöpfe übrig. Da habt ihr mich wieder, in Lebensgröße.

Da der Doktor ein Teetablett annahm, so werdet ihr vermuten, daß bereits mein Vater vor mir ein fahrender Händler war. Darin habt ihr ganz recht; er war auch einer. Es war ein hübsches Tablett. Man sah darauf eine gewichtige Dame, die auf einem gewundenen Kiesweg zu einer kleinen Kirche auf einer Anhöhe hinaufging. Auch zwei Schwäne waren in derselben Absicht herbeigeflattert. Wenn ich sie eine gewichtige Dame nenne, so meine ich damit nicht, daß sie besonders breit gewesen wäre; denn in dieser Beziehung war meiner Ansicht nach nicht viel mit ihr los, aber sie war dafür um so höher: ihre Höhe und Schlankheit war, mit einem Wort gesagt, die Höhe von Höhe und Schlankheit.

Ich habe dieses Tablett oft gesehen, seitdem ich die unschuldig lächelnde (oder, was wahrscheinlicher ist, quäkende) Ursache dafür war, daß der Doktor es in seinem Sprechzimmer auf einem Tisch gegen die Wand gelehnt aufstellte. Stets, wenn mein Vater und meine Mutter in diesem Teil des Landes waren, steckte ich meinen Kopf (ich hatte damals flachsblonde Locken, wie ich meine Mutter habe erzählen hören, obwohl ihr ihn jetzt nicht eher von einem alten Besen unterscheiden könntet, als bis ihr an den Stiel kämet und entdecktet, daß dieser nicht ich bin) zu des Doktors Tür hinein, und der Doktor freute sich stets über meinen Besuch und sagte:

»Aha, mein Herr Kollege! Komm herein, kleiner Dr. med. Hast du Lust, ein Sechspencestück einzustecken?«

Man kann nicht ewig weitermachen, wie ihr wißt, und das konnte auch mein Vater nicht, ebensowenig wie meine Mutter. Falls ihr aber nicht, wenn eure Zeit gekommen ist, auf einmal abrückt, dann werdet ihr es stückweise tun, und es ist zwei gegen eins zu wetten, daß euer Kopf das erste Stück ist. Nach und nach verlor mein Vater den seinen, und meine Mutter verlor den ihren. Es war ganz harmlos, aber es versetzte die Familie, wo ich sie untergebracht hatte, in Unruhe. Das alte Paar begann, obwohl es sich zur Ruhe gesetzt hatte, sich gänzlich und ausschließlich dem fahrenden Handelsgeschäft zu widmen und war ständig damit beschäftigt, den Besitz der Familie auszuverkaufen. Wenn das Tischtuch zum Essen aufgelegt wurde, begann mein Vater mit den Tellern und Schüsseln zu rasseln, wie wir es bei unserem Geschäft tun, wenn wir Geschirr zum Ausschreien aufsetzen; bloß hatte er das Geschick dafür verloren und ließ sie meist fallen, so daß sie zerbrachen. So wie die alte Dame gewohnt gewesen war, im Karren zu sitzen und dem alten Herrn auf dem Trittbrett die Gegenstände einen nach dem anderen zum Verkauf hinauszureichen, in genau der gleichen Weise händigte sie ihm jeden Posten aus dem Besitz der Familie aus, und sie verkauften die Ware in ihrer Phantasie von morgens bis abends. Schließlich ruft der alte Herr, als er und die alte Dame im selben Zimmer krank im Bett liegen, in der alten marktschreierischen Weise aus, nachdem er zwei Tage und zwei Nächte lang kein Wort gesprochen hatte:

»Nun, guckt einmal her, meine wackeren Burschen – als der Nachtigall-Klub im Dorfe legt' Ios, im Wirtshaus zum Kohlkopf und Hasen; sie hätten gar prächtig gesungen bloß, daß sie Stimm' und Gehör nicht besaßen – nun, guckt einmal her, meine prächtigen Burschen alle, hier ist ein Arbeitsmodell eines verbrauchten alten Händlers, ohne einen Zahn im Mund und mit einem Leiden in jedem Knochen: so lebensähnlich, daß es ebenso gut wäre, wenn es nicht besser wäre, ebenso schlimm, wenn es nicht schlimmer wäre, und ebenso neu, wenn es nicht abgenutzt wäre. Bietet für das Arbeitsmodell des alten Händlers, der zu seiner Zeit mehr Tee mit den Damen getrunken hat, als nötig wäre, um den Deckel von einem Waschkessel abzuheben und ihn um so viel tausend Meilen höher als der Mond in die Luft zu führen als nichts mal nichts, geteilt durch die Nationalschuld, übertrage nichts auf die Armensteuer, drei ab und zwei dazu. Nun, meine Eichenherzen und Strohmänner, was bietet ihr für die Partie? Zwei Schilling, einen Schilling, zehn Pence, acht Pence, sechs Pence, vier Pence. Zwei Pence? Wer hat zwei Pence gesagt? Der Gentleman in dem Vogelscheuchenhut? Ich schäme mich für den Gentleman in dem Vogelscheuchenhut. Ich schäme mich wirklich für ihn wegen seines Mangels an Patriotismus. Nun will ich euch mal sagen, was ich mit euch machen werde. Guckt her! Ich gebe euch noch ein Arbeitsmodell von einer alten Frau dazu, die den alten Händler heiratete vor so langer Zeit, daß es auf ein Ehrenwort in Noahs Arche stattfand, bevor das Einhorn hereinkommen konnte, das Aufgebot zu verhindern, indem es ein Lied auf seinem Horn blies. Nun denkt einmal an! Guckt her! Was bietet ihr für beide zusammen? Ich will euch sagen, was ich mit euch machen werde. Ich bin gar nicht böse auf euch, weil ihr's euch so lange überlegt. Guckt her! Wenn ihr mir bloß ein Angebot macht, das eurer Stadt ein wenig Ehre einbringt, gebe ich euch noch eine Wärmflasche umsonst dazu und borge euch eine Röstgabel fürs ganze Leben. Nun, was sagt ihr zu dieser glänzenden Offerte? Sagt zwei Pfund, sagt dreißig Schilling, sagt ein Pfund, sagt zehn Schilling, sagt fünf, sagt zweieinhalb. Ihr sagt nicht einmal zweieinhalb? Ihr sagt zweieinviertel? Nein. Für zweieinviertel kriegt ihr die Partie nicht. Eher würde ich sie euch schenken, wenn ihr bloß hübsch genug wärt. Heda! Frau! Schmeiß den alten Mann und die alte Frau in den Karren, spann den Gaul vor und fahre sie fort und begrabe sie!«

Das waren Willum Marigolds, meines Vaters, letzte Worte, und sie wurden von ihm und von seinem Weib, meiner Mutter, an ein und demselben Tag wahrgemacht, was ich am besten wissen muß, da ich als Leidtragender hinter ihnen hergegangen bin.

Mein Vater ist zu seiner Zeit ein reizender Kerl im Geschäftszweig des fahrenden Handels gewesen, wie seine Worte vor dem Tod bewiesen haben. Aber ich bin noch tüchtiger als er. Das sage ich nicht, weil ich von mir selbst rede, sondern weil es von allen, die die Möglichkeit hatten, Vergleiche zu ziehen, allgemein anerkannt worden ist. Ich habe meine Sache studiert. Ich habe mich mit anderen öffentlichen Sprechern verglichen – Parlamentsmitgliedern, Volksrednern, Kanzelpredigern, Advokaten –, und wo ich sie gut fand, habe ich ein Stückchen Phantasie von ihnen geborgt, und wo ich sie schlecht fand, habe ich sie in Ruhe gelassen. Nun will ich euch aber was sagen. Ich bin entschlossen, in mein Grab zu steigen mit der Erklärung, daß von allen Berufen, denen in Großbritannien unrecht geschieht, die Hausierer am schlimmsten dran sind. Warum bilden wir nicht einen Stand? Warum besitzen wir keine Privilegien? Warum zwingt man uns, einen Hausierschein zu lösen, während von den politischen Hausierern nichts dergleichen verlangt wird? Wo ist denn der Unterschied zwischen ihnen und uns? Abgesehen davon, daß wir billig sind, während sie dem Land sehr teuer zu stehen kommen, sehe ich keinen Unterschied, der nicht zu unseren Gunsten ausfiele.

Denn seht einmal her! Nehmen wir an, es ist Wahlzeit. Ich stehe am Samstagabend auf dem Trittbrett meines Karrens. Ich hole eine Partie gemischter Artikel hervor. Ich sage:

»Guckt her, meine freien und unabhängigen Wähler, ich will euch so eine Gelegenheit geben, wie ihr sie alle euer Lebtag noch nicht gehabt habt, und auch in den Tagen davor nicht. Jetzt will ich euch mal zeigen, was ich mit euch machen werde. Hier ist ein Rasiermesser, das euch noch ratzekahler rasieren wird als die Armenbehörde; hier ist ein Bügeleisen, das sein Gewicht in Gold wert ist; hier ist eine Bratpfanne, die kunstvoll mit dem Geruch von Beefsteak-Essenz imprägniert ist, so daß ihr für den Rest eures Lebens bloß Brot und Schmalz darin zu braten braucht, und ihr werdet bis an den Hals mit Fleisch angefüllt sein; hier ist eine echte Chronometer-Taschenuhr in einem so starken Silbergehäuse, daß ihr damit an die Tür klopfen könnt, wenn ihr aus einer Gesellschaft spät nach Hause kommt, und euer Weib und eure Kinder aufwecken, sodaß der Klopfer für den Briefträger reserviert bleibt; und hier habt ihr ein halbes Dutzend Teller, die ihr als Zimbeln verwenden könnt, um das Baby zu beruhigen, wenn es schreit. Halt! Ich tue noch einen anderen Artikel dazu und schenke ihn euch, und das ist ein Teigholz; und wenn das Baby dieses bloß gut in den Mund hineinbekommen kann, wenn es Zähne kriegt, und sich das Zahnfleisch einmal damit reibt, dann werden die Zähne doppelt durchkommen und das Baby wird dabei lachen, als würde es gekitzelt. Haltet noch einmal! Ich tue noch einen Artikel dazu, weil mir eure Gesichter nicht gefallen, denn ihr seht mir nicht wie Käufer aus. Ich weiß, ich verliere an euch, und weil ich lieber verlieren will, als heute abend kein Geld einzunehmen, ist da noch ein Spiegel, in dem ihr sehen könnt, wie häßlich ihr ausseht, wenn ihr nicht bietet. Na, was sagt ihr jetzt? Also los! Sagt ihr ein Pfund? Ihr nicht, denn ihr habt keins. Sagt ihr zehn Schilling? Ihr nicht, denn ihr seid mehr im Abzahlungsgeschäft schuldig. Nun, dann will ich euch mal sagen, was ich mit euch machen werde. Ich lege alles auf einen Haufen auf das Trittbrett des Karrens – hier habt ihr es! Rasiermesser, Bügeleisen, Bratpfanne, Chronometer-Taschenuhr, Teller, Teigholz und Spiegel – nehmt es mit für vier Schilling und ich gebe euch ein Sechspencestück für eure Plackerei!«

So rede ich, der billige Hausierer. Aber am Montagmorgen steigt auf diesem selben Marktplatz der teure Hausierer auf die Rednerbühne – seinen Karren –, und was sagt er?

»Nun, meine freien und unabhängigen Wähler, ich will euch so eine Gelegenheit geben« (er fängt genauso an wie ich), »wie ihr alle euer Lebtag noch nicht gehabt habt, und das ist die Gelegenheit, mich ins Parlament zu schicken. Nun will ich euch sagen, was ich für euch tun werde. Hier habt ihr die Interessen dieser prächtigen Stadt, die ich über die ganze zivilisierte und unzivilisierte Erde erheben werde. Hier ist der Bau eurer Eisenbahn durchgesetzt und die Eisenbahn eurer Nachbarstadt abgelehnt. Hier sind alle eure Söhne bei der Post angestellt. Hier ist Britannia, die euch zulächelt. Hier sind die Augen Europas, die auf euch ruhen. Hier ist allgemeine wirtschaftliche Blüte für euch, Fleisch in Hülle und Fülle, goldene Kornfelder, fröhliche Heimstätten und zufriedene Herzen, alles in einem, und das bin ich selbst. Wollt ihr mich nehmen, wie ich hier stehe? Ihr wollt nicht? Gut, dann will ich euch sagen, was ich mit euch machen werde. Guckt her! Ich tue alles dazu, was ihr verlangt. Hier! Kirchensteuern, Abschaffung der Kirchensteuern, höherer Malzzoll, kein Malzzoll, allgemeine Schulbildung bis zur höchsten Stufe oder allgemeine Unwissenheit bis zur tiefsten, vollständige Abschaffung der Prügelstrafe im Heer oder ein Dutzend Stockschläge für jeden Soldaten regelmäßig einmal im Monat. Unrechte der Männer oder Rechte der Frauen – ihr braucht bloß zu sagen, was es sein soll, nehmen oder lassen, und ich bin ganz und gar eurer Meinung und die Partei gehört euch zu euren eigenen Bedingungen. Nun, ihr wollt sie immer noch nicht nehmen? Gut, dann will ich euch sagen, was ich mit euch machen werde. Hört zu! Ihr seid so freie und unabhängige Wähler, und ich bin so stolz auf euch, und ihr seid ein so edler und erleuchteter Wahlkreis, und ich ersehne so sehr die Ehre und Würde, euer Abgeordneter zu sein, was bei weitem das Höchste ist, zu dem sich der menschliche Geist aufschwingen kann – daß ich euch sagen will, was ich mit euch machen werde. Ich tue noch alle Schenken in eurer prächtigen Stadt umsonst dazu. Seid ihr jetzt zufrieden? Immer noch nicht? Ihr wollt die Partie immer noch nicht nehmen? Nun denn, ehe ich den Gaul einspanne und davonfahre und das Angebot der nächsten allerprächtigsten Stadt mache, die entdeckt werden kann, will ich euch nochmals sagen, was ich mit euch machen werde. Nehmt die Partie, und ich will zweitausend Pfund in den Straßen eurer prachtvollen Stadt verstreuen, sodaß jeder das Geld aufheben kann. Genügt noch nicht? Dann seht einmal her. Das ist das Alleräußerste, was ich tun werde. Es sollen zweitausendfünfhundert sein. Und ihr wollt immer noch nicht? Heda, Frau! spanne den Gaul – doch nein, noch einen Augenblick, ich möchte euch schließlich nicht wegen einer Kleinigkeit den Rücken kehren – es sollen zweitausensiebenhundertundfünfzig Pfund sein. Da! Nehmt die Partie zu euren eigenen Bedingungen, und ich zähle zweitausendsiebenhundertundfünfzig Pfund auf das Trittbrett des Karrens hin, die in den Straßen eurer prächtigen Stadt verstreut werden sollen, so daß jeder das Geld aufheben kann. Was sagt ihr jetzt? Nun kommt! Besser könnt ihr es nicht mehr treffen, höchstens schlimmer. Ihr nehmt es? Hurra! Wieder hineingelegt, und der Sitz ist mein!«

Diese teuren Hausierer seifen das Volk schändlich ein, während wir billigen das niemals tun. Wir sagen den Leuten die Wahrheit ins Gesicht und verschmähen es, ihnen zu schmeicheln. Was Verwegenheit beim Anpreisen der Ware angeht, so sind wir die reinen Waisenkinder gegen die teuren Hausierer. In unserem Handel gilt es als Regel, daß man über eine Flinte besser schwadronieren kann als über jeden anderen Artikel, den wir aus dem Karren hervorholen, mit Ausnahme von einem Paar Brillengläser. Aber wenn ich einen Vortrag halte, was die Flinte vermag und was mit der Flinte schon alles geschossen worden ist, dann gehe ich doch nicht halb so weit wie die teuren Hausierer, wenn sie nicht über ihre Flinten, wohl aber über ihre Kanonen reden – ihre großen Kanonen, die ihre Drahtzieher sind. Außerdem bin ich ein selbständiger Geschäftsmann – ich werde von niemandem mit einem Auftrag auf den Markt geschickt, wie es bei denen der Fall ist. Und ferner wissen meine Flinten nichts von dem, was ich zu ihrem Lob sage, während ihre Kanonen es wissen, und die ganze Gesellschaft sollte sich in Grund und Boden schämen. Das sind einige meiner Gründe für die Behauptung, daß die Hausierer in Großbritannien schlecht behandelt werden; und deshalb gerate ich in Wut, wenn ich an die großen Leute denke, die glauben, sie dürften auf uns herabsehen.

Ich warb um meine Frau von dem Trittbrett des Karrens aus. So war es tatsächlich. Sie war ein junges Mädchen von Suffolk, und es geschah auf dem Marktplatz von Ipswich, dem Laden des Kornhändlers genau gegenüber. Ich hatte sie schon am Sonnabend zuvor an einem Fenster stehen sehen und hatte sie gleich hoch eingeschätzt. Sie gefiel mir, und ich sagte mir: »Falls sie noch nicht vergeben ist, will ich diese Partie nehmen.« Am nächsten Sonnabend stellte ich den Karren auf demselben Fleck auf. Ich war bester Laune, das Publikum lachte in einem fort, und die Sachen gingen ab wie geschmiert. Schließlich zog ich aus meiner Westentasche eine kleine, in Fließpapier eingewickelte Partie hervor und begann folgendermaßen, wobei ich zu dem Fenster, an dem sie stand, emporblickte:

»Nun hier, ihr blühenden Mädels von England, ist ein Artikel, der letzte Artikel vom heutigen Verkauf, den ich nur euch, ihr lieblichen Kinder von Suffolk, die ihr vor Schönheit überströmt, anbiete, und den ich keinem lebendigen Manne für tausend Pfund überlassen würde. Was mag das wohl sein? Ich will euch sagen, was es ist. Es ist aus gediegenem Gold, und es ist nicht zerbrochen, obwohl es in der Mitte ein Loch hat, und es ist stärker als jede Fessel, die je geschmiedet wurde, obgleich es schmäler ist als der dünnste Finger unter meinen zehn. Weshalb gerade zehn? Weil, als meine Eltern mir mein Vermögen vermachten, wie ich euch wahrheitsgemäß versichere, zwölf Laken, zwölf Handtücher, zwölf Tischdecken, zwölf Messer, zwölf Gabeln, zwölf Eßlöffel und zwölf Teelöffel da waren, aber bei meinen Fingern fehlten zwei am Dutzend, und ich habe sie niemals beschaffen können. Nun, was ist es sonst noch? Hört zu, ich will's euch sagen. Es ist ein Reif aus massivem Gold, eingewickelt in ein silbernes Haarwickelpapier, das ich mit eigener Hand von den glänzenden Locken der unvergänglich schönen alten Dame in Threadneedle Street in der Londoner City genommen habe – ich würde das nicht behaupten, wenn ich euch nicht das Papier vorzeigen könnte, sonst würdet ihr es selbst von mir nicht glauben. Nun, was ist es sonst noch? Es ist eine Männerfalle und eine Handschelle, ein Schließeisen und eine Beinfessel, alles in Gold und alles in einem. Nun, was ist es sonst noch? Es ist ein Ehering. Nun will ich euch sagen, was ich damit machen werde. Ich werde diesen Artikel nicht für Geld anbieten, sondern ich will ihn derjenigen unter euch Schönen geben, die jetzt lachen wird. Bei dieser will ich morgen früh Punkt halb zehn mit dem Glockenschlag einen Besuch machen und mit ihr spazierengehen, um das Aufgebot zu bestellen.«

Sie lachte, und der Ring wurde ihr hinaufgereicht. Als ich am nächsten Morgen zu ihr komme, sagt sie:

»Du lieber Himmel! Da seid Ihr ja! Es kann Euch doch nicht Ernst gewesen sein?«

»Da bin ich«, sage ich, »und ich bin für immer der Eurige, und es ist mein heiliger Ernst.«

So wurden wir getraut, nachdem wir dreimal aufgeboten worden waren – was, nebenbei bemerkt, ganz unseren Geschäftsgebräuchen entspricht und wieder einmal zeigt, wie sehr diese Gebräuche die ganze Gesellschaft durchdringen.

Sie war kein böses Weib, aber sie hatte ein reizbares Temperament. Wenn ich diesen Artikel unter Preis hätte loswerden können, so hätte ich sie für kein anderes Weib in ganz England hergegeben. Das soll nicht heißen, daß ich sie in Wirklichkeit hergegeben habe, denn wir lebten zusammen, bis sie starb, und das waren dreizehn Jahre. Nun, meine Lords und Ladies und mein ganzes verehrtes Publikum, ich will euch in ein Geheimnis einweihen, wenn ihr mir auch nicht glauben werdet. Dreizehn Jahre reizbares Temperament in einem Palast würden die Schlimmsten unter euch auf eine harte Probe stellen, aber dreizehn Jahre reizbares Temperament in einem Karren würden die Besten unter euch auf die Probe stellen. In einem Karren ist man so sehr aufeinander angewiesen, müßt ihr verstehen. Es gibt Tausende von Ehepaaren unter euch, die in fünf und sechs Stockwerke hohen Häusern wie Öl auf dem Wetzstein miteinander auskommen und die in einem Karren zum Scheidungsrichter laufen würden. Ob das Rütteln des Karrens es vielleicht schlimmer macht, das weiß ich nicht; aber in einem Karren geht es einem auf die Nerven und läßt einen nicht los. Böse Worte in einem Karren sind noch böser und Ärger in einem Karren ist noch ärgerlicher.

Und dabei hätten wir ein so schönes Leben haben können! Ein geräumiger Karren, an dem die großen Artikel draußen aufgehängt waren, während das Bett, wenn wir auf der Fahrt waren, zwischen den Rädern untergebracht war; ein eiserner Topf und ein Kessel, ein Kamin für die kalten Tage, ein Ofenrohr für den Rauch, ein Hängesims und ein Schrank, ein Hund und ein Pferd. Was kann man noch mehr verlangen? Man macht halt auf einem Rasenplatz an einem Feldweg oder an der Landstraße, man fesselt dem alten Gaul die Beine und läßt ihn grasen, man zündet sein Feuer auf der Asche des vorigen Besuchers an, man schmort seinen Braten, und man möchte den Kaiser von China nicht zum Vater haben. Aber wenn man ein reizbares Temperament im Karren hat, das einem böse Worte und die härtesten Handelsartikel an den Kopf wirft, wie ergeht es einem dann? Versucht einmal, eure Gefühle in diesem Fall auszudrücken!

Mein Hund wußte genauso gut wie ich, wann sie in der richtigen Verfassung war. Noch bevor sie loslegte, pflegte er einmal aufzuheulen und auszureißen. Woher er es wußte, war mir schleierhaft; aber er wußte es so sicher und bestimmt, daß er aus dem tiefsten Schlaf erwachte, aufheulte und davonlief, wenn es wieder einmal soweit war. Zu solchen Zeiten wünschte ich, ich steckte in seiner Haut.

Das Schlimmste aber war dies: Wir hatten eine Tochter, und ich liebe Kinder von ganzem Herzen. Wenn sie nun wütend war, so schlug sie das Kind, und das wurde so unerträglich, als das Kind vier oder fünf Jahre alt war, daß ich oft mit der Peitsche über der Schulter neben dem alten Gaul hergegangen bin, schlimmer weinend und schluchzend als die kleine Sophy. Denn wie konnte ich dagegen einschreiten? Mit einem solchen Temperament und in einem Karren ist nicht daran zu denken, wenn es nicht zu einer Prügelei kommen soll. Es liegt an der natürlichen Größe und den Raumverhältnissen eines Karrens, daß es dann zu einer Prügelei kommen muß. Passierte das dann wirklich einmal, so wurde das arme Kind noch mehr geängstigt als zuvor, und es erging ihm in der Regel auch noch übler, und seine Mutter beklagte sich bei den Nächstbesten, die uns begegneten, und da hieß es dann: »Da hat dieser gemeine Kerl von einem Händler sein Weib geschlagen.«

Und dabei war die kleine Sophy so ein braves Kind! Wie sie aufwuchs, fühlte sie sich immer mehr ihrem armen Vater zugetan, obwohl er so wenig tun konnte, um ihr beizustehen. Sie hatte wunderbar dichtes, glänzendes Haar, das in natürlichen Locken ihr Gesicht umrahmte. Ich staune jetzt über mich selbst, daß ich nicht in Raserei verfiel, wenn ich zusehen mußte, wie sie vor ihrer Mutter um den Karren davonlief, und wie ihre Mutter sie dann bei diesem Haar packte, zu Boden riß und auf sie losschlug.

Ich sagte, sie sei so ein braves Kind gewesen, und ich habe Grund dazu.

»Mache dir das nächstemal nichts daraus, Vater«, pflegte sie mir zuzuflüstern, während ihr Gesichtchen noch gerötet und ihre leuchtenden Augen noch feucht waren. »Wenn ich nicht laut schreie, dann kannst du wissen, daß es nicht sehr weh tut. Und selbst wenn ich laut schreie, dann will ich Mutter bloß dazu bringen aufzuhören und mich in Ruhe zu lassen.«

Was habe ich das liebe kleine Wesen ertragen sehen – um meinetwillen –, ohne aufzuschreien!

Doch kümmerte sich in anderen Dingen ihre Mutter sehr um sie. Ihre Kleider waren stets sauber und nett, und ihre Mutter war unermüdlich dabei, sie in Ordnung zu halten. So unlogisch geht es im Leben zu. Ich glaube, unser Aufenthalt in sumpfigen Gegenden bei schlechtem Wetter war die Ursache, daß Sophy schleichendes Fieber bekam. Aber wie dem auch sei, sowie sie es bekam, wandte sie sich für immer von ihrer Mutter ab, und nichts konnte sie dazu bewegen, sich von ihrer Mutter Hand anrühren zu lassen. Sie erschauerte und sagte: »Nein, nein, nein«, wenn diese ihr einen Dienst leisten wollte; sie verbarg dann ihr Gesicht an meiner Schulter und klammerte sich fest an meinen Hals.

Das Geschäft ging aus verschiedenen Gründen schlechter als je, am meisten aber war die Eisenbahn daran schuld, und ich glaube, daß sie uns Händlern zuletzt noch vollends den Garaus machen wird. So war denn zur Zeit, als die kleine Sophy so krank war, an einem Abend kein Heller mehr in der Kasse; wollte ich es nicht so weit kommen lassen, daß wir nichts mehr zu essen und zu trinken kaufen konnten, so mußte ich den Karren aufstellen. Das tat ich also.

Ich konnte das liebe Kind nicht dazu bringen, sich hinzulegen oder mich loszulassen, und ich hatte auch gar nicht das Herz dazu; so stellte ich mich denn auf das Trittbrett, während sie sich an meinem Hals festklammerte. Sie lachten alle, als sie uns so sahen, und ein Schafskopf von einem Bauer (den ich deswegen haßte) machte das Angebot: »Zwei Pence für sie!«

»Nun, ihr Bauerntölpel«, sage ich, mit einem Gefühl, als hinge mein Herz wie ein schweres Gewicht am Ende einer zerrissenen Fensterleine, »ich warne euch, daß ich im Begriff bin, euch das Geld aus der Tasche zu zaubern. Denn ich will euch so viel mehr geben, als euer Geld wert ist, daß ihr in Zukunft, wenn ihr am Sonnabend euren Lohn ausgezahlt kriegt, immer nach mir Ausschau halten werdet, um das Geld bei mir anzulegen. Aber ihr werdet vergeblich warten, und warum? Weil ich mein Glück dadurch gemacht habe, daß ich meine Waren en gros um fünfundsiebzig Prozent unter Einkaufspreis losgeschlagen habe, und infolgedessen nächste Woche als Herzog ins Oberhaus berufen werde. Nun laßt mich wissen, was ihr heute abend braucht, und ihr sollt es kriegen. Aber vor allem, soll ich euch sagen, warum ich diese Kleine an meinem Hals hängen habe? Ihr wollt das nicht wissen? Nun sollt ihr's erst recht hören. Sie ist eine von den Elfen. Sie kann wahrsagen. Sie kann mir alles über euch zuflüstern und mir genau sagen, ob ihr eine Sache kaufen wollt oder nicht. Braucht ihr zum Beispiel eine Säge? Nein, sie sagt, ihr braucht keine, weil ihr zu ungeschickt seid, um mit ihr umzugehen. Sonst wäre hier eine Säge, die für einen tüchtigen Mann ein Segen fürs ganze Leben wäre – für vier Schilling, für dreieinhalb, für drei, für zweieinhalb, für zwei, für achtzehn Pence. Aber keiner von euch soll sie zu irgendeinem Preis kriegen, wegen eurer bekannten Ungeschicklichkeit, deretwegen die Sache reiner Mord würde. Dasselbe gilt für diesen Satz von drei Hobeln, die ich euch auch nicht verkaufen werde; so bietet also nicht darauf. Nun will ich sie einmal fragen, was ihr braucht.« (Dabei flüsterte ich: »Dein Kopf ist so heiß, daß ich fürchte, er tut dir sehr weh, mein Liebling«, worauf sie, ohne ihre festgeschlossenen Augen zu öffnen, antwortete: »Ein klein wenig, Vater.«) »Oh, diese kleine Wahrsagerin sagt mir, ihr bräuchtet ein Notizbuch. Weshalb habt ihr es denn nicht gleich gesagt? Hier ist es. Guckt es euch an. Zweihundert Seiten extrafeines satiniertes Velinpapier – wenn ihr's mir nicht glaubt, so zählt sie nach –, vollständig liniiert für eure Ausgaben, ein wenig gespitzter Bleistift, um sie niederzuschreiben, ein Federmesser mit doppelter Klinge, um sie auszuradieren, ein Buch mit gedruckten Tabellen, um euer Einkommen danach zu berechnen, und ein Feldstuhl zum Hinsetzen, während ihr damit beschäftigt seid. Halt! Noch etwas! Ein Sonnenschirm, um den Mondschein abzuhalten, wenn ihr in einer pechfinsteren Nacht damit beschäftigt seid. Nun will ich euch nicht fragen, wieviel für die Partie, sondern wie wenig. Wie wenig denkt ihr wohl? Sprecht nur ohne Scham, weil meine Wahrsagerin es bereits weiß.« (Ich tat so, als flüsterte ich, aber ich küßte sie, und sie mich.) »Nun, sie sagt, ihr denkt an so wenig wie drei Schilling und drei Pence! Ich hätte es nicht glauben können, selbst von euch nicht, wenn sie es mir nicht gesagt hätte. Drei Schilling und drei Pence! Und gedruckte Tabellen mit dabei, die euer Einkommen bis zu vierzigtausend Pfund im Jahr berechnen! Bei einem Einkommen von vierzigtausend Pfund im Jahr geizt ihr mit drei Schilling und drei Pence. Nun, dann will ich euch meine Meinung sagen. Ich verachte die drei Pence so, daß ich lieber drei Schilling dafür nehme. Hier. Für drei Schilling, drei Schilling, drei Schilling. Zugeschlagen. Gebt sie dem glücklichen Mann dort.«

Da überhaupt niemand geboten hatte, sah sich jedermann um und einer grinste den andern an, während ich das Gesicht meiner kleinen Sophy betastete und sie fragte, ob sie sich schwach oder schwindlig fühle.

»Nicht sehr, Vater. Es wird bald vorüber sein.«

Dann wandte ich mich von den hübschen, geduldigen Augen, die jetzt offen waren, ab und wieder meinen Kunden zu. Ich sah nichts als grinsende Gesichter beim Schein meiner Talgpfanne und fuhr fort, sie in meinem Stil anzureden.

»Wo ist der Schlächtergeselle?« (Mein kummervolles Auge hatte gerade einen fetten jungen Schlächtergesellen am äußeren Rand der Menge wahrgenommen.) »Sie sagt, der Schlächtergeselle wäre der glückliche Mann. Wo ist er?«

Die Leute stießen den errötenden Schlächtergesellen nach vorn, und es gab ein Gelächter, und der Schlächtergeselle fühlte sich verpflichtet, die Hand in die Tasche zu stecken und die Partie zu nehmen. Wenn man so einen aus der Menge heraussucht, fühlt er sich meistens verpflichtet, die Partie zu nehmen. Dann hatten wir noch eine Partie, die Wiederholung der ersten, und verkauften sie um sechs Pence billiger, was den Leuten immer großen Spaß macht. Dann kamen die Brillengläser dran. Sie sind keine besonders einträgliche Partie, aber ich setze sie auf, und ich sehe, um wieviel der Finanzminister die Steuern senken wird, und ich sehe, was der Liebste des jungen Mädels mit dem Tuch gerade zu Hause treibt, und ich sehe, was beim Bischof zu Mittag aufgetragen wird, und noch allerhand andere Sachen, die selten verfehlen, sie gut gelaunt zu machen; und je besser die Laune, desto besser die Angebote. Dann kam die Damenpartie dran – die Teekanne, die Teebüchse, die Zuckerdose aus Glas, ein halbes Dutzend Löffel und der Warmbierbecher –, und die ganze Zeit über gebrauchte ich ähnliche Vorwände, um nach meinem armen Kind zu sehen und ihm ein paar Worte zuzuflüstern. Gerade als die zweite Damenpartie das Publikum gefesselt hielt, fühlte ich, wie die Kleine sich an meiner Schulter ein wenig aufrichtete, um über die finstere Straße zu blicken.

»Was fehlt dir, Liebling?«

»Nichts fehlt mir, Vater. Ich fühle mich ganz ruhig. Aber sehe ich nicht dort drüben einen hübschen Friedhof?«

»Ja, mein Kind.«

»Küsse mich noch einmal, Vater, und lege mich dann auf das Friedhofsgras zum Schlafen hin, das so weich ist.«

Ihr Haupt sank auf meine Schulter nieder, und ich wankte in den Karren hinein und sagte zu ihrer Mutter:

»Rasch. Schließ die Tür! Damit es diese lachenden Leute nicht sehen!«

»Was gibt's?« schreit sie.

»O Weib, Weib«, sage ich zu ihr, »du wirst meine kleine Sophy niemals wieder bei den Haaren reißen, denn sie ist von dir weggeflogen!«

Vielleicht klangen diese Worte härter, als ich sie gemeint hatte; aber von dieser Zeit an begann mein Weib tiefsinnig zu werden. Sie konnte stundenlang mit gekreuzten Armen und die Augen auf den Boden geheftet im Karren sitzen oder neben ihm hergehen. Wenn ihre Wutanfälle kamen (und sie waren jetzt seltener als früher), so nahmen sie jetzt eine neue Form an, und sie schlug auf sich selbst los in einer Weise, daß ich sie festhalten mußte. Auch trank sie ab und zu ein wenig, was nicht dazu beitrug, daß es besser mit ihr wurde. So pflegte ich denn in den folgenden Jahren, während ich neben dem alten Gaul herschritt, Betrachtungen darüber anzustellen, ob es wohl viele Karren auf der Landstraße gäbe, die so viel Traurigkeit wie meiner enthielten, obwohl man zu mir als dem König der fahrenden Händler emporblickte. So traurig ging unser Leben weiter bis zu einem Sonnabend, als wir aus dem Westen Englands nach Exeter hineinkamen. Da sahen wir, wie eine Frau grausam auf ein Kind einschlug, während das Kind schrie: »Schlag mich nicht! O Mutter, Mutter, Mutter!« Da hielt sich mein Weib die Ohren zu und lief wie von Sinnen davon, und am nächsten Tag zog man sie aus dem Fluß.

Ich und mein Hund waren jetzt die einzigen Bewohner, die im Karren zurückgeblieben waren. Ich brachte dem Hund bei, ein kurzes Bellen auszustoßen, wenn sie nicht bieten wollten, und noch einmal zu bellen und mit dem Kopf zu nicken, wenn ich ihn fragte:

»Wer hat eine halbe Krone gesagt? Sind Sie der Gentleman, Sir, der eine halbe Krone geboten hat?«

Er wurde ungeheuer beliebt, und man wird mich nicht von dem Glauben abbringen, daß er es sich ganz von selbst beibrachte, jeden in der Menge anzuknurren, der bloß sechs Pence bot. Aber er war schon sehr bejahrt, und eines Abends, als ich ganz York mit den Brillengläsern in Lachkrämpfe versetzte, verfiel er gerade auf dem Trittbrett neben mir in einen Krampf von ganz anderer Art, und das war sein Ende.

Da ich von Natur ein zartes Gemüt habe, so fühlte ich mich jetzt schrecklich einsam. Wenn ich auf dem Trittbrett stand und verkaufte, konnte ich zwar meine Gefühle unterkriegen, denn ich hatte einen Namen aufrechtzuerhalten (ganz abgesehen davon, daß ich mich selbst zu erhalten hatte). Aber im Privatleben drückten sie mich nieder und fielen über mich her. So geht es oft mit uns Leuten der Öffentlichkeit. Wenn ihr uns auf dem Trittbrett seht, dann möchtet ihr gleich alles, was ihr habt, hingeben, um an unserer Stelle zu sein. Seht uns aber einmal an, wenn wir abgetreten sind, und ihr würdet noch eine Kleinigkeit zugeben, um von dem Handel wieder loszukommen. So war meine Stimmung, als ich mit einem Riesen Bekanntschaft machte. Ich wäre vielleicht ein bißchen zu fein dafür gewesen, um mich mit ihm zu unterhalten, wären nicht meine Einsamkeitsgefühle gewesen. Denn bei uns fahrenden Leuten ist die Scheidelinie dort, wo die Verkleidung anfängt. Wenn ein Mann sich nicht auf seine unverkleideten Fähigkeiten verlassen kann, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, dann sieht man ihn als auf einer tieferen Stufe stehend an. Und wenn dieser Riese auf den Brettern stand, so trat er als Römer auf.

Er war ein junger Mann von schlaffem Wesen, was meiner Meinung nach von dem großen Abstand zwischen seinen Extremitäten herrührte. Er hatte einen Kopf von geringem Umfang und noch geringerem Inhalt; er hatte schwache Augen und schwache Knie, und man konnte sich, wenn man ihn ansah, des allgemeinen Gefühls nicht erwehren, daß sowohl für seine Gelenke wie für seinen Geist zuviel von ihm da war. Aber er war ein freundlicher, wenn auch schüchterner junger Mensch (seine Mutter vermietete ihn und gab das Geld für sich aus), und wir wurden miteinander bekannt, als er zu Fuß von einem Jahrmarkt zum anderen ging, um dem Pferd ein wenig Ruhe zu gönnen. Man nannte ihn Rinaldo di Velasco, doch sein wirklicher Name war Pickleson.

Dieser Riese namens Pickleson vertraute mir unter dem Siegel der Verschwiegenheit an, daß er sich erstens selbst zur Last wäre und daß ferner das Leben ihm zur Last gemacht würde durch die Grausamkeit seines Herrn gegen eine taubstumme Stieftochter. Ihre Mutter war tot, sie hatte keine Menschenseele, die sich ihrer annahm, und wurde schändlich behandelt. Sie reiste nur deshalb mit der Karawane seines Herrn, weil man sie nirgends lassen konnte, und dieser Riese namens Pickleson ging sogar so weit zu glauben, daß sein Herr oft den Versuch machte, sie auf dem Weg zu verlieren. Er war ein so schlaffer junger Mann, daß es unendlich lange dauerte, bis er diese Geschichte von sich gegeben hatte, aber sie gelangte doch allmählich zu seiner obersten Extremität.

Als ich diesen Bericht von dem Riesen namens Pickleson vernahm und er mir ferner erzählte, daß das arme Mädchen schönes, langes schwarzes Haar habe und oft daran zu Boden gezogen und geschlagen werde, da konnte ich den Riesen durch das, was feucht in meinen Augen stand, nicht mehr sehen. Nachdem ich sie mir gewischt hatte, schenkte ich ihm ein Sechspencestück (denn man hielt ihn so kurz, wie er lang war), und er leistete sich zwei Gläschen Gin mit Wasser dafür. Diese machten ihn so munter, daß er das beliebte komische Lied: »Ist's nicht kalt?« vortrug – eine vom Publikum sehr begehrte Nummer, die sein Herr durch zahllose andere Mittel vergeblich aus ihm herauszukriegen versucht hatte, wenn er als Römer auftrat.

Sein Herr hieß Mim. Er war ein sehr heiserer Mann, und ich kannte ihn von früheren Unterhaltungen her. Ich ging als bloßer Zuschauer zu diesem Jahrmarkt, nachdem ich den Karren außerhalb der Stadt untergebracht hatte, und ich sah mich während der Vorstellung an der Rückseite der Wohnwagen um. Endlich traf ich auf das arme taubstumme Mädchen, das im Halbschlaf an ein kotiges Wagenrad gelehnt dasaß. Beim ersten Blick hätte ich beinahe geglaubt, sie sei aus einer Menagerie wilder Tiere ausgebrochen; aber beim zweiten hatte ich einen günstigeren Eindruck und dachte, man müsse sie bloß besser versorgen und freundlicher behandeln, dann würde sie meinem verlorenen Kind ähnlich sein. Sie war gerade in dem Alter, in dem meine Tochter gewesen wäre, wenn ihr hübsches Köpfchen an jenem unseligen Abend nicht auf meine Schulter niedergesunken wäre.

Kurz, ich sprach vertraulich mit Mim, während er draußen zwischen zwei Partien die Glocke läutete, und ich sagte zu ihm:

»Sie liegt Euch schwer auf der Tasche; was wollt Ihr für sie haben?«

Mim pflegte stets entsetzlich zu fluchen. Wenn ich diesen Teil seiner Antwort, der bei weitem der längste war, übergehe, so lautete sie:

»Ein Paar Hosenträger.«

»Nun, ich will Euch sagen«, sage ich, »was ich mit Euch machen werde. Ich werde euch ein halbes Dutzend der feinsten Hosenträger im Karren holen und das Mädchen dann mit mir fortnehmen.«

Darauf Mim (wieder mit einigen Flüchen):

»Ich werde es glauben, wenn ich die Sachen habe, und nicht früher.«

Ich lief, so rasch ich konnte, damit er es sich nicht etwa noch anders überlegte, und der Handel kam zustande. Pickleson freute sich so sehr darüber, daß er der Länge nach, wie eine Schlange, zu seiner kleinen Hintertür herauskam und uns »Ist's nicht kalt?« zwischen den Rädern zum Abschied flüsternd vortrug.

Es waren glückliche Tage für uns beide, als Sophy und ich in dem Karren zu reisen begannen. Ich hatte ihr ein für allemal den Namen Sophy gegeben, damit sie für immer mir gegenüber die Stellung meiner leiblichen Tochter einnehmen sollte. Durch die Güte des Himmels gelang es uns bald, uns zu verständigen, sobald sie zu der Überzeugung gekommen war, daß ich es ehrlich und freundlich mit ihr meinte. In ganz kurzer Zeit hatte sie eine wunderbare Zuneigung zu mir gefaßt. Ihr könnt euch nicht denken, wie es ist, wenn jemand einem wunderbar zugetan ist, wenn nicht die Einsamkeitsgefühle, von denen ich euch erzählt habe, euch nicht schon niedergedrückt haben und über euch hergefallen sind.

Ihr hättet gelacht – oder das Gegenteil, das hängt von eurem Gemüt ab –, wenn ihr bei meinen Versuchen, Sophy zu unterrichten, hättet dabeisein können. Zuerst halfen mir dabei – ihr würdet das nie erraten – die Meilensteine. Ich verschaffte mir einige große Alphabete in einer Schachtel, jeder Buchstabe für sich auf einem kleinen Stäbchen, und angenommen, wir fuhren nach Windsor, so setzte ich die Buchstaben zu diesem für sie zusammen, machte sie dann auf jeden Meilenstein aufmerksam, auf dem die Buchstaben in derselben Reihenfolge standen, und wies schließlich auf die königliche Residenzstadt, der wir uns näherten. Ein andermal stellte ich die Buchstaben KARREN für sie zusammen und schrieb dann dasselbe Wort mit Kreide auf den Karren. Ein andermal gab ich ihr DOKTOR MARIGOLD und heftete ein Schildchen mit der entsprechenden Aufschrift auf meine Weste. Die Leute, die uns begegneten, starrten uns zwar an und lachten, aber was machte ich mir daraus, wenn sie die Sache nur begriff. Sie begriff sie, nachdem ich viel Geduld und Mühe aufgewendet hatte, und von da an ging es wie geschmiert, das könnt ihr mir glauben. Zu Anfang war sie zwar ein wenig geneigt, mich für den Karren zu halten und den Karren für die königliche Residenzstadt, aber das war bald vorüber.

Wir hatten auch unsere privaten Zeichen, und es waren viele Hunderte. Bisweilen saß sie, den Blick auf mich gerichtet, da und überlegte eifrig, wie sie sich über etwas Neues mit mir verständigen könnte – wie sie mich etwas fragen könnte, was sie erklärt zu haben wünschte –, und dann war sie (oder es schien mir zumindest so) meinem Kind, wenn es ebenso alt gewesen wäre wie sie, so ähnlich, daß ich halb glaubte, es sei es wirklich und wäre nur gekommen, um mir zu erzählen, wo es im Himmel gewesen wäre und was es seit jener unseligen Nacht gesehen hätte, nachdem es davongeflogen war. Sie hatte ein hübsches Gesicht, und jetzt, wo sie niemand mehr an ihrem glänzenden schwarzen Haar zerrte und es in Ordnung war, lag etwas Rührendes in ihren Blicken, das den Karren ruhig und friedlich, aber nicht im mindesten melancholisch machte.

Es war wirklich zum Staunen, wie sie jeden meiner Blicke zu verstehen lernte. Wenn ich abends mit dem Verkaufen beschäftigt war, saß sie, vom Publikum ungesehen, im Wagen drinnen, sah mir scharf in die Augen, wenn ich einen Blick hineinwarf, und reichte mir dann ohne Zögern genau den Artikel oder die Artikel, die ich brauchte. Und dann klatschte sie vor Freude in die Hände und lachte. Und was mich angeht, so mußte ich immer daran denken, wie sie ausgesehen hatte, als ich ihr zum erstenmal begegnet war: wie sie schlafend gegen das kotige Karrenrad gelehnt dagesessen hatte, halb verhungert, verprügelt und in Lumpen gehüllt. Und sie jetzt dagegen so glücklich zu sehen, das stimmte mich so froh, daß mein Ruf besser denn je wurde. Aus Dankbarkeit aber vermachte ich Pickleson (unter dem Namen »Mims reisender Riese, sonst Pickleson geheißen«) in meinem Testament eine Fünfpfundnote.

Dieses glückliche Leben im Wohnwagen ging so weiter, bis Sophy sechzehn Jahre alt war. Um diese Zeit befielen mich Zweifel, ob ich meine volle Pflicht an ihr getan hätte und ob sie nicht einen besseren Unterricht haben müßte, als ich ihn ihr geben konnte. Es gab viele Tränen auf beiden Seiten, als ich anfing, ihr diese meine Meinung auseinanderzusetzen; aber was recht ist, ist recht, und man kann weder durch Tränen noch Lachen darum herumkommen.

So faßte ich sie eines Tages bei der Hand und ging mit ihr zur Taubstummenanstalt in London, und als der Gentleman kam, um mit uns zu sprechen, sagte ich zu ihm:

»Nun will ich Ihnen mal sagen, was ich mit Ihnen machen werde, Sir. Ich bin bloß ein Hausierer, aber in den letzten Jahren habe ich trotzdem etwas für einen regnerischen Tag zurückgelegt. Das hier ist meine einzige Tochter (durch Adoption), und Sie können bestimmt kein tauberes oder stummeres Mädchen finden. Lehren Sie sie alles, was ihr in der kürzesten Trennungszeit, die Sie mir nennen können, beigebracht werden kann – bestimmen Sie den Preis dafür – und ich zahle Ihnen den Preis auf den Tisch. Ich werde Ihnen nicht einen einzigen Penny davon abziehen, Sir, sondern lege Ihnen das Geld hier und jetzt auf den Tisch und ich gebe Ihnen aus Dankbarkeit noch ein Pfund zu. Das ist alles!«

Der Gentleman lächelte und sagte dann:

»Gut, gut. Erst muß ich aber wissen, was sie bereits gelernt hat. Wie verständigt Ihr Euch mit ihr?«

Daraufhin zeigte ich es ihm und sie schrieb mit Druckbuchstaben viele Bezeichnungen von Gegenständen und so weiter auf. Außerdem hatten sie und ich eine lebhafte Unterhaltung über eine kleine Geschichte in einem Buch, die der Gentleman ihr zeigte und die sie zu lesen vermochte.

»Das ist ja ganz außerordentlich«, sagte der Gentleman. »Ist es möglich, daß Ihr ihr einziger Lehrer wart?«

»Ich bin ihr einziger Lehrer gewesen, Sir«, sagte ich, »abgesehen von ihr selbst.«

»Dann«, sagte der Gentleman, und angenehmere Worte habe ich nie vernommen, »seid Ihr ein gescheiter Mann und ein guter Mann.«

Das machte er Sophy verständlich, die ihm die Hände küßte, die ihrigen zusammenschlug und dazu weinte und lachte.

Wir sprachen im ganzen viermal mit dem Gentleman, und als er meinen Namen aufschrieb und mich fragte, woher in aller Welt ich den Vornamen Doktor hätte, da stellte es sich heraus, daß er der leibliche Neffe der Schwester ebendesselben Doktors war, nach dem man mich genannt hatte. Das brachte uns einander noch näher, und er sagte zu mir:

»Nun, Marigold, sagt mir, was soll Eure Adoptivtochter noch mehr lernen?«

»Ich möchte, Sir, daß sie durch ihre Gebrechen so wenig wie möglich von der Welt abgeschnitten ist, und deshalb soll sie alles Geschriebene ganz leicht und gut lesen können.«

»Was wollt Ihr nachher mit ihr machen?« fragte der Gentleman mit einem etwas zweifelnden Blick. »Wollt Ihr sie im Land herumführen?«

»Im Karren, Sir, lediglich im Karren. Sie wird im Karren ein privates Leben führen, verstehen Sie. Es würde mir niemals einfallen, ihre Gebrechen vor das Publikum zu bringen. Kein Geld der Welt sollte mich dazu bewegen, sie öffentlich zu zeigen.«

Der Gentleman nickte und schien meinen Worten Beifall zu zollen.

»Schön«, sagte er. »Könnt Ihr Euch für zwei Jahre von ihr trennen?«

»Um ihr diese Wohltat zuteil werden zu lassen – ja, Sir.«

»Noch eine Frage«, sagte der Gentleman, die Augen auf sie gerichtet – »kann sie sich für zwei Jahre von Euch trennen?«

Ich weiß nicht, ob das an sich eine härtere Sache war (denn die andere war hart genug für mich), aber es war härter, damit fertig zu werden. Sie fand sich jedoch schließlich darein, und die Trennung zwischen uns wurde beschlossen. Wie weh es uns beiden tat, als sie stattfand und als ich sie an einem dunklen Abend an der Tür verließ, davon will ich nicht reden. Aber das weiß ich bestimmt: In Erinnerung an jenen Abend werde ich niemals an dieser Anstalt vorbeigehen können, ohne daß das Herz mir weh tut und die Kehle sich mir zuschnürt; auch könnte ich an diesem Ort nicht einmal die beste Partie mit meiner gewohnten guten Laune anbieten – selbst die Flinte und die Brille nicht –, mag mir auch der Minister des Innern fünfhundert Pfund Belohnung dafür bieten und die Ehre, hinterher meine Beine unter seinen Mahagonitisch zu strecken, als Zugabe.

Trotzdem empfand ich die Einsamkeit im Wagen, die jetzt folgte, nicht mehr so stark wie früher. Denn sie hatte ihre festgesetzte Frist, wie lange das Ende auch noch anstehen mochte, und wenn ich ein wenig bedrückt war, so konnte ich mich mit dem Bewußtsein trösten, daß sie zu mir und ich zu ihr gehörte. Immer mit Plänen für die Zukunft beschäftigt, in der sie wieder dasein würde, kaufte ich nach einigen Monaten einen zweiten Wohnwagen, und was glaubt ihr wohl, was ich damit beabsichtigte? Ich will es euch sagen. Ich beabsichtigte, ihn mit Regalen und Büchern für ihre Lektüre auszustatten und für mich selbst einen Sitz darin anzubringen, wo ich sitzen, ihr beim Lesen zusehen und mich über den Gedanken freuen konnte, daß ich ihr erster Lehrer gewesen war. Ohne die Sache zu übereilen, ließ ich unter meiner eignen Aufsicht die einzelnen Teile mit allerhand Kunstgriffen zusammenschlagen. Hier war ihr Bett in einer Koje mit Vorhängen, dort war ihr Lesepult, hier ihr Schreibtisch, und an einer anderen Stelle befanden sich ihre Bücher, Reihe auf Reihe, mit und ohne Bilder, gebunden und ungebunden, mit Goldrand und einfach, so wie ich sie partienweise für sie zusammenlas, während ich im Land herumzog, in Nord und Süd und Ost und West, soweit der Wind im Land bläst, hier und da und an jedem Ort, über die Berge und weiter fort. Und als ich den Karren so ziemlich mit Büchern gefüllt hatte, fiel mir ein neuer Plan ein, der, wie sich dann herausstellte, meine Zeit und Aufmerksamkeit für eine gute Weile in Anspruch nahm und mir über die beiden Jahre hinweghalf.

Ohne habgierig zu sein, habe ich es doch gern, wenn meine Sachen mir gehören. Zum Beispiel möchte ich nicht einmal euch als Partner an meinem Händlerkarren haben. Nicht etwa, daß ich euch mißtraue, aber mir ist es lieber, ich weiß, daß er mein eigen ist. Ebenso wäre es euch wahrscheinlich lieber, ihr wüßtet, daß er euch gehört. Nun gut! Eine Art Eifersucht begann sich meiner zu bemächtigen, wenn ich daran dachte, daß alle diese Bücher schon lange, bevor sie von ihr gelesen wurden, von anderen Leuten gelesen worden waren. Mir schien es, als ob das ihr Besitzrecht daran beeinträchtigte. So tauchte denn folgender Gedanke in mir auf: Könnte ich nicht ein ganz neues Buch, das eigens für sie gemacht wäre, herstellen lassen, so daß sie die erste sein würde, die es liest?

Dieser Gedanke gefiel mir, und da ich niemals derjenige gewesen bin, der einen Gedanken in sich schlafen ließ (denn in meinem Beruf muß man die ganze Gedankenfamilie, die man hat, aufwecken und ihre Nachthauben verbrennen, oder man kommt unter die Räder), so machte ich mich sogleich an die Ausführung. Da ich so weit im Land herumkam und es meine Aufgabe sein würde, je nach Gelegenheit mit verschiedenen Schriftstellern einen Handel abzuschließen, entwarf ich den Plan, daß dieses Buch eine gemischte Partie sein sollte. Es sollte so etwas sein wie das Rasiermesser, das Bügeleisen, die Chronometer-Taschenuhr, die Dinnerteller, das Teigholz und der Spiegel zusammen und nicht wie die Brillengläser oder die Flinte als ein einzelner, individueller Artikel angeboten werden. Als ich zu diesem Entschluß gekommen war, faßte ich gleichzeitig einen zweiten, den ich euch ebenfalls mitteilen will.

Ich hatte schon oft bedauert, daß sie mich noch niemals gehört hatte, wenn ich auf dem Trittbrett stand, und daß sie mich niemals würde hören können. Nicht daß ich eitel bin, aber wer stellt gern sein Licht unter einen Scheffel? Was hat man von seinem Ruf, wenn man dem Menschen, von dem man am meisten geschätzt werden möchte, nicht verständlich machen kann, worauf er beruht? Entscheidet die Frage selbst. Ist er dann sechs Pence, fünf Pence, vier Pence, drei Pence, zwei Pence, einen Penny, einen halben Penny, einen Farthing wert? Nein, das ist nicht der Fall. Er ist keinen Farthing wert. Schön! Ich faßte deshalb den Entschluß, ihr Buch mit einem Bericht über mich selbst zu beginnen. Sie sollte einige Proben von mir auf dem Trittbrett zu lesen bekommen, so daß sie sich einen Begriff von meinem Talent machen könnte. Dabei war ich mir vollkommen darüber klar, daß ich mir selbst nicht Gerechtigkeit widerfahren lassen könnte. Ein Mensch kann seinen Blick nicht niederschreiben (wenigstens weiß ich nicht, wie ich das tun sollte), noch kann ein Mensch seine Stimme niederschreiben, noch seine Art zu sprechen, noch die Lebhaftigkeit seiner Bewegungen, noch sein ganzes Auftreten. Aber er kann seine Redewendungen niederschreiben, wenn er ein öffentlicher Redner ist – und ich habe schon oft gehört, daß manche das auch tun, bevor sie sie vortragen.