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Freie Reichsstadt Nürnberg 1593: Im gesamten Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation und darüber hinaus treibt ein verschlagener Fälscher und Betrüger sein Unwesen. Schließlich wird in Regensburg ein Briefmaler verhaftet, der einen gefälschten Wechsel einlösen wollte. Er wird nach Nürnberg überstellt, wo er seine gerechte Strafe erhalten soll. Doch handelt es sich wirklich um den gesuchten Erzbetrüger, der namhafte Honoratioren im Reich mit gefälschten Schriftstücken behumpst haben soll, beinah sogar den König von Schweden? Da der Verdächtige beharrlich leugnet, liegt es an Meister Frantz, die Wahrheit aus ihm herauszuholen. Hat er es mit einem Wolf im Schafspelz zu tun oder einem weiteren Opfer des gerissenen Ganoven? Nichts würde das Gewissen des Nachrichters mehr belasten, als einen Unschuldigen zu richten.
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Meister Frantz und der Erzbetrüger
Henker von Nürnberg, Band 15
von Edith Parzefall
Impressum
Copyright © 2024 Edith Parzefall
E-Mail: [email protected]
Ritter-von-Schuh-Platz 1
90459 Nürnberg, Deutschland
Lektorat: Marion Voigt, www.folio-lektorat.de
Umschlag: Kathrin Brückmann unter Verwendung
eines Gemäldes von Evert Collier
Alle Rechte vorbehalten.
Handelnde Personen
Historische Figuren sind kursiv gesetzt. Sie werden in diesem Roman fiktional verwendet, obwohl ich mich weitgehend an die überlieferten Fakten halte. Wie damals üblich tragen alle Nachnamen von Frauen die Endung -in. Die Anrede Frau und Herr für gewöhnliche Leute war noch nicht geläufig.
Meister Frantz Schmidt: der Nachrichter, also Henker, von Nürnberg.
Maria Schmidtin: Ehefrau von Frantz, wird auch als Henkerin bezeichnet.
Frantz Stefan, Marie, Rosina und Jorgen Schmidt: Kinder von Frantz und Maria.
Apollonia Hofferin: Magd der Schmidts.
Augustin Ammon: der ehemalige Löwe, wie man den Henkersknecht in Nürnberg nannte, Ehewirt von Agnes.
Klaus Kohler: Nachwuchslöwe und Ehewirt von Bernadette Kohlerin.
Maximilian (Max) Leinfelder: Stadtknecht und Ehewirt von Katharina (Kathi), Vater von Ursula (Ursel).
Michel Hasenbart: Stadtknecht und Freund von Max Leinfelder.
Hieronymus Paumgartner: vorderster Losunger und Hauptmann der Reichsstadt Nürnberg.
Andreas II. Imhoff: Ratsherr, Schöffe und zweiter Hauptmann sowie Losunger mit Suspens, das heißt, er muss vorläufig nur im Notfall dieser Aufgabe nachkommen und darf weiterhin seine Geschäfte führen.
Julius Geuder: dritter Hauptmann und Ratsherr.
Ernst Haller: Ratsmitglied und Kriegsherr.
Paul Pfinzing: Kartograf, Kaufmann, Ratsherr.
Laurenz Dürrenhofer: ehemaliger Lochschreiber, jetzt in der Registratur beschäftigt.
Jeronymus Praun: Nachfolger als Lochschreiber.
Eugen Schaller, unterstützt von seiner Frau Anna Schallerin: Lochhüter, liebevoll auch Lochwirt genannt; oberster Aufseher im Lochgefängnis.
Benedikt: Lochknecht, also Wächter im Lochgefängnis.
Christoph Scheurl: Bannrichter der Reichsstadt Nürnberg.
Gabriel Wolff: Erzbetrüger, der auch manchen Nürnberger Patrizier erfolgreich narrte.
Wolf Trechsel: Nürnberger Bürger und Stiefvater von Gabriel Wolff.
Doktor Ludwig Casimir Hugwerner: Kommissar des Reichskammergerichts.
Doktor Simon Eisen: Hofrat und Vertreter des Markgrafen Georg Friedrich von Brandenburg-Ansbach.
Georg Nöttelein: Kartenmaler, der wertvolle Vorarbeiten für Paul Pfinzing geleistet hat.
Lorenz Stoer: Maler und Grafiker, der neben Wenzel Jamnitzer und Johannes Lencker zu den drei Nürnberger Meistern der perspektivischen Darstellung gehörte.
Glossar
Atzung: Geld, das Gefangene für ihre Kost bezahlen mussten.
Auszehrung: Tuberkulose, Schwindsucht.
Carolina: Abkürzung für Constitutio Criminalis Carolina. Die Peinliche Halsgerichtsordnung von Kaiser Karl V. im Jahr 1532 erlassen war das erste deutsche Strafgesetzbuch.
Fallsucht: Epilepsie.
Garaus: Torschluss.
Keuche: Gefängniszelle.
Knollfink: Beschimpfung für einen tölpelhaften oder dummen Menschen.
Loch(gefängnis): Verlies unter dem Rathaus, das als Untersuchungsgefängnis diente. Hier wurden auch Delinquenten festgehalten, die auf ihre Hinrichtung warteten.
Lochwirt: Lochhüter, oberster Gefängniswärter im Loch.
Losunger: Der vorderste Losunger war der mächtigste Mann der Stadt, zuständig für Finanzen und Verteidigung, da er gleichzeitig einer der drei obersten Hauptleute war. Unterstützt wurde er vom zweiten Losunger und von Mitarbeitern in der Losungsstube.
Löwe: Henkersknecht. Es gibt verschiedene Theorien dazu, wie der Henkersknecht zu seinem Spitznamen kam, den es so nur in Nürnberg gab, allerdings überzeugt keine so recht. In Bamberg hieß der Henkersknecht beispielsweise Peinlein.
Lues: Syphilis.
Mark, Markgraf: Als Mark wurde das Grenzland eines Reichs bezeichnet, so zum Beispiel die Mark Brandenburg. Davon leitete sich der Adelstitel Markgraf ab, der über dem eines Grafen rangierte und dem eines Fürsten entsprach. Deshalb wurde Markgraf Georg Friedrich sowohl als Fürst wie auch als Markgraf bezeichnet.
Marxbruder: Angehöriger der ältesten Fechtbruderschaft, benannt nach dem heiligen Sankt Marx (Markus).
Nachrichter: So wurde der Scharfrichter in Nürnberg und in anderen Gebieten genannt, da er nach dem Richter seines Amts waltete.
Petschaftring: großer Siegelring.
Policey: Gesellschaftliche Ordnung, meist wurde das Wort in Zusammenhang mit guter Policey verwendet.
Prisaun: Gefängnis, meist zur kurzfristigen Verwahrung von Delinquenten. Im Närrischen Prisaun wurden Geisteskranke verwahrt, die für sich oder ihre Umwelt eine Gefahr darstellten.
Torquieren: foltern, martern, peinlich befragen.
Tummel: Alkoholrausch.
Über den Löffel balbieren (auch barbieren): betrügen.
Urgicht: Geständnis.
Vogelherd: Falle zum Fangen von Vögeln für den Verzehr oder als Haustiere.
Waidwerk: Wild.
Welschland: Frankreich.
Die Himmelsrichtungen wurden damals nach dem Sonnenstand bezeichnet, was sich bis heute in Begriffen wie Morgenland und Abendland erhalten hat.
Mitternacht: Norden.
Morgen/Aufgang: Osten.
Mittag: Süden.
Abend/Niedergang: Westen.
Kalender alten Stils: Julianischer Kalender, der in protestantischen Gebieten weiterhin verwendet wurde, nachdem Papst Gregor XIII. im Jahr 1582 den neuen Kalender eingeführt hatte. Die Datumsangaben in diesem Roman entsprechen dem julianischen Kalender, der in Nürnberg galt, obwohl er zehn Tage zurücklag. Inzwischen sind es bereits dreizehn Tage.
Karte von Nürnberg
Kapitel 1: Der Petschaftring
Augsburg am Freitag, den 7. September 1593
Nach einem anstrengenden Tag im Augsburger Handelskontor seiner Familie hockte sich Paul Pfinzing mit seinem Knecht an einen der kleineren Tische beim Weinschenk nahe dem Rathaus. Er breitete die Landschaftskarte von Georg Nöttelein aus. »In zehn Tagen geht’s los, und ich hab noch nicht einmal diese Karte abgemalt, damit wir darauf die Vogelherde in den Nürnberger Reichswäldern eintragen können.«
Sein junger Knecht, der sich die strubbeligen dunkelbraunen Haare offenbar gebürstet, aber schon wieder zerzaust hatte, sah ihn überrascht an. »Wollt Ihr Euch gleich jetzt und hier an die Arbeit machen? Ich dachte, der Lorenz Stoer will sich mit Euch treffen.« Jakob blickte über die Schulter zum Eingang, ob der Mann vielleicht schon zur Tür hereinkam.
»Durchaus, aber der gute Stoer verspätet sich wohl, da will ich keine Zeit vergeuden.«
Der Schankknecht kam ungefragt mit einem Krug Wein und zwei Bechern an den Tisch. »Soll’s auch was zu essen sein?«
Beide nickten sie. Paul fragte vorsichtshalber doch: »Was gibt’s denn?«
»Eine Brotzeit mit geräuchertem Schinken, Käse, Brot und Leberwurst.«
»Gut.« Paul blickte nun selbst zur Tür. Immer noch kein Anzeichen von Stoer. Der Meister der perspektivischen Darstellung war der Einzige, dem er zutraute, seine Arbeit zu bewerten. Wenn er nur etwas mehr Zeit hätte, aber in gut einer Woche mussten sie bereit sein, mit Vertretern des Markgrafen von Brandenburg und Ansbach sowie des Reichskammergerichts zu Speyer alle Vogelherde auf Nürnberger Herrschaftsgebiet zu verzeichnen. Er begann, die derzeit zuverlässigste Karte des Territoriums auf leicht durchscheinendes Papier abzumalen, das er schlicht darüberlegte. »Wir brauchen nur die wichtigsten Orientierungspunkte, Ortschaften und natürlich Grenzverläufe«, murmelte er vor sich hin, mehr um sich selbst zu beruhigen, als um seinem Knecht die Dinge zu erklären.
Da warf jemand direkt neben ihm einen Schatten auf die Karte. »Du bist Landschaftsmaler?«, ertönte eine wohlklingende Männerstimme, nicht die gealterte, kratzige Stimme Stoers.
Paul blickte sich um. Ein gut, aber schlicht gekleideter junger Mann schaute auf ihn herab und meinte: »Einfach abmalen ist aber keine Kunst.«
Da seufzte Paul. »Stimmt, aber die Karte brauche ich nur für dokumentarische Zwecke. Mein umfangreiches Kartenwerk zum Nürnberger Gebiet mit vielen Details werde ich hoffentlich nächstes Jahr an den Tag geben können.«
Der Mann räusperte sich. »Nürnberg? Du … Ihr seid aber nicht etwa Paul Pfinzing?«
»O doch, der bin ich.« Paul erhob sich und stellte fest, dass der Bursche mit den leuchtend blauen Augen und den fast schwarzen Haaren ihn um etwa eine Handbreit überragte. »Und wer fragt mich das?« Hatte Lorenz Stoer den Kerl geschickt?
»Ähm, ich bin der Gustl Furtwängler, ein Briefmaler, deshalb hat mich interessiert, was Ihr hier zeichnet. Ich muss sagen, es ist mir eine Ehre.« Artig verbeugte sich der Mann. »Was ich von Eurer Arbeit bisher gesehen habe, ist von unglaublicher Genauigkeit.«
»Danke, aber genug der Lobhudelei. Wenn du ein Briefmaler bist, kannst du mir die Karte womöglich schneller abmalen als ich, vor allem da ich noch jemanden erwarte.«
»Wen denn, mein lieber Pfinzing?«, ertönte da die bekannte kratzige Stimme.
»Ah, Stoer, schön, dass Ihr es doch einrichten könnt. Mir sind schon Zweifel gekommen.«
»Doch nicht Lorenz Stoer?« Der Briefmaler starrte den alten Meister der Perspektivkunst an.
Stoer wedelte mit der Hand. »Eben der, und jetzt lass uns allein.«
Da zuckten die Kiefermuskeln des Burschen vor sichtlichem Unwillen. Er blickte zu Paul. »Ein Gulden?«
»Passt.«
Furtwängler streckte die Hände nach Karte und angefangener Nachzeichnung aus, da bemerkte Paul den Ring am Finger des Mannes. Das Wappen machte ihn zu einem Petschaftring. Paul fasste den Mann am Handgelenk und betrachtete das Schmuckstück genauer, fischte eine Vergrößerungslinse aus seiner Westentasche und erkannte eindeutig das Wappen der Fürer. »Woher hast du den?«
»Fam…, von einem Pfandleiher gekauft.«
Wollte er etwa behaupten, es sei ein Familienerbstück? Paul musterte ihn misstrauisch, doch es dauerte nur einen Augenblick, bis der Kerl gestand.
»Sonst sag ich gern, dass es ein Familienwappen ist und ich ein wichtiger Mann bin, aber Euch will ich nicht anflunkern.«
»Das ist gut, denn ich hätte es dir auch nicht geglaubt. Was verlangst du für den Ring?«
»Wie? Ihr wollt ihn kaufen?« Gustls Miene verfinsterte sich. »Aber hoffentlich kein Schindluder damit treiben, oder doch?«
Paul lächelte erleichtert in Anbetracht des entsetzten Gesichts. Der Kerl war offenbar kein Schurke. »Sicher nicht, ich will ihn der Familie Fürer zurückgeben.« Er tippte mit dem Zeigefinger auf das Wappen. »Das ziert ihren Schild.«
»Ah, dann ist es ja gut! Ich hab zwanzig Gulden dafür bezahlt. Bekomme ich vielleicht noch einen Finderlohn obendrauf?«
»Ist recht, fünfundzwanzig Gulden für den Ring und die Karte.«
»Sehr gern, Herr.« Er streifte den Ring ab, reichte ihn Paul und hob Karte und Griffel auf. Damit begab er sich zu einem anderen Tisch und begann seine Arbeit.
Stoer hatte sich inzwischen gesetzt und sah ihn verwundert an. »Was war jetzt das?«
»Ein Briefmaler. Er wird mir Nötteleins Karte kopieren, damit ich die auf die Reise mit dem Kommissar des Reichskammergerichts und dem Vertreter des Markgrafen mitnehmen kann. Ihr haltet die doch auch für die akkurateste, bis ich mit meinem Atlas fertig bin?«
»Selbstverständlich. Eine genauere Arbeit habe ich bisher nur auf Eurem Zeichentisch gesehen, werter Pfinzing, doch wenn Ihr noch nicht fertig seid, muss wohl Nötteleins genügen.«
»Danke, Euer Lob weiß ich sehr zu schätzen.« Paul atmete tief durch. »Ich würde Euch zu gern bitten, uns zu begleiten, als unabhängiger Gutachter.« Fragend sah er Stoer an.
»Auf meine alten Tage noch? Äußerst ungern, aber wenn sich der Markgraf nicht auf Eure Expertise verlassen will, ist er ein Esel, und ich werde mich wohl oder übel zur Verfügung stellen. Das heißt, wenn der Rat zustimmt, schließlich ist manch einer der Herren mir nicht mehr recht wohlgesinnt, seit ich das Bürgerrecht zurückgegeben habe und nach Augsburg gezogen bin.«
»Hm, das darf kein Hinderungsgrund sein. Ich danke Euch schon jetzt im Namen der Reichsstadt und hoffe ebenfalls, dass es nicht nötig sein wird!« Paul stieß mit Stoer an und freute sich schon auf die Brotzeit, denn der Alkohol stieg ihm bereits in den Kopf. »Darf ich Euch nach dem Essen meine neuesten Landschaftsmalereien aus dem Nürnberger Land zeigen?«
Stoer grinste und entblößte dabei zwei Zahnlücken. »Nur deswegen bin ich hergekommen.«
Da endlich brachte die Küchenmagd die Brotzeit sowie drei Bretter und Messer. Nachdem sie alles verspeist hatten, stapelte Jakob die Bretter aufeinander und schaffte Platz. »Dann hole ich die jüngsten Werke aus dem Zimmer?«
»Ja bitte. Und entschuldige mich bei der Familie Welser, weil es noch etwas dauern wird, bis ich meinen gesellschaftlichen Pflichten als Gast nachkommen kann.«
»Und ich dachte schon, Ihr seid in der verlausten Herberge nebenan untergekommen«, meinte Stoer.
»Um Himmels willen. Wenn ich schon mal in Augsburg bin, will ich an alte Freundschaften anknüpfen. Wir könnten natürlich auch bei den Welser die Zeichnungen anschauen, aber ich möchte noch auf die Karte warten.« Er sah sich nach diesem Furtwängler um, reckte den Hals und befand, dass der noch nicht einmal die Hälfte geschafft hatte. »Und das dauert wohl noch länger.«
»Hier ist es immerhin angenehm und wir stören niemanden mit unserem Gerede über die richtige Perspektive und die besten Messgeräte«, meinte Stoer.
»Stimmt, ich hab mir übrigens den Umdrehungszähler geschickter am Wagen befestigt. Der ist mir ja des Öfteren abgefallen.«
Der Schankknecht stellte einen frischen Krug Wein auf den Tisch und wartete einen Moment, ob jemand protestieren würde. Paul nickte ihm zu und deutete auf das Geschirr. »Nimm das bitte gleich mit, wir werden etwas mehr Platz brauchen. Eine zweite Talglampe wäre auch nicht verkehrt.« Er legte das Geld für den Wein auf den Tisch.
»Die nächste Runde geht auf mich«, meinte Stoer.
»Ach was, ich muss Euch doch dankbar sein für Euer verständiges Urteil. Ich weiß auch nicht recht, ob ich noch mehr trinken sollte. Morgen gibt es einiges zu tun.«
Als Jakob zurückkehrte, fegte er mit seinem gepufften Ärmel die Krumen vom Tisch und hätte beinah den Petschaftring der Fürer mit weggewischt. Gerade rechtzeitig merkte er es und reichte ihn Paul.
»Den stecke ich lieber gleich ein.« Er schob ihn zum Vergrößerungsglas in die Westentasche und half dabei, die zusammengerollten Bögen auf dem Tisch auszubreiten.
Natürlich tranken sie doch noch einen Krug Wein, während Paul voller Begeisterung seine Arbeit erklärte. Stoer wirkte ehrlich beeindruckt von den detailgetreuen Abbildungen von Häusern und Bäumen.
Irgendwann wurden sie von dem Briefmaler unterbrochen. »Ich wäre jetzt fertig, aber wenn ich mir Eure Karten so anschaue, dann will ich meine lumpige Strichelei gleich ins Feuer werfen.«
»Zeig her.« Gar nicht so schlicht gehalten, wie Paul erwartet hätte. »Genügt meinen Zwecken völlig.« Er rollte Original und Kopie zusammen und reichte sie Jakob. »Wo finde ich dich, falls ich noch was brauche?«
Kurz zögerte der Bursche. »Ich arbeite für den Briefmaler Wallner am Obstmarkt.«
»Gut, dank dir.« Er zählte ihm die fünfundzwanzig Gulden auf den Tisch. »Und falls du dich eines Tages in Nürnberg niederlassen willst, melde dich bei mir. Gute Maler kann ich immer brauchen.«
Furtwängler lächelte, nickte, steckte das Geld ein und ging.
Stoer beugte sich wieder über Pauls Kartenblatt auf dem Tisch. An zwei Stellen bemängelte er perspektivische Ungenauigkeiten und machte Vorschläge, wie Paul diese am besten korrigieren konnte. Erst als der Wirt begann, die leeren Krüge und Becher einzusammeln, packte Jakob auf Pauls Zeichen hin die Blätter wieder sorgsam ein, und sie erhoben sich.
»Noch einmal herzlichen Dank für Eure Zeit und Eure Adleraugen.«
Stoer lachte. »Ich bin ja froh, dass ich solche Feinheiten noch erkennen kann. Aber sagt, was hat es eigentlich mit dem Petschaftring auf sich?«
» Genaues weiß ich auch nicht, aber der Jakob Fürer ist doch in Istanbul an der Pest gestorben, und seinem Leichnam hat der Siegelring gefehlt, den der Mann immer getragen hatte. Die Familie wird sich freuen, wenn sie ihn zurückbekommt, und mir das Geld sicher gern erstatten.«
»Davon, dass damit irgendwelche Betrügereien begangen wurden, ist Euch nichts bekannt?«, fragte Stoer und schaute sich in der sich leerenden Gaststube um.
»Nein, aber das muss nicht viel heißen. Ich hab wenig Zeit, in der Herrentrinkstube herumzuhocken und mir Klatsch und Tratsch der Kaufmannschaft anzuhören. Wundern würde es mich allerdings nicht, wenn jemand damit italienische Wechsel gefälscht hätte, die auch bei uns in vielen Handelskontoren akzeptiert werden. Der Maler kam mir allerdings viel zu ehrlich vor und womöglich auch zu unbedarft, um zu verstehen, was er damit alles hätte anstellen können.« Er befingerte den Ring und schwor sich, gut darauf aufzupassen.
»Bestimmt habt Ihr recht.« Sie gingen nach draußen, und Paul sog gierig die kühle Nachtluft ein. Müsste er sich nicht mit dem Markgrafen herumschlagen, würde er sich tatsächlich darauf freuen, all die Vogelherde zu verzeichnen und draußen in der Natur zu sein.
Sie verabschiedeten sich, und Paul machte sich mit Jakob zum Anwesen der Welser auf, die nah verwandt mit der Nürnberger Familie gleichen Namens waren. Der Herr des Hauses erwartete ihn freundlich lächelnd und lud ihn zu einem Branntwein ein. Paul winkte ab. »Lieber nicht, ich hab schon einen Krug Wein intus, aber schaut Euch mal an, was ich heute bekommen habe.« Er holte den Siegelring heraus und reichte ihn Welser.
»Pardauz, das Wappen der Fürer. Woher habt Ihr den?«
Während Paul vom Briefmaler erzählte, wurde Welser immer blasser, dann lief er rot an und schickte seinen Knecht zu den Ordnungshütern. Der Briefmaler Gustav Furtwängler, Geselle des Meister Wallner am Obstmarkt, müsse festgesetzt werden.
Besorgt sah Paul ihn an. »Übertreibt Ihr da nicht etwas?«
»Lieber einmal zu vorsichtig als mehrfach über den Löffel balbiert!« Der Mann lief in der guten Stube auf und ab, bis der Knecht zurückkam – mit der ernüchternden Botschaft, dass es am Obstmarkt weder einen Briefmaler Wallner noch einen Furtwängler gab.
Paul sank in den gepolsterten Stuhl. »Jetzt wäre mir doch ein Glas Branntwein ganz angenehm.« Was war er doch für ein leichtgläubiger Knollfink!
Kapitel 2: Ein Starstich
Nürnberg am Samstag, den 15. September 1593
Frantz Schmidt staunte nicht schlecht, als ein alter gebeugter Mann und eine sehr junge Frau vor seiner Tür standen. Die Maid zog ein lebendiges Karnickel an den Löffeln aus einem Hanfsack und hielt ihn ihm entgegen, während der Alte fragte: »Meister Frantz?«
»Ja.« Unwillkürlich streckte Frantz die Hände nach dem flauschigen Tier aus, nahm es auf den Arm und kraulte es im Nacken. Die langen Löffel zuckten und legten sich dann langsam zurück.
»Ein feiner Sonntagsbraten, wenn Ihr ihn noch ein paar Wochen gut füttert!«, sagte der schmächtige Mann in praktischer Arbeitskleidung und mit einer Fellkappe auf dem Kopf, unter der nur noch wenige dünne Haare hervorlugten.
Frantz lächelte und fragte: »Und was muss ich dafür tun?«
Der Alte blinzelte ihn aus trüben Augen an. Das eine tränte und öffnete sich gar nicht wirklich, da schwante Frantz bereits, was passiert sein musste. Die junge Frau stützte den Alten an einem Ellbogen und schaute eher verkniffen drein, doch ihr Blick war fest und die grauen Augen klar. Es schien, als wollte sie diese am liebsten verdrehen und dazu aus tiefstem Herzen seufzen, aber nicht weil sie ein Leiden plagte. Sie trug keine Haube, war also noch nicht verheiratet, das lange hellbraune Haar hatte sie ordentlich zu einem Zopf mit bunten Bändern geflochten. Die rosigen Wangen bestärkten ihn endgültig in seiner Einschätzung, dass die Maid nicht seine Patientin war.
Da keiner mit der Sprache herausrücken wollte, trat Frantz zurück und wies zu den Stühlen in der guten Stube. »Kommt herein.« An den Alten gewandt, sagte er: »Erzähl, was dir fehlt, abgesehen davon, dass eins deiner Augen anscheinend entzündet ist und du mit dem anderen kaum noch was siehst.«
Der Mann nickte. »Das habt Ihr ganz richtig erkannt.« Nun zog er sogar den Kopf ein wenig ein. »Ich war beim Starstecher …«
Die junge Frau half ihm, sich zu setzen, und seufzte nun wirklich. »Ausgerechnet bei einem fahrenden Barbier war der Großvater. Dieser Lump ist inzwischen natürlich längst wieder weitergezogen.«
Das Karnickel begann, in seinen Armen zu zappeln, also schloss Frantz die Tür und setzte es auf den Boden. Dann hob er vorsichtig das gerötete Augenlid des Mannes an und blickte auf die durchgestoßene Linse, die halb ins Auge gedrückt war, aber ein Stück herausstand. Bevor er es merkte, hatte er sein Gesicht schmerzlich verzogen, sodass die Enkelin scharf Luft einsog. »Ist es so schlimm?«, fragte sie.
Frantz atmete tief durch. »Sehr schlampige Arbeit. Gut wird das Auge nicht mehr, aber hoffentlich kriegen wir die Entzündung weg. Viel Besserung ist vom Starstechen sowieso nie zu erwarten. Das hat der Kerl hoffentlich ehrlich gesagt.«
Der Alte brummte. »Er hat gemeint, es könnt schon wieder gut werden, aber versprechen wollt er mir nichts.«
»Hm, wenigstens hat er nicht allzu sehr übertrieben. Der Pfuscher hat offenbar versucht, die trübe Haut abzukratzen, ist abgerutscht und hat die Linse durchstochen und halb ins Auge gedrückt. Gehen wir in den Turm.« Vorher öffnete Frantz die Tür zum angrenzenden Zimmer. »Maria, ich bin mit einem Patienten unten.«
Neugierig geworden kam sie mit dem kleinen Stefla auf den Armen und ihren zwei Töchtern an den Rockzipfeln in die Stube. »Wer ist es denn? Ach, der Weizer. Grüß dich.« Dann verdüsterte sich ihre Miene. »Du hast dir hoffentlich nicht den Star stechen lassen?«
»Doch, Maria, du hast ja gesagt, dass dein Mann so was nicht macht, deshalb bin ich zu einem Wundarzt.«
»Einem Fahrenden«, fügte die Maid grimmig hinzu.
Maria schüttelte den Kopf. »Dabei hab ich dir noch gesagt, dass das nicht viel helfen kann, aber sehr gefährlich ist!«
»Schau, Rosina!«, rief die kleine Marie, und schon sprangen die Mädchen an ihr vorbei zum Karnickel und scheuchten es herum. Marias Gesicht heiterte sich auf. »Ja, was haben wir denn da?«
»Das Vieh gibt einen schönen Braten, weil ich doch kein Geld übrig hab«, erklärte Weizer.
»Nein!«, rief Rosina. »Kein Braten, den behalten wir zum Spielen.«
Als hätte das Tier jedes Wort verstanden, ließ es sich jetzt fangen und hochheben. Entzückt streichelten die Mädel das flauschige Fell.
Frantz lächelte Maria an. Da stand ihnen eine Herausforderung bevor, wenn es Zeit wurde, das Tier zu schlachten.
»Das ist ja schön«, sagte sie mit mangelnder Begeisterung, weil sie sich vermutlich vorstellte, wie das Tier eines Tages an Altersschwäche bei ihnen verendete. Dann fragte sie: »Du brauchst einen Kamillentrank, um das Auge damit zu spülen?«
»Genau, brühst du ihn auf?«
»Freilich.«
Frantz strich sich nachdenklich übers bärtige Kinn. »Und dann versuche ich, die Linse entweder herauszuziehen oder ganz reinzudrücken. Beides sollte für dich jedenfalls angenehmer sein als der jetzige Zustand.«
»Wird’s wehtun?«, fragte Weizer mit brüchiger Stimme.
»Wahrscheinlich nicht so sehr wie beim ersten Stechen, aber ich kann dir trotzdem vorher Bilsenkraut geben.«
Gefasst nickte der Alte.
»Ich mach den Kräutertrank«, sagte Maria. »Hab erst vor ein paar Tagen am Hochgericht Kamille gesammelt und getrocknet.«
»Arnikasalbe haben wir noch genug?«, fragte Frantz.
»Ich denke schon«, antwortete Maria.
»Wo ist Apollonia?« Seine Magd kannte vielleicht auch noch Kräuter, die helfen konnten. Schließlich hatte sie früher für ein Kräuterweib gearbeitet.
»Die ist auf der Suche nach Pilzen. Ist ja gerade bestes Wetter dafür.«
»Ich hab am Samstag einen halben Korb voll Steinpilze gesammelt. Lecker waren die!«, meinte die Enkelin des Patienten, warf aber einen unsicheren Blick zum angrenzenden Turm und fragte dann: »Kann ich was helfen, Maria?«
»Du kannst den Stefla im Blick behalten, Traudl. Mit seinen gut zwei Jahren kommt er schon fast überall hin und fürchtet sich vor nichts. Eigentlich sollte er müde werden und schlafen, aber jetzt ist zu viel los.« Der kleine Schelm hatte inzwischen auch das Karnickel bemerkt, streckte die Arme nach ihm aus und zappelte, um sich aus Marias Armen zu befreien.
»Das mach ich.« Traudl kniff Stefla in die Wange und nahm ihn Maria ab. »Du bist schon ganz schon feist.«
Der Bub patschte ihr ins Gesicht. »Feisss!«
»Und wir bauen dem Karnickel in der Küche ein Haus!«, rief Rosina. »Aus lauter Holzscheiten. Da ist es schön warm.«
Und nicht weit in die Bratröhre, dachte Frantz, verkniff sich aber jeden Kommentar.
»Nichts da«, sagte Maria. »Das kommt eher in den Turm, da ist es nicht im Weg.«
»Aber da ist es im Winter kalt«, protestierte sein vorwitziges Töchterlein.
Maria wollte etwas sagen – vermutlich, dass es den Winter nicht mehr erleben würde –, stockte aber und antwortete stattdessen: »Dafür hat es doch ein dickes Fell.«
»Ach so.« Rosina lächelte zufrieden und presste das Tier an sich. Womöglich würde sie das Karnickel erdrücken, bevor es ganz ausgewachsen war. Die kleinere Marie reckte die Arme, um es auch mal zu halten, doch Rosina lief mit ihm davon durch die ganze Zimmerflucht.