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Freie Reichsstadt Nürnberg 1589: Während die halbe Stadt Meister Frantz beim Richten eines Vatermörders zusieht, flieht die inhaftierte Magdalena Reichlin aus dem Froschturm. Dabei läuft sie ausgerechnet der Henkerin über den Weg. Als Ehewirtin des Nachrichters müsste Maria Schmidtin sofort Alarm schlagen, doch der aufgelöste Zustand der jungen Frau und das zerrissene Kleid lassen sie zunächst zaudern. Was sie von Magdalena erfährt, wühlt eine längst vergessen geglaubte Geschichte aus ihrer eigenen Vergangenheit auf. Ihr Mann muss helfen! Schließlich steht Wort gegen Wort. Lassen sich Schimpf und Schande für Magdalena noch abwenden?
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Inhaltsverzeichnis
Karte von Nürnberg
Handelnde Personen
Glossar
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Nachwort
Über die Autorin
Impressum
Historische Figuren sind kursiv gesetzt. Sie werden in diesem Roman fiktional verwendet, obwohl ich mich weitgehend an die überlieferten Fakten gehalten habe. Wie damals üblich tragen alle Nachnamen von Frauen die Endung -in. Die Anrede Frau und Herr für gewöhnliche Leute war noch nicht geläufig.
Meister Frantz Schmidt: der Nachrichter, also Henker, von Nürnberg.
Maria Schmidtin: Ehefrau von Frantz, die auch als Henkerin bezeichnet wurde.
Maria, Rosina und Jorgen Schmidt: Kinder von Frantz und Maria.
Augustin Ammon: der Löwe, wie man den Henkersknecht in Nürnberg nannte.
Klaus Kohler: Nachwuchslöwe.
Maximilian (Max) Leinfelder: Stadtknecht und Ehewirt der heimlichen Kundschafterin Katharina (Kathi) Leinfelderin.
Magdalena Reichlin: Tochter des Münzmeisters und Gefangene im Froschturm.
Hans Reichl: Ehewirt der Magdalena.
Gabriel Herel: Schneider und Hüter des Froschturms.
Walburga und Friedrich Reichart: Bauersleute in Mögeldorf und Freunde der Schmidts und Leinfelders.
Hieronymus Paumgartner: erster Losunger und Hauptmann.
Andreas II. Imhoff: Ratsherr, Schöffe und zweiter Hauptmann sowie Losunger mit Suspens, das heißt, er muss vorläufig nur im Notfall dieser Aufgabe nachkommen und darf weiterhin seine Geschäfte führen.
Eugen Schaller unterstützt von seiner Frau Anna Schallerin: Lochhüter, liebevoll auch Lochwirt genannt; oberster Aufseher im Lochgefängnis.
Benedikt: Lochknecht, also Wächter im Lochgefängnis.
Karl Schlüsselfelder und Christoph Tucher: Stadträte und derzeit Lochschöffen.
Laurenz Dürrenhofer: Lochschreiber.
Atzung: Geld, das Gefangene für ihre Kost bezahlen mussten.
Fraisch: Blutgericht, Hochgerichtsbarkeit.
Garaus: Torschluss.
Glimpf: gute Art, Anstand, Schonung, Mäßigung.
Keuche: Gefängniszelle.
Loch(gefängnis): Verlies unter dem Rathaus, das als Untersuchungsgefängnis diente. Hier wurden auch Delinquenten festgehalten, die auf ihre Hinrichtung warteten.
Lochwirt: Lochhüter, oberster Gefängniswärter im Loch.
Losunger: Der Vorderste Losunger war der mächtigste Mann der Stadt, zuständig für Finanzen und Verteidigung, da er gleichzeitig einer der drei obersten Hauptleute war. Unterstützt wurde er vom zweiten Losunger und von Mitarbeitern in der Losungsstube.
Löwe: Henkersknecht. Es gibt verschiedene Theorien dazu, wie der Henkersknecht zu seinem Spitznamen kam, den es so nur in Nürnberg gab, allerdings überzeugt keine so recht. In Bamberg hieß der Henkersknecht beispielsweise Peinlein.
Nachrichter: So wurde der Scharfrichter in Nürnberg und anderen Gebieten genannt, da er nach dem Richter seines Amtes waltete.
Sterbenslauf: Seuche, Epidemie, die viele Menschen dahinraffte und dann ausklang.
Urgicht: Geständnis.
Donnerstag, den 23. Oktober 1589
Maria Schmidtin legte Frantz den ausladenden Kragen um, während ihr Sohn Jorgen sie aufmerksam beobachtete. Im Alter von fünfeinhalb Jahren schnappte der Bub allerlei über die Arbeit seines Vaters auf und spürte, wenn ein Richttag bevorstand.
Frantz ging zum Schrank, in dem er das Schwert aufbewahrte. »Ich glaub’s zwar nicht, doch vielleicht wird der schändliche Vatermörder doch zum Tod durch Enthauptung begnadigt.« Er warf Jorgen einen Blick zu, dann flüsterte er in Marias Ohr: »Ich werde hinterher mit ihm reden.«
»Jemand muss diese Arbeit verrichten.« Und Frantz war sehr gut darin, genoss immer größeres Ansehen in der Stadt. Auch sie hatte sich den Respekt der Nürnberger erarbeitet, obwohl sie beide zu den Ehrlosen gehörten.
Ihr Mann atmete tief durch und gürtete sich das Schwert um. Jorgen trat näher. »Heute bringst du einen Menschen um?«
Er nickte. »Frantz Seuboldt hat seinen eigenen Vater getötet. Der war Vogelfänger und ist im Wald auf einen Baum gestiegen, um seinen Lockvogel herunterzuholen. Da hat ihn sein Sohn erschossen.«
Jorgen öffnete den Mund, blickte zu Maria. »Den eigenen Vater?«
Sie nickte.
Frantz fügte hinzu: »Vorher hat er zweimal versucht, ihn zu vergiften.«
»Böse«, flüsterte Jorgen. »Darf ich zuschauen?«
Frantz verzog das Gesicht. »Heute nicht, aber vielleicht nächstes Mal, wenn ich jemanden mit dem Schwert richten muss.«
»Ja«, pflichtete Maria ihm bei. »Ein andermal.« Seuboldt sollte auf dem Weg zur Richtstätte auch noch drei Griffe mit der glühenden Zange bekommen. Maria lief ein Schauder über den Rücken. Nichts für einen kleinen Jungen, selbst wenn andere Eltern schon jüngere Kinder mit zu Hinrichtungen nahmen.
»Ich muss jetzt zum Rathaus.«
Maria strich ihrem Mann das lange dunkelblonde Haar aus dem Gesicht und setzte ihm den hohen Hut auf. Er küsste sie auf die Wange und verließ die Wohnung. Wie an jedem Richttag trat sie ans Fenster und sprach ein stummes Gebet für ihn, während sie ihm nachschaute, wie er über den Säumarkt schritt, das Haupt hoch erhoben, mit den langen Beinen weit ausholend.
Jorgen nahm ihre Hand. »Warum muss ausgerechnet Vater die bösen Menschen töten?«
»Sein Vater war auch schon Henker. Den hat der damalige Markgraf von Brandenburg-Ansbach dazu gezwungen. Wenn man es einmal getan hat, fällt es danach leichter.« So hatte Frantz ihr erklärt, warum Meister Heinrich nach dem ersten unfreiwilligen Henken diesen Beruf ergriffen hatte, doch so recht einleuchten wollte es ihr nicht. Sie selbst hatte ihren Schwiegervater nicht sehr lange gekannt, aber Heinrich Schmidt war zutiefst religiös und dachte wohl, wenn er nach der ersten Tötung schon sein Seelenheil verwirkt hatte, dann konnte er auch weiter diese Arbeit machen, statt sie einem anderen aufzubürden.
Maria wandte sich vom Fenster ab. »Lass uns nachsehen, ob Bernadette Hilfe in der Küche braucht.«
»O ja, ich werd mal Koch!«, rief Jorgen begeistert, dann sah er sie unsicher an. »Darf ich das als Henkersbub?«
»Heutzutage schon, aber ob dich einer in die Lehre nimmt, ist eine andere Frage. Zuerst musst du sowieso in die Schule gehen, lesen und schreiben lernen.«
»Du kannst das auch nicht«, protestierte er.
»Stimmt, ich hoffe aber, dass ich mit dir mitlernen kann.«
»Na gut.« Der Bub rannte voraus zur Küche, wo Bernadette Wurzelgemüse putzte. Die Tür zum Schlafgemach stand offen. Maria schaute nach den beiden Mädchen, die im großen Bett schliefen. Marie, die jüngste, war mit eineinhalb Jahren im gefährlichsten Alter, konnte schon laufen, aber die Gefahren nicht einschätzen. Leise schloss sie die Tür, um die Maidlein nicht aufzuwecken. »Was gibt’s zu tun?«, fragte sie die Magd.
Bernadette zuckte die Schultern. »Nicht mehr viel.«
Da ertönten die Rathausglocken, das Zeichen für Frantz und die Stadtknechte, den armen Sünder vor den Richter und die Schöffen zu führen.
»Was ist mit dir, Maria?«, fragte Bernadette. »Du wirkst heute so ernst.«
Sie warf Jorgen einen Seitenblick zu, antwortete jedoch: »Die Sonne scheint gerade so schön, hab nur überlegt, ob ich nicht schnell mit dem Jorgla zum Frey geh und die neuen Schuh für ihn abhol. Der schaut sich ja auch nur selten Hinrichtungen an.«
»Ja, will die Schuh haben!«, rief ihr Sohn sofort.
»Dazu ist auf alle Fälle genug Zeit, und heut ist wahrscheinlich sonst keiner beim Schuster.«
»Genau, also los.« Maria klatschte in die Hände. »Zieh dich warm an, Jorgla.« Auch sie schlüpfte in den Mantel und tauschte die Haube gegen eine Wollmütze. Die Werkstatt des Schusters lag in der Nähe der Reichsveste, also weit weg vom Hochgericht, wo Frantz dem Vatermörder mindestens zwei Glieder brechen musste, bevor er ihm mit dem Rad die Brust zertrümmern und ihn töten durfte.
Je älter und verständiger der Bub wurde, desto mehr haderte Maria mit dem Beruf ihres Mannes. Frantz wäre ein guter Wundarzt geworden, wenn er den Beruf erlernen oder gar Medizin studieren hätte dürfen. Doch wahrscheinlich hätte er sie dann niemals geheiratet, arm und gut zehn Jahre älter als er.
»Da kommen wir auch an der Burg vorbei«, sagte sie verheißungsvoll.
»Ist der Kaiser da?«, fragte Jorgen, der zu gern einmal in den riesigen Bau hineingeschlüpft wäre und nicht verstand, dass dort niemand außer dem Verwalter und dessen Gesinde lebte.
»Nein, der ist ganz selten in Nürnberg und wohnt dann lieber bei einer der ratsfähigen Familien. Bei denen ist es nämlich gemütlicher.« Sie stiegen hinunter zum Säumarkt, auf dem an einem Richttag natürlich wenig los war. Auf dem Steg über den nördlichen Pegnitzarm wanderte ihr Blick zurück zur Brückenwohnung, die an den einstigen Wasserturm grenzte. Der wurde inzwischen als Gefängnis genutzt.
War es richtig, gefährliche Menschen umzubringen? Du sollst nicht töten, stand in der Bibel, doch sie setzten sich als Gemeinschaft regelmäßig darüber hinweg, und ihr Mann musste die Urteile vollstrecken. Man könnte üble Verbrecher auch einsperren, damit sie niemandem schadeten. Dazu müssten viel mehr Gefängnisse geschaffen werden und die anständigen Bürger für deren Unterhalt aufkommen, der Rat Sorge tragen, dass keiner entfloh. Sie seufzte. Auch keine Lösung. Und was wäre ein Leben hinter Gittern wert? Haftstrafen taugten nur, um kurzzeitig kleinere Vergehen zu bestrafen. Welch grausame Vorstellung, den Rest des Lebens in Gefangenschaft fristen zu müssen. Henker wurden gebraucht, nur sollte Jorgen keiner werden.
* * *
Hans Reichl schaute mit einer gewissen Genugtuung, aber auch Abscheu dabei zu, wie Meister Frantz den Vatermörder mit der glühenden Zange in die entblößte Seite zwickte. Einen erbarmenswerten Schmerzenschrei stieß der arme Sünder aus. Der junge Henkersknecht verzog das Gesicht, hielt jedoch tapfer die Kohlenpfanne für die Zange bereit. Nachdem der Nachrichter diese abgelegt hatte, trieb Augustin Ammon die Rösser an und lenkte den Wagen zum Frauentor.
Hans ließ den Strom der Prozession an sich vorbeifließen und wandte sich in Richtung Froschturm nahe der Burg. Hoffentlich konnte er einen Blick auf sein Weib erhaschen. Ob ihn der Turmhüter gar zu ihr ließ, wenn er freundlich darum bat? Er hatte Magdel vor drei Tagen hingebracht und wusste daher, hinter welchem Fensterladen ihre Keuche lag. Statt ans Tor zu klopfen, trat er auf die gegenüberliegende Straßenseite, hob einen Kiesel vom ungepflasterten Streifen zwischen Haus und Straße auf und warf ihn an den Fensterladen im zweiten Obergeschoss. Nichts rührte sich. Er suchte einen größeren Stein und schleuderte ihn hinauf. In dem Moment ging der Laden auf. Hans erschrak, doch das Geschoss flog am sich zeigenden Gesicht vorbei. Erleichtert atmete er auf. Das hätte eine hässliche Wunde geben können. Doch was machte Herel in Magdels Keuche?
»Wer ist da?«, rief der Turmhüter herunter.
Hans drehte sich mit dem Gesicht zur Hauswand. Was für eine blöde Idee! Schritte aus der anderen Richtung ließen ihn herumfahren. Eine Frau mittleren Alters und ein Junge von etwa sechs Jahren schlenderten an der Wehrmauer entlang. Der Bub trug offenbar nagelneue Schuhe, weil er immer wieder ein Bein hob und den Fuß drehte. Harmlos, befand Hans. Die Frau warf ihm allerdings einen misstrauischen Blick zu, als sie an ihm vorbeiging. Er bemühte sich um eine freundliche Miene und nickte ihr zu. Hoppla, das war die Henkerin! Ein schlechtes Vorzeichen? Sein Blick wanderte wieder zum Turm hinauf. Ein rotblonder Schimmer am Fenster! Huschte da Magdalena vorbei? Doch warum trug sie als verheiratete Frau die Haare nicht unter der Haube? Hans wurde unbehaglich zumute.
Der Turmhüter stürmte heraus auf die Straße, gerade als die Henkerin am Tor vorbeischritt. Flüchtig grüßte er sie, sah sich um, lief dann einige Schritte neben ihr her und redete auf sie ein. Bestimmt fragte er sie nach verdächtigem Gelichter. Oder plapperte er lieber über die heutige Hinrichtung und warum sie nicht ihrem Mann bei der Arbeit zuschaute? So klang es. Und der Bub zeigte ihm freudestrahlend die Schuhe.
Hans trat auf die Straße. Von der Schmidtin und ihrem Sohn abgelenkt schenkte Gabriel Herel ihm keinerlei Beachtung. Doch Magdalena hatte ihn bemerkt und winkte zum offenen Fenster heraus, nicht zum Gruß, sondern drängend. Kein Lächeln, kein Laut. Er musste sich zwingen, nicht zu ihr zu rennen, schlenderte vielmehr zum Eingang, hörte noch, wie der alte Herel zur Henkerin sagte, was für ein fesches Weib sie doch sei. Der Turmhüter sollte sich was schämen, sicher schon über sechzig und noch ein Schürzenjäger. Sein Unbehagen wuchs, als er in den düsteren Turm schlüpfte und die Holzleiter hinaufstieg. »Magdalena?«
»Hans? Hier bin ich«, ertönte es von weiter oben.
Im ersten Obergeschoss erblickte er zwei Zellen. In einer hockte ein zerlumpter Kerl, der ihn überrascht musterte, die andere war leer. Magdalena stieg mit geschürztem Rock die Leiter vom oberen Stockwerk herunter und eilte zu ihm. Sie war nicht eingesperrt, ihr Kleid vor der Brust aufgerissen, die Bluse schlampig zurechtgezupft.
»Was ist passiert?«, rief er entsetzt.
»Heda, lasst mich auch raus!«, rief der Gefangene.
Magdel schüttelte den Kopf. »Schnell, bring mich hier weg, Hans.«
Hastig stieg er die Stiege hinunter, Magdalena folgte schluchzend. Das Blut rauschte in seinen Ohren, während er sich ausmalte, was Herel mit seinem Weib angestellt haben mochte. Unten angelangt nahm er sie in die Arme. Doch sie wehrte ihn ab. »Weg, schnell weg.«
Hans ließ sie los, drückte langsam die Tür weiter auf und spähte auf die Gasse hinaus. Von Herel war in ihrer unmittelbaren Umgebung nichts zu sehen. Er nahm Magdalenas Hand und rannte mit ihr hinaus. Erst nach einigen Schritten hörten sie den Turmhüter rufen: »Halt! Stehen bleiben!«
* * *
Maria starrte dem Paar nach. Es war der Mann, der sich so verdächtig an die Hausmauer gedrückt hatte, doch wer war sie? »Eine Gefangene?«, fragte sie.
Herel nickte, machte aber keinerlei Anstalten, der Entsprungenen nachzusetzen.
»Kennt Ihr den Mann auch?«, fragte sie.
»Ihr Gemahl, der Schuft. Seinetwegen ist sie eingesperrt worden.«
»Was?«
»Ja, aber dazu darf ich nichts sagen.«
»Alsdann, es war schön, mit Euch ein Schwätzchen zu halten, doch ich nehme an, Ihr habt jetzt Wichtigeres zu tun.« Froh, den lästigen Kerl loszuwerden, zog sie Jorgen weiter. Bei der nächsten Gelegenheit wandten sie sich Richtung Fluss.
»Warum war die Gefangene nicht in einer Keuche eingesperrt?«
»Gute Frage, mein Sohn.« Den Gefängnisturm neben ihrer Wohnung samt Zellen hatte Jorgen letztes Jahr anschauen dürfen, deshalb verstand er, was vorgefallen war.
»Einfangen wollt er sie auch nicht.«
»Dazu war der alte Mann wohl zu faul.« Oder er fürchtete sich vor dem, was die zerzauste Frau aussagen würde. Falls die beiden aus der Stadt verschwinden wollten, nähmen sie bestimmt eines der Törlein, die kaum bewacht wurden. Dasjenige nach Wöhrd lag näher. »Komm, schauen wir mal, ob wir die zwei noch bei der Findel erwischen.«
»O ja!«, rief der Bub aufgeregt und sprang auf und ab.
»Die Schuhe drücken immer noch nicht?«
»Nein.« Da riss er sich los und rannte mit seinen kurzen Beinen voraus. Auch Maria beschleunigte ihre Schritte. Die Art, wie Herel sie vorhin angesehen hatte … Erst hatte sie gedacht, der gelernte Schneider würde ihr in Gedanken ein neues Kleid anpassen, doch vielleicht war das Gegenteil der Fall gewesen. Ihr drängte sich immer stärker der Verdacht auf, die Gefangene könnte einen triftigen Grund für ihre Flucht gehabt haben.
Vor der Findel fing sie Jorgen ein. »Hier warten wir ab.« Sie zog ihn in eine Seitenstraße. Und tatsächlich mussten sie nicht lange warten, bis die Eheleute vorbeispazierten, als hätten sie nichts zu befürchten. »Einen Augenblick, bitte«, sagte Maria sanft, doch die beiden zuckten zusammen. Schnell fügte sie hinzu: »Ich will euch nichts Böses.«
Vor allem die Frau warf ihr einen ängstlichen Blick zu. Maria sah jetzt deutlich die Risse in ihrem Kleid. »Wenn dir der Herel angetan hat, was ich glaube, musst du ihn anzeigen.«
»Ich kann nicht«, wimmerte sie, und ihr Mann schlang beschützend einen Arm um sie.
»Wer seid ihr?«, fragte Maria.
»Magdalena und Hans Reichl«, antwortete er. »Mein Weib ist die Tochter des Münzmeisters Paulus Dietherr. Magdel fürchtet die Schande, die eine Anzeige über die gesamte Familie bringt.«
»Du nicht?«, rutschte Maria heraus, obwohl es unverschämt war.
»Nicht genug«, antwortete er ernst.
Sie nickte. Das Paar musste erst einmal zur Besinnung kommen. »Versteckt euch in Mögeldorf beim Hauptmann Friedrich Reichart. Seine Frau hat einen Bauernhof am Ortsende. Bestellt den beiden Grüße von mir, Maria Schmidtin.«
Magdalenas Augen weiteten sich. »Hab mir schon gedacht, dass ich dich kenne. Du bist die Henkerin«, sagte sie beinah ehrfürchtig.
»Richtig, und ich freu mich auf den Tag, an dem mein Mann den Herel für seine Schandtaten bestraft. Beim Reichart seid ihr vorerst sicher. Er hat vor zwei Jahren die Liesl Rößnerin nach Nürnberg gebracht, statt sie seinem Dienstherrn, dem Markgrafen, zu überlassen, damit sie nicht lebendig verbrannt wird. Ein guter Mann, der niemandem Unrecht tut.«
»Danke«, antwortete Hans Reichl und zog sein Weib weiter. Ob sie wirklich zum Friedl gehen würden?
»Warum hast du sie laufen lassen?«, fragte Jorgen.
»Weil ich glaube, dass sie nichts Schlimmes verbrochen hat.« Außerdem hätte sie allein die beiden nicht verhaften können. »Gehen wir nach Hause.«
* * *
Frantz fragte den armen Sünder: »Willst du noch etwas zu den Leuten sagen?«
Verheult und doch trotzig schaute Seuboldt sich um. »Zu denen? Nein. Die haben meinen Vater nicht gekannt. Er hat’s verdient.«
Frantz verabscheute den hinterhältigen und gleichzeitig so dummen Kerl. Drei Mordversuche, bis er es endlich schaffte, den eigenen Vater umzubringen, und dabei verlor er am Tatort einen Handschuh, den der Schneider zu Gräfenberg erst am Vortag geflickt und deswegen sofort erkannt hatte. »Dann leg dich hin.«
Seuboldt schaute zum Richter, als hoffte er immer noch auf eine Begnadigung zum Tod durch das Schwert. Da begann er doch zu sprechen: »Ich bereue zutiefst! Ich habe eine der schlimmsten Sünden begangen. Habt Erbarmen und betet für mich!«, flehte er und schaute noch einmal zu Richter und Schöffen, doch die wirkten unbeeindruckt. Aus der Menge drang anerkennendes Gemurmel.
»Zu schändlich war deine Tat«, sprach Frantz. »Doch ich muss dir nur zwei Glieder brechen bis zum tödlichen Stoß, also jammere nicht.«
Klaus Kohler trat zu ihm. »Müssen wir ihn niederwerfen und gewaltsam binden?«
Frantz sah den Verurteilten fragend an. Endlich sank dieser vor Schmerzen wimmernd zu Boden und legte sich mit gespreizten Armen und Beinen zwischen die Pflöcke. Die Griffe mit der glühenden Zange hatten ihm arg zugesetzt. Anerkennende Rufe wurden laut. Zusammen mit seinem Aushilfsknecht band Frantz die Gelenke an den Eisenstäben fest. Augustin hob derweil das Rad vom Karren, doch es rutschte ihm aus den einst so starken Armen. Der Löwe presste eine Hand auf die Brust und keuchte. Frantz trat an seine Seite. »Das Herz?«
»Ja, wird immer schlimmer, wenn ich … mich anstrenge.«
»Du solltest wirklich bald in Ruhestand gehen.« Er blickte zu Klaus Kohler, der sich gut machte und keine Scheu vor derlei Arbeit zeigte. Beim Geruch von Seuboldts versengtem Fleisch war er allerdings etwas blass geworden. Heute würde Kohler die erste Räderung aus nächster Nähe miterleben.
»Ich weiß«, seufzte Augustin.
»Alsdann …« Frantz hob das Rad auf und vernahm das erwartungsvolle Stöhnen der Zuschauer. Oft bekamen sie so etwas nicht zu sehen. Er meinte, Anfeuerungsrufe zu hören. Würde ihm eines Tages tatsächlich Jorgen bei der Arbeit zuschauen, dann auch die Mädchen?