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"Meister Zacharius" ist eine Kurzgeschichte des französischen Autors Jules Verne. Die Kurzgeschichte wurde erstmals im April und Mai 1854 unter dem französischen Titel "Maître Zacharius ou l'horloger qui avait perdu son âme. Tradition genevoise" in der Zeitschrift "Musée des Familles" veröffentlicht. 1874 wurde die Geschichte dann erstmals in Buchform in der Sammlung von Erzählungen "Eine Idee des Dr. Ox" ("Le Docteur Ox") veröffentlicht.
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Seitenzahl: 60
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Die Stadt Genf liegt an der Westspitze des Sees, der nach ihr den gleichen Namen erhalten hat, und wird von der Rhone, wenn sie aus dem See heraustritt, in zwei besondere Stadttheile geschieden; der Fluß selbst theilt sich etwa in der Mitte der Stadt durch eine Insel in zwei Arme. Eine ähnliche topographische Beschaffenheit finden wir bei den großen Centren des Handels und der Industrie häufig, und erklären uns dies durch die Leichtigkeit des Transports, die durch die raschströmenden Flußarme ermöglicht wurde und bestimmend auf die ersten Ansiedler einwirkte. Nennt ja Pascal mit treffendem Wort diese Stromformationen: »Ces chemins qui marchent tout seuls.« Die Wege auf der Rhone können nicht nur »gehende«, sondern sogar »laufende« genannt werden.
Zu der Zeit, als sich auf der Insel, die wie eine holländischeGaliotein der Mitte des Stromsvor Anker liegt, noch nicht so schöne, regelmäßige Bauten erhoben wie heutzutage, bot ihr wunderlicher Häusercomplex dem Auge einen reizvoll verworrenen Anblick. Die Bauten schienen über einander fortzuklettern, und hier und da waren sie, mit Rücksicht auf das beschränkte Territorium der Insel, auf Grundpfählen errichtet, die aus den schnellen Strömungen der Rhone emportauchten. Die dicken, längst von der Zeit und dem feuchten Element abgenutzten und geschwärzten Bohlen lugten in phantastischen, seltsam gestalteten Formen aus dem Wasser hervor wie ungeheure Krebsscheeren, der Strom schäumte und brauste düster grollend im Schatten seiner Last zwischen dem Walde von Grundpfählen dahin, und die zwischen den Bohlen aufgespannten Fischernetze bewegten sich im Lufthauch gleich kolossalen, gelblichen Spinngeweben hin und her, als ob sie den alten Eichenholzungen dieses Unterbaues zum Laubwerk dienen wollten.
Eins der Inselhäuser fiel vor allen anderen durch seine sonderbare, alterthümliche Bauart auf, und dies wurde von einem alten Uhrmacher, dem Meister Zacharius, seiner Tochter Gérande, dem Gehilfen Aubert Thün und einer alten Magd Scholastica bewohnt.
Welch ein eigenartiger Mann war dieser alte Uhrmacher! Sein Alter schien unerforschlich, denn auch die ältesten Leute der Stadt erinnerten sich nicht, wann sie Meister Zacharius zum ersten Mal mit seinem weißen wehenden Haar, das er schonungslos den Winden preisgab, hatten durch die Straßen gehen sehen, und wie lange sein magerer spitziger Kopf schon so wunderlich zwischen den Schultern hin und her wackelte. Es schien fast, als sei indiesem alten Mann kein anderes Leben, als in den Pendeln seiner Uhren. Sein trockenes, leichenhaftes Gesicht war mit der Zeit düsterer geworden und gewissermaßen nachgedunkelt, wie die alten Gemälde Leonardo da Vinci's.
Das schönste Zimmer des Hauses, aus dem man durch ein schmales Fenster auf die schneeigen Gipfel des Jura blickte, hatte Gérande inne, während die kellerartige Werkstätte und das Schlafzimmer ihres Vaters unmittelbar über den Grundpfählen, beinahe auf gleicher Höhe mit dem Flusse lagen; seit undenklichen Zeiten verließ Meister Zacharius außer zu den Stunden der Mahlzeiten diese Räume nur, um die verschiedenen Uhren der Stadt zu reguliren. All seine übrige Zeit aber brachte er vor einem Arbeitstische zu, auf dem sich eine Masse der verschiedenartigsten, meist von ihm selbst erfundenen Uhrmacherwerkzeuge befanden.
Meister Zacharius war ein sehr geschickter Mann, und seine Werke wurden geschätzt in ganz Frankreich und Deutschland. Die betriebsamsten Arbeiter in ganz Genf erkannten bereitwillig seine Ueberlegenheit an; die Stadt betrachtete es als eine Ehre, ihn den Ihrigen zu nennen, und man wies auf Meister Zacharius mit den achtungsvollen Worten:
»Ihm gebührt der Ruhm, die Hemmung erfunden zu haben.«
Und von dieser Erfindung datirt wirklich erst, wie die Arbeiten des Meister Zacharius weiter unten klarer anschaulich machen werden, die Entstehung der eigentlichen Uhrmacherkunst.
Wenn Zacharius lange an seiner wundersam feinen Arbeit gesessen hatte, legte er behutsam wieder seine Werkzeuge an ihren Platz, bedeckte die kleinen,soeben abgepaßten Stückchen mit leichten Glasglocken und gönnte dem fleißigen Rade seiner Drehbank Ruhe. Dann öffnete er eine im Fußboden seines Arbeitszimmers befindliche Klappe und brachte Stunden damit zu, über die Oeffnung geneigt in die vorüberrauschende Fluth der Rhone zu schauen und sich an den nebligen Dünsten, die aus ihr emporstiegen, zu berauschen.
Es war an einem Winterabende, als die alte Scholastica, die wie auch der Gehilfe nach alter Sitte an den Mahlzeiten ihrer Herrschaft mit Theil nahm, das Abendessen auftrug; aber obgleich die Speisen sorgsam, wie sonst, bereitet waren und dem Meister Zacharius in schöner blauweißer Schüssel dargeboten wurden, rührte er heute nichts an und antwortete nicht einmal auf die sanften Worte Gérande's, die über die düstere Stimmung ihres Vaters sichtlich bekümmert war. Auch das Geschwätz der alten Magd berührte sein Ohr nicht mehr und war ihm so gleichgiltig geworden, wie das früher so gern gehörte Rauschen des Rhonestroms. Nach dem schweigsamen Mahl erhob sich der alte Uhrmacher und verließ das Zimmer, ohne, wie gewöhnlich, seine Tochter zu küssen, noch, wie sonst, den Anwesenden eine »Gute Nacht« zu bieten. Er verschwand durch die schmale Thür und ging auf der Treppe, die unter seinen gewichtigen Tritten leise zu ächzen und zu klagen schien, nach seinem Arbeitszimmer hinab.
Gérande, Aubert und Scholastica verharrten einige Minuten in tiefem Schweigen. Es war heute Abend ein düsteres Wetter; die Wolken schleppten sich schwerfällig an den Alpen entlang und drohten, sich in Regen aufzulösen; die rauhe Temperatur derSchweiz stimmte die Seele unwillkürlich schwermuthsvoll, und die Südwinde strichen mit unheilverkündendem Pfeifen um das Haus.
»Unser Meister ist seit einigen Tagen völlig verändert, mein liebes Fräulein, begann endlich Scholastica; heilige Jungfrau! wenn Jemand so mürrisch ist, daß ihm die Worte im Halse stecken bleiben, kann man sich nicht wundern, wenn kein Bissen hinuntergeht. Wer ihm heute ein Wort entlocken wollte, müßte es sehr geschickt anfangen!
– Der Vater muß irgend einen geheimen Kummer haben, sagte Gérande sanft, während eine schmerzliche Unruhe sich in ihren Zügen malte; ich kann mir nicht entfernt denken, was ihn so niederdrückt.
– Fräulein, grämen Sie sich nicht so sehr darüber, Sie wissen, Meister Zacharius hat sonderbare Gewohnheiten, und seine Gedanken sind nicht leicht auf seiner Stirn zu lesen; ihm ist jedenfalls irgend etwas Aergerliches begegnet, aber morgen hat er's vielleicht schon wieder vergessen, und da wird es ihm leid sein, Ihnen Angst gemacht zu haben.«
So sprach Aubert, der Gehilfe des alten Meisters, und schaute dabei in die schönen Augen Gérande's. Er war der Einzige, den Meister Zacharius jemals des Vertrauens bei seinen Arbeiten gewürdigt und den er dazu herangezogen hatte, denn er schätzte ihn seiner Besonnenheit, seiner großen Herzensgüte und seines Verstandes wegen. Aubert hatte sich dem jungen Mädchen mit jenem geheimnißvollen Vertrauen angeschlossen, das bei groß angelegten Leidenschaften vorzuwalten pflegt.
Gérande war achtzehn Jahre alt, das Oval ihres Gesichtchens erinnerte an das der einfachen Madonnenbilder,die man in den alt-bretagnischen Städten an den Straßenecken aufgehängt findet, und aus ihren Augen sprach die reinste Unschuld und Harmlosigkeit. Man mußte sie lieb haben, wie die holdeste Verwirklichung eines Dichtertraums. Sie kleidete sich in wenig auffallende Farben, und das weiße, auf ihren Achseln gefältelte Leinen erinnerte an jenes zarte Weiß, das den Gewändern der Geistlichkeit eigen zu sein pflegt. Das junge Mädchen führte in Genf, das sich damals noch nicht den trockenen Lehren des Calvinismus gebeugt hatte, ein eigenthümlich mystisches Traumleben.
Wie Gérande an jedem Morgen und Abend ihre lateinischen Gebete aus ihrem mit eisernen Klammern versehenen Missale ablas, so hatte sie auch in dem Herzen Aubert's ein tief verborgenes Gefühl der innigen Hingebung gelesen. Das alte Uhrmacherhaus war für ihn eine Welt geworden, und wenn er nach beendeter Arbeit die Werkstätte ihres Vaters verließ, wußte er sich nichts Besseres, als seine Zeit bei Gérande zuzubringen.
Die alte Scholastica hatte das Alles längst bemerkt, sie sagte jedoch kein Wort darüber; ihre Geschwätzigkeit bemächtigte sich vorzugsweise der kleinen Misèren des Haushalts und der Unglücksfälle, von denen sie hörte. Man pflegte ihr in solchem Geplauder nicht Einhalt zu thun, und man that gut daran, denn sie war in dieser Beziehung mit den Genfer Musik-Tabatièren zu vergleichen, die, einmal aufgezogen, all ihre Weisen abspielen und nur auf die Art zum Schweigen gebracht werden können, daß man sie zerbricht.