MEMENTO - Eisige Erinnerung - Elisa Halm - E-Book

MEMENTO - Eisige Erinnerung E-Book

Elisa Halm

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Beschreibung

Wer bin ich? Was bin ich? Warum bin ich hier? Was nach abstrakten, hochphilosophischen Existenzfragen klingt, quält Jane jeden Tag, seit sie verletzt und ohne jegliche Erinnerungen in einer dunklen Gasse aufgewacht ist. Zum Glück trifft sie auf Indira, die ihr einen Job und eine Unterkunft vermittelt. Doch gerade als sich ihr Leben ansatzweise zu normalisieren beginnt, wird Indira ermordet und ein mysteriöser Fremder namens Ethan offenbart ihr, dass auch sie bereits gestorben ist. Als wäre die Amnesie und der Tod ihrer Freundin nicht genug, konfrontiert sie ihr neuer 'toter' Herzschlag mit ihrer neuen Realität. Jane und Ethan werden bald von jemandem verfolgt, und schnell wird klar, dass sie nicht nur gegen Janes vergessene Vergangenheit ankämpfen müssen, sondern auch gegen die düsteren Schatten aus Ethans Leben.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2024

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16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
Epilog
Danksagung

Elisa Halm

 

Memento

Eisige Erinnerung

 

Memento – Eisige Erinnerung

 

 

 

© 2024 VAJONA Verlag GmbH

Originalausgabe bei VAJONA Verlag GmbH

 

Lektorat: Patricia Buchwald

Korrektorat: Aileen Dawe-Hennigs und Vera Schaub

Umschlaggestaltung: VAJONA Verlag GmbH unter

Verwendung von Motiven von 123rf

Satz: VAJONA Verlag GmbH, Oelsnitz unter Verwendung von

Motiven von rawpixel

 

VAJONA Verlag GmbH

Carl-Wilhelm-Koch-Str. 3

08606 Oelsnitz

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Für alle, die knapp davor sind, die Wasseroberfläche zu durchbrechen und wieder tief Luft zu holen. Ihr seid stärker, als ihr denkt!

 

Prolog

Nichts würde mehr so sein wie bisher … Die Erkenntnis lag bleiern auf ihren Schultern und wie zutreffend diese Aussage war, konnte sie zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht ahnen. Im dumpfen Licht der Barbeleuchtung konnte man die verquollenen Augen und die darunterliegenden, tiefen Schatten nicht sehen. Entschlossen hob sie das kleine Glas hoch und goss sich den Inhalt mit einem Satz in den Mund. Beim Schlucken verzog sie kaum mehr eine Miene, obwohl der Alkohol immer noch ihren Rachen hinab brannte, allerdings war dieser Schmerz eine willkommene Abwechslung.

Der Barkeeper füllte das Glas kommentarlos. Offensichtlich war sie nicht der erste Gast, der sich so verhielt. Sie genoss die Atmosphäre, die sich daraus ergab, dass sich alle Besucher gegenseitig ignorierten. Niemand fragte sie nach ihrem Befinden oder wie denn nun alles weitergehen würde. Niemand behelligte sie mit irgendwelchen Fragen, die sie nicht beantworten konnte oder wollte. Sie war sowohl mit ihrem Latein als auch mit ihren Nerven am Ende. Die Blicke und die nagenden Gedanken. Die Zweifel hatten mittlerweile ihren Höhepunkt erreicht und waren in einem riesigen Fiasko geendet. Ab jetzt war alles verloren. Nichts hatte mehr einen Sinn.

Zum Teufel damit, dachte sie und kippte das nächste Glas hinunter. Ihre Hände hatten bei den ersten paar Shots noch gezittert und Tränen waren ihr immer wieder über die Wangen gelaufen, aber sowohl das eine als auch das andere hatte mittlerweile ein Ende gefunden. Die beklemmende Enge in ihrer Brust löste sich mit jedem brennenden Tropfen Alkohol weiter auf.

Die eingenommenen Medikamente versetzten sie in Kombination mit dem Fusel in eine angenehme halbwache, beinahe wattige Realität, in der sich ihr Schmerz und die allumfassende Angst unter einer dämpfenden Schicht von Drogen befanden. Auf diese Weise waren die verdammten Schuldgefühle kaum mehr vernehmbar. Die letzten Stunden, Tage und Wochen hatten sie ihr ganzes Sein bestimmt und keine andere Emotion zugelassen, doch jetzt konnte sie das erste Mal seit einer gefühlten Ewigkeit wieder den Kopf in den Nacken legen und lächeln. Wenn alles in Flammen stand, konnte sie wenigstens um das warme Feuer tanzen, anstatt heulend davor zu knien.

Der im Raum wabernde Zigarettenrauch verstärkte die schwummrige Wahrnehmung noch mehr, doch statt sich darüber Sorgen zu machen – wie sie es wohl normalerweise an einem solchen Ort getan hätte –, genoss sie ihren Zustand. Als sie die Augen schloss, konnte sie nicht sagen, ob sich der Raum oder sie sich drehte. Die alles dominierende Schuld und Hilflosigkeit der letzten Wochen hatten sich endlich verzogen und eine Leere hinterlassen, die es mit Alkohol zu füllen galt. Es machte sie fast glücklich, ein so leicht erreichbares Ziel vor Augen zu haben. Keine überhöhten Erwartungen, an denen sie ohnehin nur scheitern konnte.

»Hey, Kleines. Kann man dir etwas spendieren?«, tauchte plötzlich eine Männerstimme neben ihr auf. Blinzelnd warf sie ihm einen flüchtigen Blick zu und fokussierte daraufhin gleich wieder ihr kleines Glas. Ob der Mann schon länger neben ihr gesessen hatte, konnte sie nicht sagen. Ihre Aufmerksamkeit galt einzig und allein ihren Shots.

Die Aussage brachte sie aus irgendeinem Grund zum Kichern. »Danke, ich bin versorgt«, erwiderte sie mit einer etwas trägen Zunge und hob ihr erneut gefülltes Glas zur Untermalung an. Dabei sah sie den Mann mit braunen Haaren und schwarzer Kleidung genauer an. Bei ihrer momentanen Wahrnehmung erschien er als einziger farbloser Fleck, der dank der schlechten Beleuchtung noch schwerer zu erkennen war. Nur ein kleiner orangefarbener Punkt fiel ihr in den Blick und löste ein altes, beinahe schon gänzlich verschüttetes Verlangen aus.

»Zigarette! Du hast eine Zigarette!«, rutschte es ihr heraus und sie lehnte sich zu dem Mann hinüber. Angeheitert, wie sie war, hatte sie jegliches Bewusstsein für persönlichen Raum und Abstand verloren.

Ihre zerstreute und beschwipste Verhaltensweise brachte den Fremden zum Lächeln. »Das hast du gut erkannt. Hier, wenn du willst.« Noch bevor er den Satz vollendet oder eine frische Kippe ganz hinübergereicht hatte, griff sie schon danach und verlangte nach einem Feuerzeug. Trotz der Jahre ohne Rauchen gelang ihr das Anzünden problemlos und rasch inhalierte sie den ersten Zug mit einem wahnsinnigen Drang. Als das Nikotin über ihre Lunge in ihr Gehirn gelangte, erlebte sie ein unglaubliches Gefühl der Beruhigung, das sie zufrieden seufzen ließ.

Gott, hat mir das gefehlt …

Ihre Neuronen tanzten bei dem Rausch der verschiedenen Drogen Macarena und feierten die beste Fiesta seit Jahren.

»Deine Letzte ist wohl schon etwas länger her«, kommentierte er und zog genüsslich an seiner eigenen Zigarette. »Schön, wenn ich behilflich sein kann.« Seine Stimme klang rau und sie musste sich eingestehen, dass sie das ziemlich sexy fand. Bei dem Gedanken musste sie schmunzeln; sie konnte sich nicht erinnern, wann sie zuletzt etwas oder jemanden sexy gefunden hatte. So lange Zeit hatte es für sie nur ihn gegeben. Keinen anderen hätte sie auch nur einen Wimpernschlag angesehen.

Ihre trübe Wahrnehmung wurde zunehmend unzusammenhängender, was sie an einem normalen Abend gemerkt und sicherlich beunruhigt hätte. Schon der Umstand, dass sie hier in einer Bar saß, war ungewöhnlich, gerade an einem Mittwochabend … oder war es schon Donnerstag? Die letzten Tage hatten ausschließlich aus Chaos, Ohnmacht und unzusammenhängenden Erinnerungsfetzen bestanden.

Die Betäubung der negativen Emotionen hinterließ ein solch berauschendes Hochgefühl, das sie nicht mehr hergeben wollte. Anstatt sich auf den Heimweg zu machen und zu hoffen, sicher dort anzukommen, leerte sie das Glas und ließ sich dabei von dem Mann, der immer noch neben ihr saß, beobachten. In all der Scheiße war sie sich nicht einmal sicher, ob es noch ein Zuhause für sie gab.

»Für eine so kleine Frau trinkst du ziemlich viel. Heute noch etwas vor?«, drangen die Worte dumpf in ihr Bewusstsein. Wäre sie eine Katze, hätte sie bei dem Klang seiner Stimme wohl begonnen, zu schnurren.

Sie lachte und murmelte mit schwerer Zunge: »Vergessen … ucks … essen.« Lallte ich etwa?

»Du willst noch etwas essen? Das halte ich sogar für keine schlechte Idee«, meinte der Mann und veränderte seine beobachtende Position. Nach einem sondierenden Blick fügte er hinzu: »Sollen wir woanders hin? Hier gibt es vermutlich nur abgelaufene Nüsse.«

Vehement schüttelte sie den Kopf. Sogar sturzbetrunken wusste sie, dass sie nicht einfach so mit jemandem mitgehen würde. Auch wenn er wunderschöne graue Augen und einen Bart hatte, den sie nur zu gern angefasst hätte. Ob der genauso rau war wie seine Stimme?

»Ich nehme … jetzt … hicks … ein Taxi«, verkündete sie stattdessen und versuchte, ihr Handy zu finden. »Verdammt, wo ist denn … wo?« Nach Hause wollte sie immer noch nicht, aber ein Ortswechsel würde sie weg von dem Mann und zurück zu ihrer heiß begehrten Isolation bringen. Sie wollte nicht reden, einfach trinken. Allein. Hoffentlich hielten die Schmerzmittel noch an, sonst würden wieder die unbarmherzigen Krämpfe einsetzen.

»Wenn du so nuschelst, kann ich dich nicht verstehen. Weißt du was? Ich rufe dir ein Taxi. Du wirkst wirklich nicht mehr ganz anwesend«, sagte der dunkle Mann und stand auf. Sein Amüsement legte sich langsam und wich einer leichten Verärgerung.

Bei der Suche nach ihrem Handy fiel sie nahezu vom Barhocker, als sich die Welt um sie intensiver zu drehen begann. Geistesgegenwärtig erkannte der Fremde ihre Bewegungen, fing sie auf und interpretierte die Anzeichen richtig, um sie rechtzeitig auf die Toilette zu schicken.

Wie er sie an der Hüfte packte und vor sich zum Damenklo schob, bekam sie kaum mit und hielt sich dabei an allen Gegenständen in Reichweite fest. Die weiß gestrichene Wand war kalt im Gegensatz zum darunter angebrachten Holz, das sich rau gegen ihre Berührung sträubte. Gerade als die giftige Mischung in ihrem Magen rebellierte, stürzte sie in die Kabine und erbrach sich flugs in die Toilette.

»Keine Ahnung, was mit dir falsch läuft, Mädchen. Ich rufe dir ein Taxi und warte vorn auf dich«, sagte der Mann und wandte sich angewidert ab. »Das will ich mir nicht ansehen.«

Tränen wollten aus ihren Augen quellen, doch die Reserven waren schon aufgebraucht und so brannten ihre Lider wie Feuer. Schluchzend saß sie auf dem dreckigen Boden der versifften Damentoilette dieser heruntergekommenen Bar. In ihrer Nase stach ein beißender Uringeruch und an den Wänden konnte sie undeutlich verschiedenfarbige Flecken erkennen. Wie tief war sie nur gesunken …

Nun kehrten die verhassten und verdammten Gedanken zurück und kreisten um sie, wie Geier um ein totes Tier. Ein Schluchzen entrang sich ihrer Kehle und sie schlug die Hände vor ihr Gesicht. Nichts von ihren Taten der letzten Stunden machten die letzten Tage ungeschehen und löschten auch nicht die Folgen aus. »Ich bin so dämlich …«, murmelte sie und schlug sich gegen die Stirn.

Der erste Affekt war die Betäubung gewesen. Sobald sie konnte, war sie in diese x-beliebige Bar geflohen und hatte versucht, die Gefühle zu ertränken. Niemand wusste, wo sie war, und gewiss gab es auch niemanden, den das momentan interessiert hätte. Die vergangenen Wochen waren dahingehend eindeutig und dadurch für sie die Hölle gewesen. Die Sorgen, Ängste und die Schuldgefühle hatten sie ständig in Habachtstellung verweilen lassen.

Leider erwiesen sich die Gefühle nun als gute Schwimmer und so drangen sie durch die Unmenge an Betäubungsmitteln zunehmend wieder an die Oberfläche. Wie Lichtblitze blendeten sie sie und in ihrem Zustand war sie ihnen noch hilfloser ausgeliefert als sonst. Die Kontrolle entglitt ihr immer weiter.

Die Panik hatte sich wie Flöhe auf ihr vermehrt und ihr keinen Moment Ruhe gegönnt, sondern sie beständig mit kleinen Bissen an ihre Situation erinnert. Ihre Gedanken waren permanent um die gleichen Dinge gekreist, bis nur ausgetrampelte Pfade übrig gewesen waren.

Du solltest gar nicht hier sein, flüsterte ihr eine leise Stimme ein. »Ich weiß, ich weiß, ich weiß …« Ungeschickt rappelte sie sich wieder auf und torkelte aus der Kabine. Im großen Spiegel über dem Waschtisch konnte sie nur unscharf die Umrisse einer Frau mit dunklen Haaren und weißem Körper sehen. Wie sie gerade aussah, wollte sie gar nicht wissen, also wandte sie sich schnell ab. Das rot gewordene Gesicht, die verquollenen Lider und die leeren Augen konnte sie sich auch vorstellen; das musste sie nicht direkt im Spiegel erblicken.

Ich muss nach Hause! Das wiederholte sie innerlich immer wieder und stolperte aus der Toilette. Er wird mich nicht einfach so vor die Tür setzen. Das kann er nicht tun. Wir müssen über alles reden. Vielleicht kann doch noch alles gut werden.

Der Gang war ihr zuvor nicht so schmal und voller Türen vorgekommen. Irgendwelche abstrakten Symbole darauf sollten für die Besucher erkennbar machen, was wohinter lag. Ihre Hände strichen an dem unebenen Holz der Vertäfelung entlang, während sie krampfhaft versuchte, sich daran zu erinnern, durch welche Tür sie zuvor gekommen war. Allerdings war sie sich nicht einmal bewusst gewesen, dass sie überhaupt durch eine solche gegangen war. Ihr Magen gluckerte und machte sich bemerkbar, sodass sie erwog, nochmals kurz zur Toilette zurückzukehren. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal etwas gegessen hatte, dennoch gab es offensichtlich genug Substanz darin, die das Licht der Welt erblicken wollte. Anscheinend fühlte sich der Alkohol ganz allein in ihrem Bauch unwohl.

An der Wand tastete sie sich weiter, bis sie die Tür zum Gästebereich gefunden hatte, die sie rasch aufstieß. Zu ihrer Überraschung trat sie eine Stufe abwärts mitten ins Kalte. »Ach du Schei–«, fluchte sie schlagartig und ihre Sinne wachten anhand der frostigen Ohrfeige ein wenig auf. Sie befand sich in der hinteren Gasse des Lokals, wo die Sicherheitstür hinter ihr soeben ins Schloss fiel. Ein Rütteln an der Tür hatte keinen weiteren Effekt, außer dass ihre Hand fast an dem Metallknauf festfror. Zumindest fühlte es sich so an.

»Ist ja schon scheißkalt«, meckerte sie und versuchte, die Ärmel des Pullis weiter über ihre Hände zu ziehen. Zwar fühlte sie sich etwas wacher, jedoch war die Straße finster und für eine angetrunkene Frau nicht gerade vorteilhaft. Das leuchtete sogar ihr ein. Mitten im Dunklen konnte sie nicht erkennen, welche Richtung die richtige war, um zügig wieder zum Eingang zu gelangen, wodurch sie sich kurzerhand frierend nach links wandte und hoffte, dass sie den kürzeren Weg gewählt hatte. Sie kannte sich in der Gegend nicht wirklich aus, aber jede Gasse hatte einen Zugang zu einer anderen Straße, also würde sie hier schon rausfinden.

Ihre profillosen Sohlen rutschten auf den vereisten Stellen am Boden, was ihrem schwankenden Gleichgewichtssinn nur noch mehr abverlangte. So eine Scheiße. Währenddessen kniff sie immer wieder die Augen zusammen und ohrfeigte sich selbst, um die Wirkung der Drogen zu vermindern. Die Umstände und die Kälte ließen das naive Bedürfnis nach Betäubung vergehen und die Notwendigkeit hervortreten, dass sie hier schleunigst wegmusste. Sollte es jetzt nicht langsam wieder wärmer werden? Wo ist diese Klimaerwärmung, wenn man sie braucht?, dachte sie und verfluchte den Februar mit seinem Wintereinbruch.

Ihre Arme schlangen sich um ihren Oberkörper und jeder Atemzug brannte eisig in ihrer Lunge. Vor ihrem Gesicht bildeten sich weiße Wölkchen. Jedes noch so kleine Härchen stellte sich wie zum Protest gegen die Temperaturen auf und brachte damit ihre Haut unangenehm zum Ziehen. Noch viel mehr als die immense Hitze im Sommer hasste sie den sich in die Länge ziehenden Winter. Sie und Kälte waren natürliche Feinde, die sich bis auf das Tiefste hassten.

Klackernd klapperten ihre Zähne aufeinander und ließen sich dabei nicht stoppen. Die Gasse wurde nur alle paar Meter spärlich durch eine Laterne erleuchtet, sodass die Flecken mit Schnee auf dem Asphalt und die umliegenden, begrenzenden Hausmauern düster und dreckig wirkten.

Es war kaum zwei Tage her, dass es im ganzen Land vierundzwanzig Stunden durchgeregnet oder geschneit hatte, wonach sich laut Meteorologen der Frühling langsam blicken lassen sollte. Zumindest glaubte sie, sich an diese Ausführungen des Wetterberichts erinnern zu können, den sie im Dämmerzustand verfolgt hatte. Der Müll türmte sich bei den vorhandenen Containern. Eine leichte weiße Schneeschicht hatte sich auf manchen davon niedergelassen.

Durch die Promille schwankte sie in der Gasse hin und her und musste sich manchmal an den Hauswänden oder anderen Gegenständen in ihrer Reichweite abstützen, um kurz zu verschnaufen. Ihr Magen rebellierte immer noch und wollte den restlichen Cocktail aus Alkohol und Tabletten loswerden, den sie sich hart ertrunken hatte.

Um ihren Brustkorb schien sich der Schraubstock fester zu ziehen. Dagegen half auch das konzentrierte Ein- und Ausatmen nicht viel. Je näher sie dem Ende der Gasse und dem dortigen Licht kam, desto unaufhaltsamer kehrte das Gespann aus Schuld, Hilflosigkeit und Schmerz zurück und ließ sie erschaudern. Ihr wahnsinnig unnötiger Online-Therapeut hätte ihr sicher geraten, sich zu entspannen und sich einen schöneren Ort vorzustellen, an den sie sich projizieren sollte. Weil sie sich anders nicht mehr zu helfen gewusst hatte, war sie stundenlang Internetratschlägen nachgejagt, die allesamt mehr als wertlos gewesen waren. Irgendwelche Gurus können das eigene Leben eben nicht reparieren.

Ein heftiger Brechreiz ließ sie innehalten und sich am nahegelegenen Müllcontainer festkrallen. Das Metall war hart und kalt, kontrastierte ihre innere Hitze der Gefühle nun aber auf eine angenehme Weise. Sie konzentrierte sich auf die Kälte und versuchte, den Mageninhalt in sich zu behalten. Nach nicht einmal einer halben Minute musste sie den Kampf aufgeben und erbrach sich hemmungslos auf die Straße.

Mittlerweile war sie doch etwas froh, sich in einer abgegrenzten Gasse zu befinden, statt mitten auf der Straße mit schockierten Passanten. Es dauerte einige Minuten, bis ihre Beine nicht mehr zitterten und das würgende Gefühl in ihrem Hals verschwunden war, sodass sie den restlichen Weg aus der Gasse so energisch wie möglich in Angriff nehmen konnte.

Das Ende der Straße kam näher und verhieß den sicheren Heimweg. Sie atmete tief ein und fokussierte die im Wind hüpfende Straßenbeleuchtung vor sich. Auf einmal rutschte ihre rechte Sohle auf dem glatten Asphalt weg und mit einem Aufschrei knallte sie hart auf den nassen Straßenboden. Ihre Hüfte schmerzte, während ihre Handflächen bei dem Versuch, den Sturz abzufedern, aufgeschürft worden waren. Am feuchten Untergrund saugte sich ihre Hose begierig voll, sodass die Kälte tiefer in sie eindringen konnte.

»Ach, verdammt«, murmelte sie und versuchte, sich wieder aufzurappeln, was sich schwieriger gestaltete, als vermutet. Unbemerkt war eine Gestalt neben ihr erschienen, die ihr unter den Arm griff und sie unsanft auf die Beine zog.

»Huch, danke«, kam es undeutlich aus ihrem Mund, »das … danke.« Eigentlich wollte sie sich von ihm losmachen und die letzten Meter zur offenen Straße hinter sich bringen, aber der Mann ließ ihren Arm nicht los. »Sie … Sie können mich los– loslassen!«, sagte sie verunsichert und wollte ihn abschütteln. »Ich schaffe … schaffe das schon …«

Statt sie freizugeben, hielt er ihren linken Arm weiter fest und marschierte in die entgegengesetzte Richtung, sie mit sich ziehend. Sie krallte sich an seinem Mantel fest, um nicht erneut auszurutschen.

»Nein«, entgegnete sie mit wachsender Panik, »Nein, bitte, nicht!«

Ihre Sohlen fanden auf dem nassen, verschneiten Asphalt keinen Halt, sodass sie sich bei der Kraft des Mannes unweigerlich mit ihm mitbewegen musste. Beinahe wie eine Puppe zog er sie mit sich, als hätte sie kaum Gewicht.

»Ich muss in die andere Richtung! Bitte«, rief sie jetzt, ohne zu wissen, ob der Alkohol sie immer noch undeutlich sprechen ließ. Sie schnappte nach Luft und konnte das Blut in ihren Ohren rauschen hören.

Ihre körperliche Unterlegenheit bedingte die geringe Gegenwehr, sodass es für Passanten wohl aussehen müsste, als würde sie einvernehmlich mit dem Mann mitgehen. Tatsächlich gab es in der Gasse aber keine Menschenseele, außer der Gestalt und ihr. Umgeben von Mauern, Müll und Schnee konnte ihr niemand zur Hilfe eilen.

Panisch warf sie einen Blick auf das sich entfernende Ende der Straße und spürte wahnsinnige Verzweiflung aufsteigen. Adrenalin schoss durch ihre Adern und ließ sie die Kälte nicht mehr spüren, die wie Nadeln in jede Pore eindrang. Aber noch bevor sie erneut das Wort an den Fremden mit Hut und Mantel richten konnte, riss dieser sie ruckartig nach vorn, wodurch sie den Boden unter den Füßen verlor. Sie krachte mit dem Rücken gegen die kalte Wand des Hauses und schlug sich den Hinterkopf heftig an. Ihre Sinne spielten verrückt und eine schwarze Wolke legte sich über ihr Sichtfeld. Innerhalb eines Sekundenbruchteils stand er keine zwei Millimeter entfernt von ihr und hinderte sie dadurch daran, betäubt an der Wand hinabzusinken. Sie konnte seinen harten Körper spüren, die Kälte, die von ihm ausging. Die mickrige Beleuchtung machte es ihr unmöglich, sein Gesicht zu erkennen, dennoch sah sie helle Haut, wellige Haare. Dunkelheit. Silber. Handschuhe, die nach ihrem Gesicht griffen.

Das Letzte, was in ihr Bewusstsein drang, waren seine Worte: »Alles wird gut.« Die Stimme war düster und gefolgt von einem rasenden Schmerz, der sich in ihrem ganzen Körper ausbreitete und sie lähmte. Aber die Stimme hatte nicht recht. Es würde nicht alles wieder gut werden, denn nichts würde mehr so sein wie bisher …

 

1. Kapitel

Wie jeden Tag schlug Jane pünktlich um sechs Uhr morgens die Augen auf und war gleich wach. Ihr Schlaf war nie besonders tief oder erholsam. Meistens fühlte es sich an, als hätte sie ihre Augen beim Blinzeln nur ein wenig zu lange zugelassen. Geschmeidig setzte sie sich in ihrem kleinen, durchgelegenen Bett auf und rieb sich den Schlaf aus den Augen. Ihre Gelenke und Muskeln spielten widerstandslos bei jeder Bewegung mit und ließen sie kein unangenehmes Zwicken spüren.

Die morgendliche Routine spielte sich bei ihr auf den wenigen Quadratmetern ihres Apartments ab. Persönliche Gegenstände suchte man hier vergebens, ebenso wie etwas anderes als einen spartanischen Einrichtungsstil, der genau das Nötigste umfasste. Durch Glück und Zufall hatte ihr das Zimmer mit angrenzendem Mini-Bad vermittelt werden können, nachdem sie damals keinen anderen Ort gehabt hatte. Dieses Damals war mittlerweile schon einige Wochen her und viel schlauer als zuvor war sie immer noch nicht. Der Schnee war recht rasch verschwunden und die Temperaturen waren langsam gestiegen, aber weder ihre Fragen noch der Mangel an Antworten hatten sich geändert.

Frisch angezogen und mit einem kleinen Frühstück im Magen machte sie sich auf den Weg zur Arbeit, den sie wie jeden Tag zu Fuß zurücklegte. Ihr Bauch gab immer noch knurrende Geräusche von sich, was den latenten Hunger signalisierte, der sie permanent begleitete. Sie wusste nicht, ob das schon immer so gewesen war oder woran es lag, aber unabhängig davon, wie viel oder wenig sie aß, ihr Magen meldete immer noch Hunger. Mittlerweile resignierte sie in dieser Hinsicht und nahm das Knurren einfach hin. Vielleicht war es nur eine Verstimmung, die sich bald schon legen würde. Immerhin gab es momentan Drängenderes als einen zu aktiven Magen.

Die Strecke zu ihrer Arbeit war nicht besonders lang, sodass sie es genoss, nach dem stundenlangen Schlaf ihre Beine zu benutzen. Inzwischen kannte sie die Häuser und Geschäfte, lediglich die Menschen schienen immer andere zu sein. Anfangs war es schwer gewesen, mit den Lücken in ihrem Gedächtnis zurechtzukommen, kein Gefühl des Zuhause-Seins zu haben, doch langsam schaffte sie es. Die Unwissenheit plagte sie und bildete eine ohrenbetäubende Leere in ihrem Kopf. Es war zum Verrücktwerden. Wie konnte ihr gar nichts bekannt vorkommen?

Ihre erste Erinnerung war nicht, wie wohl bei jedem anderen Menschen, eine aus ihrer Kindheit, sondern der erschreckende und von Angst beherrschte Moment vor einigen Wochen, als sie mit zerrissener Kleidung blutend in einer dunklen Gasse aufgewacht war. Die Kälte des Schnees, der Hausmauer und des feuchten Asphalts hatte sich tief in ihren Körper gefressen und wollte sie nicht mehr hergeben. Ihre Finger hatten sich taub auf ihrer Haut angefühlt und keinerlei Empfindung hinterlassen. Blutergüsse hatten sich auf ihrer weißen Haut abgezeichnet und sie mit ihrer Schweigsamkeit verhöhnt. Ihre Haare waren gerauft und zerzaust gewesen, als hätte jemand seine Hände darin vergraben und heftig daran gerissen. Sie hatte einzelne Büschel aus der Unordnung herausziehen können. Die blutigen Wunden hatte sie behelfsmäßig mit Stoff bedeckt.

Ihre Kleidung, ihre Schuhe und die ganze Situation an sich waren ihr fremd vorgekommen. Panisch hatte sie sich aufgerappelt und nach Hinweisen, wie ihrem fehlenden Ausweis gesucht, die ihre temporäre Blockade hätten lösen können, aber sie hatte nichts dergleichen bei sich gefunden. Auch jede einzelne Stunde, die seither vergangen war, hatte keine Besserung gebracht. Die brutale Leere ihres Gedächtnisses hatte sich nicht füllen lassen.

Betäubt davon war sie die Straßen in der Dunkelheit der Nacht entlang geirrt, bis sie zu einer Notschlafstelle gelangt war. Niemand war ihr entgegengekommen oder hätte seine Hilfe angeboten; sie hatte sich wie der letzte und einzige Mensch auf der Welt gefühlt. Einsam und allein.

Ein freundliches Gesicht und eine wärmende Atmosphäre hatten sie empfangen, aber als sie nach ihrem Namen gefragt worden war, hatten sich die Nadeln der eisernen Kälte noch tiefer in ihr Innerstes gebohrt und gedroht, sie zu Eis gefrieren zu lassen. Ihr Name? Welcher Name? Sie war sich selbst völlig unbekannt. Das hatte sie tief verunsichert und sogar bis jetzt – Wochen später – kannte sie weder ihren Namen, ihr Alter noch ihre Vergangenheit. Ihr Leben hatte in jener Nacht erst angefangen und bisher hatte sie niemanden gefunden, der ihr sagen konnte, wer sie war.

Jane Doe. So hatte der nette Sozialarbeiter sie damals genannt und gesagt, dass es in Ordnung war, wenn sie ihren Namen nicht sagen wollte. Er hatte sie durch das Blut und die blauen Flecken gleich nach ihrem Eintreten mit Blicken nach Verletzungen abgesucht und sie mehrmals gefragt, ob alles okay sei. Auf den Vorschlag, einen Krankenwagen zu rufen, hatte sie verängstigt reagiert, worauf die Idee sogleich verworfen worden war. Dennoch hatte er ihr das Versprechen abgenommen, dass sie sich an ihn wenden würde, wenn sie Hilfe oder Verbandsmaterial bräuchte, und sie ihm, dass er nicht die Polizei rufen sollte. Sie hatte panische Angst bei dem Gedanken, Uniformierten gegenüberzutreten. In ihrem Inneren zuckte dabei sofort etwas zusammen, obgleich sie nicht wusste, warum.

Sie hatte mehrere Quetschungen und die ein oder andere blutende Wunde, die sie mit dem Erste-Hilfe-Koffer in der Unterkunft verbunden hatte. Ihr ganzer Körper war ihr elend und schwer vorgekommen. Wegen der Kopfschmerzen hatte sie die Augen kaum noch offenhalten können. Es hatte sich angefühlt, als hätte sie drei Tage durchgesoffen und jetzt den miserabelsten Kater, den es nur geben konnte. Ein Drang nach Schlaf hatte sich in ihr breit gemacht und sobald Jane ihr vorübergehendes Bett gezeigt worden war, war sie im selben Moment hineingefallen.

In den ersten Tagen hatte sie zwischen Wahnsinn und Phlegma geschwankt. Einerseits konnte sie die Mauer in ihrem Kopf spüren, die ihr Wissen zurückhielt und die sie um jeden Preis am liebsten mit ihren bloßen Händen niedergerissen hätte und andererseits nahm sie die gähnende Leere so allumfassend wahr, dass es keine Hoffnung auf Besserung für sie zu geben schien. Schon damals hatten kleinere Panikattacken begonnen, sie heimzusuchen. Sie fühlte sich eingesperrt in einer winzigen Hütte, während die riesige, außerhalb liegende Welt für Jane nicht zugänglich war. Sie trommelte ständig gegen deren Wände und die Fenster, aber nichts davon gab nach. Sie saß fest.

»Jane!« Die glockenhelle Stimme von Indira riss sie aus den dunklen Gedanken, die sie den ganzen Weg über in Beschlag genommen hatten.

Indira war eine großgewachsene, junge Frau mit einem wunderschönen dunklen Teint, für den viele wohl getötet hätten. Ihre dunklen Augen und die wallenden, braunen Locken zeigten an, dass sie Wurzeln im Südosten hatte. Ihr verdankte Jane die Möglichkeit, einem Job nachzugehen und ein Obdach zu haben. Sie lief über die schmale Straße und kam auf Jane zu.

»Hi, gut, dass du auch schon da bist. Durch die hiesige Messe haben wir richtig viel zu tun.«

Sie war eingepackt in ihre purpurne Übergangsjacke und gemeinsam legten die beiden die letzten Meter zum Hotel zurück. Ein helles Gebäude, das das traditionelle Flair eines Stadtlokals wiedergab.

»Haben wir die sauberen Laken schon bekommen? Wir laufen da schon auf Reserve«, erkundigte sich Jane. »Die Reinigungsfirma hat uns sicher schon auf die schwarze Liste geschoben mit unseren ganzen Beschwerdemails.«

»Bo hat gemeint, dass sie in der Früh geliefert werden sollten. Gab offensichtlich einen Unfall in der Reinigung, weswegen sich alles verzögert hat und so weiter und so weiter …«, antwortete Indira und machte eine wegwerfende Handbewegung. »Tut mir ja leid für den armen Teufel, der sich mit den Chemikalien beschüttet hat, aber unsere Gäste werden deswegen nicht gerade milder auf dreckige Wäsche reagieren.« Sie zuckte mit den Schultern und hielt Jane die Tür zum Hintereingang des Hotels auf.

Die Wärme strömte ihnen entgegen und empfing sie wohltuend, obgleich eine hartnäckige Kälte in Janes Innerem zurückblieb. Zwar versuchte sie, es stets zu verhindern, dennoch durchzuckte Jane in solchen Momenten immer die Erinnerung an die erste Nacht und die eisige Kälte, die ihre Krallen in ihr Fleisch geschlagen hatte. Tage hatten vergehen müssen, bis das letzte Zittern sich verflüchtigt und Wärme sich nicht mehr jedes Mal schmerzhaft angefühlt hatte.

Der Housekeeping-Manager Bo befand sich wie jeden Morgen in der Küche, wo er halb auf einem Hocker sitzend seinen schwarzen Kaffee trank und währenddessen die Liste der diensthabenden Angestellten musterte. Er war ein etwas übergewichtiger Koreaner mit einem großen Herz für seine Mitarbeiter. Als Indira und Jane vorbeizischten, um sich in der Garderobe umzuziehen, hob er den Kopf und rief ihnen nach, dass Eile geboten sei, da zwei Kolleginnen ausgefallen waren. Seine schwarzen Haare waren glatt und umfassten schon einige graue Strähnen, die langsam sein Alter anzeigten.

Bei Janes erstem Besuch im Hotel hatte sie keine Ahnung gehabt, was sie erwarten würde. Sie war gerade erst einige Tage in der Notschlafstelle gewesen und hatte dort Indira getroffen, die auf der Suche nach ihrem Bruder gewesen war. Die junge Inderin war ihr damals in der kargen Unterkunft aufgefallen und hatte mit ihrem strahlenden Auftreten die Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Mit ihrem sommerlichen Teint schien es immer zwei oder drei Grad wärmer in ihrer Nähe.

Statt ihren Bruder zu finden, hatte sie Jane entdeckt und ohne großes Zögern mitgenommen. Bis heute war es für Jane ein Rätsel, wieso die Fremde sie so einfach an die Hand genommen hatte. Tatsächlich ließ sie sie bei sich übernachten und nahm sie am nächsten Morgen mit zur Arbeit.

Bo hatte sich anfangs geweigert, allerdings nach einem Probetag, an dem Indira ihn pausenlos zu überreden versucht hatte, hatte er resigniert zugestimmt. Indira konnte man schließlich nichts abschlagen. Jane durfte im Hotel putzen, auch ohne eine amtliche Meldung der Tätigkeit. Die Not an Janes Lage hatte schließlich den Ausschlag gegeben. Er wollte nicht wissen, was genau es mit ihr auf sich hatte, solange sie keine Schwierigkeiten ins Hotel brachte, was dank ihres fehlenden Gedächtnisses wohl kaum ein Problem darstellen sollte.

Erst unlängst hatte Jane Indira auf den Abend angesprochen, als sie sich das erste Mal gesehen hatten, und bei einer bedächtigen Tasse heißer Schokolade hatte sie erfahren, dass ihr Bruder ein Junkie war, der seit einiger Zeit vermisst wurde. Die Polizei suchte nicht besonders bemüht nach ihm, da er schon wegen einiger Drogendelikte amtsbekannt und damit kein Bürger mehr war, nach dem es sich zu suchen lohnte.

Indira hingegen forschte seit seinem Verschwinden jeden Abend in allen Notschlafstellen der Umgebung nach ihm, immer mit der Hoffnung, ihren highen, aber gesunden Bruder Balu doch noch zu finden. Damals hatte sie Jane gesehen und gewusst, dass sie ihr helfen musste. Es war das Wort Karma gefallen und offen wie nie hatte Indira ihr verraten, dass sie jeden Tag betete, dass jemand ihren Bruder fand und half, so wie sie es bei Jane getan hatte.

Noch am selben Abend hatte Jane Indira von ihrem Erwachen in der Gasse erzählt und dass sie sich an nichts mehr erinnern konnte. Die Wunden waren schneller geheilt, als sie gedacht hatte, und keine zwei Tage später hatte nichts mehr auf die Geschehnisse hingedeutet, sodass sie auch nicht mehr zur Polizei gehen hatte können. Was hätte sie denen dort überhaupt sagen sollen? Als der Niemand, der sie jetzt war, hatte sie keine Rechte mehr auf ihrer Seite, vor allem nach dem Verschwinden der Beweise. War es denn ohne Beweise überhaupt möglich, die Polizei zu überzeugen, dass ein Verbrechen stattgefunden hatte?

Gemeinsam marschierten sie die Notschlafstellen regelmäßig ab, um nach Indiras Bruder und Janes Erinnerungen zu suchen, aber beide Vorhaben erwiesen sich bis zum heutigen Tag als ergebnislos. Mittlerweile überwog bei Indira die Angst, dass Balu sich seinen letzten Schuss gesetzt hatte und unidentifiziert in irgendeiner Leichenhalle zur Verbrennung freigegeben wurde.

Zunehmend telefonierte sie daher mit Leichenhäusern, um doch immer wieder beruhigt und unruhig zugleich eine Abfuhr zu bekommen. Es quälte sie der Gedanke, dass sie vielleicht nie herausfinden würde, was mit ihm geschehen war. Ihr Bruder war zwar kein einfacher Zeitgenosse und hatte Indira bereits so oft zurückgewiesen, dass andere Menschen ihn schon längst aufgegeben hätten, aber nicht sie. Es gab nur noch die beiden Geschwister.

Auch Janes Recherchen verliefen im Sand. Sie fand nicht mehr über sich oder die besagte Nacht heraus. Zuerst hatte es einige Zeit gebraucht, um die Gasse, in der sie ihr Bewusstsein wiedererlangt hatte, zu finden, und anschließend verneinte jegliches Personal der umliegenden Pubs, Clubs oder Restaurants, sie wiederzuerkennen.

Indira zeigte ihr eine naheliegende Bücherei mit Internetzugang, in der sie nach Orten oder Personen suchen konnte. Allerdings erwies sich das als ziemlich schwierig, wenn man keinen Anhaltspunkt seiner Vergangenheit hatte. Hatte sie einen Job? Eine Familie? Freunde?

Bei der Polizei lag jedenfalls keine Vermisstenmeldung vor, das hatte Indira für sie in Erfahrung gebracht. Es schien also niemanden zu kümmern, dass sie weg war. Diesen Gedanken wollte sie nicht zu sehr an sich heranlassen, auch wenn er sich immer wieder hinterlistig anschlich.

 

Den Vormittag verbrachte Jane mit der Säuberung unzähliger Zimmer, die sie mit mittlerweile geübten Handgriffen und Routine rascher auf Vordermann brachte, als sie es beim ersten Üben für möglich gehalten hatte. Ihr Putzwagen bewegte sich kontinuierlich den Gang entlang zum Lift, um sich schließlich wieder auf den Weg ins Erdgeschoss zu machen.

Nachdem niemand auf ihr Klopfen reagiert hatte, entriegelte sie die Zimmertür und parkte den Putzwagen vor dem letzten Raum der Etage. Die Zimmer des Hotels waren nicht besonders groß oder komfortabel, aber für den günstigen Preis konnte man ein funktionales, sauberes Stadthotel erwarten. Die Möbel waren zumeist aus Holz und die Farbakzente in einem geschmackvollen Grün gehalten, wodurch die Zimmer frisch und noch sauberer wirkten. Sie schüttelte die Bettsachen aus, um sie gleich darauf ordentlich zu drapieren, staubte die Oberflächen ab, bevor sie ins Bad verschwand und dort die Magie des Putzmittels geschehen ließ.

Das Zimmer wurde von einem Mann bewohnt, das konnte sie erkennen. Zum Glück hatte dieser sein Zimmer nicht besonders verschmutzt, sodass die Reinigung nicht viel Zeit in Anspruch nahm. Mit einem prüfenden Blick vergewisserte Jane sich, dass sie nichts übersehen hatte und der Gast mit ihrer Arbeit zufrieden sein würde.

Dabei fiel ihr etwas Silbernes ins Auge. Auf dem Schreibtisch erblickte sie ein Metallarmband, nach dem sie unbedacht griff. Irgendwas hatte es damit auf sich und sie konnte beim besten Willen nicht sagen, was es war. Die Glieder fühlten sich kalt zwischen ihren Fingern an. Kälte. Hatte das etwas mit dem Vergessenen zu tun? Es war das erste Mal, dass ihr etwas bekannt, aber gleichzeitig fremd vorkam. Hatte sie das schon einmal gesehen?

Gepackt von Unsicherheit und Panik, die Chance zu verspielen, wenn sie das Folgende nicht tun würde, stürmte Jane auf den Kleiderschrank zu und durchwühlte die Kleidung des Hotelgasts. Das kantige Armband in ihrer Hand blieb an der ein oder anderen Naht hängen, wovon sie sich unsanft wegriss. Ihr Herz raste in ihrem Brustkorb und schlug wild gegen ihre Rippen. Konnte das sein? Konnte sie hier Antworten finden? Gerade in dem Hotel, in dem sie arbeitete, den Mann finden, der ihr angetan hatte, woran sie sich nicht mehr erinnerte?

Doch jegliches, ungezügeltes Wühlen brachte keine weitere Erkenntnis zum Vorschein. Keine Erinnerung und auch keine Gewissheit. Die Leere hatte Bestand und ließ sich wie ein riesiger Fels nicht wegspülen. Ihre suchenden Bewegungen wurden langsamer und die Verzweiflung nahm erdrückende Maße an. Nein, nein, nein!

Weinend sank Jane auf ihre Knie nieder und ließ das Armband fallen. Sie stützte sich auf ihre Hände und schluchzte laut auf. Scham stieg in ihr auf; sie kam sich so dumm vor. So nahe hatte sie sich der Einsicht in den letzten Wochen noch nie gefühlt. Die Mauer in ihrem Kopf war dünn und durchsichtig wie Glas und doch blieb sie verschwommen und dumpf; undurchlässig wie trübes Panzerglas. Das ambivalente Gefühl war dahin und zurück blieb nur die schreckliche Hilflosigkeit.

»Was machst du da?«, drang eine aufgeregte Stimme durch Janes Schleier der Enttäuschung. Indira stürzte durch die offen stehende Zimmertür auf sie zu und entdeckte das Chaos im Schrank des Gasts. »Scheiße, hast du seine Sachen durchwühlt? Fuck, das Frühstück ist gleich vorbei und er kann jederzeit wiederkommen!«

Betäubt durch die Desillusion vermochte sie, ihrer Kollegin nichts von den Geschehnissen der letzten paar Minuten zu erklären. Minuten, die sich wie Stunden angefühlt und sie erschöpfter zurückgelassen hatten als jeder Marathon. Indira packte die Kleidung, legte sie mit flinken Fingern zusammen, platzierte sie so, dass es offensichtlich war, dass absichtlich alles aufgeräumt worden war, statt den Nervenzusammenbruch einer Reinigungskraft zu vertuschen. »Wo war das Ding?«, wollte Indira wissen und hielt das Armband hoch. Jane deutete auf den Tisch und keine zwei Minuten später befanden sich die beiden Kolleginnen im Lift auf dem Weg in die Räume des Personals. Jane ließ sich phlegmatisch von ihr führen, während Indira angespannt den Kiefer zusammengebissen hatte und innerlich sicher fluchte. Erst als die Tür der Personalräume hinter ihnen zugefallen und niemand außer ihnen in der Garderobe war, schaute Indira Jane direkt an.

»Was ist passiert?« Es war weniger eine Frage als die Aufforderung, sofort ihr Verhalten zu rechtfertigen. Wenn sie Mist baute, war Indira in gewisser Weise für sie verantwortlich, immerhin hatte sie Jane in das Hotel gebracht.

Jane wischte die Tränen weg, die lautlos ihren Weg aus ihren Augen gefunden hatten, und biss die Zähne zusammen. »Ich weiß es nicht.«

Indira strich eine Haarsträhne nach hinten, die sich aus ihrem strammen Zopf, den sie während der Arbeit immer trug, gelöst hatte, und lachte höhnisch auf. »Nach nichts sah es auf jeden Fall nicht aus. Was hattest du vor? Du hast deinen Job riskiert und vermutlich sogar meinen! Bo hätte uns hochkant hinausgeschmissen, wenn dich jemand entdeckt hätte! Es gibt Grundregeln und die kennst du!«

»Ich dachte, dass ich dort … ich … das Armband kam mir bekannt vor«, gab Jane mit gesenktem Kopf zu. »Endlich hatte ich das Gefühl, der Wahrheit, was mit mir passiert ist, ein bisschen näherzukommen.« Ihre Nase prickelte heiß und Tränen sammelten sich in ihren Augen. »Ich halte dieses Nichts nicht mehr aus. Es gibt nicht einmal eine Vermisstenanzeige über mich. Ich bin Mitte oder Ende zwanzig – wie kann da niemand nach mir suchen? Wie beschissen muss mein Leben gewesen sein, dass es niemanden gibt, der mich vermisst?«

Betroffen ließ Jane sich auf die nahegelegene Sitzbank sinken und versteckte ihr Gesicht in ihren Händen. Die Kraft verließ sie und hinterließ lediglich ein Häufchen Elend. »Es tut mir so leid. Ich wollte das nicht. Ich wollte niemandes Arbeit gefährden. Vor allem nicht deine, nachdem du mir so geholfen hast. Wie verrückt bin ich mittlerweile, dass ich glaube, hier, genau hier, Antworten zu finden? Ich meine, da ist es wahrscheinlicher, dass mir ein Meteorit auf den Kopf knallt.«

Sie hörte Indira tief ausatmen und seufzen. Selbst ohne sie anzusehen, wusste Jane, dass Indiras Ärger langsam verrauchte. Ihr Gemüt war zu freundlich, um lange auf jemanden sauer zu sein. Durch das Senken der Holzbank spürte Jane, wie sie sich zu ihr setzte.

»Ich bin einfach verzweifelt. Ich will doch nur wissen, wer ich bin«, fügte Jane hinzu und sah zu Indira hinüber. Ein tiefes Schluchzen ließ Janes Körper erneut erbeben. »Die Wunden sind weg und es fühlt sich manchmal an, als hätte ich mir das alles nur eingebildet. Es gibt keine Beweise und ich habe keine Erinnerung daran. Niemand kann mir sagen, was passiert ist oder wer ich bin. Und trotzdem begleitet mich das alles jeden Tag und jede einzelne Minute.«

Zusammengesunken, wie sie war, konnte Jane die Hand ihrer Kollegin spüren, die sich auf ihren Rücken legte. Indira ließ sie sich ausheulen und wartete, bis Jane sie ansah und die Feuchte aus ihrem Gesicht wischte.

»Es tut mir wirklich leid«, sagte Jane erneut und suchte nach Hinweisen in Indiras Mimik, wie ihre Kollegin nun reagieren würde.

Die Inderin nickte mit ernster Miene. »Ich weiß.« Sie legte die Arme um Jane und gab ihr die Geborgenheit und Sicherheit, die sonst in ihren Leben überall fehlte. »Du hast immerhin nichts kaputtgemacht und wir konnten alles noch rechtzeitig wieder richten. Das nächste Mal suchst du nicht allein nach Hinweisen, sondern erzählst es mir, wenn du glaubst, dass da etwas ist, okay?« Behutsam strich sie Jane über den Rücken. »Gemeinsam schaffen wir das. Du bekommst dein Gedächtnis zurück und ich meinen Balu. Nichts ist unmöglich, solange wir daran glauben.«

In den letzten Wochen hatte sich Jane nichts mehr gewünscht, als dass diese Worte der Wahrheit entsprachen, denn dann bestünde für beide noch Hoffnung. Hoffnung, deren Verfallsdatum immer näher rückte.

 

2. Kapitel

Es hatte nur etwas kaltes Wasser in Janes Gesicht gebraucht, um ihre Fassung wiederzufinden und die Arbeit erneut aufzunehmen. Ihr Magen hatte wie üblich zwei Stunden nach ihrem Frühstück immer schlimmer geknurrt, als hätte sie drei Tage nichts gegessen. In der Küche schnappte sie sich ein Stück Kornbrot und aß es ohne Umschweife, um die Hungergeräusche zumindest ein wenig zu zügeln, obwohl ihr nach den vergangenen Geschehnissen in dem Hotelzimmer mulmig zumute war. Der Drang nach Essen ließ sich trotzdem nicht bändigen.

Der restliche Tag bestand aus der Säuberung der übrig gebliebenen Zimmer, Vorbereitung für Neuankömmlinge, Unterstützen der Kellner bei der Reinigung der Speiseräume und der Allgemeinflächen. Jane versuchte, die Geschehnisse zu verdrängen, und konzentrierte sich auf ihre Aufgaben. Was sie nicht mitbekam, war, dass Indira ihr immer wieder besorgte Blicke zuwarf.

Am späten Nachmittag verstaute Jane ihren Putzwagen, verfrachtete die schmutzigen Textilien an den richtigen Ort und zog sich erschöpft in der Garderobe wieder um. In Jeans und BH stand sie vor dem großen Spiegel, an dem sie immer nochmals den Sitz ihrer Uniform kontrollierten, bevor sie in den Gästebereich gingen. Mit unsicheren Fingern fuhr sie sich über die Wange, die damals violett gewesen war, über den Hals zur Brust, an der die Cups des aufgerissenen BHs gebaumelt hatten, und tiefer nach unten. Ihr Körper kam ihr fremd vor, obwohl sie wusste, dass es ihrer war. Beim Gedanken an die blauen Stellen, die sie nach jener Nacht an sich entdeckt hatte, wurde ihr übel und sie wandte den Blick ab.

Die bronzefarbenen Haare trug sie in einem Pferdeschwanz und durch fehlendes Make-up sah ihr Gesicht unscheinbar und ihre grünen Augen darin ein wenig zu klein aus. Das ein oder andere Muttermal zeigte sich und eine kleine Narbe glitzerte auf ihrer Wange. Es war ein kaum beschreibbares Gefühl, sich selbst nicht zu erkennen.

»Also ganz ehrlich! Vor manchen Gästen ekle ich mich schon mega«, stürmte Indira in die Garderobe und durchbrach Janes Gedanken, die sich schnell ihrem Spind zuwandte und in ihren dunklen Pulli schlüpfte.

Etwas gestellt lachte Jane und hoffte, dass ihre Kollegin ihre Selbstmitleid-Szene weder gesehen hatte noch erahnen konnte. »Ja, manche Menschen haben Ordnung nie gelernt«, stimmte sie ihr zu.

»Aber was soll’s.« Indira schlüpfte aus der Uniform in ihre eigene Kleidung und drehte sich dabei zu Jane. »Was hältst du davon, wenn wir heute wieder nach deiner Erinnerung suchen?«, schlug sie beiläufig vor, als hätte sie nicht den ganzen Tag schon an diesen Vorschlag gedacht.

Jane winkte ab. »Schon gut. Vielleicht habe ich heute wirklich überreagiert. Mir wird das alles gerade etwas zu viel. Über Wochen hinweg ist nichts geschehen. Vielleicht sollte ich mich mit der Tatsache anfreunden, dass ich mich nie erinnern werde. Ich muss mein Leben jetzt einfach so bestreiten, wie es ist«, meinte sie und versuchte, diese Möglichkeit zu verinnerlichen und nicht nur einfach so dahinzusagen. »Besser keine Vergangenheit als keine Zukunft, oder?«

Entschlossen schüttelte Indira ihren Kopf. »Sicher nicht! Amnesie ist etwas, das vorbeigehen kann. Und bei dir wird es das auch. Gib die Hoffnung nicht auf. Das wäre ein schwerwiegender Fehler.« Sie legte die Hand auf Janes Schulter. »Wir versuchen das heute, okay? Wir werden uns nicht durch irgendein Schädelhirntrauma besiegen lassen, das deine Erinnerungen geklaut hat.«

Wenig begeistert, aber trotzdem gerührt von der Aufmunterung ihrer Freundin, ließ Jane sich zu dem Vorhaben überreden. Eine kleine Tour durch die Schauplätze des damaligen Geschehens würde ihr im schlimmsten Fall Übelkeit oder Unwohlsein bereiten, möglicherweise jedoch erkannte sie heute tatsächlich das eine oder andere wieder. Im Endeffekt konnte ja nicht besonders viel schiefgehen.

Für sich beschloss Jane dennoch, nach dem zu erwartenden Misserfolg der heutigen Aktion einige Tage oder Wochen von alldem Abstand zu nehmen. Wenn sie die Wand nicht einreißen konnte, musste sie vielleicht einfach den Blick davon abwenden, um voranzukommen. Sie lebte; das konnte ihr niemand wegnehmen.

Gemeinsam gingen sie in die Küche, wo der Koch Pasqual bereits das Abendessen für die Gäste zubereitete. Konzentriert auf seine Arbeit, sah er nur einen Augenblick auf und deutete auf den Tresen neben sich. »Setzt euch, Chicas. Das Essen ist gleich fertig.«

»Was zauberst du denn heute wieder?«, fragte Indira und beugte sich beim Hinsetzen etwas vor, um ihre Kurven zu betonen. Pasqual bekam das, beschäftigt mit seiner Arbeit, gar nicht mit. Das Einzige, was seine Aufmerksamkeit mehr fesselte als Indira, war das Kochen.

Janes Magen knurrte wie auf Kommando, worauf Pasqual grinste und ihr einen Blick auf die Teller gewährte. »Dein Hunger ist auch immer vorhanden, oder, mi amor?«, witzelte er in ihre Richtung, was sie mit einem Schulterzucken quittierte.

Für ein einfaches Stadthotel hatten ihre Zimmer zwar nicht besonders viel Außergewöhnliches zu bieten, aber mit Pasquals Speisen lagen sie sicherlich weit oben auf der Skala. Immer wieder wurde ihnen rückgemeldet, dass das Essen das Highlight des Aufenthalts war. Daher war es auch kein Wunder, dass der Koch ein wenig Narrenfreiheit genoss und sich bei den Speisen frei austoben durfte; solange sie nicht zu ausgefallen oder preisintensiv wurden. »Heute gibt es Schopf mit zweierlei Püree und einem pikanten Salat dazu«, verkündete er begeistert. »Está lista!« Mit einer geübt theatralischen Geste servierte er den beiden das Essen und reichte dazu das Besteck.

Schon allein der Geruch ließ ihre Mägen grummeln und der Anblick den Speichel im Mund zusammenfließen. Pasqual war ein süßer, etwas kurz geratener Spanier mit einer wahnsinnigen Unsicherheit, was seine Person betraf, bei seinen Speisen war er sich hingegen immer sicher, dass sie tipptopp waren.

Jane genoss das warme Essen und zelebrierte jeden Bissen. Auch ihr Hunger schien für kurze Zeit seinen Frieden gefunden zu haben. Indira hatte ihre Aufmerksamkeit offensichtlich eher Pasqual zugewandt, indem sie sich auf der Tresenplatte abstützte, um so ihr Dekolleté perfekt in Szene zu setzen. Janes Freundin hatte schon länger ein Auge auf den etwas verwirrten Spanier geworfen, der auf die Darbietung unsicher wie immer reagierte und begann, über seine Speisen zu sprechen. »Braucht ihr noch Salz? No, es lo suficientemente salado. Ich versalze mich nie. Braucht ihr … braucht ihr etwas anderes?«, stammelte er etwas unbeholfen und versuchte vehement, nicht auf Indiras Körperteile unterhalb des Gesichtes zu sehen.

»Alles exzellent wie immer, Pasqual«, erwiderte Jane, die amüsiert den Balztanz der beiden beobachtete. Für sie hätten Indira und Pasqual schon lange Klartext reden und die Sache ernsthaft angehen können, aber es blieb die Angelegenheit der beiden, in die sie sich tunlichst nicht einmischte. So hatte sie wenigstens eine erheiternde Unterhaltung beim Essen.

»Ich hätte nichts gegen einen feinen spanischen Tropfen«, merkte Indira an und sah Pasqual auffordernd an. In seinem Gesicht breitete sich ein strahlendes Lächeln aus, das von einer leichten Röte auf seinen Wangen unterstrichen wurde.

»Ay, dios mío«, murmelte er und brachte damit ein Schmunzeln in Janes Gesicht. Sie lehnte den Wein ab, während die beiden anstießen und gerade noch der Kerzenschein und gedimmtes Licht fehlte. Zwischen ihnen knisterte es.

Die restliche Zeit, bis sie fertig gegessen hatten, hielt sich Jane im Hintergrund und ließ die beiden ganz in ihrer Flirtblase. Sie gönnte ihnen die Beziehung, die sich hier zunehmend anbahnte. Seine Unsicherheit und ihre Sturheit würden sicher eine nette Mischung ergeben.

Um nicht ganz ihre Würde zu verlieren, nahm Jane Abstand davon, den Teller abzulecken, aber dennoch hätte sie es gern getan. Ihre Portion war groß gewesen und Indira hatte nicht einmal aufgegessen, aber in Jane saß immer noch der unersättliche Hunger fest.

Gerade als beide ihre Teller abräumten und den Tresen reinigten, reichte Pasqual Jane eine kleine Plastikbox, die sich noch warm anfühlte. »Ich weiß doch, dass du zu Hause sicher noch mal Hunger bekommst«, bemerkte er leicht lächelnd. »Ich weiß zwar nicht, wo genau du das alles hin isst, mi amor, aber hier ist noch eine Portion von den Pürees mit Röstzwiebeln obendrauf.«

Jane biss sich vor Verlegenheit auf die Unterlippe und nickte. »Vielen Dank«, sagte sie und umarmte ihn kurzerhand, was ihn völlig aus dem Konzept brachte.

 

 

 

Als die beiden Freundinnen das Hotel verließen, sank die Sonne bereits gen Horizont. Zwar stiegen die Temperaturen tagsüber mittlerweile wieder und die Sonne konnte alles ein wenig erwärmen, doch sobald die Abendstunden anbrachen, kroch die vertriebene Kälte sofort aus ihrem Versteck und erinnerte daran, dass es eben erst Frühling war und noch nicht Sommer.

Gemeinsam liefen sie plaudernd zur Bushaltestelle und gelangten nach einer kurzen Fahrt rasch zu dem Ort, der für Jane immer noch Geheimnisse barg. Sobald sie die letzten Meter zu der Gasse und damit zu den Pubs und Bars zurücklegt hatten, musste Jane kurz innehalten. Jedes Mal, wenn sie sich dieser Umgebung näherte, hatte sie das Gefühl, weniger Luft zu bekommen. Ihr Brustkorb wurde eng und ihr Fluchtreflex wollte sie zum Verschwinden überreden.

Indira blieb ebenfalls stehen und biss geistesabwesend auf ihrer Lippe herum. Etwas beschäftigte sie.

»Alles okay?«, wollte Jane wissen und strich sich die losen Strähnen aus dem Gesicht.

»Hier in der Nähe ist doch die Notschlafstelle. Ist es für dich okay, wenn ich kurz einen Abstecher dorthin mache?«, fragte Indira und trat unsicher von einem Bein aufs andere. »Ich weiß, ich meinte, dass wir uns heute nur auf dich konzentrieren, aber er könnte gerade dort sein. Ich will ihn nicht verpassen.«

Jane nickte. »Ja, natürlich. Geh. Heute haben ohnehin nur zwei Pubs offen, weil ein Wochentag ist. Wo treffen wir uns?«

»Im Park am Weltkriegsdenkmal. Von dort aus können wir zur Bushaltestelle laufen«, schlug Indira vor und Jane stimmte zu.

Die Wege der beiden Frauen trennten sich und Jane beeilte sich zum ersten Pub, das sich gleich an der Ecke zur Gasse befand. Allein fühlte sie sich genauso ausgeliefert wie in jener Nacht, als sie hier aufgewacht war. Ihr lief ein Schauder über den Rücken. So wie damals waren auch heute keine großen Menschenmassen auf der Straße. Ruhig leuchteten die Straßenlaternen vor sich hin. Als sie die Hand schon auf den Türgriff gelegt hatte, sprang ihr ein Zettel ins Auge, auf dem stand, dass das Lokal bis auf Weiteres wegen eines Wasserschadens geschlossen blieb.

Ein Seufzen entrang sich Janes Kehle und sie trat einen Schritt zurück. Von außen war es noch schwerer zu sagen, ob sie hier schon einmal gewesen war. Die Fenster waren dunkel und das Innere nicht zu erkennen. Jeder Unmut brachte hier nichts, daher marschierte sie die längere Strecke zum nächsten geöffneten Lokal, damit Indira später nicht lange im Kalten warten musste. Dass diese ihren Bruder Balu fand, hoffte Jane immer noch, hielt es aber genauso wie ihr wiederkommendes Gedächtnis nicht mehr für besonders realistisch, was sie vor Indira niemals zugeben würde. Balu lebte; das würde sie zur Stärkung ihrer Freundin immer wieder beteuern.

Die Hände hatte Jane tief in ihren Jackentaschen vergraben und den Kopf eingezogen, um der aufziehenden Kälte kaum Angriffsfläche zu bieten. Dennoch wusste sie, dass sie sie nicht gänzlich ausschließen konnte.

Als Jane die Eingangstür des einzigen anderen Lokals fand, das an einem Montag keinen Ruhetag hatte, war ihr Körper schon überzogen mit Gänsehaut. Die Gegend machte sie nervös und jede Minute, die sie länger als nötig hier verbrachte, ließ sie unruhiger werden. Auf der Stelle huschte sie in das warme Innere der Bar und setzte sich an den Tresen, wo sie einen guten Überblick über die überschaubare Menge an Besuchern hatte.

»Darf`s was sein?«, fragte der Barkeeper und Jane orderte lediglich ein Wasser, da sie sich strikt von Alkohol und anderen Drogen fernhielt. Wenig begeistert über den Gewinn, den er damit machen würde, stellte er ihr das Glas mit der durchsichtigen Flüssigkeit hin und wandte sich ertragreicheren Gästen zu.

Jane nippte daran und ließ den Blick durch den Raum schweifen. Es handelte sich um eine schlichte Bar, die schon etwas in die Jahre gekommen war. Links gleich neben dem Eingang begann der Tresen, der die gesamte Seite des Lokals einnahm. Tische drängten sich rechts in einen mittelgroßen Bereich, der gerade jetzt nur von wenigen Männern besucht wurde. Jane war die einzige Frau hier, was ihr rasch klar wurde. Die Wände waren in einem abgegriffenen Grün gehalten und der Gang weiter Richtung Toiletten war bis zur Brusthöhe mit Holz vertäfelt. Darüber war das Weiß schon zu einer anderen Farbe geworden und die Durchgangstür offensichtlich entfernt worden.

Beim besten Willen kam Jane dieser Ort nicht bekannt vor und sie konnte sich nicht vorstellen, wieso sie ausgerechnet hier gewesen sein sollte. Generell konnte sie mit der ganzen Gegend nicht viel anfangen. In der Nähe gab es Wohnbauten, die sich teilweise schon zu kleinen Ghettos entwickelt hatten, und Supermärkte, die die seltsamsten Dinge verkauften. Ein gutes Stück entfernt befand sich noch ein Krankenhaus und zwei größere Schulen, die jedoch auch nicht den besten Ruf genossen.

Hatte sie hier gewohnt? Oder gearbeitet? Warum war sie an dem Abend in einem der Pubs gewesen? Oder hatte sie gar keines davon besucht, sondern war nur an ihnen auf dem Heimweg vorbeigegangen? War sie überhaupt auf dem Heimweg gewesen? Die Gedanken begannen, sich wie ein Karussell zu drehen, worauf Jane fast schlecht wurde.

Sie nahm einen Schluck vom Wasser und ihr Bauch rebellierte schon wieder gegen die Flüssigkeit. Sie musste an ihr Essen im Rucksack denken, dass sie bekommen und wie einen kleinen Schatz eingesteckt hatte, und lächelte dabei. Pasqual war wirklich ein herzensguter Mensch und sie würde sich morgen nochmals bei ihm bedanken. Er dachte immer an Indira und sie.

Die anderen Gäste waren ruhig und auf ihre eigenen Angelegenheiten fixiert, sodass sie niemand beobachtete, als sie ihr Glas eilig leerte, um den Barkeeper wieder zu sich zu locken. Einige Minuten später stand der ältere Mann im Holzfällerhemd vor ihr. »Noch was?«

»Um ehrlich zu sein, ja. Erkennen Sie mich vielleicht wieder?«, fragte Jane ohne Umschweife. »Ich denke, ich war vor zirka einem Monat schon einmal hier, aber ich kann mich an den Abend nicht wirklich erinnern.«

Der Barkeeper zog die Augenbrauen zusammen. »Falls das eine verdeckte Ermittlung ist: Nein, bei uns werden keine Drogen verkauft oder konsumiert. Hier wird niemand betäubt oder vergewaltigt. Wir sind eine normale Bar, in der die Leute ihren Durst stillen können«, antwortete der Barkeeper mit ernster Miene und sprach so laut, dass andere Gäste auf sie aufmerksam wurden und den Kopf in ihre Richtung reckten. »Ich würde Sie jetzt bitten, mein Lokal zu verlassen. Das Wasser geht natürlich aufs Haus.« Damit verschränkte er die Arme und Jane blieb nichts anderes übrig, als schleunigst ihre Habseligkeiten zusammenzusammeln und das Weite zu suchen. Sie hatte zwar online Zeitungsausschnitte gefunden, dass in letzter Zeit häufiger Frauen hier verschwunden waren, aber mit Ermittlungen hatte sie nicht gerechnet. In diesem etwas heruntergekommenen Viertel war es ein Wunder, wenn sich die Polizei zu Nachforschungen hinreißen ließ.

Eiligst marschierte Jane zum Park, wo sie auf Indira zu treffen hoffte, um schnell nach Hause zu fahren. Sie hatte keine Lust mehr, unter Leuten zu sein oder herumzulaufen. Die Aussicht auf ihr Bett und die Püree-Portion war wesentlich attraktiver. Eine pessimistische Laune hatte sie gepackt und brachte all ihre Hoffnungen um.

Ein eisiger Wind blies ihr entgegen. Die Häuser wurden von Grünflächen und Bäumen verdrängt und gingen in den großen Park über. Ein besonders lauschiges Plätzchen bildete er in der Nacht nicht, da es nicht viele Straßenlaternen gab, die funktionierten oder mehr Licht spendeten, als sie selbst brauchten.

Schon von Weitem konnte sie erkennen, dass Indira nicht bei der großen Denkmalplatte stand. Je weiter Jane in den Park lief und den Weg über die Rasenflächen abkürzte, desto stärker überkam sie ein ungutes Gefühl und die Menschenleere fiel ihr auf. Wo ist sie nur?

»Indira!«, rief Jane ein wenig verunsichert und hoffte auf eine Antwort der Inderin, doch die Bäume blieben still. »Indira!«

Sie drehte sich um ihre eigene Achse und versuchte, in der Dunkelheit etwas wahrzunehmen, doch bei der fortgeschrittenen Stunde hatte dieses Unterfangen kaum Erfolgschancen. Jane versuchte, sich zu beruhigen. Es war nur ein normaler Abend und vielleicht hatte Indira ein wenig länger gebraucht. Das war zwar beinahe unmöglich, weil sich ihre Freundin angewöhnt hatte, nie lange in solchen Unterkünften zu sein, aber es konnte doch so sein, oder? Nervös fuhr sie sich durch die Haare und lief weiter zur Bushaltestelle. Es konnte sein, dass sie bereits vorausgegangen war. Ihre Unruhe wurde stärker.

Wie offensichtlich bescheuert der Plan eigentlich war, sich in der Nacht in einem Park zu treffen, fiel ihr jetzt wie Schuppen von den Augen. Ihr Herz raste und eine unbarmherzige Beklemmung nahm sie in Besitz. Als die kleine Haltestellenhütte, in der eine Werbereklame sanft leuchtete, in ihr Sichtfeld trat, bestätigte sich das Fehlen ihrer Kollegin endgültig.

»Indira!«, schrie Jane und Panik erwuchs aus der anfänglichen Nervosität. Sie hatte keine Möglichkeit, ihre Freundin zu erreichen, da Jane kein Handy besaß.

Angsterfüllt wandte sie sich um und lief zurück in den Park. Immer wieder rief sie kopflos den Namen ihrer Freundin und hoffte, dass diese endlich auftauchen würde. Das irrationale Ich in Janes Kopf stellte sich vor, wie Indira hinter einem Baum erschien und berichtete, dass sie Jane schon die ganze Zeit gesucht hatte. Gemeinsam würden sie den nächsten Bus nehmen und nach Hause fahren.

Gleichzeitig erschien in ihrem Kopf das Bild von jener Nacht, als sie nicht weit von hier entfernt aufgewacht war. Die Übelkeit breitete sich in ihrem ganzen Körper aus, ließ Jane zittern und sich schwach fühlen. Der dunkle Himmel und die Baumkronen vermischten sich zu einer einzigen Finsternis und selbst die sporadische Beleuchtung konnte sie nicht mehr durchdringen.

Janes Atem ging stockend und ihr Herz pochte rasend. Mit Tränen in den Augen verharrte sie umgeben von Bäumen an einer Kreuzung und wusste nicht mehr, wohin sie laufen sollte. Murmelnd betete sie, dass es ihrer Freundin gut ginge. Sie wischte sich die Tränen weg und versuchte, ihre Sicht durch Blinzeln zu klären – und tatsächlich entdeckte sie eine Gestalt unter einem Baum stehend.

Erleichtert atmete sie auf und stürzte in die Richtung der Silhouette. Sie murmelte schon die ersten Worte der Verzeihung, dass sie störe, aber sie suche ihre Freundin, doch je näher sie kam, desto mehr erkannte sie, dass es nicht nur eine, sondern zwei Gestalten waren, die eng beieinanderstanden. Verunsichert ging Jane, mit der Hoffnung auf Hilfe, auf die zwei Gestalten zu.

Als sie keine zehn Schritte mehr entfernt war, fiel ihr auf, dass die zweite Person nicht stand, sondern auf den Beinen gehalten wurde. Ein bizarres Geräusch drang an Janes Ohren – annähernd wie ein Schmatzen. Der Kopf der Person bewegte sich an der Halsbeuge der zweiten. Ein eiskalter Schauder lief Jane über den ganzen Rücken hinab. Ihre Schritte wurden langsamer und unsicherer. Die Finsternis wurde zwar nicht weniger, aber es gestalteten sich zunehmend Details aus der Dunkelheit. Bald schon erkannte Jane einen wuscheligen Lockenkopf, der sich an der Schulter der Gestalt auftürmte. Ein tiefes Grollen ertönte aus der Richtung der fremden Person, er drehte sich und sie konnte das leblose Gesicht von Indira erkennen.

Unwillkürlich schrie Jane spitz auf und wich instinktiv zurück. Das konnte nicht wahr sein! Ohne darüber nachzudenken, stürmte sie auf die beiden zu, trat so kräftig sie konnte nach dem Fremden und wollte Indira von ihm wegziehen. Sie konnte ihre Freundin gerade noch halbwegs auffangen, bevor sie zu Boden fiel. Ehe sie sich nach dem Angreifer umsah, versuchte sie, Indira wach zu bekommen. Ein Klaps auf die Wange und ein Rütteln an der Schulter brachten jedoch nicht den gewünschten Erfolg.

Jede Faser von Jane war in Angst und Verzweiflung getränkt, als sie ihre Freundin auf ihren Schoß hob und den schlaffen Körper ertastete. Trotz der mickrigen Lichtverhältnisse war ihr bleiches Gesicht deutlich erkennbar.

»Indira«, sagte Jane eindringlich und zitternd zugleich. Sie tastete ihren Hals ab. Etwas Warmes, Nasses blieb an ihren Fingern kleben und rasch entdeckte Jane die große Wunde. Jane schob die purpurne Jacke zur Seite. Die linke Hälfte ihres Halses schien völlig zerfetzt, sodass Jane ihren dünnen Schal nahm und ihn gegen die Wunde drückte. In ihrem Magen zog es. »HILFE!«, schrie sie schrill aus vollem Halse und hoffte inständig, dass sie von jemandem gehört wurde. Tränen verschleierten erneut ihre Sicht und krampfhaft drückte sie den Stoff auf die Wunde, während sie ihre Freundin beruhigend wiegte.

In dem Moment, als sie sich nach dem Fremden umsehen wollte, packte sie jemand am Nacken und zwang sie auf die Beine.

»Nein!«, brüllte Jane und versuchte, Indira nicht aus den Armen zu verlieren, was ihr nicht gelang. Durch den Hut, der sein Gesicht zu zwei Dritteln verbarg, konnte sie ihn nicht erkennen, versuchte, sich aus seinem Griff zu befreien. Vergeblich. Sie trat nach der Gestalt und schlug mit Fäusten auf ihn ein. Jane musste ihre Freundin ins Krankenhaus bringen.

Sofort.